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​​​​​​​Am 20.1 wurde Donald Trump zum zweiten Mal als Präsident der USA vereidigt. Seitdem arbeitet die US-Regierung an der Umsetzung ihrer nationalistischen Pläne. Wir wollen im zweiten Teil von „Der große Diktator (im Werden)“ nachvollziehen wie weit diese Barbarei indes fortgeschritten ist, wer relevante Akteure in der rechten Regierung sind und wie der Sieg der MAGA Ideologie das Verhältnis von Innen und Außen, sowie von oben und unten, in den USA neu bestimmt.

Pierre Roggen


Außen

Die aktuellen Entwicklungen im kapitalistischen Zentrum überschlagen sich mit enormen Folgen für die Marginalisierten außer- wie innerhalb. Durch die Kürzung von US-AID werden Millionen Menschen im globalen Süden fortan keine notwendige medizinische Unterstützung mehr erhalten. Außerdem wollen die USA nach außen härter um sich greifen: Panama Kanal, Gaza, Grönland, Mexiko, Kanada. Alte Gewissheiten des Pax Amerikana und Erinnerungen an das Ende der Geschichte scheinen überholt. Wo das Empire früher, unter Freunden und Abhängigen, noch Spendierhosen im Sinne einer Soft-Power anhatte, wird mittlerweile außenpolitisch fast auschließlich mit (wirtschaftlichen) Drohungen und ideologischer Anbiederung an die (extreme) Rechte gearbeitet. Das Ziel ist die US-amerikanische Hegemonie sowie scheinbar die Hegemonie der jeweiligen indigenen Rechtsradikalen zu stärken. Nach außen markiert die MAGA (Make America Great Again)-Bewegung eine Linie: Wenn ihr über das rechtsradikale bis libertär-konservative Stöckchen springt, bekommt ihr vielleicht einen Knochen. Allein deswegen sollte allen fortschrittlichen Kräften aufgefallen sein, dass die Interessen der aktuellen US-Regierung unseren Interessen diametral gegenüberstehen. Beispiel gefällig?
 
Ein Kreuzritter als Verteidigungsminister


Der Elitestudent Pete Hegseth diente brav mit Mitte Zwanzig als Infanterist in der Bucht von Guantanamo. Doch damit nicht genug, ging er freiwillig in den Irakkrieg und arbeitete später als Ausbilder für Aufstandsbekämpfung in Afghanistan. So liest sich der Lebenslauf eines Killers. Er trat aus dem Militär mehrmals aus und wieder ein, gründete Veteranengruppen, und ging danach wieder in den aktiven Dienst der Nationalgarde. 2021 wurde er dort mit 11 Anderen aus dem Pool der 20.000 Nationalgardisten aussortiert die Bidens Amtseinführung überwachen sollten. Begründet wurde dies auch aufgrund seiner Tattoos (Jerusalemkreuz/ Deus Vult). Diese und ähnlich Motive werden von christlichen Nationalisten und Neonazis genutzt. Hegseth gibt den antimodernen Kreuzritter im Kampf mit dem Humanismus. So stellte er bei den Anhörungen im Januar klar, dass die Genfer Konvention für seine US-Army nicht gelten würde, die Aufgabe des Militärs sei nun mal das Töten. Außerdem kündigte er an alle „woken“ Offiziere zu entlassen.
Wer ist dieser Typ, der daherkommt wie aus „Handmaids Tale“ gefallen?

Als Journalist und Ehebrecher schaffte er es wortwörtlich in die Fox and Friends Family aufgenommen zu werden. Während seiner Tätigkeit für Trumps Lieblingssender erlangte er unter anderem eine gewisse Berühmtheit dafür, dass er sich für die Begnadigung von verurteilten Kriegsverbrechern wie Eddie Gallagher einsetzte. Der mittlerweile pensionierte Navy-Seal, bekannt dafür mit seinem „Bodycount“ von über 240 Tötungen anzugeben, wurde mehrerer disziplinarischer Vergehen und Menschenrechtsverletzungen beschuldigt. Und ich sag mal so: im amerikanischen Militär muss man sich wirklich anstrengen, damit so was nicht unter den Teppich gekehrt wird. Gallagher soll einen minderjährigen Gefangenen mit einem Messer getötet und Bilder von sich und der Leiche per Messenger verschickt haben. Kollegen behaupteten außerdem, er hätte als Scharfschütze mindestens zwei tödliche Schüsse auf Zivilisten abgegeben. Dass er Kameraden, die ihn meldeten, mit demTod bedrohte, gab wohl den letzten Ausschlag zu seinem Prozess. Verurteilt wurde Gallagher dann aber nur dafür, mit der Leiche des Minderjährigen posiert zu haben. Ein unter Immunität aussagender Sanitäter gab an, den Jungen „aus Mitleid“ selbst getötet zu haben. So nämlich. Das Militär schützt sich eben doch selbst. Dennoch wurde Gallagher degradiert, was Trump jedoch auf Anraten von Hegseth medienwirksam wieder rückgängig machte.  Nun ist Hegseth, der blutrünstige Patron der Kriegsverbrecher, also Kriegs- äh Verteidigungsminister und die US-Army vollzieht eine stramme Rechtswende.
 
Innen

Trump scheint persönliche Rechnungen begleichen zu wollen. Er ließ durch Elon Musks DOGE-Team beim FBI die Verantwortlichen für die Ermittlungen rund um den 6. Januar Aufstand feuern. Angeblich zirkuliert eine Liste mit insgesamt 6000 Agenten, die mit dem Fall befasst gewesen waren. Diese ebenfalls zu feuern käme bei offiziell insgesamt 38.000 Agenten des FBI, einem personellen Kahlschlag, ja fast schon einem Putsch gleich.
Außerdem werden erste unbequeme Richter angegriffen. So wird öffentlich gegen Richter geätzt die gegen manche „executive orders“ Trumps geurteilt hatten. Wie zum Beispiel gegen den Zugriff der Musk-Behörde auf enorme Mengen an Steuer- und Sozialnummern.
Dass Elon Musks Angestellte sehr junge blasse Typen in zu großen Anzüge sind, gibt der Tragödie ein weiteres Mal den Anstrich der Farce. Doch wir sollten nicht irren, das Projekt der Rechten ist als langfristiger Plan konzipiert. Es wird kontinuierlich die eigene Position ausgebaut.

ICE (Immigration and Customs Enforcement) und Army organisieren derweil die im Wahlkampf versprochene Menschenjagd.
Die Regierung geht  juristisch gegen demokratische „Sanctuary Cities“ wie Chicago vor, während sie bereits auf medienwirksame Weise Verschleppungen organisiert. Das Militär übernimmt Transport und scheinbar auch Inhaftierungen. So wurde Anfang Februar die Verschleppung erster Undokumentierter auf die US-Militärbasis Guantanamo bestätigt. Noch ist unklar, welches Ausmaß diese Barbarei annehmen wird. Doch es sieht nicht gut aus für 11 bis 14 Millionen Menschen, die ohne die richtigen Papiere in den Vereinigten Staaten leben. Viele davon in Kalifornien, Texas und Illinois (Chicago). Allein am 27.01. wurden 1200 Menschen inhaftiert. Im Vergleich: Biden ließ im Schnitt täglich 311 Menschen abschieben.
 
„Es gibt niemanden der unsere Grenze besser überwachen und kontrollieren kann“- Trump über Tom Homann (Direktor ICE)


Dieser Homann war bereits einmal nach Trumps erstem Sieg 2016 bis Juni 2017 ICE Direktor und dürfte die Institution gut kennen. Zumal er schon zu Obama in die ICE-Führungsriege aufstieg. Homann forderte kurz vor Jahresende, die Kapazitäten der Behörde immens zu steigern. Anstatt 40.000 sollen in Zukunft 100.000 „Schlafmöglichkeiten“ in Abschiebehaft verfügbar sein. Im Vergleich: Deutschland hatte 2019 knapp 480 Betten und schob mehr als 22.000 Menschen ab. Weltweit sind ICE und Homeland Security sowieso schon die mächtigsten Behörden ihrer Art.
Die Re-Aktivierung des skandalumwobenen Foltergefängnisses Guantanamo für das nationalistische Vertreibungsprojekt verheißt nichts Gutes. Die Kapazitäten Guantanamos sollen auf unglaubliche 30.000 steigen. Zudem hatte Bukele (El Salvador) angekündigt, Papierlose für die USA zu inhaftierten.

Verständlicherweise liegt ein Schleier aus Angst und Verunsicherung über den migrantischen Communities. Jedoch kam es jüngst zu einer ersten Welle politischer Demonstrationen, getragen von Schüler:innen und Studierenden. Die gewaltsame Neuordnung von innen und außen ist im vollen Gang. Doch wie sieht es mit oben und unten aus?
 

