Seit Tagen brennt es in der Türkei, über zwanzig Menschen starben bei Auseinandersetzungen zwischen Linken und KurdInnen auf der einen, staatlichen Repressionsorganen, Faschisten und IS-Anhängern auf der anderen Seite. Über die Probleme und Schwierigkeiten, mit denen der Aufstand zu kämpfen hat. (Teil II und Schluß)
Im ersten Teil dieses Textes wurde darauf hingewiesen, dass die Kobane-Solidarität sich zu einem veritablen Aufstand in der Türkei ausgeweitet hat, der ein weiterer Schritt in Richtung einer nachhaltigen Veränderung der Türkei sein könnte. Im zweiten Teil des Textes sollen einige der Schwierigkeiten benannt werden, vor denen wir dabei stehen.
Die Ausgangslage in der der gegenwärtige Aufstand begann, ist keine, die von sich aus Erfolg verspricht. Nehmen wir die Kommunalwahlen im März 2014, so bemerken wir schnell: Zusammengenommen liegt das Lager der Parteien, die aktiv gegen fortschrittliche Interessen kämpfen, bei weit über 50 Prozent der türkischen WählerInnenzustimmung. Und das sogar, wenn wir dazu nur die faschistische MHP und die islamistisch-neoliberale AKP (nebst einiger kleinerer Sekten und Parteien) zählen, die zusammen auf über 60 Prozent kommen. Die linken mehrheitlich kurdischen Parteien HDP und BDP kamen auf etwa 6 Prozent (bei den später stattfindeten Präsidentschaftswahlen auf überraschende 10 Prozent). Teile der radikalen revolutionären Linken treten bei Wahlen nicht an, die kann man also noch hinzuzählen, machen aber im Großen und Ganzen das Kraut nicht fett.
Kurz: Es gibt in der Türkei derzeit keine Mehrheiten, mit denen der Aufstand rechnen kann. Es gibt Hochburgen der kurdischen Bewegung (klarerweise in den zu Nordkurdistan zählenden Gebieten) und es gibt eine Hausmacht revolutionärer Linker in bestimmten Bezirken türkischer Großstädte. Das alles dürfte nicht reichen, um einen Machtwechsel herbeizuführen. Die Frage, die man sich vor diesem Hintergrund stellen muss, ist: Was können die Etappenziele des Aufstandes sein, wie kann er im Rahmen einer langfristigen Strategie ein weiterer Schritt in Richtung einer Änderung der Machtverhältnisse sein, und auf welche Themen und Allianzen muss man setzen, will man Erdogan zusammen mit Al-Bagdadi dahin schicken, wo keine Jungfrauen warten.
Ethnische Verkürzung des Konflikts
Ein Jahr vor der jetzigen Eskalation saß ich mit einem sehr klugen Beobachter der kurdischen Bewegung, dem Journalisten Metin Yegin, zusammen. Wir sprachen über Gezi und die kurdische Frage, irgendwann bemerkte er: „Die KurdInnen in Europa sind noch nicht sehr gut darin, die grandiose Idee, die sie eigentlich haben, und die sie in Rojava auch praktisch umsetzen, zu vermarkten. Mit ihrem Projekt einer geschlechtergerechten, ökologischen Rätedemokratie hätten sie eigentlich richtig was zu erzählen. Aber am Ende sprechen sie immer nur davon, dass sie KurdInnen sind und als KurdInnen diskriminiert werden. Das ist nicht falsch, aber eben nur der weniger spannende Teil der Story. Der interessantere wäre ihr politisches Projekt.“
Darin liegt viel Wahres. Es ist sicherlich richtig, das KurdInnen, weil sie KurdInnen sind, in der Türkei, in Syrien, im Iran diskriminiert werden. Die gegenwärtige Lage erfordert aber vor allem eines: Unter allen Umständen zu vermeiden, sich eine Ethnisierung der Konfliktlinien aufzwingen zu lassen. In der Praxis haben das die KurdInnen längst umgesetzt: In Rojava ist es scheissegal, ob du KurdIn, SyrerIn, IrakerIn oder sonstwas bist. Auch religiöse Trennlinien spielen keine Rolle. Rojava war, vor dem Angriff des IS, ein sicherer Hafen für alle, unabhängig von Herkunft oder Glauben.
