Wir haben uns mit sieben unterschiedlichen Menschen getroffen und sie nach ihrem einprägsamsten Moment der Gezi-Proteste vom letzten Sommer gefragt. Das sind ihre Geschichten.
[My Favorite Gezi-Moment] #1
Özgün, 23, Soziologie und Philosophie Student
Es war die Nacht vom 31.Mai auf den 1.Juni. Ich war seit ungefähr zwölf Stunden im Gezipark und fand gegen 23 Uhr das es Zeit wahr nach Hause, auf die anatolische Seite, zu fahren um mich auszuruhen. Als ich nach Hause kam waren weder meine Mutter noch mein Vater oder Bruder zu hause. ch rief sie an und sie sagten mir, dass sie zur Bagdat Straße (eine der reichsten Gegenden Istanbuls Anm. d. Red.) gelaufen sind, also habe ich mich ihnen angeschlossen und bin mitgelaufen. Wir sind Richtung Kadiköy gelaufen, da wir kein konkretes Ziel hatten, wir waren hunderttausende.
In Kadiköy sind nochmehr Menschen dazugekommen und es kam die Idee auf, nach Taksim zu gehen. Also sind wir Richtung Taksim losgelaufen, was ein sechs-Stunden Marsch von der Autobahnbrücke aus ist. Ich glaube um sieben Uhr früh sind wir in Besiktas angekommen. Die Polizei hat uns dort bereits mit zwei TOMA’s (Wasserwerfer) und einer Straßensperre erwartet und haben angefangen uns mit Gasgranaten und Plastikmunition zu beschießen. Nach unserem nächtlichen Marsch waren wir natürlich alle sehr müde und wir konnten sie nicht zurückdrängen und dann kam auch noch ein anderer TOMA von hinten, welcher uns alle erwischt hat da wir aus der Richtung keinen Angriff erwartet haben. Da wir uns ausruhen mussten haben wir uns dann zurückgezogen und kamen erst am Nachmittag wieder. Aber es war großartig, dass so viele Menschen mitten in der Nacht spontan Richtung Taksim marschiert sind, selbst wenn wir zu erschöpft waren um den Bullen Paroli zu bieten.
[My Favorite Gezi-Moment] #2
Idil, 21, Soziologiestudentin
Am 15. Juni, dem letzten Tag des Aufstands, war ich mit einem Freund und seiner Familie in Taksim unterwegs. Als wir zur Istiklar Straße kamen, sahen wir, dass diese bereits von der Polizei verbarrikadiert war um die Menschen daran zu hindern in den Park zu gehen. Dann passierte, was passieren musste, wir wurden mit Tränengas beschossen, die TOMA griffen an, das übliche also.ide. Lärm und Tränengas sind da die perfekten Auslöser. Mein Herz fängt dann an zu rasen und ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich bleibe einfach wie angewurzelt an Ort und Stelle.
Wir sahen also zu was passierte, natürlich gab es Auseinandersetzungen und eine Weile ging es hin und her, mal hatte die Polizei die Oberhand, mal die Demonstranten.
Irgendwann konnte den brutalen Angriffen der Polizei nicht mehr standgehalten werden. Auf einmal fingen alle an weg zu rennen. Tausende von Menschen rannten in meine Richtung und ich hab natürlich eine Panikattacke bekommen. Ich habe es dann doch irgendwann geschafft los zu rennen, hatte aber meine Freunde verloren. Er hat mich dann wiedergefunden und für uns beide entschieden, dass wir gehen. Wir sind also in ein Taxi eingestiegen und nach Mecidiyeköy gefahren. Als wir da angekommen waren, hatte sich dort auch schon eine Menschenmenge versammelt und demonstrierte. Dort griff die Polizei selbstverständlich wieder an. Als ersten kamen Lärmschockgranaten und dann mit Tränengas. Eine landete direkt bei unserem Auto und ich bekam sofort die nächste Pankikattacke, woraufhin der Taxifahrer umdrehte und uns nach Etiler fuhr.
Ich hatte mich dann beruhigt, wollte aber nicht nach hause gehen. Das war echt eine ziemliche Zwickmühle, ich wollte auf jeden Fall demonstrieren und auf der Straße bleiben, aber durch die ständigen Panikattacken war es ja nicht nur für mich gefährlich sondern auch für meine Freunde.
