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Noch bevor die Fußball-WM der Herren in Katar losgegangen war, wurde die Vergabepraxis an das Emirat scharf kritisiert. Während der Spiele riefen die tausenden toten Arbeiter:innen und die Situation von FLINTA*s allerlei symbolischen Protest von Innenministerin Nancy Faeser, über die deutsche Nationalmannschaft, bis hin zum Einzelhändler REWE hervor; aber auch die Ultras in deutschen Stadien machten Boykottaufrufe. Was der Gegenstand der Kritik, also die WM, die Fifa und der DFB mit dem Kapitalismus zu tun haben, analysiert Raphael Molter hier.

Die Geburt des Wettbewerbs – Kapitalismus und Fußball

Schon vor über viertausend Jahren spielten die Menschen Fußball. Belege gibt es dafür auf der gesamten Welt verteilt. Ob in China des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung (damals genannt Cuju), im antiken Griechenland oder im frühmittelalterlichen England: Menschen spielen offensichtlich seit langer Zeit mit einem Ball an ihren Füßen. Und doch beginnt die uns bekannte Zeitrechnung des Spiels im imperialistischen England Mitte des 19. Jahrhunderts. 1848 schufen Studenten der Universität Cambridge Regeln für das Spielen mit einem Lederball und binnen zweier Jahrzehnte waren nicht nur die ersten offiziellen Fußballvereine gegründet, sondern auch der erste Fußballverband: die Football Association (FA).

Doch das Phänomen der Mannschaftsgründung bedeutete keinen Bruch in der langen Historie. Auch Vorausprägungen des konstituierten Fußballs kannten die Einteilung in Mannschaften. Neu war die Gründung eines eigenständigen Fußballverbands, der nicht nur die simple Organisation von Fußballspielen zur Aufgabe hatte und dieses neuartige Phänomen blieb nicht einzigartig. Fußballverbandsgründungen waren elementarer Bestandteil für die Durchsetzung des beliebtesten Hobbies der Welt. Doch warum eigentlich?

Verstehen wir die Entwicklung des „modernen Fußballs“ nicht als eine Entwicklung im Reagenzglas (was es zweifelsohne nicht war), so muss sich der Blick zu den umliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse richten. Fußball fand damals größtenteils als Sport der Arbeiterklasse statt, bei der sich nicht nur körperlich betätigt wurde, sondern der auch die Fans in seinen Bann zog. Man könnte in dem Zusammenhang wohl oder übel davon sprechen, dass der Sport seit je her eine befriedende, weil ablenkende Funktion innehat. „Brot und Spiele“, um dem Alltag kurz entfliehen zu können, war damals wesentliches Element und zeigte sich auch in der Fortführung des Profifußballs während der Corona-Pandemie. Lieber Geisterspiele in leeren Stadien und Konsument:innen auf der Couch, als ein Jahr ohne Fußballübertragungen. Außerdem hätten die Verbände und Vereine auf den Großteil ihrer Einnahmen verzichten müssen (die mediale Verwertung brachte dem deutschen Profifußball in der letzten Saison Einnahmen von knapp 1,5 Mrd. Euro ein, ein Anteil von rund 40 Prozent).

Und damit sind wir beim Verhältnis von Fußball und Kapitalismus. Das Spiel um das runde Leder existiert nicht in einem luftleeren Raum. Stattdessen ist es Teil der kapitalistischen Gesellschaften, zunächst als Ablenkung und Freizeitbeschäftigung, mittlerweile müssen wir aber von einem Milliardengeschäft reden. Dafür verantwortlich zeigt sich die expansive Dynamik der uns umgebenen Wirtschaftsordnung, die den Fußball erschlossen hat und damit aus einem nicht-kapitalistischen bzw. vor-kapitalistischen Raum das Produkt Profifußball schuf, das wir heute kennen. Die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse im Fußball ist natürlich nicht durch Zauberhand geschaffen worden, sondern kennzeichnet sich durch konkrete Ereignisse.

Nehmen wir dafür die Geschichte des Deutschen Fußball-Bunds (DFB), der ja aktuell quasi um Kritik bettelt. Der DFB hat seit vielen Jahrzehnten eine Monopol-Stellung inne, die ihn quasi unverzichtbar für die Organisation des Fußballs macht und auch im Grundgesetz durch die verankerte Autonomie des Sports (Art. 9 GG) festgeschrieben ist. Doch bis zur Einrichtung des deutschen Faschismus 1933 befand sich der bürgerlich-konservative Verband in Konkurrenz: Arbeiterfußball fand von ihm unabhängig statt, man hatte durch den Arbeiterturn- und Sportbund (ATSB) einen eigenen Verband mit über 2 Millionen Mitgliedern.

