Als gelernter Österreicher saugt man nicht nur bedenkliches Trinkverhalten und antipreußischen Reflex mit der Muttermilch auf, sondern auch eine gewisse Portion Granteln. Der Schädel brummt noch ein wenig von der feuchtfröhlichen und tanzfreudigen Erkundung des Istanbuler Nachtlebens vom Vortag, als wir in Kurdistan landen. Und während ich mich im ersten Teil über die Hitze in Istanbul mokiert habe, verschlägt es mir beim Ausstieg aus der Onurair-Maschine am Flughafen in Elazığ ob der Schönheit der kurdischen Berge nicht nur die Sprache, sondern wegen der trockenen, beißenden Hitze gleich noch den Atem dazu.
Während sich in der Millionenmetropole Istanbul konservative Viertel, wo wir wegen kurzen Hosen und vor allem die mitreisenden Genossinnen wegen Kleidern und Kopftuchmangel schief beäugt werden, mit endlosen Schlangen von TouristInnen, die vor diversen Sehenswürdigkeiten schlecht gelaunt in der Sonne vor sich hin brutzeln, mit linken Stadtteilen, wo militante Herangehensweisen an die Fragen des täglichen Lebens zum guten Ton gehören, abwechseln, sind in Dersim die Verhältnisse klar. Zumindest was die Präsidentschaftswahlen angeht, die bei unserer Ankunft Anfang August noch nicht geschlagen sind: Keine haushohen Erdogan-Werbungen, die von „nationaler Größe“ und „nationalem Stolz“ sprechen; Keine Banner des gemeinsamen Kandidaten von kemalistisch-sozialdemokratischer CHP und faschistischer MHP, deren bewaffneter Arm in Form der Grauen Wölfe ja zuhause mitunter gemeinsam mit der österreichischen Sozialdemokratie den Ersten Mai begeht. Stattdessen sehen wir ausschließlich Wahlwerbung der HDP (Demokratische Partei der Völker), einem Zusammenschluss aus kurdischer Befreiungsbewegung und Teilen der türkischen Linken. Präsidentschaftskandidat Demirtas propagiert eine mehr oder minder sozialistische Perspektive und ist bei der Wahl der fortschrittlichste Kandidat, der teilweise auch von revolutionären Kräften unterstützt wird.
Am Flughafen werden wir von einem Genossen aus Dersim empfangen und steigen erstmals in unseren Hyundai Starex, in dem wir noch viele Kilometer durch Kurdistan fahren werden. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Elazığ (völlig überraschend gibt’s Cay, Ayran und Gegrilltes) starten wir unseren ersten Roadtrip durch die Berge. Unser Ziel für diese Nacht: Hozat. Der Hyundai bietet viel Platz und so sitzen bei unseren Reisen in der Regel vorne drei, hinten vier und im Kofferraum zwei bis drei. Aus den Boxen scheppern revolutionäre Lieder, deren Inhalt wir aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht nachvollziehen können. Mitgesungen wird natürlich trotzdem. Mit weit aufgerissenen Fenstern und die Landschaft mit einer Begeisterung fotografierend, wie man sie sonst nur von nervigen Tourigruppen kennt, die einer Fahne nach durch die Innenstadt hetzen und einfach jeden Scheißdreck ablichten, kommen wir vorbei an Weinreben, Obstbäumen und staubigen Feldstraßen an einen Stausee. Die Fähre, mit der wir ans andere Ufer kommen wollten, verpassen wir knapp. Das Warten auf die nächste ist hier kein Problem, denn die Kulisse ist mal wieder wunderschön. Knapp an der Grenze zum Kitsch senkt sich beim Warten auf das Boot die Sonne am späten Nachmittag langsam hinter einem Berg, der sich aus dem See erhebt. Möwen kreisen über unseren Köpfen, zwecks Kühlung werden die Füßen ins Wasser getaucht und leere Plastikflaschen schlängeln sich zwischen unseren Füßen am Ufer entlang. Romantisch.