Das (Unten und) Oben von MAGA

11% der amerikanischen Bevölkerung müssen von weniger als 12.800 USD im Jahr leben und zählen als arm. Die Hälfte aller Jobs zahlt nicht mehr als 48.000 USD (Median Einkommen in den USA/ 2023) was je nach Wohnort und Familiengröße nicht unbedingt ein sorgenfreies Leben garantiert. So kann die Jahresmiete für eine Person in den Metropolen wie Los Angeles oder New York schonmal 40.000 USD und mehr kosten. Die Mittel- und Unterschicht  der Vereinigten Staaten kämpfen mit Inflation, Gentrifikation, teuren Krankenversicherungen und hohen Medizinpreisen. Bernie Sanders bemerkte nach der Amtseinführung, dass Trump in seiner Einführungsrede keinen einzigen dieser Punkte ansprach. Warum sollte er auch? Trump  repräsentiert in erster Linie die Interessen der reichsten Amerikaner.
Musk, Bezos und Zuckerberg besitzen so viel wie die unteren 50% der USA. Und sie standen während der Einführung geschlossen hinter ihm. Musk wollte einfach zeigen, dass er ein Akteur ist und mitgestalten wird. Bezos stand eher kleinlaut hinter Trump. Er spendete brav 1 Million und streamte die Zeremonie auf Amazon Plus. 2016 hatte er Trump noch eine Gefahr für die Demokratie genannt. Letztes Jahr gab seine Zeitung Washington Post („Democracy dies in Darkness“) erstmals keine offizielle Wahlempfehlung für die Demokraten mehr aus. Und erst kürzlich kündigte eine Karikaturistin die ihre Zeichnung (siehe oben) nicht veröffentlichen durfte. Zuckerberg (Meta) und Sundar Pichai (Google) vollzogen ähnliche Demutsgesten. Lagen ihre Konzerne manchmal mit der Regierung Trump1 über Kreuz, so spendeten dieses Mal beide brav Geld und Applaus. Dafür durften sie in einer Reihe mit Tim Cook (Apple) und Sergey Brin (Google) das Spektakel auf besseren Sitzplätzen verfolgen als Mitglieder der Trump-Regierung. Die Senatorin Elisabeth Warren kommentierte die Sitzordnung auf Twitter: „Das sagt alles“.
 
Teile der herrschenden Klasse versammeln sich hinter Trump – schließlich gilt es, die Situation zu nutzen. Zur „Inauguration“ genannten Einführung kamen jede Menge langjährige Unterstützer. Da wäre der Milliardär Schwarzman, CEO der Vermögensverwalter Blackstone Group, eng verwandt mit Blackrock, dem ehemaligen Arbeitgeber von Friedrich Merz. Forbes Platz 21 mit 43,6 Milliarden USD. Oder: Miriam Adelson. Witwe des verstorbenen Casino-Moguls Sheldon Adelson. Ex-Forbes Platz 28 mit 33,5 Milliarden USD. Dieser war als Lobbyist der israelischen Rechten bekannt. Das Ehepaar unterstützte Trump schon 2016-2020 mit über 420 Millionen USD. Miriam Adelson saß während der Zeremonie in der Nähe von Bernard Arnault (Moet Hennesy Luis Vuitton), Forbes Top 3 aber aktuell hinter Musk. Arnault würde bestimmt ungern hohe Zölle für seine Luxusprodukte nach Amerika zahlen, mal sehen, ob sich da was machen lässt. In gelösterer Stimmung war Harold Hamm, Öl- und Gasmagnat. Er soll im April 2024 ein Treffen organisiert haben, bei dem Öl- und Gasproduzenten insgesamt eine Milliarde an Wahlkampfunterstützung für die Trump-Kampagne sammelten. Obwohl er 2012 noch den gemäßigteren Mitt Romney unterstützte, ist er seit 2016 ein MAGA-Supporter. Auch der mittlerweile 94-jährige Bernard Marcus, Mitgründer der Baumarktkette Homedepot, ca. 11 Milliarden schwer, zählt zu den etablierten Geldgebern Trumps. Seit 2016 gab er mehr als 16 Millionen USD. Bekannt für seine Einflussnahme in akademischen Milieus ist William Ackman, Gründer der Pershing Square Holdings. Er gilt als treibende Kraft hinter der Absetzung von Claudine Gay als Präsidentin der Elite-Uni Harvard. Ferner liefen: Abenteuer-Kapitalist und Repräsentant des rechten Silicon Valley Douglas Leone, Jan Koum, Mitgründer von Whatsapp, Hedgefond-Manager Paul Singer, das Ehepaar Uhilein welches die Logistikfirma Uline besitzt. Und ein Mann mit besonders schlechten Karma: der Pipeline-Betreiber Kelcy Warren. Dessen „Dakota Access Pipeline“ wurde gegen enormen indianischen Widerstand durchgesetzt.
Man könnte fast meinen, gewisse Kapitalfraktionen freuen sich darauf, mit am Tisch zu sitzen, wenn das spät-amerikanische Empire nochmal richtig gemolken wird. Allein die Luftfahrtbranche (Space X, MISC und Bigelow Aerospace), welche stark auf staatliche Aufträge angewiesen ist, übergab Trump direkte und indirekte Spenden von 282 Millionen USD. Andere prominent vertretene Industrien waren Investment, Gesundheit und Altersvorsorge mit zusammen über 620 Millionen USD Wahlkampfspenden. Wer solche Zahlen liest, wird um die Erkenntnis nicht herumkommen, dass in diesen Industrien ein bedeutender Mehrwert erzeugt wird, während der Profit nach oben durchgereicht wird. Die Öl- und Gasindustrie darf, wie die Baubranche, Tabakindustrie, Anwaltsvereine, Auto- sowie Elektrowarenhersteller natürlich nicht fehlen, wenn Natur und öffentliche Gesundheit wieder einmal dem Profit untergeordnet werden. Die größten amerikanischen Banken haben es neulich vorgemacht und sind aus ihrer halbherzigen Selbstverpflichtung zu mehr Nachhaltigkeit und dem Ziel der Klimaneutralität ausgestiegen. Wenn es nach den Interessen dieser Herrschaften geht, soll sich die Rendite aus Investments in Fossile, Immobilien und Tech (wieder) erhöhen. Dafür wird ein faschistisches Rollback toleriert, wenn nicht sogar herbeigesehnt. Diese Mischung aus Rentiers der Eigentums- und Immobilienverwaltung, einer scheinbar immer größer werdenden autoritären Fraktion des Silicon Valley, den Raketen- und Raumfahrtunternehmen sowie den fossilen Logistik, Extraktions- und Industriekapitalisten kann sich sicherlich darauf einigen, das alte Akkumulationsregime weiter als ihr Vehikel zu betrachten. Und es an manchen Stellen sogar auszubauen. Die Folgen für den Klimawandel liegen auf der Hand. Doch an den Internetkapitalisten und Social Media CEOs soll es nicht scheitern. A propos: die Interessen der unteren Klasse spielen bisher absolut keine Rolle in der Neuordnung des Empires.
Denn der „amerikanische Traum“ wird vom Ende her gedacht. Wer aus der hochkarätigen Versammlung der gesellschaftlichen Elite im Weißen Haus verschwendet einen Gedanken an den Tellerwäscher, der bei einem Mindestlohn von 7,25 USD gerne zum Millionär werden würde?
Der Politikbetrieb erscheint erhaben über die materiellen Sorgen der Amerikaner*innen.  
So wurde fleißig gesammelt und insgesamt waren es gut 1,28 Milliarden USD Großspenden allein für den Trump Wahlkampf 2024. Mit Kleinspenden und den Ausgaben der übrigen republikanischen Kandidaten hatten die Republikaner ein Budget von knapp 2 Mrd USD. Die Biden/Harris-Kampagne war ungefähr gleich gut ausgestattet. Insgesamt also rund 4 Mrd USD. Die Wahlkampffinanzierung erreicht in den Vereinigten Staaten zuverlässig alle vier Jahre neue Rekordwerte.
 
