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Vor gut einem halben Jahr, es war die Nacht zum 8. März, zogen wir durch die menschenleeren Straßen im Wedding, um uns zur Feier des Tages einen Teil des öffentlichen Raums anzueignen. Wir sind eine Gruppe organisierter Frauen aus dem Wedding, die anlässlich des Frauenstreiks verschiedene Aktionen in ihrem Kiez durchgeführt haben. Eine davon die Umbenennung von Straßennamen.

Es gibt knapp 10.000 Straßen in Berlin. 90 % der nach Personen benannten Straßen tragen männliche Namen. In anderen Städten sieht das Verhältnis genauso aus. Keiner dieser Namen ist zufällig gewählt, die Straßenbenennung ist eine Würdigung und ein unübersehbares Gedenken an diese Person. Gedacht wird allerdings fast ausschließlich Männern, darunter auch so besondere Schätze wie Axel Holst, ein SS-Sturmführer oder Adolf Lüderitz, ein Kolonialherr. Gleichzeitig werden Frauen in der Geschichte und im öffentlichen Raum systematisch unsichtbar gemacht, obwohl es zahlreiche tatsächlich verdienstvolle Frauen gibt.

Anlässlich des Frauenstreiks in Berlin haben wir mehrere Straßen, die jeweils einen Mann würdigen, umbenannt. Wahlweise in Elise-Hampel-Straße, Stephanie-Hüllenhagen-Weg oder auch Luise-Kraushaar-Allee. Sie alle waren NS-Widerstandskämpferinnen, die zum Teil auch im Wedding gelebt haben. An jedes Straßenschild befestigten wir außerdem einen Steckbrief zur Person und der Erklärung, warum diese Straße nun einen Frauennamen trägt. Die Müllerstraße, die so etwas wie die Hauptstraße im Wedding ist, benannten wir außerdem in „Müllerinnenstraße“ um.

Mit der einsetzenden Morgendämmerung fielen wir zufrieden in unsere Betten. Die Aktion war geglückt. Das böse Erwachen kam dann einige Monate später in Form eines Großflächenplakats, prominent platziert auf dem Mittelstreifen der Müllerstraße. Auf ca. 2×3 Metern war da ein Foto der von uns umbenannten „Müllerinnenstraße“ zu sehen. Unsere Kritik war plötzlich Teil einer Kampagne der StandortGemeinschaft Müllerstraße e.V., gefördert vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat sowie der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. Kannste dir nicht ausdenken.

Nun ist es sicherlich kein neues Phänomen, dass Systemkritik verwertbar und warenförmig gemacht wird. Auffällig ist aber, dass man sich derzeit besonders gern mit feministischen Attitüden schmückt. Sexismuskritik sells. Da werden im Sweathsop produzierte Shirts mit frechen feministischen Sprüchen verkauft, einer der bekanntesten Hersteller für Rasierer ruft zur „Selflove-Challenge“ auf, weil Frauen sich doch so mögen sollen wie sie sind (nur bitte ohne Haare unter den Achseln!) und „Problemkieze“ bekommen mit gegenderten Straßenschildern ein hippes Image, um sie attraktiver für Investor*innen zu machen. Feminismus wird zur erfolgreichen Marketingstrategie.

Im Wedding taucht das Plakat außerdem zu einem Zeitpunkt auf, an dem der Gentrifizierungsprozess so richtig an Fahrt gewinnt. Das internationale „Time Out Magazine“ erklärte jüngst den Wedding zum „viertcoolsten“ Stadtviertel der Welt und beschreibt den Kiez wie folgt: „This neighbourhood in north-west Berlin feels warm and inviting, with street markets and sprawling public parks frequented by young families and long-time residents alike. Striking Weimar-era architecture contrasts with the harsh lines of former factories – a hangover from Wedding’s history as a working-class district in West Berlin“. Dazu ein Titelbild, das ausschließlich weiße, adrett gekleidete Menschen zeigt, die gemütlich im Nordhafenpark sitzen. Man könnte lachen, wenn es nicht so traurig wäre.

Vor ein paar Tagen hat dann noch das Projekt Mietenwatch seine Studie veröffentlicht, bei der 80.000 Wohnungsangebote in 477 Kiezen in Berlin ausgewertet wurden. Das Ergebnis? Es gibt kaum noch bezahlbaren Wohnraum. Bezahlbar bzw. als „leistbar“ gelten Wohnungen, deren Gesamtmiete 30 % des Netto-Haushaltseinkommens nicht übersteigt. Für Haushalte mit niedrigem Einkommen sind Mieten aber bereits in dieser Höhe mit erheblichen Lebensqualitätseinschränkungen verbunden. Und damit hat Berlin gleich noch einen weiteren Weltlistenplatz belegt: Laut des „Global Residential Cities Index“ sind die Immobilienpreise in Berlin zwischen 2016 und 2017 um 20,5 Prozent gestiegen. Damit liegt die Stadt beim Preisansteig von Immobilien weltweit auf Platz eins. Glückwunsch.

