Migrantifa zum 8. Mai: Migrantische Selbstorganisierung im Land der “Einzeltäter”

7. Mai 2020

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Gastbeitrag

Gastbeitrag von Migrantifa Berlin zum Jahrestag des Sieges der Roten Armee über den deutschen Faschismus

In Deutschland wird am 8. Mai die Befreiung vom Nationalsozialismus gefeiert. An diesem Tag im Jahre 1945 unterzeichnete der Oberbefehlshaber der Wehrmacht eine Kapitulationserklärung im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin Karlshorst. Dieser Sieg über den Faschismus ist dieses Jahr 75 Jahre her. Und so sehr dieser in der einen Hinsicht eine Befreiung war, so sehr blieb diese unvollständig.

Eine wirkliche Entnazifizierung hat nie stattgefunden, denn tausende ehemalige Mitglieder und Funktionäre der NSDAP haben in Spitzenpositionen in Politik, Justiz, Staatssicherheit und der Wirtschaft den Wiederaufbau bürgerlicher Institutionen in der BRD maßgeblich beeinflusst. Es ist also kein Wunder, dass es eben jener Staat mit seiner Politik und seinen Institutionen ist, der sich schützend vor jene stellt, die den rechten Terror auf Deutschlands Straßen wieder zum Alltag machen und die Faschisten in den eignen Reihen duldet. Und auch die Politik der sogenannten bürgerlichen Mitte ist mitschuldig, denn sie ist es, die rassistische Ideologien tagtäglich in die Tat umsetzt. Sei es durch das Asyl- und Grenzregime, die Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte oder die Razzien in migrantischen Communities und racial profiling Taktiken der Polizei, angetrieben von der Debatte über vermeintlich kriminelle Clans.

Während die bürgerliche Politik damit beschäftigt ist, sich als Vorreiter im Kampf gegen Antisemitismus zu inszenieren und sich mit der angeblichen Aufarbeitung der NS-Zeit durch die angeblich existierende Erinnerungskultur selbst auf die Schulter klopft, haben Aufdeckungen wie zum Beispiel im Zuge des NSU-Komplexes oder der Recherche zu Hannibals sogenannter Schattenarmee immer wieder aufs neue verdeutlicht, wie erfolgreich faschistische Strukturen sich innerhalb der Polizei, der Bundeswehr und dem Verfassungsschutz etabliert haben und von dort aus militante parastaatliche Strukturen decken, mitaufbauen, finanzieren und bewaffnen. Es steht außer Frage, dass die Faschist*innen kein einheitlicher Block mit kohärenter Ideologie sind, jedoch agieren verschiedene rechtsextreme Strukturen inner- und außerhalb des Staatapparates, durch Netzwerke und personelle Überlappungen erfolgreich miteinander und haben durch die AfD auch einen politischen Arm in den Parlamenten.

Angesichts dieser Verstrickungen sind Solidaritätsbekundungen seitens der Vertreter*innen des bürgerlichen Staats nach einem terroristischen Anschlag wie dem in Hanau nichts als Heuchelei, denn der politische Wille dem rechten Terror in Deutschland ein Ende zu bereiten ist schlichtweg nicht vorhanden. Stattdessen fordern Vertreter des Staates sowie bürgerliche migrantische Institutionen mehr Überwachung und Polizeischutz für migrantische Einrichtungen. Diese Forderung scheint fast zynisch im Anbetracht der Tatsache, dass Polizei und Staatsapparate bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufs Neue beweisen, dass sie eine Bedrohung für die Leben migrantischer Menschen darstellen.

Dass der Staat kein Interesse daran hat, rechten Terror effektiv zu bekämpfen, wurde einmal mehr durch die Trivialisierung des Terroranschlags in Hanau durch den BKA-Abschlussbericht unterstrichen. Obwohl die begangene Tat als rassistisch bewertet wird, behauptete das BKA, der Täter Tobias Rathjen sei „kein Anhänger einer rechtextremistischen Ideologie gewesen“. Dass, Rathjen vor seiner Tat im Internet seinen Vernichtungsfantasien gegenüber rassifizerten Menschen freien Lauf ließ, scheint für die Behörde ebenfalls kein Hinweis auf das Vorhandensein einer solchen Ideologie zu sein; stattdessen wird auf Rathjens psychische Verfassung eingegangen und das Bild eines weiteren Einzeltäter gesponnen.