Die faschistische Internationale 

Es ist nicht verwunderlich, dass der reichste Mensch der Welt in der Politik gut vernetzt ist. Er kann sich schon lange im Namen seines Konzerns mit Staatsoberhäuptern treffen: Scholz und Modi empfingen ihn in allen Ehren. Macron und Meloni trafen ihn letztes Jahr jeweils in einem informelleren Rahmen. Und zumindest Meloni schien Musk dabei sehr sympathisch gewesen zu sein, er bezeichnete sie als „wertvolles Genie“. Erdogan bat ihn, eine Tesla-Fabrik in der Turkei zu etablieren. Er flirtet mit Bukele, Bolsonaro usw. Die Liste ließe sich erweitern. Der springende Punkt ist, dass Musk weltweit faschistische und konservative Akteure um sich schart. Dies könnte eine weltweite Renaissance des Faschismus beschleunigen. Er tritt dabei als eine Art faschistischer Außenminister auf. Siehe Talk mit Weidel plus Auftritt im AfD-Wahlkampf. Oder die Medienkampagne für den inhaftierten Robinson im Vereinten Königreich. Außerdem die aktive Diffamierung mehrerer europäischer Staatsoberhäupter. Was vor ein paar Jahren noch die Arbeit von randständigen Akteuren wie Steve Bannon und dergleichen war, wird heute vom offiziell reichsten Mann der Welt mit zugehörigem Social-Media Imperium aggressiv, ja, geradezu manisch vorangetrieben. So gesehen könnte Musk tatsächlich die Art und Weise verändern, wie im amerikanisch-europäischen Block Politik gemacht wird.

Indirekte Auswirkungen


Nun sind es aber nicht alleine die Handlungen der neuen US-Regierung und ihres international-faschistoiden Machtblocks, welche uns Schritt für Schritt in eine unsichere Zukunft führen. Es geht auch um das Verhalten der Angepassten, der Gleichgültigen, der Falsch- und Uninformierten, derjenigen die still und leise profitieren und jener, die ihre Demut schonmal präventiv demonstrieren. Beispiel? Eine junge Meterologin verlor ihren Job bei einem Nachrichtensender, nachdem sie den faschistischen Gruß Musks in den sozialen Medien kritisiert hatte. Freedom of Speech, aber halt „the oligarch way“. Hier treffen sich Plattformkapitalismus und der moderne Faschismus. Auf der einen Seite haben Musk, Zuckerberg und ein paar andere, die Kommunikation der digitalen Räume als Rhetorik in die Politik gebracht und andererseits eben auch die Politik auf Social Media geholt. Ein entscheidender Vorteil, den die Internetkapitalisten in die faschistische Internationale einbringen. Zur selben Zeit zeigen sich viele der demokratisch-liberalen Politiker, bspw. die Sozialdemokraten Scholz und Starmer (UK), von einer diskursiven Auseinandersetzung überfordert.
Diese Überforderung des politischen Gegners ist integraler Bestandteil der Stratgie der Rechten. Umso mehr braucht es einen klaren, globalorientierten Blick von links. Die (zugegebenermaßen global variierende) Ablehnung der Faschisten und ihrer Scharlatanerie böte die Möglichkeit für fortschrittliche und widerständige Kräfte, zumindest in einem Rahmen die gleiche Sprache zu sprechen.

Fotos: President Trump signs post-inaugural documents (January 20, 2025).jpg by Office of Speaker Mike Johnson, CC0 via wikimedia

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Heute, am 20.01. wird Donald Trump zum zweiten Mal als Präsident der USA vereidigt. Das LowerClassMagazine nutzt diesen Anlass, um einen polemischen Blick auf die neue Regierung des spät-kapitalistischen Amerikas zu werfen. Der erste Teil soll der Frage nachgehen, warum zum Teufel Trump nochmal gewählt werden konnte.

Pierre Roggen


Trump wächst immer mehr in seine Rolle als Diktator hinein. Als er neulich bei NBC News wieder mal eine dreiste Lüge auftischte – es handelte sich um die Anzahl von verübten Tötungen durch unregistrierte Migranten, wobei er 13.000 angab, und behauptete diese wären in den letzten 3 Jahren passiert und nicht wie es der Wahrheit entsprochen hätte in den letzten 4 Jahrzehnten – wurde mir klar, wie sehr die ganze Chose als Tragödie im Gewand der Farce wiederkommt. So dürfte auch dem letzten Liberalen, der sich über Trumps inkohärente Art lustig machte, mittlerweile das Lachen im Hals stecken bleiben. 

Sein billiges Herumgelüge und die Arroganz mit der er über die Einwände der Journalistin, die offen auf der Unwahrheit bestand, hinwegging zeigen uns eine Art Scheitelpunkt auf. Ab hier, so scheint es, wird sich das Verhältnis zur bürgerlichen Öffentlichkeit verändern. Es geht bergab mit der, ohnehin schon angeschlagenen, liberalen Ästhetik der amerikanischen Demokratie. Entscheidend für das rechts-rechte Bündnis ist nunmehr das passende Narrativ zur Vorbereitung und Legitimation der kommenden Machtausübung. Es genügt innerhalb des eigenen ideologischen Lagers einen Konsens zu produzieren. Die oppositionellen Milieus können der kommenden Regierung egal sein, solange sie eingeschüchtert Zuhause bleiben. Wenn Trump nun also die Anzahl der „homocides“ durch Unregistrierte zehnmal höher angibt als es die Daten hergeben, bleibt der Journalistin nichts anderes als auf die Unwahrheit der Aussage zu bestehen, auch wenn sie dabei sang- und klanglos übergangen wird. Fact-Checking ist schon länger nur noch für die Amerikaner relevant die Trump sowieso kritisch sehen. Doch diese Leute haben nun keine institutionelle Bedeutung mehr in der Politikmaschinerie des spät-amerikanischen Empires.

Bis dato musste die eigene Rolle in der medialen Arena noch mit einer gewissen schauspielerischen Empörung vorgetragen werden. Es galt das unentschiedene Publikum zu überzeugen ihre Stimme abzugeben. Das dürfte erst einmal vorbei sein. Nun hat Trump die Macht und kann sich dieses Quäntchen Energie in der Auseinandersetzung mit dem liberalen, bürgerlichen Amerika sparen. Die Wahl ist vorbei. Das Spiel ist erst einmal aus. Die Republikaner haben gewonnen. Amerikas Institutionen liegen vor ihnen und das nepotistisch-faschistische Casting ist beendet. Dass Trump die letzten Wochen zum zweiten Mal als Präsident das tat was er als TV-Persönlichkeit in 192 Folgen einübte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. 

Den Anhängern Trumps, die sich nun in seinem Sieg sonnen wie in einer persönlichen Errungenschaft und gierig seine Propaganda und Marketinggags aufsaugen, kann eine Auseinandersetzung zur Wahrheitsfindung herzlich egal sein. Viele Amerikaner deuten seine unvorbereitete und obszöne Art als Authentizität und perverse Form der Ehrlichkeit. Denn Trump ist vor Allem eines: Entertainer. Er kann die Leute unterhalten, manchmal bringt er seine Fans mit den richtigen Sprüchen zwischen Skript und Freestyle so in Wallung das sie reihenweise umkippen. Und das ist nur die Spitze des multi-millionen Dollar Spektakels, mit dem die politische Willensbildung und Machtlegitimation in den USA zelebriert wird. Insofern erscheint es logisch das nach Ronald Reagan als Schauspieler, Trump als eine Art Kunstfigur – so trennen einige seiner christlichen Wähler bewusst das Werk vom Künstler – als erfolgreicher Hybrid Entertainer-Politiker seine 2. Amtszeit bekommen hat. 

Es zeigte sich abermals das offene Widersprüche der eigenen Ideologie mit dem Handeln und der Propaganda Trumps für viele Republikaner kein Problem sind. So sollte es den meisten Christen doch wohl etwas übel aufstoßen, dass diese Inkarnation der Unmoral als mehrfach geschiedener (und mehrfach der Vergewaltigung beschuldigter) Machertyp einfach mal „Good Bless the Usa“-Bibeln im Wahlkampf verkaufte. Das Produkt ist – auch für amerikanische Standards – wahnsinnig. Und gerade deswegen illustriert es den aktuellen Status Quo so treffend. Es besteht aus einer Bibelversion, der Verfassung der USA, die „Amendments“ genannten Zusätze und weiterer patriotischer Texte wie dem „Pledge of allegiance“ sowie dem Song „God Bless the USA“ in der Handschrift seines Komponisten Greenwood. Als Melange von schlecht verdauter Religiosität und obergärigem Nationalismus ist diese Bibel ein Monument der sagenhaften Idiotie welche oftmals auch als „manifest destiny“ verstanden und bis heute von vielen Amerikanern affirmiert wird. Die USA als von Gott gewählte Nation.

Hier findet sich kein Platz für Minderheiten abseits des Feigenblatts. Das zeitgenössische Amerika ist patriarchal, christlich, autoritär. Und eben auch ein Volk aus Vollidioten, Scharlatanen, Knechten und Herren sowie einigen falschen Propheten. Die Macht liegt nun, mehr oder weniger uneingeschränkt, in den Händen des falschen Propheten, dem Idol der Herren, Scharlatane, Vollidioten und Knechte. Das ist genau die Hegemonie, die sich vom rechtsradikalen Akteur bis zum scheinheiligen, dumm-frommen, Christen alle gewünscht haben. Der Mob johlt während die hemdtragenden Schreibtischtäter ihre Ärmel bereits hochkrempeln haben. Doch lasst uns mal einen Schritt zurück machen. 

