Der erste Mai in Istanbul. Einige Bemerkungen und Tipps zur Straßenmilitanz
Wir haben auf den Seiten unseres schmucken Magazins sehr oft über die politische Situation in der Türkei und die Gründe, warum hier nicht erst seit Gezi viele die Schnauze voll haben, geschrieben. Weil das so ist, dürfen wir für das folgende einfach voraussetzen, dass wir uns alle einig sind, dass Widerstand in diesem Land legitim ist, und er notwendiger Weise militant sein muss, da zumindest in diesem Staat ansonsten nichts zu erreichen ist. Was im allgemeinen gilt, gilt auch für den ersten Mai. Die türkische Regierung hat ihn verboten und die gesamte Stadt zu einer quasimilitärisch besetzten „Gefahrenzone“ gemacht.
Es boten sich für diejenigen, die den Kampftag der Arbeiterklasse begehen wollten, nur zwei Möglichkeiten: Aufgeben oder kämpfen. Zehntausende haben sich für letzteres entschieden. Wir wollen dieses Mal nicht erklären, warum sie kämpfen (das haben wir oft genug getan), sondern uns die technische Seite ansehen. Wie und warum gelingt es fünfhundert türkischen Demonstranten eine Straße zu stürmen, die von zwei Wasserwerfern und hundert Cops mit Tränengas, Schockgranaten und anderem Spielzeug verteidigt werden?
Los geht´s
Der erste Mai beginnt früh. Um sechs Uhr morgen klingelt der Wecker, mein Freund und Genosse weckt mich, wir müssen los. Denn einen zentralen Treffpunkt gibt es nicht. Zwar sind einige „offizielle“ Orte bekannt, an denen Demonstranten sich sammeln wollen, in Besiktas, in Tarlabasi, in Sisli und Okmeydani. Doch irgendeinen dieser Punkte auch wirklich zu erreichen, ist nicht einfach. Busse, Taxis oder Fähren (wenn man aus dem asiatischen Teil Istanbuls kommen will) kann man vergessen. Große Straßen muss man meiden, sie sind durch massive Polizeisperren gesperrt, für viele kleine Straßen gilt das gleiche.
Wir laufen sehr lange, kommen irgendwann aber an einem der Punkte an: Vor dem Gebäude der Arbeitergewerkschaft DISK, in dem viele Aktivisten übernachtet haben, im Stadtteil Sisli. Einige hundert Demonstranten sind hier, die Hälfte Revolutionäre, die schon mit Helmen und Masken ausgerüstet sind. Ein paar haben Schilder mit, viele Zwillen. Langsam kommen immer mehr Aktivisten durch die Seitenstraßen, wir hören vom ersten Polizeiangriff auf die Genossen in Besiktas. Die Zeitungen melden bereits den Angriff auf das DISK-Gebäude, auch wenn der erst zwei Stunden später tatsächlich stattfindet.
Das Gewerkschaftshaus liegt in einer Parallelstraße der Halaskargazi Caddesi, einer breiten Einkaufsstraße, in der Nakiye Elgün Sokak. Hier, geht man von der Halaskargazi weg in die andere Richtung, ist das Gebiet gut für Straßenschlachten geeignet. Es ist kein permanenter Kampf gegen einen auf einem höheren Platz stehenden Gegner wie in vielen anderen Straßen zum Taksim, es gibt viele kleine miteinander verbundene Straßen.
Gegen elf Uhr, als einige hundert Demonstranten im Umfeld des DISK-Hauses warten, laufen Jugendliche aus Okmeydani aus einer der Seitenstraßen. Sie skandieren Parolen aus der Tradition der an Mahir Cayan orientierten Linken, die Stimmung wird spürbar anders. Viele klatschen, denn sie wissen, wenn Leute aus Okmeydani und Gazi kommen, wird der Kampf mit der Polizei ausgeglichener. „Die sind einfach anders“, sagt ein Freund. „In diesen Stadtteilen musst du von klein auf lernen zu kämpfen. Dort musst du deinen Kiez mindestens einmal die Woche gegen Bullen verteidigen.“ Und wirklich, diese jungen Frauen und Männer sind die ersten, die Barrikaden bauen und die letzten, die sie verlassen. Sie tragen oft keine Gasmasken, nur rote Tücher und trotzdem halten sie das Gas länger aus, als viele, die mit Vollmasken zur Demo kommen.