Der Islamische Staat setzt darauf, dass die Konfliktlinie gezeichnet wird als eine zwischen (sunnitischen) MuslimInnen und „Ungläubigen“. Die türkischen Rechten, die jetzt auf die Straße gehen, meinen, dass es eine zwischen TürkInnen und KurdInnen ist. Der Widerstand tut gut daran, die Ethnisierung und Theologisierung des Konflikts aufzubrechen. Es muss gelingen, die politische Idee, die die kurdische Bewegung vertritt – und die sie zumindest in vielen Aspekten mit der türkischen Linken teilt -, in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken.
Ein Element unter vielen in dieser Idee ist der Grundgedanke des Säkularismus, nämlich, dass eine Gesellschaft nicht nach den Vorgaben einer Religion zu richten hat, Kirche und Staat streng zu trennen seien. Im Moment macht es Sinn, genau dieses Thema in den Mittelpunkt des Diskurses in der Türkei zu rücken. Denn über die radikale Linke und die kurdische Bewegung hinaus könnten damit jene Schichten der Bevölkerung angesprochen werden, die zwar einerseits aufgrund kemalistischer und nationalistischer Ideologeme Vorurteile gegen die kurdische Bewegung haben, andererseits aber womöglich lieber mit der Linken und den KurdInnen für eine demokratische, säkulare Türkei einstehen, als sich dem Islamisierungskurs der AKP und deren nun auch innenpolitisch sichtbaren offenen Komplizenschaft mit islamistischen, dschihadistischen Sekten zu unterwerfen. Natürlich hat diese Bündnisstrategie Grenzen: Mit den alten nationalistisch-chauvinistischen Eliten, den von Erdogan entmachteten Militärs und ihrer zugehörigen Bourgeoisie muss man sich nicht gemein machen. Den/die „normalen“ CHP-WählerIn könnte man so allerdings vielleicht von einigen seiner Ressentiments befreien.
Kurz: Die KurdInnen müssen jetzt darauf achten, dass klar wird: Der Kampf, den sie gerade führen betrifft alle Menschen in der Region, nicht allein KurdInnen (oder Linke). Jeder und jede, die nicht in einem Kalifat oder in Erdogans neoliberalen Softcore-Variante eines ebensolchen leben will, sollte ihn unterstützen. Das sollte vor allem die größte Oppositionspartei CHP begreifen, die sich immer noch nicht klar positioniert und deren Repräsenanten neben richtigen Dingen gegen Erdogan auch allerhand Scheisse gegen die kurdische Bewegung verzapfen.
Staaten sind keine „Freunde“
Ein zweites fundamentales Missverständnis, mit dem aufgeräumt werden muss, betrifft die Rolle von kapitalistischen Staaten. Der Irrglaube, Staaten seien Instanzen, an die man nur nett „appellieren“ muss, dann „helfen“ sie einem, ist ebenso alt wie gefährlich. Ein imperialistischer Staat wie die BRD oder die USA handelt nicht aus Nächstenliebe, Humanität oder Mitleid. Staaten handeln nach Interessen, immer und zu jeder Zeit.
Es kann sein, dass sich diese Interessen zeitweise mit unseren eigenen überlagern und überschneiden. Stellen wir uns rein hypothetisch vor, die Bundesregierung etwa würde, weil sie sich dadurch geostrategisch wichtigen Einfluss in Nordsyrien erhofft oder es auf die dortigen Ölfelder abgesehen hat, der YPG Waffen nach Kobane liefern. Selbstverständlich wäre es unverantwortlich und kurzsichtig von der YPG diese Waffen dann nicht zu nehmen. Lenin fuhr in einem deutschen Zug zurück nach Russland als die Revolution begann. Er nutzte die Widersprüche zwischen Deutschland, das Russland eins auswischen wollte, und dem Zarenreich aus – aber für seine eigenen Zwecke, die Zwecke der Revolution. Ebenso könnte die YPG die Waffen nehmen, muss sich aber dann daran messen lassen, ob sie dafür Zugeständnisse gemacht hat (was schlecht wäre), oder eben nicht.