Wir sind dann erst mal Richtung Gayrettepe gelaufen und machten nur kurz eine Raucherpause als wir hörten, dass es lauter wurde. Als ich um die Ecke schaute sah ich zum dritten Mal an diesem Tag, wir riesige Menschenmassen in meine Richtung rannten und schrien und weinten, viele waren Blutverschmiert. Ich habe mich wie in einem Hollywood Film gefühlt. Ich meine es war fließender Verkehr und die Menschen rannten genau auf die Autos zu, welche dann so schnell sie konnten umdrehten und wegfuhren. Ich merkte wie ich schon wieder kurz vor einem Anfall war, aber in dem gleichen Moment hörten die Menschen auch auf weg zu rennen. Sie hatten gemerkt, dass ihnen nur ein einziger Polizist mit Tränengasgranaten gefolgt war und schlugen jetzt zurück. Irgendwie schaffte ich es meine Panikattacke zu beenden, vor sie richtig angefangen hatte und so schlossen wir uns der Demo an.
Das war für mich ein riesiger Moment. Ich hatte es geschafft meine Angst zu überwinden, dazu hat mich in gewisser Weise die Polizei gezwungen.
[My Favorite Gezi-Moment] #3
Öner, 23, Soziologiestudent
Es war am 27.Mai als ich das erste Mal die Leute im Gezipark gesehen hab, damals war ich allerdings noch nicht so sicher was das werden soll. Ich habe eigentlich auch nur auf Freunde gewartet, um mit ihnen in eine Kneipe zu gehen und hab beim warten die Leute beobachtet. Nach einigen Tagen und nachdem die ganze Gezisache explodiert ist, am 2.Juni genau genommen, bin ich mit einigen Freunden nach Besiktas gegangen. Die Polizei war in der Nähe des Dolmabace Palastes, wo auch die riesige Baustelle für das neue Besiktas Stadion ist. Es sammelten sich massenhaft Menschen dort und ich hatte eine Kamera mitgenommen die ich mir auf den Kopf gebunden hatte um alles zu Filmen. Ich war mit zwei Freunden da, einer hatte eine Armeegasmaske dabei und einer einen Helm, naja ich hatte nur eine Mütze mit einer angebundenen Kamera. Wir haben uns langsam Richtung Front begeben und haben auf dem Weg dorthin versucht die Situation einzuschätzen und zu raten was passieren wird. Bis jetzt gab es keinen physischen Kontakt, nur ein Paar Leute von Carsi haben Parolen gerufen und gesungen, die Polizei bereitete sich jedoch schon auf den Angriff vor. Wenig später haben die Carsi Leute angefangen Steine zu schmeißen und die Polizei hat angefangen Gasgranaten zu schießen, ich kann mich nicht mehr erinnern wer angefangen hat, aber das spielt im Grunde auch überhaupt keine Rolle. Ich erinnere mich, dass ich die Gasgranaten ins Stadion neben uns geschmissen hab, wo sie keinen Schaden anrichten konnten. Während dessen hat mir ein Typ ein Augenspray gegen das Tränengas angeboten, was ich natürlich dankend angenommen hab, als ich mich versorgt hatte, war er schon weiter gegangen, so dass ich ihm das Spray nicht zurückgeben konnte, also habe ich seine Aufgabe übernommen und bin herumgelaufen und hab Menschen versorgt. Wir haben es irgendwie geschafft ein die Polizei ein Stück zurückzudrängen, weshalb sie anfingen uns aufs übelste aus zu räuchern. Einige der Gasgranaten sind in Baumkronen gelandet, welche daraufhin zu brennen anfingen. Die Polizei hat ihre TOMAs benutzt um die Bäume zu löschen und gleich nachdem sie fertig waren mit löschen haben sie wieder angefangen uns massiv mit Gas zu beschießen. Ein Freund von mir, mit Asthma, hat das überhaupt nicht vertragen und wir mussten ihn in unser „Feldlazarett“ bringen was in einer angrenzenden Moschee war. Als wir zurück kamen war die Situation immer noch furchtbar, dass war der Tag an dem den Bullen die Gasgranaten ausgingen und sie neue bestellen mussten.
Wie auch immer, das wirkliche Highlight des Tages war, wie Leute von Carsi einen Bagger geklaut haben und ihn in „POMA“ (Polizeiinterventionsfahrzeug) umbenannt haben. Sie sind damit auf die Polizeibarrikaden zu gefahren woraufhin die Bullen nur noch weg gerannt sind. Sie haben sich den ganzen Weg nach Besiktas zurückgezogen. Mein Freund mit der Gasmaske war dabei direkt neben dem Bagger und es war seine allererste Demonstration überhaupt. Er war weder politisch noch hat er große Ideale, ich glaube er ist einfach ein normaler a-politischer Typ, aber er war mittendrin mit dabei. An diesem Tag ist er über sich hinausgewachsen. Ich selbst konnte nicht direkt am Bagger bleiben, da ich keine Gasmaske hatte, also bin ich ein Paar hundert Meter hinter ihnen hergelaufen und habe geholfen die Barrikaden auf zu bauen um den Raum zu sichern.