Von diesen „Einzeltätern“ und „Einzelfällen“ gibt es in Deutschland viele: die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen, der Mordanschlag in Mölln, den NSU-Komplex, die Morde an Oury Jalloh in Dessau, Burak Bektaş und Luke Holland in Berlin oder den Anschlag in Halle, um nur ein paar zu nennen.

Tatsächlich ist seit dem Anschlag in Hanau am 19. Februar, bei dem weiteren 9 Geschwistern das Leben genommen wurde, fast kein Tag vergangen, an dem es keine faschistischen Angriffe gab. In den drei Tagen nach Terrorattentat wurden Hakenkreuze und rechte Parolen auf eine Emmendinger Moschee geschmiert, ein Brandanschlag auf eine Shisha-Bar und einen Döner Imbiss in Döbeln verübt sowie Schüsse auf eine Shisha Bar in Stuttgart abgegeben. Am 7. April wurde der 15-jährige Arkan Hussein K., der als Ezide mit seiner Familie vor Genozid und Terror nach Deutschland floh, in Celle von einem Faschisten erstochen. In der Nacht zum 23. April wurden in Berlin Autos von migrantischen Personen mit dem Wort „Kanacke“, Hakenkreuzen und „88“ markiert, wenige Tage später brannte im bayrischen Waldkraiburg ein türkischer Supermarkt, nachdem er zuvor mit „Ausländer raus“ und Hakenkreuzen beschmiert wurde. In Essen wurde eine ganze arabische Familie samt Großmutter wegen einer “Ruhestörung” von der Polizei verprügelt und am 30. April wurde ein 21-jähriger Syrer in Halle angegriffen und schwebt derzeit in Lebensgefahr. Während viele sich immer noch in der Ignoranz ihrer Nicht-Betroffenheit wägen, ist rechter Terror in Deutschland wieder Alltag. Und die Menschen, die ihm ausgesetzt sind, leben mit einer alltäglichen Angst um das Leben der eignen Familie und ihrer Freunde – ein Zustand, der für viele schwer zu ertragen ist.

Das alles ist nur die Spitze des Eisbergs, der vulgärste Ausdruck einer rassistischen und faschistischen Ideologie, die tief in der deutschen Gesellschaft verankert ist. Hinzu kommen die tagtäglichen Erniedrigungen, Beleidigungen und Diskriminierungen, in der Schule, bei der Arbeit, auf der Straße und in den Ämtern, die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, die Verdrängung aus unseren Nachbarschaften durch steigende Mietens sowie die Lager in Deutschland und an den europäischen Außengrenzen, in denen Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie in menschenunwürdigen Verhältnissen dem Tod überlassen werden. Jeden Tag wird deutlicher, dass wir als migrantische Menschen uns nicht auf den Staat verlassen können, um unsere Leben zu schützen und ein Leben in Würde zu führen. Deswegen müssen wir unseren Schutz selbst organisieren, indem wir kommunale Strukturen innerhalb unserer Kieze und außerhalb des Staates aufbauen.

Die Notwendigkeit migrantischer Selbstorganisierung

Radikale migrantische Selbstorganisierung, die sich an den materiellen Bedürfnissen unserer Gemeinschaften hier in Deutschland ausrichtet, ist dafür von großer Bedeutung. Viele migrantische Linke richten ihre Kämpfe ausschließlich an den Kämpfen in den (ehemaligen) Heimatländern aus. Dadurch verpassen sie es, die Generationen der hier Aufgewachsenen mitzunehmen und eine breitere Masse in der Bevölkerung anzusprechen. Zudem macht der alleinige Fokus auf die Politik unserer Herkunftsländer, auf Grund der Konflikte, die in vielen unserer Herkunftsregionen vorherrschen, es uns oft schwierig Menschen außerhalb der kleinen Kreise der migrantischen Linken zusammenzubringen. Um kommunale migrantische Strukturen in Deutschland aufzubauen dürfen wir uns nicht anhand von ethnischen und religiösen Linien spalten lassen – wir müssen zusammenarbeiten, besonders in Anbetracht der Bedrohung durch die Faschist*innen. Der Fokus auf das gemeinsame Leben in Deutschland und die Organisierung in unseren Nachbarschaften ist hierfür essentiell.