Die ersten Angriffe
Der erste größere Angriff auf die Polizei beginnt in einer etwa 200 Meter vom Gewerkschaftshaus entfernten Seitenstraße. Die läuft bergab, der Wasserwerfer und ein Trupp Bullen mit Gasausrüstung stehen unten, wir oben. Das ist eine komfortable Ausgangslage. Schon zuvor beginnen einige Aktivisten in den zu unserem Angriffspunkt führenden Straßen die Straßenlaternen abzuschrauben und quer über die Straße zu legen. Das hilft gegen Fahrzeuge. Man organisiert sich einen Rückzugsraum, in dem man im Notfall, wenn das Gas zu unerträglich wird, kurz Luft holen kann. Die für den Rückzug gedachte Straße muss mit anderen Straßen verbunden sein, damit man nicht in der Falle sitzt, sollte die Offensive doch zur Defensive werden.
In der Rückzugsstraße beginnen einige Aktivisten Steine auszugraben, später dann werden dort die Verletzten versorgt. Der Angriff ist einer auf Distanz. Es werden einige Gegenstände auf die Straße geschoben, hinter denen man Deckung suchen kann, wenn man keine hat, sollte man sich am Straßenrand bewegen. Die entscheidende Waffe auf diese Entfernung ist die Zwille. In dieser Straße ist es unmöglich nah genug ran zu kommen, um zu werfen, deshalb geht nur die Schleuder oder die Pyrotechnikbatterien, die man über dem Kopf oder an Holz befestigt hält und in Richtung des Gegners abfeuert.
Die Hauptmasse der vor dem DISK-Gebäude versammelten Demonstranten beschließt nun, nicht in Richtung der kleineren Straßen zu gehen, sondern zuerst die Halaskargazi Caddesi zu versuchen. Diese ist durch mehrere massive Polizeisperren blockiert, und zwar vor und hinter den Demonstranten. Der einzige Fluchtweg sind schmale Treppen zurück zum DISK-Büro. Die Demonstranten sammeln sich kurz, einige Tausend sind es nun. Der Angriff lässt nicht lange auf sich warten, der Widerstand hier ist nur kurz, denn es gibt kein Material für Barrikaden und man hat den Gegner an drei von vier möglichen Wegen. Der Rückweg durch das Nadelöhr ist panisch, viele bekommen keine Luft mehr, weil die Straße völlig zu mit Gas ist. Alles in allem war der Weg auf die Hauptstraße eine mäßige Idee, die zwar für die Presse illustrative Bilder hervorbrachte, aber keinen Fortschritt gegen die Bullen.
Die Kunst des Barrikadenbaus
Allerdings beginnt nun der Tag richtig. In den kleineren Straßen gehen die Auseinandersetzungen los, man muss sich jeden Meter erkämpfen. Die Aktivistinnen und Aktivisten einiger revolutionärer Gruppen haben während des Angriffs auf der Halaskargazi einige kleinere Straßen gehalten und nun strömen immer mehr Leute in diese Straße.
Irgendwann gelingt es, an einer Straßenecke der Silahsör Caddesi eine tatsächliche Barrikade zu bauen. Wie das hier gemacht wird, ist taktisch interessant. Einige Aktivisten rüsten sich mit „mobilen Barrikaden“ aus, also großen Holzplatten, Bauplatten aus Leichtmetall oder Schildern, was eben zu finden ist. Die vorderste Reihe hält die Barrikade, dahinter laufen Leute mit Mollies, Steinen, Zwillen und greifen den Gegner an, in diesem Fall zwei relativ nah stehende Wasserwerfer und einige Reihen Bullen, die etwas weiter weg stehen und Tränengas feuern.
Während die vorne die mobile Barrikade halten und einige angreifen, schaffen andere hinter der mobilen Barrikade Material für eine selbst stehende Barrikade heran. Rückt man weiter vor, wird das Material der selbst stehenden Barrikade hinter der mobilen Barrikade ebenfalls vorgezogen. Sehr wichtig sind die Leute, die mit Handschuhen und Masken ausgestattet sind, und die Gasgranten zurückwerfen, oder – wenn es eines gibt – ins nächstgelegene Feuer (das hilft auch).
In diesem Fall gelang es, die Barrikade sehr lange zu halten und auch Raumgewinne durchzusetzen, z.B. die Kreuzung zur Abide-i Hürriyet Sokak freizukämpfen, sodass dort befindliche Demonstranten nun auch zur Barrikade nachrücken konnten.
Organisation, Disziplin, Kommunikation
Zentral für das Gelingen dieser Strategie ist zunächst, dass 90 Prozent der hier agierenden Menschen in Gruppen organisiert sind, die (mal mehr, mal weniger, aber immer mehr als hierzulande) gut aufeinander eingespielt sind. Organisationen wie Halk Cephesi, SDP, ESP, Kaldirac (und wie sie alle heißen, es sind ja mindestens 50 verschiedene) wissen genau, was sie tun, es gibt klare Strukturen, wer welche Aufgaben zu erledigen hat. Es sind nicht lauter Individuen, die chaotisch versuchen, irgendwas zu machen.