Als ich meinen Freund einige Stunden später wieder traf, waren seine Hosen komplett zerrissen, im Grunde war er nackt. Aber er erzählte mir wie großartig es war zu sehen, wie sich die Bullen zurückziehen und wie erfüllend das alles für ihn war.
An diesem Tag waren so viele Leute auf der Straße und haben mit gekämpft, auch alte Frauen und Männer, sogar Kinder waren da. Das hat für mich gezeigt, das durch Gezi etwas passiert ist, was Dekaden linker Mobilisierungen und Pamphlete nicht geschafft haben, es hat einen riesigen Teil der Bevölkerung politisiert.
[My Favorite Gezi Moment] #4
Sila, 21, Soziologiestundentin
Es war der 6. Juni und wir waren am Cihangir in der Nähe des Taksimplatzes.
Ich war mit meinem Vater und meinem Freund unterwegs und die Polizei hat uns in ein Café gejagt, in dem wir dann Schutz gesucht haben. Dann fing die Polizei an Gasgranaten ins Café zu schießen woraufhin viele Leute ohnmächtig wurden und sich erbrachen. Ich habe angefangen die Leute mit Talzit (ein neutralisierendes Spray Anm. d. Red.) einzusprühen und irgendwann wurde ich auch ohnmächtig. Mein Vater hat mich dann nach draußen getragen, aber ich hatte große Angst verhaftet zu werden, weshalb ich mich unter einem Auto versteckte, wo mich dann so ein Hipstertyp gefunden hat und mich mit zu ihm nach Hause nahm. Auf dem Weg dorthin wurde ich dann nochmal ohnmächtig aber als wir da waren konnte ich mich ausruhen. Ein Fremder hat mich in seine Wohnung geholt damit ich mich von den Angriffen der Polizei erholen konnte. Das war das beste an Gezi für mich, der solidarische Umgang miteinander, selbst von denen die, warum auch immer, nicht mitgekämpft haben.
[My Favorite Gezi-Moment] #5
Özde, 22, Linguistik Studentin
Am 31.Mai, dem ersten Tag des Aufstands, war ich schon um 6 Uhr morgens auf dem Platz. Es gab einen Aufruf von DISK (eine linke Gewerkschaft Anm. d. Red.) sich dort zu sammeln, aber niemand konnte ahnen, dass es so groß wird. Es war von vornherein schwer sich zu sammeln, es war sehr früh und die meisten mussten Arbeiten.
Während wir uns sammelten, sah ich einen Freund von mir aus der Energie Gewerkschaft. Als ich ihn fünf Minuten wieder sah, vielen ihm die Zähne aus dem Mund und sein gesamter Kiefer war zerstört. Eine Gasgranate hatte ihn getroffen.
An diesem Tag hat die Polizei nicht mal mehr ihr eigenes Lehrbuch befolgt. Auf der Akademie wird ihnen beigebracht, bei solchen Einsätzen einen Fluchtweg für die Menschen zu lassen, damit sie sich zerstreuen können. Das haben sie nicht getan, sie haben uns komplett eingekesselt und uns ausgeräuchert.
Da gab es auch diese Frau, eine Austauschstudentin, sie wollte ihre Doktorarbeit in Istanbul schreiben, sie hat fünf sprachen gesprochen. An diesem Tag wurde sie auch von einer Gasgranate am Kopf getroffen und wurde ins künstliche Koma versetzt. Alle dachte sie wäre Tod. Sie ist nicht gestorben, sie ist wieder aufgewacht, aber durch die massiven Kopfverletzungen ist sie heute auf dem intellektuellen Stand eines fünfjährigen Kindes.
Dieser Tag war wirklich furchtbar, sie haben sogar in die U-Bahn Gas geschossen.
Der Polizeiangriff war brutal, wir wurden sehr gewalttätig auseinander getrieben.
Nichtsdestotrotz gab es einen neun Aufruf, sich Mittags erneut zu versammeln.
Meine Klamotten waren so voll gesogen mit Tränengas, das ich mir noch während der Auseinandersetzungen neue suchen musste. Ich rannte also in den nächstbesten Laden und suchte mir etwas. An der Kasse fragte mich die Frau wie lange das wohl noch so weiter gehen würden. Ich sagte ihr, dass es noch eine ganze Weile sein würde.
Ich hatte noch drei Lira in meinem Portemonnaie. Die Klamotten die ich mir rausgesucht hatte sollten 30Lira kosten. Ich legte also meine drei Lira auf die Theke und sie sagte mir, dass es nicht genug sei. Ich guckte aus dem Fenster und sagte zu ihr: „Guck aus dem Fenster und denk nochmal darüber nach. Ich glaube am heute ist es genug!“ Dann habe ich meine Sachen genommen und bin gegangen.