Nun ist es schon länger so, dass in den amerikanischen Medien von rechter Seite mehr und mehr einfach dieselben Narrative („Die kriminellen Migranten“, „Rettet unsere Kinder vor der Trans-Lobby“, „Nieder mit der kritischen Wissenschaft: niemand nimmt uns unsere Vergangenheit“ etc.) immer hysterischer und überzogener wiederholt werden. In Diskussionsrunden, Meinungsbeiträgen und Social Media entstehen Momente die als „clippable material“ ihren Weg in die Sozialen Medien finden. Dort erzeugen sie in der Fantasie der (weißen) Boomer und ihrer bildungsfernen Boys Bilder und Argumentationslinien, die scheinbar ohne jede Impulskontrolle wieder massenweise ins Netz erbrochen werden. Ein Fiebertraum von einer Massenpsychose („they are eating the cats“) wie wir ihn in Ansätzen aber auch aus Deutschland kennen. Die Wieder- und Wiederverwertung des Ressentiments, ästhetisch gleichzusetzen mit einem Hund der die Scheiße anderer Hunde kaut und verdaut, ist intellektuell eine eher nährstoffarme Angelegenheit, aber dennoch attraktiv für die Bewohner der schönen neuen digitalen Welt. Natürlich spielen innerhalb dieser Welt Multiplikatoren und ihre Reichweite eine entscheidende Rolle. Da wäre der paranoid-gekiffte, aber populäre Joe Rogan, der anticharismatische, aber reiche, Elon Musk, die Zuhälterbrüder Tate, die Kreml-Matroschka Tucker Carlson oder die alteingesessenen Hetzer von FoxNews (Doocy, Hannity, Ingraham). Diese haben den rechten Diskurs lange genug wiedergekäut und waren damit extrem erfolgreich. Alles in allem reichte die Medienarbeit um die Trump Kampagne aus um gut 3 Millionen Stimmen mehr als 2020 zu erhalten. 

Doch um den Wahlerfolg von Trump zu erklären, reicht es nicht nur Hass, Hetze und Desinformation in den Blick zu nehmen. Vielmehr drängt sich der Verdacht auf das die Demokraten diese Wahl mehr verloren haben als das Trump sie gewonnen hat. Zumindest legt das die Gesamtzahl der demokratischen Stimmverluste von etwa 6,2 Millionen Votes (2024: knapp 75 Millionen, 2020: 81,2 Millionen) nahe. Hier ließe sich ein eigener Artikel über das Unvermögen der Demokraten schreiben. Heruntergebrochen lässt sich wohl sagen, dass es keine gute Idee war sich mit den Trump-kritischen republikanischen Eliten zu verbünden um sich als etablierte Mitte an vermeintlich gemäßigte Rechte anzubiedern. Zu klein war die Wirkung auf diese Zielgruppe, zu groß die Abscheu, der Wählerschaft vor den vereinten Kriegstreibern von Cheney bis Pelosi. Dabei existieren in der amerikanischen Bevölkerung parteiübergreifende Mehrheiten für sozialdemokratische und linksliberale Positionen wie dem Ausbau der allgemeinen Gesundheitsversorgung oder dem Bestehen auf reproduktiver Gerechtigkeit. Diese traten im medialen Dauerfeuer vor der Wahl jedoch in den Hintergrund. Die Repression gegen linke und propalästinensischen Positionen auf dem Parteitag der Demokraten in Chicago trug bestimmt ebenfalls dazu bei, dass sich manche linke Demokraten entfremdet von der Partei abwendeten. Hier liegt meiner Ansicht nach ein Knackpunkt. Die Demokraten inszenierten sich als etablierte Verwalter des imperialistischen Status Quo. Wer Liz Cheney mit auf die Bühne holt, lädt dabei auch den Schatten ihres Vaters Dick Cheney ein. Sich im kriegsmüden Amerika mit der Tochter eines der Architekten des Irakkriegs zu zeigen, kommt einem selbstausgeführten Knieschuss gleich. Während die liberalen und linken Milieus keine gemeinsame Erzählung finden konnten die über die Ablehnung Trumps hinausging, stimmten radikale und gemäßigte Rechte mehr oder weniger geschlossen für Trump. 

Das Rückgrat dieser Wählerschaft waren weiße Männer. Tendenziell Bildungsfern okay, aber eben schon auch anschlussfähig bei reichen, weißen, gebildeten Rassist* äh Republikanern. Außerdem gelang es der Trump Kampagne zusätzlich marginalisierte Männer zu mobilisieren. Vor allem Latinos, aber auch Schwarze die für ein überhöhtes Bild aggressiver Männlichkeit und/oder Religiosität empfänglich waren. Hier liegt meines Erachtens der relevante Beitrag der sogenannten Manosphere und der Evangelikalen. Zusätzlich stimmten die weißen Frauen traditionell republikanisch. Es reicht also für einen bedeutenden Teil des Wahlvolks aus ein Charakteristikum aufzuweisen das sie gegenüber anderen als privilegiert erscheinen lässt um auf den Chauvinismus-Zug aufzuspringen. Das Erfolgsrezept ist also ein Bündnis aus reichen und armen Chauvinisten; aus männlichen Männern und traditionellen Frauen, aus den Abgehängten und denen die das durchschnittliche Amerika abgehängt haben und weiter abhängen wollen. Es dauerte folglich auch nicht lange bis die offensichtlichen Widersprüche nach vorne treten, doch das ist Inhalt eines weiteren Textes. Die einen richten ihren Chauvinismus hauptsächlich gegen die unteren Klassen, während die anderen ihre explizit rassistisch-faschistische Wünsche im Sinne einer national-patriarchalen Beutegemeinschaft an die kommende Präsidentschaft haben. Die einen wollen die Bedingungen für ihre Kapitalakkumulation verbessern, das schließt die erleichterte Ausbeutung aus- wie inländischer Arbeitskräfte mit ein. Die anderen hatten gehofft durch Massenabschiebungen weniger Konkurrenz am unteren Ende des Arbeits- und Wohnungsmarktes zu erhalten. Gemeinsam ist ihnen nebenbei bemerkt der Wunsch nach einer autoritären Verwaltung des armuts- und drogeninduzierten Elends auf den Straßen der Vereinigten Staaten. 

Welche Seite sich letztendlich durchsetzt ist noch unklar, auch wenn sich eine Tendenz in Richtung der Interessen des reichsten Mannes der Welt und seiner Entourage abzeichnet. Der gemeinsamer Nenner ist in jeden Fall der kostenlose, weil erst einmal aus heißer Luft bestehende, Kulturkampf gegen Liberalismus, Feminismus, Minderheiten und Sozialismus. Es könnte also gut sein, dass die Widersprüche innerhalb der MAGA-Bewegung durch symbolische, systematische und physische Gewalt gegenüber ihren gemeinsamen Feinden abgemildert werden sollen. Marx sagte einmal, dass sich die Geschichte wiederholt, einmal als Tragödie und dann einmal als Farce. Hier scheint es nun andersherum zu sein. Erst war die Farce und nun kommt die Tragödie. Natürlich war die erste Amtszeit von Trump für viele schon eine Tragödie doch die jetzige Amtszeit kommt im Vergleich wie auf Steroiden daher: Senat, Repräsentantenhaus, Oberster Gerichtshof und Präsidentschaft sind in der Hand dieser faschistischen Scharlatane. Wobei die einen mehr Faschismus enthalten, während bei anderen die Scharlatanerie überwiegt. Es bleibt zu hoffen das sich die mörderischste Komponente, die faschistischen Phalanx aus Milizen wie den Proud Boys und 1%ers, nicht an die Spitze rassistischer Pogrome stellen können. Was als Szenario im Angesicht des Erbe des KKK als möglich erscheint, ist jedoch hoffentlich unwahrscheinlich da das „ausländerfeindliche“ Pogrom historisch gesehen mehr ein Produkt des „alten Kontinents“ darstellt. Doch auch ohne weitverbreitet marodierende Nazi-Milizen birgt die kommende Regierung große Risiken für weite Teile der Bevölkerung. 

Unter ihnen, auch das gehört zur Wahrheit, Menschen die Trump selbst gewählt haben. Ein gutes Beispiel sind venezolanische Geflüchtete die Trump 2021 noch per Dekret vor Abschiebung schützte und mit seinen Tiraden gegen den vermeintlichen Sozialismus von Harris & Co als Wählerschaft mobilisierte. Nun scheint sich der Wind aber zu drehen, denn Trump bezeichnete diese Gruppe jüngst als Kriminelle. Auf NBC äußerte er sich zu seinen Abschiebeplänen und erklärte in erster Linie „Kriminelle“ aber auch die sogenannten „Dreamer“ als Ziele der Abschiebemaschinerie ICE. Konkret sollen Kinder, die durch Geburt einen amerikanischen Pass erhalten haben, aber deren Eltern über keine US-Staatsbürgerschaft verfügen, zusammen mit ihrer Familie abgeschoben werden. 