Verbunden mit Tee, Zigaretten und Nicht-packen-weil’s-hier-so-schön-ist kommen wir nach der kurzen Überfahrt knapp vor Pertek an. Als Ausnahme-erscheinung in der Region wird Pertek doch tatsächlich von der AKP regiert. Deshalb seien auch die Straßen in dem Ort in einem so guten Zustand, erklärt uns S. Es wirkt wie ein kleiner Ausschnitt aus dem Alltag unter dem neuen Sultan von Ankara, unter dem System-Erdogan: stimm für mich, halt dich von RevolutionärInnen, KurdInnen und AlevitInnen fern, geh in die Moschee und bleib brav. Dann kommen neue Straßen oder staatliche Sozialleistungen, die nämlich nicht gesetzlich verankert sind, sondern deren Vergabe u.a. im Ermessen von regionalen Gouverneuren liegt. Vor welche Herausforderungen das die Menschen, die hier leben, stellt, werden uns in den kommenden Tagen Bürgermeister von kommunistisch regierten Gemeinden anschaulich berichten.
Der Weg nach Hozat führt durch Täler, entlang der rotbraunen Berge, die mit einzelnen Baumgruppen grün gepunktet in der Ferne erscheinen, entlang von Klippen, die neben der Straße hunderte Meter in die Tiefe führen. Unter Missachtung sämtlicher zumindest formal geltenden Benimmregeln des Straßenverkehrs wie Geschwindigkeitsbeschränkungen, Überholverboten oder einer maximalen Anzahl an Fahrgästen, brausen wir immer weiter und höher in die Berge hinein. Neben der Straße finden sich Graffiti und Malereien von PKK, HKO (Volksbefreiungsarme / MKP), Partizan (TKP/ML) und TKP. Plötzlich bremst der Genosse hinterm Lenkrad abrupt ab und wir schleifen uns neben der Fahrbahn am Schotter ein. Rauchpause.
Wir stehen am Straßenrand und überblicken ein tiefes Tal. Keine Bäume, kaum Schatten, viel Staub, trockene Gräser und Disteln. Der Fahrbahn entlang ziehen sich schroffe Steinklippen. Am anderen Ende des Tals sehen wir die türkische Fahne und gewaltige Letter in den Berg gezeichnet. Auch von unserem weit entfernten Standort sind die Buchstaben gut zu lesen. Ein Genosse deutet auf die steilen Klippen. Er erzählt vom Völkermord an den ArmenierInnen, davon als die Menschen in Dersim versuchten, zu helfen. 1937/38, gut zwanzig Jahre später, kam es hier zur Niederschlagung des Dersim-Aufstands. Die kurdisch und alevitisch dominierte Bevölkerung leistete Widerstand gegen die Türkisierungspolitik unter Atatürk. Die Antwort auf ihre Forderungen nach selbstbestimmtem Leben, dem Recht, die eigene Sprache zu sprechen, Kultur zu leben und Religion auszuüben war hart: Umsiedlungen von ganzen Dörfern, wo Dörfer nicht freiwillig verlassen wurden, gingen sie in Flammen auf, der gesamte Landstrich wurde großflächig verheert, Zehntausende deportiert. Folter, Vertreibung, Deportation und Mord kosteten weit über zehntausend Menschen das Leben, viele von ihnen ZivilistInnen und Kinder. Sie wurden im Rahmen der Türkisierung über die Klippen, an deren Rändern wir gerade geparkt haben, getrieben, gestoßen und geworfen. Wie schon 1915ff. beim Genozid an den ArmenierInnen. Die Fahne und die Buchstaben am anderen Ende des Tals hat die türkische Armee angebracht. Wir bekommen die Übersetzung: „Ich bin stolz, Türke zu sein.“