Draußen ging der Kampf weiter. Je länger es dauerte, desto mehr Nachrichten bekam ich von verletzten Freunden, die von Gasgranaten getroffen oder zusammengeschlagen wurden und teilweise sehr schwere Kopfverletzungen davon trugen. Irgendwann kam der Punkt, an dem wir gar nicht mehr von Gezi weggingen. Wir blieben da und kämpften. Den ganzen Tag über wurde ich von unzähligen Gummigeschossen getroffen, was mich irgendwann gar nicht mehr störte, ich war in Gedanken bei meinen verletzten Freunden und dachte mir, dass meine Verletzungen in Vergleich nichts waren.
Das war auch die erste Nacht die ich in Gezi verbrachte. Die Polizei setzte ihre Angriffe die ganze Nacht durch fort. An einem Punkt musste ich mich auf eine Treppe hinsetzen weil ich kaum noch stehen konnte, als ich da saß wurde mir die Situation erst vollends bewusst. Überall waren Verwundete Menschen, aus allen Richtungen kamen Schmerzensschreie und Rufe nach medizinischer Hilfe, zwischen drin explodierten kontinuierlich die Gasgranaten. Das war so traumatisch für mich, dass ich in einen Schockzustand viel und wie gelähmt auf der Treppe sitzen blieb, selbst als die Polizei immer näher kam. Ich hatte Glück das mich jemand dort weg zog und mich zurück in die Realität holte.
Ich habe vorher noch nie in meinem Leben solche schweren Auseinandersetzungen erlebt.
Das hat mich extrem Verändert. Ehrlich gesagt, wer bei Gezi dabei war und von sich behauptet es hätte ihn nicht verändert, sagt nicht die Wahrheit. Solche Dinge verändern dich. Ich glaube, dass sich die Menschen, die mitgemacht haben und ihre Art und Weise die Welt zu betrachten an diesen Tag fundamental geändert haben.”
[My Favorite Gezi-Moment] #6
Ali, 24, Student
Als wir den Park erst einmal eingenommen hatten, es war glaube ich der zweite Tag von Gezi, haben wir angefangen Barrikaden zu bauen. Viele der Gezi-Demonstranten waren Hippies und Pazifisten und wurden ziemlich sauer deswegen. Aber wir haben das nun mal getan, um den Park zu schützen und haben uns auch nicht davon abbringen lassen.
Ich meine, stell dir mal vor, der Taksimplatz und der Gezipark, dass ist eine riesige freie Fläche. Wir haben dort schon in der Gezikommune gelebt, wir haben Zelte, Essen, Medizin und sogar Bücher miteinander geteilt, tatsächlich hatten wir sogar schon eine Bibliothek und das war echt schön, wie eine riesige 24-Stunden Party in dem zentralen Platz Istanbuls. Es ist echt eine ziemlich große Sache in der Türkei einen Platz zu besetzen.
Wie auch immer, wir haben jedenfalls angefangen den befreiten Bereich zu sichern, wir haben, glaube ich, allein in der Straße, die bergab nach Besiktas führt 27 riesige Barrikaden gebaut, aus allem was wir gefunden haben. Diese Barrikaden haben auch wirklich ihren Zweck erfüllt. Die Polizei konnte den Platz nicht mehr permanent angreifen, sie konnten ihn genau genommen bis zum elften Juni nicht zurückerobern. Das war der morgen, an dem wir den Taksimplatz verloren haben. Am 15. Juni haben wir dann den Park verloren. Als wir angefangen hatten alle Straßen zu verbarrikadieren, hat die Polizei sich nach Besiktas zurückgezogen und von dort ihre Angriffe gegen Taksim und gegen Besiktas – dessen Einwohner damals ziemlich aktiv mitgekämpft haben – zu koordinieren. Jede Nacht gingen wir runter zum Besiktas Stadion, wo auch ein kleiner besetzter Park war und hatten für ungefähr sechs Stunden Straßenschlachten mit der Polizei.
Ich vermute ihr kennt die Geschichte, da sie ziemlich berühmt geworden ist. Es ist die Geschichte von POMA*. Das war der zweite Juni. Die Bullenangriffe waren so heftig, dass wir uns in den kleinen Park zurückziehen mussten. Auf einmal kam dieses gelbe Ding in einem mörderischen Tempo auf uns zu, es war ein Bagger der von Carsi** konfisziert wurde und jetzt Richtung Polizei fuhr. Sie hatten Regenschirme um sich gegen die Gaskanister und TOMA’s zu schützen und ich glaub, dass war das erste Mal, an dem die Polizei wegrannte. Sie wussten nicht, was grade abging und haben Panik bekommen. Danach haben sie einen schweren Fehler begangen. Sie dachten doch ernsthaft, dass TOMA’s das Ding aufhalten können. Aber als der Bagger angefangen hat, seine riesige Schaufel auf und zu zumachen, haben sie wahrscheinlich realisiert, dass es keine gute Idee ist, die Straße gegen den POMA zu verteidigen. Ab dem Moment haben die Wasserwerfer zurückgesetzt und die Bullen sind wie Ratten abgehauen.