Die Studie von Mietenwatch zeigt außerdem, dass der Verdrängungsdruck im Wedding am höchsten ist. Ob Humboldthain, Reinickendorfer Straße, Leopoldplatz oder Soldiner Straße – für Vermieter*innen ist es hier besonders lukrativ Altmieter*innen loszuwerden und die Wohnung danach teurer weiterzuvermieten. Ja, der Wedding kommt. Was lange Zeit ein Running Gag war, scheint nun bittere Realität zu werden. Die meisten von uns haben das bereits am eigenen Leib zu spüren bekommen und nervenzehrende Auseinandersetzungen mit der eigenen Hausverwaltung hinter sich oder stecken mitten drin.

Doch auch wenn all diese Dinge eine enormes Frustrationspotential bieten, wir werden weder die kapitalistische Ausschlachtung feministischer Kämpfe noch die Verdrängung aus unseren Kiezen akzeptieren. Gemeinsam kämpfen wir gegen den Ausverkauf der Stadt und unserer Kieze. Ob in Berlin oder anderswo: Der Aufbau von Gegenmacht hat gerade erst begonnen.

# Die Autorin Ella Papaver lebt in Berlin-Wedding und ist organisiert in der Kiezkommune Wedding.





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Der Revolutionäre 1. Mai zieht nach Berlin-Friedrichshain um. Was ist zu erwarten von der berühmt-berüchtigten Demonstration? Gespräch mit Natascha Romanoff

# Natascha Romanoff ist Mitglied der radikalen linken berlin (rlb).

Der 1. Mai in Berlin steht vor der Tür, und dieses Jahr zieht er nach Friedrichshain um. Wenn wir genau sind, ist das eine Niederlage, oder? Ich meine, ihr sagt damit ja auch: Kreuzberg kriegen wir nicht mehr hin.

Wenn du so willst, ja. Wir haben die Einschätzung, dass wir in diesem Ballermann, den Bezirk und Senat da veranstalten, einfach keine geordnete, politische Demo durchführen können. Die Abenddemo war in den vergangenen Jahren jedes Mal ein Stück ritualisierter, vorhersagbarer und langweiliger geworden.

Das liegt an zwei Sachen. Einmal kannst du machen, was du willst, aber wenn um dich rum als Puffer abertausende Touris und Druffis zappeln, erscheint die Demo automatisch als eine Werbeeinlage für das supercoole Berlin, in dem es eben auch Demos gibt. Zum anderen ist aber auch die Beteiligung vieler radikaler Linker an der Demo zurückgegangen. Die haben zwar zum einen verständlicherweise gesagt, den Mist gebe ich mir nicht mehr. Aber zum anderen wird eine Demonstration ja auch nicht besser, wenn man sie nicht mitgestaltet.

Das Maifest übrigens war für Senat und Bezirk nicht nur ein Sieg. Klar, sie haben die Demonstrationskultur in Kreuzberg an diesem Tag zerstört. Aber sie haben auch einen hohen Preis bezahlt. Beliebt ist das Ballermann-Fest im Kiez nicht. Und Monika Herrmann (Bezirksbürgermeisterin, Die Grünen, Anm. der Red.) muss jetzt Schadensbegrenzung betreiben und das Ding zurückfahren. Und am Ende kommen wir wieder, wenn die Demo neue Kraft gewonnen hat. Keine Angst.

Damit wir nicht nur über die Form reden: Worum geht‘s denn inhaltlich dieses Jahr?

Hinter der Demo steht ein breites und neues Bündnis. Deshalb kann ich nicht für alle sprechen. Unserer Gruppe geht‘s darum, wie der Slogan schon sagt, viele verschiedene Gruppen und Initiativen, die sich gegen die Stadt der Reichen wenden, zusammen auf einer Demo marschieren zu lassen. Uns geht es aber auch um die vielen Leute, die unorganisiert und wütend sind. Für sie soll die Demo ein Anlaufpunkt werden.