Man kann also Dinge, die Staaten tun, weil sie sich davon erhoffen, ihre Interessen durchzusetzen, im Rahmen einer revolutionären Strategie ausnutzen. Man muss sich aber davor hüten, in ihnen „Verbündete“, „Freunde“ oder ähnliches zu sehen. Gerade im Falle der USA sollte das offensichtlich sein. Washington hat sich in der Geschichte seiner Versuche, seine Interessen in der Region durchzusetzen, unterschiedlichster BündnispartnerInnen bedient, die aus sämtlichen politischen, ethnischen und religiösen Spektren kamen. Zum Gedeihen der betroffenen Gesellschaften hat das nie beigetragen.
Kurz: Kapitalistische Staaten tun, was sie tun, aus ihrem eigenen Interesse und dem ihrer Kapitalfraktionen. Man kann das zeitweise für sich nutzen, letztlich aber bleiben sie scheisse und wir werden sie früher oder später sowieso zerschlagen müssen.
Einheit von „unten“
„Es rettet und kein höh´res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun / Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun“, heißt es in altem Liedgut der ArbeiterInnenbewegung. Der Satz ist aktuell wie eh und je, und meint im Grunde dasselbe wie Abdullah Öcalan, wenn er sagt: „Die kurdische Freiheitsbewegung hat ihren zwanzigjährigen Kampf stets als Verteidigung der Geschwisterlichkeit des türkischen und kurdischen sowie aller Völker des Mittleren Ostens verstanden. Stets verfolgte sie dabei das Ziel einer demokratischen Einheit. Dabei stützen wir uns auf unsere eigene Kraft und unseren eigenen freien Willen. Sorgsam waren wir immer darum bemüht, unsere eigene Souveränität zu bewahren.“
Was Öcalan hier vorschlägt, ist eine „demokratische Einheit“ von „unten“ über ethnische und religiöse Trennlinien hinweg entlang eines politischen Projekts. Sollen sich in der Türkei, im Irak, im Iran oder Syrien politische Systeme etablieren lassen, die keine Failed States, Kalifate oder vom Westen abhängigen Marionettenregime sind, muss diese „demokratische Einheit“ letztlich irgendwie mit dem Umstand umgehen, dass es eine sunnitisch-muslimische Mehrheitsbevölkerung in der Region gibt und sich das auf absehbare Zeit auch nicht ändern wird.
Neben dem Versuch, jene Bevölkerungsteile, die für ein säkulares Zusammenleben eintreten zu gewinnen, müssen also Initiativen gestärkt werden, die innerhalb des Koordinatensystems des Islams eine vernunftgemäße Interpretation ihrer Religion in den Mittelpunkt stellen. Die PKK versucht das in ihren Hochburgen seit langem, noch spannender ist die Initiative der „Antikapitalistischen Muslime“, die sich seit der Gezi-Bewegung viel Gehör verschaffen.
Sie gehen in ihrem Manifest (Auszüge auf deutsch hier, vollständig auf türkisch hier) davon aus, dass jeder Prophet als eine „Widerstandsposition gegen das herrschende System seiner Zeit“ verstanden werden kann. Deshalb wolle man an der Seite der „Unterdrückten und Ausgebeuteten“ zusammen mit allen „ antikapitalistische(n) Haltungen, ohne Rücksicht auf Glauben oder Glaubenslosigkeit, ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, Sprache oder Ideologie“ zusammenarbeiten.