Erst die »Gleichschaltung« durch den deutschen Faschismus ermöglichte es dem DFB, die bis heute bekannte, unangetastete Stellung einzunehmen und schuf die Voraussetzungen, damit der DFB auch in der Bundesrepublik Deutschland quasi unverändert weiterarbeiten konnte. Geholfen haben dürften natürlich auch einige personelle Verbindungen, denn der DFB ist ebenfalls ein Paradebeispiel für die Post-Nazifizierung der BRD: Etliche DFB-Funktionäre bis in die späten 1960er Jahre hinein wiesen eine mit der NSDAP verwobene Vergangenheit auf (Stichwort Peco Bauwens als DFB-Präsident während des »Wunders von Bern«) und hatten gute Kontakte in das Bundeskanzleramt unter Hans Globke. Die Gleichschaltung 1933 darf als wichtigste Vorbedingung der kapitalistischen Erschließung des deutschen Fußballs gelten, denn die Monopolisierung der Fußballorganisiation durch bürgerliche Fußballverbände ist offensichtlich eine innere Notwendigkeit der Organisation des kapitalistischen Fußballs: Kapitalismus im Sport kommt nicht ohne Verbände aus.

»Ideelle Gesamtkapitalisten« unter sich

Das besondere Verhältnis von Fußball und Verbänden zeichnet sich demnach durch eine besondere Organisierung des Sports aus. Uns muss klar sein, dass es den idealtypischen Sport sowieso nicht geben kann. Die von uns in ihn hinein interpretierten Werte und Ideale kommen mal mehr, mal weniger zum Vorschein und sind von den konkreten sozialen Strukturen bedingt, die ihn umgeben und organisieren.

Aber welche Merkmale sind überhaupt konstituierend für Fußballverbände? Interessanterweise ist die grundgesetzlich verankerte Autonomie des Sports und damit auch des DFB eigentlich so nicht ganz zutreffend, denn der Politikwissenschaftler Timm Beichelt schreibt in seinem Buch »Ersatzspielfelder« von einer Halb-Autonomie. Der Staat nimmt Einfluss auf die Sphäre Fußball, egal ob auf kommunaler oder auf Bundesebene. Vermeintliche Fußballthemen werden bisweilen auch auf der Innenminister:innen-Konferenz behandelt und insbesondere die Polizei nimmt starken Einfluss auf die Ausgestaltung des Fußballs. Polizeigewalt bei Auswärtsfahrten, überzogene Polizeikessel, erniedrigende Kontrollen, die »Datei Gewalttäter Sport«: Die Liste ist quasi endlos und zeigt auf, dass auch der Repressionsapparat Polizei ein hohes Interesse in Bezug auf Fußball an den Tag legt. Diese beiden Ebenen lassen sich folglich nicht trennen: Fußball und Staat sind im Kapitalismus miteinander verwoben. Sie gewährleisten in Zusammenarbeit die Organisierung von Fußballspielen und der Staat nimmt mithilfe der Polizei erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung durch die Fans.

Fußballverbände nehmen dabei jedoch durch ihr Monopol zur Organisierung des Fußballs eine Absicherung der Kapitalakkumulation im Fußball vor. Sowohl die FIFA aktuell in Katar (mit geschätzten Einnahmen rund um die 6 Milliarden US-Dollar), als auch der DFB durch seinen Tochterverband der Deutschen Fußball Liga (DFL) organisieren den Imperativ der Profitmaximierung und sind die Agentinnen der Kommerzialisierung: Sie organisieren die Mehrwertaneignung im Fußball. Dass in den Verbänden alle machtvollen Akteure des Fußballs organisiert sind, macht ihre Rolle dadurch nur noch spannender. Denn für die Teilnahme am organisierten Betrieb (egal ob Verein, Spieler*in, Berater oder Unternehmen als Sponsoren) ist eine direkte oder indirekte Ausrichtung nach dem Verband notwendig. Fußballverbände versammeln damit in sich alle Akteure, die von der Mehrwertaneignung profitieren (Vereine, Berater, Unternehmen) oder für die Mehrwerterzielung direkt verantwortlich sind (Spieler). Demnach können Verbände nicht als simpler Block an der Macht des Fußballs bezeichnet werden, sie müssen vielmehr verschiedene Interessen innerhalb ihrer Institution ausgleichen und allgemeine Interessen daraus ableiten. Und woran könnte uns das an dieser Stelle erinnern?

