Erdogan will den Bürgerkrieg

13. März 2014

BerkinmasseMillionen Menschen demonstrieren in der Türkei gegen ihre Regierung und die permanente Polizeigewalt. Tayyip Erdogan will sich mit allen Mitteln an der Macht halten.

Die Bilder sind beeindruckend. Ein nicht endendes Meer an Menschen kam gestern in Istanbul zusammen, um Berkin Elvans Beerdigung beizuwohnen. Der 14jährige Junge am Dienstag nach 269 Tagen im Koma verstorben, nachdem er vergangenen Juni bei einem Polizeiangriff durch einen Tränengaskanister am Kopf verletzt worden war. „Uyan Berkin“, Berkin wach auf, war schon zuvor eine der Parolen der aus dem Gezi-Aufstand im Juni 2013 hervorgegangene Protestbewegung geworden. Der aus dem Istanbuler Arbeiterbezirk Okmeydani, einer Hochburg der militanten revolutionären Bewegung, stammende Berkin war zu einem Symbol für vieles geworden, was in der neoliberal-autokratischen Türkei des „Sultans von Ankara“, Tayyip Erdogan, falsch läuft. Und zu einem Symbol der Zuversicht, „umudun cocugu“, Kind der Hoffnung nennt man ihn im ganzen Land.

Weit über eine Million Menschen haben an seiner Beerdigung teilgenommen, im ganzen Land kam es zu Demonstrationen und Straßenschlachten, nachdem die Polizei erneut angriff. Wieder hing Tränengas schwer über der Istiklal-Straße, dem Taksim-Platz, Kadiköy, aber auch in Armutlu, in Ankara, über Izmir, Dersim und vielen anderen Gegenden. „Schieß, Schieß in sein Auge“, hört man einen Polizisten zu seinem Kollegen sagen, ein Video zeigt einen anderen Bullen, wie er auf eine Frau mit dem Knüppel einschlägt. Blutüberströmte Demonstranten, Menschen, die nach Luft ringen, hunderte Verletzte und Verhaftete – Es sind dieselben Bilder wie vergangenen Juni.

Schon damals war die Palette an guten Gründen, die Gasmaske einzupacken, auf die Straße zu gehen und Pflastersteine auszugraben, äußerst breit: Die neoliberale „urbane Transformation“ mit ihrer zerstörerischen Wirkung auf Mensch und Natur, die politische Repression gegen jedwede Opposition, die Diskriminierung von Aleviten und Kurden, die von der Regierungspartei AKP betriebene Islamisierung des Lebensstils, der autokratische Regierungsstil des Paschas Erdogan, die beschissenen Arbeitsbedingungen.

In den vergangenen Monaten sind weitere Themen dazugekommen, vor allem der Korruptionsskandal, der im Zuge von Rivalitäten zwischen den früheren Brothers in Crime, Tayyip Erdogan und dem im US-amerikanischen Exil lebenden chauvinistisch-islamistischen Prediger Fethullah Gülen, materialreich an die Öffentlichkeit gespült wurde. Geleakte Tapes zeigen das unglaubliche Ausmaß, in dem sich die Clique rund um den Führungszirkel der AK-Partei bereichert hat. Erdogan reagierte wie immer: Er kündigte an, youtube und facebook verbieten zu wollen, weil diese den „Aufbau der Nation gefährden“, außerdem sei sowieso wieder nur alles eine Verschwörung dunkler Mächte. Im Moment ist er – skurril, aber wahr – dabei, sich die Copyrights auf seine Stimme sichern zu lassen, weil er sich erhofft, dann gegen youtube juristisch vorgehen zu können, wenn auf der Plattform mal wieder Telefonate erscheinen, auf denen er seinem Sohn Bilal den Abtransport von Wagenladungen an Bargeld anordnet.