Hier zeichnet sich eine enorme Barbarei ab die, falls sie nicht verhindert werden kann, eine Art glorreiches Beispiel für faschistische Bewegungen weltweit darstellen könnte. Es ist die Zeit der Monster, der Faschisten und Scharlatane, wobei viele der relevanten Akteure mehr oder weniger ausgeprägte Schnittflächen mit beiden Gruppen haben. Trump ist die Inkarnation des faschistischen Scharlatans und hat sich eine Regierung gecastet die mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Kategorie fällt. 

Foto: graffiti-trump-melbourne-australien,ralfskysegel, CC0, via pixabay

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Seit etwas mehr als zwei Jahren existieren die Black Socialists in America (BSA) und machen mit einer klassenorientierten, strömungsübergreifenden Propaganda von sich reden. Unser Autor Paul Sommer hat in einem ausführlichen Gespräch mit Demetrius, Mitlied der BSA und Co-Host des Podcasts „1000 cuts“, über die Lage in den USA, die Notwendigkeit einer Schwarzen Organisierung und die Perspektiven der Revolutionär:innen im Herz der Bestie gesprochen. (Teil 2 von 3, Teil 1 findet ihr hier, Teil 2 hier)

Was die Umweltkrise auf unserem Planeten angeht, hebt ihr die entscheidende Bedeutung von Murray Bookchins Konzept der Sozialen Ökologie hervor. Warum seht ihr darin einen Schlüssel zur Lösung unserer ökologischen Probleme?

Ich denke, dass die Soziale Ökologie so wichtig ist, weil sie wirklich den Kern trifft, um den es bei unserer ökologischen Krise und dem Klimawandel geht. Natürlich ist klar, dass eine handvoll Öl- und Gasfirmen den Klimawandel antreiben und dass Privateigentum, Privatisierung und Kapital im Allgemeinen das Problem sind. Aber ich denke, dass Soziale Ökologie hier wirklich an die Wurzeln geht: Weil Menschen eine hierarchische Perspektive auf die Phänomene in der Welt haben, werden auch ihre sozialen Beziehungen zueinander hierarchisch sein. Und das projizieren sie wiederum auf die nicht-menschliche Natur. Nicht-menschliche Natur ist übrigens ein sehr wichtiger Begriff. Denn auch wir Menschen sind Natur, wie Tiere und Organismen auch. Wie Bookchin sagt: Menschen sind die bewusste Natur selbst.

Wir müssen also herausfinden, was uns dazu bringt, unsere Umwelt so zu behandeln. Es ist nicht nur die Existenz von Kapital. Menschen haben das Land und nicht-menschliche Spezies schon vor dem Kapitalismus ausgebeutet. Und Soziale Ökologie hilft dabei, die eigentliche Ursache davon zu finden. Man will ja auch keine Ärztin, die nur Symptome behandelt, sondern eine, die die hinter den Symptomen steckende Krankheit behandelt. Und diese dahintersteckenden Krankheiten sind Herrschaft und die hierarchische Ordnung aller existierenden Phänomene. Und ihre Symptome sind Kapitalismus, Privateigentum, Rassismus, Gender-Hass, Krieg und all das.

Außerdem beinhaltet die Soziale Ökologie eine sehr starke Kritik an klassischem Umweltschutz. Denn Soziale Ökologie ist etwas anderes. Umweltschutz betrachtet nur Teilprobleme und betreibt keine Systemanalyse. Umweltschützer*innen sehen sich nur die Phänomene an und wollen natürlich etwas gegen sie tun. Aber sie verbinden sie nicht mit den Konzernen, dem Nationalstaat und der hierarchischen Mentalität und Epistemologie. Sie kommen somit nicht zu den zugrundeliegenden Ursachen und was dabei herauskommt sind »umweltfreundliche Unternehmen«.

Erst neulich hat Luisa Neubauer, eine FFF-Aktivistin, an einer Videokonferenz der NATO teilgenommen und ihnen erklärt, wie sie CO2-neutral werden können.

Ja, und dann haben wir ein grünes Militär (lacht). Lass uns dominieren und ausbeuten, aber lass es uns grün und umweltbewusst machen. Es ist genau diese Art von Wahnsinn! Der Direktor der CIA unter der Biden-Administration ist ein Schwarzer Mann. Als ob es das besser machen würde! Es nimmt wirklich einen Level von Absurdität an! Und sowas kann sogar eine Art ökofaschistische Pipeline sein, die zu einer Verstärkung von Sozialdarwinusmus führen kann, was wiederum bis zur Eugenik führen kann: »Hey, lass uns doch Bevölkerungskontrolle betreiben!« Davor und vor dem Umweltbewusstsein der Nationalstaaten und Regierungen müssen wir auf der Hut sein! Deshalb ist Soziale Ökologie so wichtig. Sie verbindet das Ökologische mit dem Politischen, dem Sozialen und dem Ökonomischen.

In der ersten Episode eures Podcasts 1000 Cuts sprecht ihr von der Hyper-Individualisitischen Ideologie in unserer Gesellschaft und überall um uns herum. Wo siehst du Möglichkeiten, Menschen aus ihrer Atomisierung herauszuholen?

Ich denke, dass diese Art von Hyper-Individualismus und Unglücklichsein tatsächlich ein logisches Nebenprodukt des Lebens in einer hierarchischen Klassen- und Konsumgesellschaft ist. Aber es liegt eine große Leere darin, sich nur auf sich selbst zu fokussieren. In Wahrheit kommt so viel unserer Freude von Dingen außerhalb von uns selbst!

Und manchmal braucht es echte Tragödien wie den Tod von George Floyd, möge er in Liebe ruhen, um Menschen aufzuwecken und zu radikalisieren. Es gab Proteste auf der ganzen Welt, zum Beispiel in Korea und Deutschland. So viele Leute mit so verschiedenen Hintergründen unterstützen #BlackLivesMatter! Das macht mich wirklich emotional und es zeigt die tiefsitzende Solidarität in Menschen, die unter all diesen, durch unsere aktuelle Gesellschaft verursachten, Lagen von Verzweiflung begraben ist. Aber wir sind dazu fähig, frei zu sein!

Und dabei geht es nicht nur darum, abstrakte gesellschaftliche Herrschaft und Unterdrückung zu überwinden. Sondern darum, frei zu sein von Mangel an materiellen Notwendigkeiten. Einen großen Teil unseres Lebens im Kapitalismus verbringen wir damit, für Unternehmen zu schuften, ohne dass sich unsere Arbeit verbunden zu etwas sinnvollem, lebensbejahenden anfühlt. Das ist was Marx Entfremdung oder entfremdete Arbeit nennt. Und das alles, um erfundenes Zeug namens Geld zu bekommen und sich davon die Erfüllung lebensnotwendiger Grundbedürfnisse, wie Nahrung und ein Dach über dem Kopf zu erkaufen. Stattdessen könnten wir in einer Gesellschaft leben, die den Menschen zur Verfügung stellt, was sie zum Leben brauchen: Nahrung, Kleidung, eine Unterkunft und so weiter. Den Menschen das zu geben, würde bedeuten, dass die Gemeinschaft eine echte Verantwortung gegenüber dem Individuum hätte. Und ich denke, wir haben diese Verantwortung und dieses Verständnis verloren.

Tragödien wie beispielsweise die Corona-Pandemie haben den Menschen das eklatante Versagen des Nationalstaates gezeigt, insbesondere hier in den USA. Wir gehen eben immer voran! (lacht). Und ich denke, dass der Anarchismus, was das angeht bestätigt wurde. Denn er zeigt diese Versäumnisse des Nationalstaates und des bürokratischen Systems mit allen seinen Verwaltungswegen, Befehlsketten, Ämtern und Behörden auf. Anarchist*innen haben nichts gegen Struktur und Ordnung. Aber Bürokratie macht Dinge langsam, verkompliziert sie und entfremdet Menschen von der Entscheidungsfindung.

Auch wenn es manchmal sehr gute Gründe gibt, das teilweise zu ignorieren, schränkt die Pandemie die Linke zur Zeit darin ein, was sie im öffentlichen Raum tun kann. Aber was derzeit alle machen können, ist das persönliche Umfeld zu radikalisieren. Was hälst du von diesem Ansatz als politisches Instrument?