Die eigene Kraft
Der Narrativ des IS ist nur zum Teil ein theologischer, eigentlich aber ein politischer. Wer die Twitter- und Facebookprofile der Propagandisten des Dschihad durchsucht, findet schnell heraus, womit sie eigentlich Anhänger gewinnen. Sie stellen die erlittenen Demütigungen der sunnitischen Bevölkerungsteile im Irak und Syrien in den Mittelpunkt. Man wird kein Profil der Dschihadisten finden, in dem nicht Bilder aus Guantanamo und Abu Ghraib vorhanden sind, oder Übergriffe von US-Soldaten oder mit jenen verbündeter Milizen im Irak. Die Kriegsverbrechen und der Angriffskrieg auf den Irak, den die Vereinigten Staaten 2003 begannen, und der die Ausgangslage für die jetzige Situation bildet, dürfen nicht ausgeblendet werden.
Der Islamische Staat ist insofern dankbar für jede US-Intervention auf seiten seiner Gegner. „Ist das alles, was ihr könnt?“ fragte IS-Sprecher Abu Muhammad al-Adani nach Beginn der Luftschläge der US-Koalition. „Seid ihr oder eure Verbündeten nicht in der Lage, auf den Boden herunter zu kommen?“ Die Dschihadisten auf Twitter bemühen sich, den IS als die von allen „teuflischen“ Mächten verfolgte Bewegung Allahs darzustellen: „USA, Frankreich, Großbritannien, die Kurden, die Türkei, Assad – alle stehen gegen uns, und alle scheitern“, schrieb einer.
Der Mythos, den der IS kreieren will und recht erfolgreich kreirt besagt: Wir sind die einzigen, die für euch SunnitInnen einstehen, nur auf uns könnt ihr euch verlassen. Dieser Mythos ermöglicht ihm einerseits Bündnisse mit Stammesmilizen und sogar – wie in Mossul – ehemals baathistischen Gruppierungen. Zum anderen verschafft er ihm einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung.
Hier ergibt sich ein Problem: In dem Moment, in dem der Westen sich entschied, in einer Koalition, die so ziemlich alles versammelt, was in der sunnitischen Bevölkerung abgelehnt wird, einzugreifen, begann man, diesen Mythos zu bedienen. Der britische General Jonathan Shaw formuliert richtig: „Was für ein möglicher Vorteil ergibt sich für ISIS, wenn wir uns an der Kampagne beteiligen? Antwort: Sie können die muslimische Welt gegen die christliche Welt vereinigen. Wir haben ihnen in die Hände gespielt. Wir haben getan, was sie von uns erwarteten.“
Abgesehen von ihrer Halbherzigkeit und Wirkungslosigkeit für den Widerstand in Kobane (bombardiert wurde ja wenig überraschend nicht so, dass es der YPG viel genutzt hätte, sondern in den Fokus gerieten jene Ziele, die man für dem Westen dienlich hielt) hat die Intervention also den politischen Nebeneffekt, dass sie den Mythos des IS bedient. Diese Nebenwirkung müssen wir sehen und mit ihr umgehen, und all jene, die die KurdInnen gerne als „Verbündete“ der Vereinigten Staaten, Frankreichs, Großbritannien und Deutschlands sehen würden (eine Position, die es weniger bei der kurdischen Bewegung selber, sehr wohl aber bei einigen ihrer UnterstützerInnen gibt), sollten das nicht aus dem Blick verlieren.
Um nicht missverstanden zu werden: Sollte man deshalb Luftschläge, die den VerteidigerInnen Kobanes helfen (wenn es denn solche sind), ablehnen? Nein. Sollte man Waffenlieferungen (wenn es denn welche gäbe, was nicht der Fall ist) an die YPG zurückweisen? Sicher nicht. Aber man sollte verstehen, dass nur eine Strategie, die vor allem auf die eigene Kraft „ aller Völker des Mittleren Ostens“ – um nochmal Öcalan zu zitieren – setzt, in der Region Akzeptanz finden wird. Und eine solche Strategie muss sich letzten Endes auch gegen den westlichen Imperialismus wenden, selbst wenn es punktuell und momentan Überschneidungen mit seinen Interessen geben sollte.
-Von Peter Schaber
dust-n-steel 10. Oktober 2014 - 15:37
Sehr guter Artikel!
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