Ich bin an einem der Räder gelaufen, wir haben uns mit selbstgebauten Schilden geschützt und gewannen immer mehr Boden. Wir waren auf dem besten Weg, bis zum Büro des Premierministers vorzudringen. Dort haben sich aber schon andere Leute eine Straßenschlacht geliefert. Wir haben also die Bullen zwischen den beiden Fronten immer mehr zusammengedrückt und sie müssen auch gemerkt habe, dass sie das erste Mal richtig Boden verloren haben. Danach weiß ich nicht mehr genau was passiert ist. Irgendwie haben sie es geschafft den POMA zurück zu erobern und ihn niederzubrennen. Sie haben ihn dann für 15 Tage da stehen lassen, wahrscheinlich als Warnung für uns. Nichts desto trotz ist er das Symbol des Geziwiderstands geworden. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich an den Moment denke, an dem wir die Bullen zum Rennen gebracht haben. Außerdem hatte die Aktion den praktischen Nutzen, dass hinter dem POMA tausende Leute kamen und Material für Barrikaden mitgebracht haben, wir haben ungefähr 500 Meter Raumgewinn gehabt durch eine einzige Aktion.
*abgewandelte Form der Abkürzung für Wasserwerfer: TOMA
Toplumsal Olaylara Müdahale Aracı (Fahrzeug zur Intervention bei gesellschaftlichen/sozialen Ereignissen) daraus wurde POMA, das Fahrzeug zur Intervention gegen Polizeiangriffe
**Ultras des Fußballteams von Besiktas
[My Favorite Gezi-Moment] #7
Berke, 26, Student
In den letzten Mai-Tagen haben wir des öfteren den Park besucht, da waren die ganzen Ökos und Hippies und haben sich versammelt und Trommel gespielt. Wir haben dann in den Nachrichten gesehen, wie die Polizei um 5 Uhr früh das Camp angegriffen und die Zelte niedergebrannt hat. Ich meine das waren alles Pazifisten, während dem Angriff haben sie die ganze Zeit Parolen gerufen wie „Bitte brennt nicht unsere Zelte nieder“ oder „ihr seid auch unsere Polizei“.
Während meiner früheren Besuche hab ich mir immer gedacht, dass aus der Sache nichts großes werden wird. Ich dachte mir einfach, aus diesen Hippie-Versammlungen kann keine progressive, gesellschaftsverändernde Sache werden. Ich meine Parks zu besetzten, weil dort Kaufhäuser gebaut werden sollen? Das macht die AKP doch schon seit über zehn Jahren, das war also nichts Besonderes.
Aber als ich dann am 29. Mai in den Nachrichten gesehen habe, wie diese Mischung aus Ökos, Anarchisten und Hippies am frühen Morgen, während sie noch geschlafen haben, von der Polizei angegriffen wurden, hat es vermutlich einfach ‚Klick‘ gemacht.
Danach strömten die Leute in den Park, das war ein Tag vor dem Aufstand, in dieser Nacht waren wir ungefähr 20.000 Menschen. Es gab ein kleines, friedliches Konzert, von dem sich die Polizei auch fern hielt. Also bin ich zurück nach Hause gegangen und wieder griff die Polizei zwischen vier und fünf Uhr morgens den Park an und räumte ihn. Ich bin also aufgewacht und sah im Fernsehen diese Szene, der Gezipark und der Taksimplatz waren von der Polizei verbarrikadiert. Wir waren zu viert bei mir zu Hause und es war das erste Mal, dass uns bewusst wurde, was für Potential in dieser Sache steckte. Es war so gegen 11 Uhr vormittags und es gab diese kleinen Auseinandersetzungen, kleine Kundgebungen wurden von der Polizei angegriffen. Wir sind also über die Nebenstraßen in Richtung Taksimplatz gelaufen.
Vielleicht kurz zur Erklärung, durch den ganzen Mai hindurch gab es enorm viel Auseinandersetzungen und Polizeigewalt. Vom ersten bis fünften Mai gab es durchgängig Straßenschlachten, woraufhin die AKP jegliche Versammlung im Bereich Taksim verboten hatte.
Als wir jedenfalls am Taksimplatz ankamen, sah ich wie die TOMAs ihre Tanks mit Wasser aus der Kanalisation auffüllten.