Ich denke, er ist zentral, aber kann auch hart sein. Die meisten Menschen, auch unter den geliebten Menschen, die einem nahestehen, sind keine Marxist*innen, Sozialist*innen oder Anarchist*innen und betreiben keine systemische Analyse. Und auch das ist ein Nebenprodukt des Lebens in einer hierarchischen Klassengesellschaft. Wenn die Menschen eine derartige Analyse betreiben würden, würden sie sehen, dass die Umwelt nicht immer so gewesen ist, sondern, dass sie eine in der Menschheitsgeschichte relativ neue Konstruktion ist. Und dann würden sie nicht mehr gehorchen und den Regeln folgen. Sie wüssten dann, dass das alles Bullshit ist und dass wir alles abreißen und neue Systeme aufbauen können, die effizienter, funktionaler, ethischer und humaner sind.

Deshalb wird das kapitalistische System immer ein stark individualistisches Denken fördern, das sich auf Persönlichkeiten fokussiert, anstatt ein systemisches Denken zu fördern, dass sich auf Institutionen und Strukturen konzentriert. Man sieht das gut, wenn man sich die Morde an Mr. Floyd und an Menschen vor ihm wie Ahmaud Arbery oder Breonna Taylor sowie die globale Institution der Polizei ansieht. Es zeigt einem, dass die Polizei selbst das Problem ist und nicht die Individuen, aus denen sie besteht. Aber wenn man solche Unterhaltungen mit Menschen im eigenen Umfeld führt, dann bekommt man Antworten wie: »Naja, aber ich kenne diese eine Person und er ist ein Cop und er ist wirklich ein guter Mensch.« Aber es ist mir scheißegal, ob dein Onkel ein guter Mensch mit Dienstmarke ist. Das ändert nichts an dem Fakt, dass Cop-Familien wesentlich höhere Raten von häuslicher Gewalt und Drogensucht haben oder dass Polizist*innen regelmäßig Menschen vergewaltigen. Und die Institution der Polizei ist noch nicht einmal effizient! Wir haben hier eine Chance von 40 Prozent, dass ein Mordfall ungelöst bleibt. Die Institution funktioniert einfach nicht.

Aber man muss diese Gespräche trotzdem führen, denn man weiß nie, was bei Menschen hängen bleibt. Freunde von mir, die nichts gegen den Kapitalismus hatten, die liberale oder sogar teilweise konservative Ansichten hatten, haben wirklich angefangen, sich zu ändern und Dinge zu hinterfragen. Warum kommen zum Beispiel prominente und reiche Menschen an Corona-Impfungen während normale, hart arbeitende und gute Menschen aus der Arbeiter*innenklasse keine bekommen, sondern stattdessen in Scharen sterben? Sie beginnen also die Hierarchien und Klassenteilung zu hinterfragen. Andere Menschen mit denen wir reden werden dickköpfig sein. Aber einige erkennen, sobald sie die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten einmal sehen, dass wahr ist, was wir sagen.

Ich beobachte, wie Menschen sich radikalisieren und ich versuche, einige meiner Freund*innen zu radikalisieren. Zum Beispiel versuche ich eine mexikanische Freundin dazu zu bringen, etwas von den Zapatistas aus Chiapas zu lesen! Sie sind, wie die Menschen in Rojava, ein Leuchtfeuer für die Welt. Ich denke also, dass man das Persönliche politisch machen muss, insbesondere als Schwarze oder BIPoC Person. Denn die Menschen am unteren Ende der rassistischen globalen Hierarchie werden die ersten sein, die den Schmerz spüren und die leiden, wenn es um Rassismus, um Sexismus, um Klimawandel und allgemein um die Art geht, in der das Kapital und der Neoliberalismus unsere Leben misshandeln. Wir müssen diese Gespräche also definitiv in unseren Communities führen.

Dasselbe gilt aber auch für weiße Menschen! Als die dominante Kraft weltweit, die vom globalen Projekt der weißen Vorherrschaft proftitiert, müssen auch sie diese Unterhaltungen führen. Sie müssen sich dazu entscheiden, diese schwierigen Unterhaltungen am Esstisch zu führen: »Opa, es ist einfach keine gute Idee, rassistisch zu sein, das bringt’s einfach nicht!« Das gleiche gilt auch für mich als Schwarzen Mann. Ich muss mich anders verhalten und ich muss mit anderen Männern darüber sprechen, Misogynie, Homophobie und Transphobie zu beenden. Also ja, wir müssen wirklich anfangen das Persönliche zum Politischen zu machen.

Gibt es noch etwas, das du gerne hinzufügen oder hervorheben möchtest?

Wir haben ja schon über vieles gesprochen, aber um das Interview positiv zu beenden, würde ich gerne hinzufügen: Erlaubt euch nicht, in Verzeiflung, Depressionen oder Angst zu versinken. Macht wirklich alles, das euch im aktuellen Moment Freude, Hoffnung und Positivität bringt. Dann lasst euch davon antreiben, rafft euch auf, geht raus und organisiert euch mit den Menschen in eurer Community! Denn, um den großen Mr. Rogers zu zitieren: »Sucht immer nach den Helfer*innen!« Die Dinge können düster und dunkel erscheinen. Aber sucht immer nach den Helfer*innen und versucht selbst welche zu werden!

Und eine weitere Sache, die ich den Menschen gerne sagen würde ist: Habt keine Angst davor, euch gegenseitig zu helfen oder Hilfe anzunehmen! Erst kürzlich haben meine Familie und ich sehr von gegenseitiger Hilfe profitiert. Wir hatten mit dem Kälteeinbruch zu kämpfen und einer meiner Genossen hat uns mit Wasser zum Trinken oder zum Spülen der Toilette ausgeholfen. Ein anderes Beispiel ist eine Mutual-Aid-Gruppe hier in Houston, die uns ein Rohrstück organisiert hat, das schwierig zu bekommen war, das wir aber gebraucht haben, da eines unserer Rohre geplatzt war. Also genau sowas! Habt keine Angst davor, in die Community zu gehen und Hilfe anzubieten und anzunehmen. Habt keine Angst davor, euch mit Leuten, die anders sind als ihr, zu organisieren und gemeinsam Strategien zu entwickeln, um uns verdammt nochmal endlich zu befreien! Tut also alles, um euch mit Freude zu wappnen. Dann nutzt diese Freude, eure eigene Stärke und Autonomie und verändert euer Leben und das Leben der Menschen um euch herum.

Ich bin wirklich froh, dass ich diese Frage gestellt habe. Ich denke, das ist eine sehr schöne Antwort. Meine letzte Frage ist: Was können wir hier tun, um euren Kampf zu unterstützen?

Dinge wie dieses Interview unterstützen uns wirklich. Sprecht mit uns, teilt unser Bildungsmaterial. Es ist auch immer gut uns einzuladen, um über Politik und die Frage, was wir tun sollten, zu sprechen. Außerdem ist es möglich Zeit oder Ressourcen für die Dinge, die wir hier machen zu spenden. Und wir haben Twitter, Insta und einen Podcast, der wirklich zugänglich ist.

Aber das Wichtigste, was die deutsche Linke tun kann ist, diese Ideen, Strategien und Ressourcen zu nehmen und sie an ihren eigenen Kontext anzupassen. Fangt an, den Scheiß dort anzugehen, wo ihr eben seid, in Berlin, Köln oder wo auch immer. Denn es geht nicht darum, dass BSA der Shit ist. Es geht darum, dass die Linke der Shit ist, sodass wir alle befreit werden können. Genau darum geht’s am Ende!

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Seit etwas mehr als zwei Jahren existieren die Black Socialists in America (BSA) und machen mit einer klassenorientierten, strömungsübergreifenden Propaganda von sich reden. Unser Autor Paul Sommer hat in einem ausführlichen Gespräch mit Demetrius, Mitlied der BSA und Co-Host des Podcasts „1000 cuts“, über die Lage in den USA, die Notwendigkeit einer Schwarzen Organisierung und die Perspektiven der Revolutionär:innen im Herz der Bestie gesprochen. (Teil 2 von 3, Teil 1 findet ihr hier)

Erst kürzlich habt ihr umfangreiche Kernprinzipien veröffentlicht, die euren politischen Standpunkt und euren Aktionsplan beschreiben. Was waren eure Gründe dafür?

Eine Organisation wie die unsere muss sich im Klaren über ihre Überzeugungen, ihre Ideologie und ihre Praxis sein. Aber viele linke Gruppen sind in dieser Hinsicht auf eine gefährliche Art sehr vage. Sie haben Mitglieder mit Ideologien, die letztlich im Widerspruch zueinander stehen. Überzeugte Campist*innen (Antiimperialist:innen, die zu Fans jener Staaten werden, die gegen die USA stehen, etwa Russland, Iran, etc., d.Red.) passen nicht besonders gut zu internationalistischen oder interkommunalistischen Tendenzen in der selben Organisation.

