Sibel Yalcin, Berkin Elvan und Kinder mit explodierenden Flaschen – Was man über die Millionenmetropole am Bosporus nicht in Reiseführern findet
Mein Weg in die Türkei und nach Kurdistan beginnt wie viele andere Tage auch: verkatert in Wien Ottakring. Er führt gekoppelt mit dem offenbaren Unvermögen der ÖBB grenzüberschreitende Zugreisen halbwegs vernünftig zu ermöglichen über die Stationen Wien-Graz-Spielfeld-Straß-Zidani Most-Ljubljana nach Istanbul.
Meine Begleitung aus Österreich sind zwei Genossinnen und ein Genosse aus Graz. In Istanbul und in Dersim werden weitere GenossInnen zu uns stoßen, mit uns linke Viertel in erkunden, mit einem Affenzahn über enge Gebirgsstraßen brausen und mit Raki auf den Lippen mehrsprachig ArbeiterInnenlieder anstimmen.
Wenn du das erste Mal in deinem Leben in Istanbul ankommst, keinen Bock auf klassischen Touri-Schmafu hast, von zwei Genossen vom Flughafen abgeholt und in die Wohnung von einem der beiden gefahren wirst, bist du vor allem eines: Baff. Schon allein der Straßenverkehr, wo Verkehrsregeln mehr als Anregung oder gut gemeinter Rat ausgelegt werden, überfordert. Davon abgesehen ist es Mitten im Sommer einfach heiß. Eine schwüle Hitze sorgt dafür, dass dein Shirt beim bloßen Herumstehen völlig durchnässt.
Wir sind die ersten Tage in Istanbul bei Ö. untergebracht. Ö. war lange Jahre als Guerilla in den Bergen Kurdistans, wurde angeschossen und verbrachte noch längere Jahre unter Folter, Hungerstreik und Todesfasten in türkischen Gefängnissen. Als er im Rahmen einer kurzzeitigen Amnestie nach Österreich gelangen konnte, lernte er Deutsch und spricht es nachwievor gut. Sein um zehn Jahre älter als sein Geburtsdatum wirkendes Gesicht kommt mir bekannt vor. Vielleicht haben wir uns auf einer Demo in Wien getroffen, so genau können wir es nicht rekonstruieren. Nach zehn Jahren Aufenthalt in Österreich und einer weiteren Amnestie konnte er schließlich wieder in die Türkei zurückkehren, seine Tage im bewaffneten Kampf hat er hinter sich gelassen. Nicht zurückgelassen hat er die Erfahrungen von Kampf, Folter und Haft.
Unsere Tage in Istanbul nutzen wir neben Biertrinken am Meer und ausführlichem Verwundern über die vielen Leute, die sich wegen Ramadan bei einer Affenhitze unter Tags keinen Schluck Wasser gönnen, auch für einen kleinen Abstecher in den Gezipark. Von den massiven Protesten im Vorjahr, von den Barrikaden, vom Tränengas und von den vom türkischen Stadt Ermordeten fehlt jede Spur. Eine Genossin zeigt uns, wo die Barrikaden standen, wo die Krankenstation war, wo gekocht wurde und wo die Bibliothek ihren Platz einnahm. Ihr geht es wie vielen Menschen, die sich an den Protesten und insbesondere am Leben im Park jenseits vom kapitalistischen Alltagswahnsinn beteiligten. Ihre Augen leuchten durch die dunkle Sonnenbrille hindurch, als sie davon spricht, wie die Einkäufe und die Verpflegung in diesem Experiment des selbstbestimmten Lebens unter der ständigen Bedrohung durch die Polizei funktioniert haben. Ein Jahr später sitzen Familien in der Wiese und spazieren TouristInnen über den Taksimplatz, der sich gleich neben dem Park befindet.
Wir besuchen auch das linke Stadtviertel Okmeydanı. Ortskundiger, Übersetzer, ständiger Begleiter und immer engerer Freund ist unser Genosse S., der in Graz wohnt und über den wir den Weg in die Türkei gefunden haben. Okmeydanı ist ein von revolutionären Kräften dominiertes Viertel. An jeder zweiten Wand finden sich Sprays verschiedener politischer Gruppen und Vereine. Antifaschistische Wandmalereien wechseln sich mit Bekundungen der Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf ab. Hammer und Sichel, rote Sterne, Aufforderungen zum Widerstand gegen das Bestehende, Stencils von Berkin Elvan und İbrahim Kaypakkaya prägen das Stadtbild in dem 120.000 EinwohnerInnen zählenden Teil Istanbuls.
Unsere erste Station führt uns in ein Vereinslokal der DHF (Föderation für Demokratische Rechte). Dort werden wir – wie noch viele weitere Male – zum nicht-ausschlagbaren Cay eingeladen. Wir werden durch das Lokal geführt: neben einem Sozialraum, in dem einige Tische besetzt sind, wird uns das Büro, das hauseigene Kino, das gleichzeitig für Diskussionsveranstaltungen verwendet wird, ein Kursraum und ein Proberaum gezeigt, in dem unter anderem Grup Munzur musizieren. Ein Genosse der DHF berichtet uns von ihrer Arbeit im Viertel, von den zahlreichen kulturellen Aktivitäten des Vereins, deren Vielzahl und Fülle den Stellenwert von kulturellen Fragen in der türkisch-kurdischen Linken uns hier erstmals im Verlauf unserer Reise vor Augen führt. An einer Wand hängen Gedichte, Zeichnungen und Briefe von Inhaftierten. Nach der nächsten Tasse Tee, weiteren Anekdoten und ein paar Zigaretten im Stiegenhaus brechen wir zur weiteren Erkundung des Viertels auf.