Zu 12 Uhr Mittags hatte DISK (Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften) zu einem Sit-in auf dem Taksimplatz aufgerufen. Wir entschieden uns also da hinzugehen. Mit uns waren auch Parlamentarier, ich habe gehört, wie die Polizisten besprochen haben zu warten, bis diese gegangen sind um dann die restlichen Demonstranten „zu zerstreuen“. Es war also klar, dass wir angegriffen würden, es war ja auch verboten, sich da zu versammeln. Aber wir waren um die 800 Leute, also haben wir uns dort hingesetzt.
Völlig überraschend startete die Polizei dann ihren Angriff und der war extrem. Ich meine, wenn man auch nur ein bisschen Menschlichkeit in sich übrig hat, würde man so etwas nicht machen.
Hunderte Gasbomben regneten auf uns, zwei Wasserwerfer aus verschiedenen Richtungen, viele Leute sind ohnmächtig geworden und eine libanesische Frau wurde von einer Gasgranate am Kopf getroffen und lag blutend am Boden und zitterte. Sie lag dann vier Monate im Koma und hat die Fähigkeit zu sprechen verlernt, es wurde ihr dann wieder beigebracht, erst Türkisch, dann Arabisch und dann Englisch. Ich glaube sie war vorher Künstlerin, aber wenn du eine Gasgranate an den Kopf bekommst, kannst du wahrscheinlich von Glück sprechen wenn du überlebst.
Jedenfalls hatten wir bei diesem Angriff nicht die geringste Chance. Selbst Leute, die nur zufällig dort vorbei liefen, schrieen die Polizisten an, sie sollen aufhören, diese „harmlosen Kinder“ anzugreifen. Bis zu diesem Moment waren wir ja auch wirklich friedlich und harmlos.
Dann haben wir aber angefangen uns zu wehren. Auf der Straße, die bergab Richtung Besiktas führt, haben wir angefangen die TOMAs anzugreifen. Nach circa einer halben Stunde hatten sie uns aus dem Bezirk gedrängt; für die nächsten zwei Stunden erkämpften wir uns unseren Weg zurück und es wurden immer mehr Menschen. Es waren noch nicht die Massen, die es später wurden, aber es waren ein paar tausend. Wir haben uns dann vor dem Taksim-Krankenhaus versammelt und versucht uns den Weg auf den Platz zu erkämpfen, was wir schließlich auch schafften. Es gab dann einen sehr komischen Moment der Ruhe, niemand wusste, was passieren würde – bis die Polizei zum zweiten Mal einen brutalen Angriff startete. Dabei wurde wahrscheinlich die Hälfte der Leute auf dem Platz ohnmächtig, aber diesmal waren einige Medien vertreten und haben live gesendet, wodurch die Menschen erfuhren, was da abging.
Irgendwie waren wir dann wieder an den Platz, von dem wir gestartet waren, vor dem Taksim-Krankenhaus und konnten uns neu organisieren. Dort wurden es von Minute zu Minute mehr Leute und zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht mal, dass sich auf der Istiklar-Straße auch Menschen versammelt hatten und es dort auch Straßenschlachten gab.
Wir dachten, dass es wie immer in den letzten fünf Jahren ist und wieder bloß die „üblichen Verdächtigen“ gekommen waren. Aber als wir dann gegen 18 Uhr unsere ersten Schritte in die Istiklar-Straße gesetzt hatten, konnten wir unseren Augen kaum trauen. Da waren hunderttausende und ich hab mir die Szenerie völlig ungläubig angeschaut und mir gedacht: „Wer zur Hölle seid ihr und warum seid ihr hier?“ Ich hatte so was noch nie gesehen. Hunderttausende haben sich ihren Weg auf den Taksimplatz erkämpft und die Polizei hat so unglaublich viel Gasbomben und Lärmschockgranaten verschossen. Jede einzelne Sekunde hat es gekracht, die Granaten waren fast wie ein Herzschlag.
Sie haben zu dem Zeitpunkt keine Pepperballs verwendet, was irgendwie nett war, aber auch einfach ineffektiv ist, wenn man mehrere hunderttausend Menschen zerstreuen will.
An der Stelle krachte es für Stunden. Wir wichen keinen Schritt zurück und sie auch nicht.
Wir wussten, dass diese Sache noch viel größer werden würde. Als ob etwas entzündet wurde und gleich explodiert.
Mit diesem Gedanken sind wir dann erst mal nach Hause gegangen um etwas zu schlafen und etwas zu essen, wir hatten immerhin den ganzen Tag gekämpft.
Ich wurde gegen zwei Uhr früh wach. Ich wohne eigentlich in einer sehr ruhigen Gegend, aber in dieser Nacht bin ich durch einen Heidenlärm wach geworden. Die Menschen trommelten auf Töpfen und Pfannen und mir wurde wieder klar, dass in der Türkei etwas Großes im Gange war.