Beim letzten Tageslicht erreichen wir Hozat. Erschöpft lassen wir uns im Teehaus nieder und werden gemustert wie bunte Hunde. Äußerlich erkennbare MitteleuropäerInnen fallen in der kleinen, kurdischen Bergstadt auf. Wir spazieren noch herum, gewinnen erste Eindrücke von Hozat. Entlang der Straße hängen großformatige Bilder an den Hauswänden: sie erinnern an den Dersim-Aufstand, bilden Gefallene und Märtyrer ab, sie zitieren Gedichte von Nâzım Hikmet, Ché Guevara findet sich neben Seyit Rıza, dem in der ganzen Region präsenten Anführer des Dersim-Aufstands. Angebracht wurden sie, als die DHF bis vor kurzem noch stärkste Kraft im Ort war. Um wenige Stimmen mussten sie den ersten Platz bei der letzten Wahl an die CHP abtreten, was daran liegt, dass die Soldaten der umliegenden Militärbasen eine Wahlberechtigung haben. Zum permanenten Belagerungszustand werden wir später mehr erfahren. An Hauseingängen sitzen alte Frauen und plaudern miteinander. Sie unterbrechen ihre Gespräche kurz, als sie uns vorbei flanieren sehen. An den Wänden neben ihnen schwört die Volksbefreiungsarmee Rache für Berkin Elvan und die Toten von Soma. Unser Mitreisender Genosse Ö. ist aus Hozat, wuchs hier auf, ging hier zur Schule und als Guerilla in die Berge. Er scheint alle zu kennen: Eine Umarmung folgt der nächsten und es wirkt, als wäre er mit einem Drittel verwandt, dem anderen befreundet und dem nächsten verschwägert. In einem der vielen kleinen Läden organisieren wir noch Abendessen, Wasser, Raki und steigen wieder ins Auto. Von der Sonne ist schon lange nichts mehr zu sehen und im Vergleich zu Istanbul sind die Nächte in den Bergen angenehm kühl.
Auch wenn wir davon ausgingen in Hozat zu schlafen, ist es in dieser Region üblich, dass sich um die eigentliche Stadt in einem weiten Radius winzige Bergdörfer scharren, die aber wiederum der Stadt zugeordnet werden. Wieder was dazu gelernt. In eines dieser Dörfer geht die letzte Fahrt des heutigen Tages. Bei einer Sichtweite von geschätzten fünf Metern quält sich unser Auto im ersten Gang eine schmale, von Schlaglöchern durchzogene Schotterstraße weiter in die Berge hinauf. Die letzten Meter keucht der Hyundai ordentlich, allerdings fühlen wir uns beim Genossen S., hauptberuflicher LKW-Fahrer in der Steiermark und Maoist unserer Wahl, in sicheren Händen. Schließlich kommen wir in dem kleinen Bergdorf an und nehmen vorm größten der Handvoll Häuser im Dorf auf der Betonterrasse Platz. Ein paar sitzen um den Holzofen herum, legen nach und kochen Cay auf. Andere schieben noch Sessel und Tische herbei, damit wir alle sitzen können. Wir werden umarmt und geküsst, fühlen uns auf Anhieb wie zuhause. Nach der ersten Tasse Cay und der Vergewisserung, dass es das für den heutigen Tag mit dem Autofahren endlich war, wird uns erklärt, wo wir hier denn überhaupt sind. S. ist wieder so nett und macht stundenlang den Übersetzer. Der Mann, der neben mir sitzt, viel lacht, um sich kurz darauf wieder in ernste Gespräche zu vertiefen und uns den Tee serviert hat, ist ein alevitischer Dede. Ein Dede (=Großvater) kann am ehesten mit dem, was wir als Priester kennen, verglichen werden, wobei es doch ganz anders ist. Die naheliegende Frage ist jetzt natürlich, was zur Hölle eine Hyundailadung österreichischer, türkischer und kurdischer GenossInnen da jetzt mitten in der Nacht beim Dede im Bergdorf macht? Die Antwort darauf folgt demnächst.
Von Hermin Šnops
Dilan Tutay 11. August 2014 - 14:33
Bericht aus Kurdistan (Dersim)