Fußballverbände sehen in ihrer Organisierung wie die kleinen Geschwister des bürgerlichen Staates aus: Sie sind für die Aufrechterhaltung des Systems verantwortlich, die Fußballverbände für die Verwertung des Produkts Profifußballs, der Staat insgesamt für die Organisation der kapitalistischen Gesellschaft. Beide können nicht simplifizierend als »Institutionen des Kapitals« abgestempelt werden (oder doch?), in ihnen prallen verschiedene Interessen aufeinander und schaffen damit die Verhältnisse, die wir vorfinden. Im Fußball wie gesamtgesellschaftlich. Karl Marx und Friedrich Engels begründen mit der materialistischen Staatstheorie einen Ansatz, der feststellen konnte, dass Kapitalismus und die Form Staat einander bedingen. Ähnliches finden wir im Fußball vor. Marx Vergleich vom Staat als Maschinensystem (MEW, Bd. 23, S. 400ff.) kann uns deshalb auch weiterhelfen, um die konkrete Funktionsweise der Fußballverbände zu verstehen. Marx schreibt in seinem Vergleich davon, dass der Staat wie ein Maschinensystem funktioniert, die den Produktionsprozess strukturiert und ihn für die arbeitenden Menschen determiniert. Die einzelne Maschine kann vom Menschen autonom bedient werden, ein Maschinensystem funktioniert autonom und gliedert die umliegenden Arbeitsprozesse nach seinen Bedürfnissen: »(Die) Maschine entwickelt wie der Staat ein Eigenleben, produziert Gesetzmäßigkeiten auch für diejenigen, die die Maschine entworfen haben und bedienen« sagt der Staatstheoretiker Andreas Fisahn dazu. Na, hört sich das nach dem an, wie die Fußballverbände, allen voran die FIFA, aktuell rumeiern?

»Wirtschaftliche Leitplanken setzen«

Der institutionalisierte Fußball geht mit dem Kapitalismus Hand in Hand. Der »marktkonforme Fußball« (C. Bartlau) ist nicht einfach korrumpiert worden. Die kapitalistische Landnahme des Fußballs und seine Kommodifizierung, also sein »Zur-Ware-Werden« fallen nicht vom Himmel, sondern haben konkrete strukturelle Verhältnisse zur Bedingung. Die Herstellung des Monopols zur Organisierung des Fußballs durch bürgerliche Verbände nimmt dementsprechend die wichtigste Hürde des kapitalistischen Fußballs und lässt sich analog zum Gewaltmonopol des Staats erklären: Wir können kaum außerhalb der Verbände organisiert Fußball spielen, wodurch sich die Verbände unentbehrlich machen.

Der Zwangscharakter des institutionalisierten Fußballs zeigt sich überall: Auch Fans, die überhaupt keinen Bock mehr auf Kommerz und korrupte Funktionäre haben und sich dem entziehen wollen, können nicht entfliehen. Ein Beispiel gefällig? Als der Hamburger Sport-Verein Mitte des letzten Jahrzehnts beschloss, seine Profiabteilung auszugliedern und damit die Strukturen kapital-konform zu transformieren und für Investoren attraktiv zu werden, zog die damals einflussreiche Ultra-Gruppierung Chosen Few die Konsequenzen daraus und verabschiedete sich vom eigenen Verein. Stattdessen gründete man den HFC Falke, und befindet sich in den Niederungen der Bezirksligen und finden damit immer noch im verbandsorganisierten Fußball statt. Ausweg? Fehlanzeige.

Gleiches dürfte auch für gänzlich andere Forderungen stehen, die dieser Tage von vielen linksliberalen Fußballfans ausgehen: Rücktritt des unsäglichen FIFA-Präsidenten Infantino oder eine stärkere Haltung des DFB gegenüber der FIFA. Solche Ansätze verfehlen, trotz sympathischer Ausrichtung auf dem ersten Blick, ihr Ziel. Der kommerzialisierte Fußball mag ein Produkt seiner Zeit sein, aber er ist kein natürliches Gebilde, wo jeder Kampf automatisch fehlschlägt und nichts ändert. Fußball lässt sich ändern, wenn wir uns damit beschäftigen, wie die heutigen Verhältnisse überhaupt entstehen konnten. Und die Verbindung von Fußball und Kapitalismus macht deutlich: Der Kommerz-Fußball funktioniert nur als institutionalisierte Variante mit Fußballverbänden. Die Kapitalakkumulation ist im Fußball durch die Verbände organisiert. So wundert es auch nicht, dass der Geschäftsführer des Bundesliga-Vereins FC Augsburg noch während der ersten Corona-Welle davon sprach, dass die Liga „wirtschaftliche Leitplanken“ setzen müsse. Damit zielte er eigentlich auf die verschiedenen Fraktionsinteressen der Profivereine innerhalb der DFL ab, doch das Bild der Leitplanken verdeutlicht uns, wohin die Reise gehen muss: Indem wir die Leitplanken des kapitalistischen Fußballs infrage stellen, schaffen wir uns Auswege.

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