Wir kommen zu dem Ort an dem Berkin Elvan vergangenen Sommer als er Brot für seine Familie kaufen wollte von der türkischen Polizei ins Koma geschossen wurde. Das “Kind der Hoffnung” wurde zum Symbol der Geziproteste. Berkin verstarb abgemagert auf 16 Kilo im Alter von 15 Jahren am 11. März dieses Jahres. Landesweite Proteste von Millionen und zahlreichen Zusammenstößen waren die Folge. Erdogan bezeichnete ihn nach seinem Tod als Terrorist. An der Stelle, an der türkische Staat zuschlug, hängt ein großes Transparent mit dem Gesicht von Berkin Elvan. An der Wand steht geschrieben: Berkin Elvan ölümsüzdür. Berkin Elvan ist unsterblich. Bei über 35 Grad im Schatten fröstelt es mich.
Weiter über die steilen Gassen und gepflasterten Gehwegen von Okmeydanı führt uns unser Weg in einen Park, wo die GenossInnen, die uns begleiten, von Teetrinkenden vor einem kleinen Kaffeehaus begrüßt werden. Sofort wird Platz gemacht, werden mehr Sessel und Tische herbeigeschafft. Wir schütteln Hände, sagen merhaba und setzen uns. Bei unseren neuen Bekanntschaften handelt es sich um AnhängerInnen der Volksfront (Halk Cephesi). Im Schatten der Bäume und der nächsten Runde Cay erzählen sie uns von diesem grünen Fleck inmitten von Wohnhäusern, an deren Wänden zur Revolution aufgerufen wird. Und so zünden wir uns unsere ersten Zigaretten im Sibel-Yalçın-Park an ohne zu wissen, warum er diesen Namen trägt. Unsere Tee spendierenden, neuen GenossInnen erzählen uns die Geschichte der gefallenen Revolutionärin. Erzählen uns wie sie von der Polizei nach einer Auseinandersetzung ins Viertel verfolgt wurde, deuten ans andere Ende des Parks, wo sie sich verschanzt hatte und berichten von der Schändung ihrer Leiche mit zig Einschüssen, die ihrem Körper nach dem Tod von der türkischen Polizei zugefügt wurden. Das politische Leben im Viertel spielt sich über Veranstaltungen oder Versammlungen oft in dem Park ab, den die revolutionären Kräfte nach Sibel benannt haben. Mittlerweile sagen alle in dem Viertel so dazu.
In Okmeydanı haben weder Polizei noch AKP etwas zu suchen. Es wird uns berichtet, dass wenn ein Polizeiauto ins Viertel fährt, eine entsprechende Reaktion darauf erfolgt. Die bloße Anwesenheit gilt als Provokation und wird dementsprechend beantwortet. Und wenn die Provokation mal eine Woche ausbleibt, dann würde eben die nächste Polizeiwache angegriffen werden. Auf unsere Nachfrage, wie wir uns die Reaktion auf Polizeianwesenheit vorstellen können, kommt die Antwort, dass sich das schon mal bis zu scharfen Schüssen hochschaukelt, aber die Menschen zuerst alles, was sie gerade finden können, auf die Polizei werden. Scharf geschossen würde erst später werden, zuerst gibt’s “Kleinigkeiten” wie Mollis.
Die Auseinandersetzungen, die hier geführt werden, mögen für Menschen, die ihre politische Tätigkeit woanders entwickeln, fremd wirken. Hier gehören sie genauso zum Alltag wie der laute Knall, der die Erzählung im Park plötzlich unterbricht und uns zusammen zucken lässt. Die GenossInnen aus Okmeydanı lachen laut und herzlich über unsere Reaktion. Der Knall wird uns dadurch erklärt, dass die Kinder im Park üben. Üben heißt hier im Viertel kleine Bomben aus leeren Plastikflaschen und allerlei anderem Zeug zu basteln, um eine türkische Lira sind sie käuflich zu erwerben. Beim zweiten Knall reißt es uns weniger, beim dritten kaum mehr. Ein alter Genosse mit dickem Schnauzer zieht tief an seiner Zigarette und meint lachend, dass wir nach einem Tag das Knallen nicht mehr wahrnehmen würden und am nächsten schon mitkämpfen könnten. Wir scherzen noch viel, bedanken uns für Tee und spannende Geschichten. Danach schauen wir noch ein wenig den Kindern zu, wie sie die Flaschen in die Luft jagen und verlassen das Viertel wieder.
Dass der Titel für diese kleine Serie beim ersten Teil eine schamlose Täuschung war, offenbart sich an dieser Stelle. Weder Kofferraum, noch Kurdistan. Als Ausgleich wird der kommende Teil aber aus dem Vollen schöpfen: kurdische Berge, Übernachtungen in heiligen, alevitischen Häusern, Ziegenopfer, Verständigungsprobleme beim Zähneputzen mit Bergbauern und AtheistInnen beim Beten.
– Von Hermin Šnops
Can 9. August 2014 - 20:46
Klassebeitrag, freue mich auf Weitere!:-)