Ein weiterer Grund ist, dass wir viel politische Bildung betreiben. Und die Überzeugungen vieler Menschen sind nicht schlüssig, sie sind einfach von verschiedenen Personen aufgeschnapptes Geschwafel. Deshalb ist es uns so wichtig, dass wir so detaillierte Kernprinzipien haben, die auch auf Nuancen und Details eingehen. Denn so wissen die Leute wirklich, was unsere Theorie und vor allem unsere Praxis ist. Denn viele Linke sind vage und opportunistisch und wollen nur Leute anwerben, egal wer kommt. Aber darum geht es uns nicht. Wir sind keine Massenpartei, sondern eher eine Katalysator-Organisation. Wir sind da, um Leute zu unterstützen und sie dazu anzuspornen, selbst loszugehen und vor Ort auf direktdemokratische und autonome Art auf einen Systemwandel hinzuarbeiten. Man muss ehrlich sein in Bezug auf die eigenen Überzeugungen. Und auch wenn das beängstigend sein kann und verwundbar macht, wird es Leute geben, die einen respektieren, weil sie wissen wer man ist und weil man zu den eigenen Prinzipien steht. Man ist nicht Wischiwaschi.

Das erste, was ihr in euren Prinzipien schreibt, ist, dass ihr Wissenschaftliche Sozialist*innen seid. Warum sind euch die Prinzipien und Methoden des Wissenschaftlichen Sozialismus so wichtig?

Als ich gerade angefangen habe, mich damit zu beschäftigen, hat ein Genosse zu mir gesagt, dass Wissenschaftlicher Sozialismus den Unterschied ausmacht zwischen Linken, die etwas auf die Reihe bekommen und denen, die es nicht tun. Er war da sehr direkt, aber es ist die Wahrheit. Eine zutiefst von wissenschaftlicher Methodik geprägte Ideologie ist der einzig richtige Weg. Dabei dürfen wir jedoch nicht in Szientismus verfallen, also die Ansicht, dass menschliches Wissen ausschließlich durch wissenschaftliche Methodik erlangt werden kann. Wir müssen bei unserer Analyse von Systemen und Strukturen der Herrschaft und Ausbeutung materiell und empirisch sein. In Bezug darauf, wie unsere Welt zustande gekommen ist und wie sie aussieht, können wir uns nicht in idealistische Phantasien zurückziehen.

Außerdem ist es wichtig, dass unsere sozialistische Theorie und Praxis auf Geschichte, Anthropologie, Psychologie, Physik, Biologie und so weiter basiert. Wir können nicht wie rechte Libertäre sein, die den Markt auf antike, vorschriftliche Völker projizieren. Als ob es den Markt schon immer gegeben hätte. In seinem Buch Schulden: Die ersten 5000 Jahre sagt der große David Graeber, möge er in Liebe ruhen: »Das ist Bullshit!« Es ist also sehr wichtig, von diesen wissenschaftlichen Forschungsfeldern auszugehen und zu versuchen, empirisch zu sein.

Schauen wir zum Beispiel die Propaganda gegen die menschliche Natur an, der wir in der hierarchischen Klassengesellschaft unterworfen sind. Menschen seien von Natur aus konkurrenzorientiert und gewalttätig und könnten niemals sich selbst überlassen werden, weil das nur Chaos gäbe. Wenn man sich aber die tatsächlichen soziologischen und anthropolgischen Belege ansieht, wie Kropotkin vor langer Zeit oder Rutger Bregman in seinem jüngsten Buch Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit, dann sind Menschen sehr viel besser als behauptet. Rebecca Solnit hat in ihrem Buch A Paradise built in Hell darüber gesprochen, wie Menschen in Katastrophenszenarien zusammenkommen und kooperieren. Und ich habe das hier in Houston, Texas während dem Hurrikan oder auch dem jüngsten Kälteeinbruch gesehen: So viel gegenseitige Hilfe!

Außerdem gibt es noch das Buch Tribe von Sebastian Junger, in dem er aufzeigt, wie Menschen evolutionär dazu gemacht sind, in Gruppen zu leben, in einer Gemeinschaft zu sein. Diese Propaganda, dass Menschen Monster sind und bla bla bla, die aus der sozialdarwinistisch beeinflussten Wissenschaft kommt, rechtfertigt im Grunde nur Hierarchien und Paternalismus. Die These von denen ist: Weil ihr Idioten euch nicht selbst regieren könnt, braucht ihr eine Daddy-Figur, die euch sagt, was zu tun ist.

Und schließlich hilft uns eine wissenschaftlich-sozialistische Perspektive auch dabei, unsere jetzigen Verhältnisse zu betrachten und zu sehen, dass es diese ganzen Strukturen und Mechanismen nicht immer gegeben hat. Und eben weil es sie in der Vergangenheit nicht immer gegeben hat, können wir dafür sorgen, dass diese Scheiße auch in Zukunft wieder verschwindet.

Später fügt ihr hinzu, dass ihr euch keinen, wie ihr es nennt, »Markennamen« wie Anarchist*in,Trotzkist*in oder Marxist*in-Leninist*in geben wollt. Was waren eure Gedanken dahinter?

Ich denke, dass es für uns sehr wichtig ist, nicht sektiererisch zu sein. Wenn man sich diese gesamte Marxismus-gegen-Anarchismus-Debatte ansieht, die bis heute weitergeht, dann muss man manchmal einfach auf diese Bezeichnungen verzichten, weil mit ihnen so viel Geschichte und Ballast verbunden ist. Man würde nur den gleichen alten Kampf wiederholen und zur Zeit der ersten Internationalen und dem Streit zwischen Bakunin und Marx zurückgehen. Wenn man aber wirklich auf die Ideologien achtet, stellt man fest, dass sie viel mehr gemeinsam haben, als manche denken. Dieser ganze Streit und das Drama führen zu nichts. Es gibt also Momente, in denen wir auf solche Labels und Identitäten verzichten müssen. Auch wenn wir als Organisation fest an Identität, speziell als Schwarze Menschen, glauben. Bezeichnungen haben natürlich ihren Sinn. Dinge brauchen Namen, um sie zu verstehen und zu kategorisieren. Aber gleichzeitig verfängt man sich schnell darin und schaut nicht mehr empirisch, wie die Dinge konkret funktionieren. Aber wir müssen empirisch sein. Deshalb ist es für uns so wichtig, nicht sektiererisch zu sein. Es wird sowieso zum Vorschein kommen, wofür wir stehen

Manche Leute sind auch überrascht, wenn wir etwas von Anarchist*innen aus Japan posten. Oder wenn wir nicht nur Zeug von Marx, sondern auch von Bakunin und Kropotkin posten. Aber wir sind von Bookchin geprägt und er ist von Marx und Kropotkin geprägt. Es ist also wichtig, flexibel zu sein. Denn unabhängig von den jeweiligen Tendenzen vieler Denker*innen gibt es immer einige Stücke Wissen und Wahrheit, die man aus ihrer Analyse, Geschichte und Praxis ziehen kann. Also lest Marx! Aber lest auch Kropotkin und Kuwasi Balagoon oder Ashanti Alston. Lest sie alle! Seid selbst dazu bereit, Werke von Autoritären zu lesen! Lest Lenin, lest Mao! Aber immer mit einem kritischen Auge.

Ihr hebt auch die Wichtigkeit von dezentralen und direkt-demokratischen Strukturen hervor, um, wie ihr es nennt »echte Demokratie« aufzubauen. Eure Strategie dazu hat drei Pfeiler: Teilnahme am politischen Prozess, direkte Aktion sowie den Aufbau von Dual Power. Kannst du erklären, warum ihr diese drei gewählt habt und warum sie so wichtig sind?

Ich denke, es ist mittlerweile Common-Sense, dass es wichtig ist, sich in den politischen Prozess einzubringen und die eigene Umgebung zu verändern. Und ich meine damit nicht, sich auf nationaler Ebene zu engagieren, sondern auf lokaler Ebene, wo man eben ist. Aber selbstverständlich haben wir auch sehr ernste Bedenken in Bezug auf die repräsentative Demokratie, denn es handelt sich dabei nicht um echte Demokratie. Echte Demokratie ist direkte, wirklich kommunale Konsensbildung.

Das Zweite ist die direkte Aktion. Dazu gehören Proteste, Demonstrationen und Streiks. Wobei Streiks wiederum mit Dual Power zusammenhängen. Denn beim Durchführen bestimmter Streiks oder sogar eines Generalstreiks ist es gut, wenn man bereits eine alternative Infrastruktur aufgebaut hat, auf die sich die Streikenden verlassen können. Und auch wenn die Linke ernsthafte Kritikpunkte an Gewerkschaften hat, müssen die Menschen sich in diese Organisationen der direkten Aktion einbringen.