Auf den Tod Berkins, den die Regierung in Ankara zu verantworten hat, reagierte die Führungsspitze der AKP gewohnt zynisch. In seinem einzigen Statement zu dem Polizeimord an einem 14-jährigen bedauerte Erdogan die dadurch verursachten Kursstürze an der Börse und versicherte, diese werden nicht von Dauer sein. Die Demonstranten nannte er „Scharlatane“. AKP-Anhänger „argumentieren“ indes, der Tod Berkins sei die Schuld seiner Eltern, die ihn Brot holen gingen ließen, damit hätten sie „ihre Aufsichtspflicht verletzt“. Noch perfider äußerte sich Egemen „Egeboy“ Bagis, der Zuständige für die Beziehungen zur EU. Er nannte diejenigen, die an Berkins Beerdigung teilnahmen „Nekrophile“.

Neben der Polizeigewalt und der Beschimpfung der Demonstranten beinhaltet die Strategie der AKP-Regierung auch die Kooperation mit kriminellen Banden, die nun gegen die Protestbewegung ins Rennen geschickt werden. Erhan Tuncel, der Mann hinter dem Mord an dem armenischen Publizisten Hrant Dink, wurde zusammen mit anderen faschistischen Verbrechern aus dem Gefängnis entlassen. Hunderte Faschisten aus dem AKP-Umfeld und wohl auch von den „Grauen Wölfen“ zogen in den vergangenen Nächten bewaffnet durch Istanbul und terrorisierten die Bevölkerung. Bei einem Angriff dieser Banden dürften sie sich allerdings verschätzt haben: Als sie in Okmeydani, nahe des Wohnhauses von Berkins Familie, Jagd auf Linke machen wollten, kam es zu einer Auseinandersetzung, bei der einer der Angreifer, ein 22-Jähriger, erschossen wurde. Die militante revolutionäre DHKP-C, die Hausmacht in Okmeydani, beschreibt den Vorfall so: „Gestern waren die revolutionären Kräfte auf der Strasse, um Gerechtigkeit für einzufordern. Die Barrikaden wurden erneut errichtet. Die Revolutionäre haben zwei Wahlbüros in Örnektepe und ein dreistöckiges Wahlkoordinationsgebäude der AKP in Talatpasa angezündet. (…) Dann griffen bewaffnete Kräfte der AKP die Revolutionäre an. Diese Attacken wurden zurückgeschlagen. Die AKP-Anhänger flüchteten hinter die Fahrzeuge der Polizei. Später kamen wieder zivile faschistische bewaffnete Anhänger der Regierungspartei und griffen erneut an. Jedoch erfuhren sie auch hier von bewaffneten Revolutionären Widerstand, denn die Revolutionäre wollten sich und die Bevölkerung schützen. Bei diesen Auseinandersetzungen starb ein Faschist und zwei wurden verletzt.“

Der Tod des 22-jährigen Burak Can Karamanoğlu wurde zunächst unterschiedlich kommentiert. Gerüchte, er stamme aus dem Umfeld der ultranationalistischen MHP dementierte diese umgehend. Die genauen Umstände seines Todes sind nach wie vor ungeklärt. Einig sind sich viele Beobachter darin, dass es sich in jedem Fall um eine von der AKP orchestrierte Provokation gehandelt habe. Bilder zeigen hunderte AKP-Anhänger, wie sie „Allahu Akbar“ rufend in Okmeydani einmarschieren. Dass dabei Menschen sterben würden, wurde dabei billigend in Kauf genommen. Die Bevölkerung von Okmeydani ist überwiegend alevitisch und zu einem größeren Teil links, insofern musste sie fürchten, Opfer eines Massakers zu werden, wie sie in der Türkei immer wieder stattfinden. Dass es also zu – auch bewaffneter – Gegenwehr kommen würde, hatten diejenigen, die die jungen Männer dahin geschickt haben, absehen können.

Fakt ist: Erdogan setzt seinen Kurs absoluter Konfrontation fort. Er ist nicht bereit, auch nur kleinste Kompromisse einzugehen. Er weiß, dass er sich – immer noch – auf einen großen Teil der islamischen Bevölkerung stützen kann, und er ist bereit, eher einen Bürgerkrieg zu riskieren, als die Macht zu verlieren. Denn ihm ist klar: Sollte das passieren, könnte er im Knast oder mit einer Kugel im Kopf in der Gosse landen – sollte er nicht rasch genug Exil in den USA oder einem anderen Schurkenstaat finden.

– Von Peter Schaber

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