Wir haben in den vergangenen Jahren selber eine Art Regionalisierungsprozess durchgemacht und unsere Beteiligung an Großevents zugunsten von revolutionärer Stadtteilarbeit zurückgestellt. Aber gelegentlich kann es auch nicht schaden, mal die gemeinsame Stärke auf einer Demonstration darzustellen. Und das wollen wir am 1. Mai machen. Vielleicht ist da dieses Jahr erst ein erster Schritt hin getan, aber in diese Richtung würden wir die Demo gerne in den nächsten Jahren entwickeln. Und wenn wir dabei erst mal weniger werden, gemessen an den Teilnehmerzahlen, auch kein Drama. Wir wollen ein Fundament bauen, auf dem es dann weiter gehen kann. Das alte Fundament war rott.

Die Demo steht zudem nicht komplett für sich alleine, sondern ist im Kontext der Mobilisierungen der letzten Monate zu sehen. Ende September gab es eine Demo für die Liebig-34, die räumungsbedroht ist, in Kreuzberg gab es im Herbst und Winter viel Protest gegen ein neues Hostel, Anfang März die Interkiezionale, jetzt vor kurzem die große Mietenwahnsinn-Demo.

Die Klammer dabei ist klar und einfach: Diese Stadt ist eine Stadt derjenigen, die hier Kapital zu mehr Kapital machen wollen. Sie geben vor, was gebaut wird, wer wo leben darf, einkaufen kann, wer welchen Kita- oder Schulplatz kriegt, wer wohin zur Arbeit oder zum Jobcenter muss. Wir wollen Schritt für Schritt Gegenmacht aufbauen und sagen: Wir wollen unser Leben selber gestalten.

Ihr habt eine Guillotine mit Gelbhemd auf eure Plakate gedruckt. Warum? Und wie war die Resonanz?

Zum einen ist das ein Gruß an die ausdauernden Freundinnen und Freunde in Frankreich, an diesen wundervollen Aufstand gegen das Macron-Regime. Zum anderen ist es natürlich auch eine Metapher, die sagt: Denen da oben muss es an den Kragen gehen. Nicht in dem Sinne, dass man ihnen den Kopf abhackt, klar. Aber man muss die Basis ihrer Macht angehen. Man muss sie entschädigungslos und allumfassend enteignen, ihre parlamentarischen Spielchen untergraben, ihren Repressions- und Kriegsapparat zerschlagen und den Menschen ein Gefühl vermitteln, dass wir als unterdrückte Klassen die da oben nicht brauchen, um unser Leben zu organisieren.

Die Resonanz auf das Plakat war gut, vor allem bei den nicht durch Übertheoretisierung geplagten normalen Leuten. Bei Linken dagegen war‘s bislang gemischt. Viele fanden‘s gut, einige haben irgendwelche Kopf- oder Bauchschmerzen. Aber letztlich ist es ein Plakat, mehr nicht.

Und wie steht‘s mit der revolutionären Gewalt dieses Jahr? Irgendwelche Horrorszenarien geplant?

Das ist eines der grundlegenden Probleme dieser Demonstration. Wegen ihrer Tradition, die viele standhaft geschlagene Schlachten einschließt, erwartet jeder, dass es knallt. Wir sehen das so: Es knallen zu lassen, ist kein Selbstzweck. Es knallt, wenn genügend Leute wütend sind, ihr Ohnmachtsgefühl überwinden und sagen: Es reicht. Dann kannst du das – siehe Frankreich – auch durch den zunehmend faschisierten Staatsapparat nur sehr begrenzt kontrollieren.

Und wenn das nicht der Fall ist, kannst du umgekehrt auch nicht Militanz simulieren, wo keine ist. Insofern gibt‘s von uns keine Vorhersagen über irgendwelches Knallen. Klar ist, wir distanzieren uns sowieso von nichts und sehen verschiedenste Aktionsformen auf der Demonstration als legitim an – falls das die Frage war.

Am Ende wollen wir aber vor allem, dass es viele Ausdrucksmittel auf der Demonstration gibt – Fahnen, Transparente, Plakate. Und dass wir im Vorfeld bei der Mobilisierung mit Leuten ins Gespräch kommen. Das ist für uns wichtiger, auch wenn es leider unspektakulärer für den Sensationsbetrieb der Hauptstadtmedien ist, die immer verzweifelt versuchen, schon im Vorfeld die Kriminalisierung publizistisch zu rechtfertigen. Und dieser Sensationalismus funktioniert ja leider. Schreib „Wir werden alles anzünden, was nicht niet- und nagelfest ist“ in die Überschrift, dann lesen das dreimal so viele Leute, wie wenn du “Wir wollen Kiezkommunen aufbauen und die Menschen gegen Verdrängung organisieren” schreibst.

Interview: Peter Schaber

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