Eine Zusammenarbeit mit der deutschen Linken ist für den Aufbau solcher Strukturen im Anbetracht der gegenwärtigen Machtverhältnisse von absoluter Notwendigkeit. Allerdings muss die Basis dieser Zusammenarbeit sein, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen. Allzu oft werden wir nicht ernst genommen, weil wir nicht in der “Szene” sozialisiert wurden und nicht dieselbe, vermeintlich radikale, Politik verfolgen. Oft wird über uns gesprochen, anstatt uns für uns selbst sprechen zu lassen. Oft müssen wir uns unseren Subjektstatus erst erkämpfen, denn es wird uns mit einem Paternalismus begegnet, der uns lediglich zum Objekt der Organisierung macht, während die Probleme und Bedürfnisse unserer Gemeinschaften nicht ernst genommen werden. Hierbei geht es nicht um irgendeine imaginierte Identität, sondern die konkrete Ausrichtung einer Politik, die unsere Leute nicht anspricht, nicht ernst und nicht wahrnimmt. Stattdessen werden wir immer wieder mit der Enttäuschung konfrontiert, wenn die Realität der migrantischen Arbeiter*innenklasse nicht der imaginierten Idealvorstellung der deutschen Linken entspricht.

Auf Augenhöhe zusammenarbeiten bedeutet auch, Widersprüche auszuhalten, einander geduldig und wohlwollend entgegenzutreten, voneinander zu lernen und die verhärteten Fronten auf beiden Seiten aufzubrechen. Migrantische Menschen müssen erkennen, dass für uns mehr Repräsentation in der herrschenden Klasse nicht das Ziel eines emanzipatorischen anti-rassistischen Kampfes sein kann. Das bedeutet nicht, dass nicht kleine Verbesserungen unserer Situation durch kleine Reformen des bürgerlichen Staates erzielt werden können. Diese Reformen dienen jedoch auch dazu, das System zu stabilisieren und die existierenden Herrschaftsverhälntnisse aufrecht zu erhalten. Und es sind eben jene Herrschaftsverhältnisse, die auf der Unterdrückung, Ausbeutung und Ermordung unserer Geschwister in Deutschland und im globalen Süden beruhen. Unsere Gesichter in der herrschenden Klasse repräsentiert zu sehen, bedeutet, dass wir die Unterdrückung unserer eigenen Leute legitimieren und uns zu Kompliz*innen der rassistischen Politik dieses Staates machen. Wir müssen lernen unsere Allianzen an politischen Kämpfen anstelle von bloßen Identitäten auszurichten. Das bedeutet, was uns mit der deutschen Linken verbindet ist, dass wir einen gemeinsamen Feind haben: das kapitalistische System. Rassismus ist dabei kein Nebenwiderspruch dieses Systems, sondern Teil seines Fundaments.

Kommt raus zum Tag des Zorns am 8. Mai!

Die Solidarität, von der immer alle reden, muss in die Tat umgesetzt werden. Es wird höchste Zeit. Deswegen wollen wir den 8. Mai nutzen um gemeinsam aktiv zu werden und haben zum Tag des Zorns aufgerufen. Zorn, weil wir keinen Grund haben die Befreiung vom Faschismus zu feiern, während der Faschismus in Deutschland auf dem Vormarsch und rechter Terror in Deutschland wieder Alltag ist. Zorn, weil der einzige Einzeltäter der bürgerliche Staat ist, für den das Leben von linken und migrantischen Menschen nichts wert ist, und weil wir es Leid sind irgendwelche Forderungen an ihn aufzustellen. Beteiligt euch, werdet kreativ, geht auf die Straße, organisiert eigene Aktionen, geht eure Kieze verschönern, schaut euch die Kundgebungen auf dem Hermannplatz und dem Protestboot Anarche an. Schulter an Schulter gegen den Faschismus!

Mehr Infos unter: Migrantifa Berlin Twitter, Instagramm, Facebook

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