Dazu kommt, dass es eine Organisationsdisziplin gibt. Muss man in Deutschland schon stundenlang darüber streiten, wer jetzt das Transpi trägt, wissen hier alle, dass sie, wenn sie aufgeben oder Blödsinn machen, alle ihre Genossen und Genossinnen gefährden. Das will keiner, deshalb macht man, wozu man gekommen ist, und legt nicht den Stein aus der Hand, weil auf der eben beginnenden „Soliparty“ grade die Lieblingsband spielt.
Zwischen den Gruppen und denen, die alleine hier sind (obwohl das sehr wenige sind), gibt es eine funktionierende Kommunikation. Auch wenn man politisch-ideologisch manchmal nicht miteinander klar kommt, auf der Barrikade gilt: Solange der, der neben dir steht, nicht wegrennt, ist er dein Genosse.
Entscheidend ist aber auch, dass den Bullen klar wird, dass es auch für sie gefährlich werden kann. Reicht es in Deutschland oft, dass zehn Cops auf 50 Demonstranten zulaufen, damit diese das Weite suchen, würde das hier keiner der Staatsschützer probieren wollen. Der Umstand, dass hier anders gekämpft wird, als in der deutschen Linken ist durch den individuellen Mangel an Mut nur unzureichend beschrieben. Es sind vor allem zwei Aspekte, die eine Rolle spielen. Zum einen hat die türkische Linke – das mag man gut finden, bringt aber auch Probleme mit sich – nicht diese hyperkritische Attitüde verinnerlicht, die in der akademisch geprägten Szene Deutschlands eine Identifikation mit dem eigenen Ziel immer schwerer macht. Man hält hier noch wirklich an den Zielen seiner Organisation fest und glaubt an deren Erreichbarkeit.
Die größere Kampfbereitschaft ist aber auch eine Klassenfrage. Die aus den Armen- und Arbeiterkiezen stammenden Mädels und Jungs lernen nämlich sehr früh, dass sie nichts zu verlieren haben, als ihre Ketten und sorgen sich eher wenig darum, ob durch die kommende Verhaftung ihr Studienplatz oder ihre Stelle als Graphikdesigner gefährdet ist. Das einzige, was ihnen der Staat wegnehmen kann, ist die Gemeinschaft mit ihren Genossen und Genossinnen, das aber führt noch mehr dazu, dass keiner klein beigeben will.
Militanz und Aufbauprojekte
Ebenfalls bedeutend ist, dass Militanz hier sehr zielgerichtet ist. Es geht nie darum, einfach irgendwas kaputt zu machen, damit man beim nächsten Kneipenabend erzählen kann, was für ein dufte Macker man ist. Dementsprechend ist Militanz hier auch keine Männerdomäne. Zielgerichtet heißt auch: Was getan wird, muss anderen Menschen vermittelbar sein. Wenn die türkische Regierung die gesamte Stadt sperren lässt, um zu verhindern, dass der erste Mai begangen wird, kann der Bevölkerung leicht erklärt werden, warum man mit Zwillen und Steinen gegen die Cops vorrückt. Weniger nachvollziehbar wäre es, wenn man zum Beispiel am Weg sämtliche Autos und Bushaltestellen kaputt schlägt, weil einem langweilig ist. Deshalb macht man es einfach nicht. Das gilt auch für die Wahl der Mittel. So sind etwa während der Gezi-Proteste im Umfeld des Taksim wesentlich weniger Molotow-Cocktails eingesetzt worden, als jede Woche in Okmeydani – und das obwohl natürlich klar ist, dass ein Molli die Cops besser auf Abstand hält als ein Stein. Der einfache Grund: Die Bevölkerung in den Kiezen akzeptiert dieses Vorgehen, im Gezi-Park war es nicht bei allen beliebt. Die Revolutionäre haben dieser Stimmungslage entsprochen.
Und der allerwichtigste Punkt: Es ist nicht allein Militanz, die zählt. 90 Prozent der Projekte der türkischen Linken – und zwar unabhängig welcher Strömung – sind „zivil“. Es sind friedliche Dinge: Ein Squat-Haus, der Aufbau von Gegenmacht in Kiezen, die Organisation von Arbeitern und Arbeiterinnen in Betrieben, Zeitungen und Online-Medien. Daraus resultiert eine tatsächliche Verankerung in manchen Gebieten und Sektoren der Gesellschaft. Und ohne die gäbe es weder die Organisationen, noch die Militanz.
– Von Peter Schaber
criticalcommunist 28. Mai 2014 - 23:51
Sehr guter Artikel.
Aufklärend und authentisch.
Schön wäre es auch mal wenn ihr die verschiedenen linken Strömungen in der Türkei mal einen Text widmet.