Ich hab also aus meinem Fenster geschaut um zu sehen was los war und sah diese Leute, die Lärm machten um die Nachbarschaft zu wecken – und das meine ich nicht im metaphorischen Sinne, sie haben uns wirklich aufgeweckt. Also bin ich auch runter auf die Straße und mit mir kamen noch einige andere aus ihren Häusern, und ohne ein Wort miteinander zu reden liefen wir gemeinsam in Richtung Besiktasplatz. Da waren schon 300 Leute und wir haben dann angefangen Parolen zu rufen und Autos anzuhalten. Innerhalb von einer halben Stunde waren wir mehrere tausend Menschen und sind in Richtung des Büros des Premierministers gelaufen um es anzugreifen.
Die Polizei konnte nichts tun, da sie sich im Gebäude versteckten, also sind wir einfach weitergelaufen und waren erneut auf dem Weg nach Taksim.
Die Straße vor dem Besiktas-Stadion war jedoch schon von der Polizei verbarrikadiert und in diesem Moment fingen sie an uns von zwei Seiten anzugreifen. Wir konnten also in keine der beiden Richtungen. Erneut ist es uns jedoch gelungen uns über Nebenstraßen zurückzuziehen um uns beim Besiktasplatz neu zu organisieren. Als wir da ankamen sahen wir, dass sich dort weitere zehntausend Menschen versammelt hatten. Wir griffen also erneut die Polizei und die TOMAs an, da diese sich auch schon zum Angriff bereit gemacht hatten. Diese Auseinandersetzung dauerte bis ungefähr 6 Uhr früh und es war einfach so ein riesiger Ausbruch von Gewalt, dass man sich extrem lebendig gefühlt hat obwohl man wusste, dass man jede Minute hätte erschossen werden können. Immerhin haben wir das Büro des Premierministers angegriffen, was halt als Ventil für all die angestaute Wut herhalten musste, da es etwas sehr Hässliches repräsentierte und zerstört werden musste. Wir haben dann hinter Lkws Schutz gesucht, die diese Richtung fuhren, es regnete ja auch immer noch Granaten auf uns. Bis die Polizei ihre Verstärkung erhalten hatte und uns zum Besiktasplatz zurückdrängen konnte waren wir schon auf vielleicht 20 Meter an sie herangekommen.
Wir hatten schon gehört, dass um die 50.000 Menschen von der anatolischen Seite in Richtung der Brücke liefen und auf dem Platz hörten wir dann, dass sie es sogar schon auf die Brücke geschafft hatten, also direkt auf uns zukamen. Wir wollten natürlich auf sie warten, jedoch waren wir furchtbar müde und konnten den Angriffen nicht mehr Stand halten, also zerstreuten sie uns.
Ich bin dann nach Hause gegangen. Genau genommen, haben sie mich fast bis vor meine Haustür gejagt. Die Demo von der anatolischen Seite wurde dann auch zerschlagen, als sie angekommen war. Die Leute waren wie gesagt auch einfach furchtbar müde, zu dem Zeitpunkt hatten die meisten schon mehrere Tage extrem harte Straßenkämpfe mit sehr wenig Schlaf und Essen hinter sich.
Ich hab mich dann hingelegt und wieder so drei oder vier Stunden geschlafen. Dieses Mal wurde ich aber von meinem eigenen Drang, nach Taksim zu gehen, geweckt. Also wieder raus auf die Straße, wieder zum Besiktasplatz, aber diesmal waren wir hunderttausende und wir marschierten auf Taksim. Wir kamen auch relativ problemlos bis dahin und als wir an dem Platz angekommen waren waren wir Millionen von Menschen. Die Ruhe war jedoch trügerisch und in dem Moment, in dem wir uns auf dem Platz versammelten, griffen die Bullen erneut an. Extrem gewalttätig und ohne jegliche Rücksicht auf Verluste. Das war wirklich ein furchtbarer Moment, da man einfach nicht weggekommen ist. Alles war voll mit Menschen, selbst die Seitenstraßen, überall waren Leute.
Man musste also in dieser riesigen Gaswolke bleiben und sich dabei auf so viele Sachen konzentrieren. Ruhe bewahren, nicht ohnmächtig werden, nicht von Gasgranaten getroffen werden-die zum Teil auch aus Hubschraubern in die Menge geschossen wurden. Ich meine, es ist leicht vorstellbar, was mit deinem Kopf passiert, wenn ein Kilo Metall mit großer Geschwindigkeit dagegen kracht.
Diese Situation dauerte ungefähr zwei Stunden. Die Gasbomben explodierten im Sekundentakt, ich kann das knallen heute noch manchmal hören.
Da wir keine Möglichkeit zum Rückzug hatten, blieb uns nur eine Richtung – vorwärts.
Also haben wir sie Meter für Meter mit Flaschen und Steinen zurückgedrängt, woraufhin sie eine weitere Angriffswelle starteten, da sie uns nicht bis an die Treppen des Parks kommen lassen wollten. Sie haben versucht uns mit aller Kraft daran zu hindern, in den Park zu kommen und der war ja auch rundherum verbarrikadiert. Nichtsdestotrotz haben es immer mehr Leute geschafft hineinzukommen. Ich habe es mit einer Gruppe von 200 Leuten geschafft über die Barrikaden zu springen. Der Moment, in dem ich wieder den Boden von diesem Park berührte, hatte für mich irgendwie Symbolkraft. Das war ein unbeschreiblicher Moment, ich hatte die vorangegangen Tage fast ununterbrochen gekämpft um in den Park zu kommen und jetzt war ich tatsächlich drin. Ich hab mit meiner physischen Kraft und meiner bloßen Anwesenheit dazu beigetragen ihn zu besetzen und mit mir die Millionen von Menschen.
Die Bullen zogen sich schon zurück, ich vermute denen war auch klar, dass wir zu diesem Zeitpunkt nicht aufzuhalten waren. Wir sind ihnen gefolgt.
Wir haben es geschafft, dass sie einen Schritt zurückgehen mussten und das war nicht einfach nur ein taktischer Rückzug, es war eine kopflose Flucht. Wir sind ihnen immer weiter gefolgt, schon damit sie erst gar keine Möglichkeit bekommen konnten, sich neu zu formieren und uns erneut anzugreifen.
Wir haben sie unter konstantem Stein-und Flaschenhagel und ständigem Zwillenbeschuss bis zu ihrer mobilen Einsatzzentrale hinter dem Gezipark getrieben. Sie waren so bemüht, dort so schnell wie möglich abzuhauen, dass sie sich dabei gegenseitig im Weg standen. Sie haben sich ihren eigenen Stau fabriziert. Logischerweise waren die Straßen rund um den Park die ganze Zeit leer und wurden nur von den Bullen genutzt, und dennoch standen sie im Stau.
Das war natürlich überhaupt nicht gut für sie. Sie saßen da in ihren Bussen und wollten weg, während wir immer näher kamen und sie immer noch angriffen.
Sie haben sogar ihre eigenen Freunde zurückgelassen, so dass wir sechs von ihnen gefangen nehmen konnten. Einer von denen hatte sich unter seinem Fahrersitz versteckt, ich hab gegen sein Fenster geklopft und ihn mit einer Kopfbewegung zum Aussteigen aufgefordert, er hat am ganzen Körper gezittert, hatte aber zum Glück keine Waffe. Wir haben alles von ihnen konfisziert, was dem Staat gehörte: Uniform, Knüppel, Helm, Protektoren, Gasmasken, Schilde und so weiter. Danach haben wir die zurückgelassenen Fahrzeuge durchsucht und auch dort waren Unmengen an zurückgelassener Ausrüstung und – am allerwichtigsten – Essen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mir drei dieser ekelhaften Fertig-Sandwiches auf einmal in den Mund schob. In dem Moment war es das Beste, was ich je gegessen hatte.
Auf einmal hörten wir Schüsse, also keine Gasgranaten sondern richtige Patronen. Es wurden mehrere Salven in den Himmel geschossen und wir haben uns alle auf den Boden geschmissen.
In dem Moment schnappte ich auch wieder aus diesem rauschartigem Zustand zurück in die Realität. Wir sind wie Wahnsinnige, ohne Rücksicht auf Verluste, in die Richtung der Bullen gestürmt und irgendwie hat sich das ganz natürlich angefühlt, so als müsste es genau so sein.
Das was dort passiert war, war wie Krieg. Wir sind physisch gegen einen Feind in den Krieg gezogen, was natürlich bedeutet, dass man auch auf seinen Selbstschutz achten muss.
Als die Salven also aufgehört hatten sind wir in alle möglichen Richtungen abgehauen. Ich bin gerannt wie noch nie. Wie nicht anders zu erwarten war, bin ich natürlich in die falsche Richtung gerannt, genau in die Armee der Verstärkung der Bullen. Ich habe für wenige Sekunden Augenkontakt zu dem Zugführer gehabt, während fünf oder sechs von ihnen auf mich mit Gasgranatwerfern zielten und bin dann wie in einem schlechten Film zur Seite in die Büsche gesprungen. Ich bin dann durch mehrere Büsche und über ein Paar Zäune aus dem Park raus gekommen und hab mich mit einem Typen, den ich grade erst im Park kennengelernt hatte, in einer Tiefgarage versteckt. Nach einigen Stunden sind wir dann über Sisli zurück nach Taksim gegangen und sahen, dass der Park von Millionen von Menschen besetzt war. Das war mit Abstand das großartigste, was ich je erlebt habe.
#Karl Plumba
hubert 30. Juni 2014 - 3:12
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thanks for information!