Und dann Dual Power: Das ist die Schaffung von neuer Infrastruktur und neuen Systemen, die nach anderen Logiken als denen des Staates oder des Kapitals funktionieren. Die nicht hierarchisch sind und wirklich eine Gegenmacht zu Staat und Kapital aufbauen können. Ich rede hier von Worker-Self-Directed-Enterprises und Arbeiter*innen-Kooperativen, Community-Land-Trusts und solchen Dingen. Es ist auch wichtig, andere, nicht-hierarchische Beziehungen zueinander zu haben, die nicht auf rassistischer Engstirnigkeit, Genderhass, Hass auf andere Religionen oder Ähnlichem basieren. Unsere Zusammenarbeit mit Cooperation Jackson ist ein gutes Beispiel für den Aufbau von Dual Power. Genau wie sie kann man dort aufstehen, wo man lebt und auf tatsächliche Systemveränderung drängen.

Ich denke, dass hier auch Selbstverteidigung ein wichtiger Aspekt ist. Öcalan sagt dazu beispielsweise, dass diese Verteidigung nicht nur militärisch sondern auch idelologisch wichtig ist.

Ja, obwohl das Projekt in Rojava nicht perfekt ist, kein Projekt kann unter diesen Bedingungen perfekt sein, ist es ein Leuchtfeuer für die ganze Welt. Es ist ein multi-ethnisches, multi-nationales und internationalistisches Projekt. Es ist offen und Menschen können sich in die Gemeinschaft einbringen. Aber für sie ist es auch zentral, die Möglichkeiten zu haben, sich und ihr wunderbares Projekt zu verteidigen. Ich denke also, dass Rojava ein großartiges Beispiel dafür ist. Lang lebe Rojava!

Ihr betont wiederholt, dass sich diese direkt-demokratischen und nicht-hierarchischen Prinzipien auch in eurer Organisation wiederspiegeln müssen. Aus diesem Grund lehnt ihr charismatische Führungsfiguren und Avantgardismus ab. Es wird aber immer Menschen geben, die sich mehr in den Kampf einbringen als andere. Und Anarchist*innen neigen historisch dazu, in diesem Punkt sowie im Hinblick auf das Übernehmen von Macht naiv zu sein. Ein gutes Beispiel ist hier die Spanische Revolution. Was ist in Bezug auf diese Kritikpunkte euer Ansatz?

Ich denke, dass es aus diesen Gründen wichtig ist, Anararchist*innen zu haben, die auf die Geschichte schauen und versuchen, daraus zu lernen. Menschen wie Bookchin kritisieren genau das und versuchen aus den Niederlagen unserer anarchistischen Vorgänger*innen zu lernen.

Wir Anarchist*innen und staatskritische Linke, ich spreche hier für mich und nicht für die ganze Organisation, müssen einen besseren Diskurs über den Machtbegriff führen. Was meinen wir, wenn wir Macht sagen? Wie sieht sie aus? Anarchist*innen sind nicht daran interessiert, die Macht dort zu ergreifen, wo sie aktuell ist, sondern fordern sie heraus. Wir wollen eine neue Form der Macht kultivieren, die von unten nach oben funktioniert. Eine Macht, die direkt von der Arbeiterklasse, den Armen, den Unterdrücken und den historisch marginalisierten Gruppen dieser Welt ausgeht. Wohingegen Autoritäre versuchen, die bereits existierenden, hierarchischen Strukturen und Herrschaftssysteme an sich zu reißen, um sie für ihre vermeintlich »befreienden« Ziele zu nutzen. Diejenigen, die in der Vergangenheit versucht haben, die Macht an der Spitze zu kontrollieren oder zu zügeln, wurden letztendlich von der Logik dieser Macht absorbiert, transformiert oder zerstört. Daher liegt der Schlüssel für uns darin, eine neue Macht an der Basis aufzubauen, die die Logik der Macht von Staat und Kapital untergräbt. Wir wollen diese Strukturen durch den Aufbau von Macht von unten überflüssig machen, die auf direkter Demokratie anstelle von Hierarchie, Bürokratie und Autoritarismus basiert.

Und in Bezug auf den ersten Punkt müssen wir die Welt, in der wir leben wollen, bereits andeuten. Wir wollen eine nicht-hierarchische Welt. Wir müssen diesen Samen also bereits in unseren Bewegungen und Organisationen pflanzen und keimen lassen. Deshalb brauchen wir keine Parteien, sondern Kollektive, die direktdemokratisch und autonom sind und versuchen, die Menschen zu ermutigen statt sie zu entmutigen.

Ein wichtiger Grund für uns, mit diesem Paternalismus zu brechen, liegt darin, dass wir uns die Geschichte der Black Panther Party ansehen. Und Figuren wie Huey P. Newton, David Hilliard oder Fred Hampton, so brilliant sie waren, hatten einfach zu viel Macht und Autorität in der Partei. Wenn man sich die Analysen von Personen wie Lorenzo Ervin oder Russel Maroon Shoatz ansieht, dann argumentieren sie, dass eben diese hierarchische Struktur der Black Panther Party das war, was sie für Unterwanderung und Zerschlagung durch den Staat anfällig gemacht hat. Auch Donald Cox hat Held*innenverehrung, Paternalismus und dem Warten auf Erlöserfiguren sehr gut analysiert. Wir müssen einsehen, dass diese Herangehensweise es einfach nicht bringt. Wir sollten in unseren Bewegungen nicht die selben Systeme der Herrschaft replizieren, die wir bekämpfen.

Ich spreche hier aus einer spezifisch Schwarzen und New-Afrikan Perspektive. Schaut euch den revolutionären Nationalismus und Pan-Afrikaische Revolutionär*innen wie Thomas Sankara oder Kwame Nkrumah an. Viele von ihnen waren brilliant, aber eben auch autoritär und sie waren auf verschiedene Arten repressiv. Trotzdem werden sie in der revolutionären Schwarzen Linken verehrt und idealisiert, ohne auf die von ihnen unterstützte staatliche Repression zu schauen. Das selbe gilt für Kuba, Che und Fidel, so großartig sie auch waren. Ich denke also, dass es wichtig ist, diesen paternalistischen Einstellungen zu brechen und zu zeigen, dass die wahren Held*innen nicht diese revolutionären Figuren sondern die Menschen vor Ort sind, die die tägliche Organisationsarbeit leisten. Diejenigen, die man nicht sieht und deren Namen man nicht hört. Und sie wollen noch nicht einmal, dass sie gesehen und ihre Namen gehört werden. Denn was viel wichtiger ist ist die Arbeit, die uns dabei hilft, die Freiheit zu gewinnen.

# Titelbild: Arbeiterkooperative Cooperation Jackson

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Seit etwas mehr als zwei Jahren existieren die Black Socialists in America (BSA) und machen mit einer klassenorientierten, strömungsübergreifenden Propaganda von sich reden. Unser Autor Paul Sommer hat in einem ausführlichen Gespräch mit Demetrius, Mitlied der BSA und Co-Host des Podcasts „1000 cuts“, über die Lage in den USA, die Notwendigkeit einer Schwarzen Organisierung und die Perspektiven der Revolutionär:innen im Herz der Bestie gesprochen. (Teil 1 von 3)

Ihr habt euch erst kürzlich, im Jahr 2018, gegründet, obwohl es ja bereits zahlreiche linke Organisationen gibt. Was waren die Gründe, eine neue und auch eine spezifisch Schwarze Organisation zu gründen?

Ich war zwar nicht unter den Gründer*innen, aber es ging wohl darum, eine Leerstelle in der Schwarzen Linken zu füllen. Es gibt bereits zahlreiche linke Organisationen, aber ihnen fehlt oft ein klares Programm und sie machen ihre komplexen Konzepte, welche nicht zugänglich und verständlich für die Menschen sind. Genau das versuchen wir, beispielsweise mit unserer Leseliste oder unseren Infografiken über verschiedene theoretische und historische Themen wie Soziale Ökologie, Paternalismus oder die Funktionsweise von Arbeiter*innen-Kooperativen und Betrieben unter Arbeiterselbstverwaltung. Und dafür bekommen wir großartige Rückmeldungen.

Ein Weiterer Grund ist, dass wir in einer Zeit leben, in der der Anblick des Todes Schwarzer Menschen, beispielsweise der Mord an George Floyd, wie ein Stich in ein Wespennest war. Daraufhin haben wir extrem viel Unterstützung bekommen, weil es Menschen gibt, die auf der Suche nach spezifisch Schwarzen Organisationen wie der unseren sind.

Und ich denke, dass das sogar gefährlich sein kann. Natürlich nicht, sich mit anderen Menschen zusammenzutun und sich zu organisieren. Sondern der paternalistische Instinkt, der Leute dazu bringt, autoritären Kaderparteien beizutreten, die den Menschen sagen, was zu tun ist. Manche Menschen wollen lieber einer solchen Partei beitreten, als einer Organisation beizutreten, die Autonomie und direkte Demokratie in den Mittelpunkt stellt und sie dazu ermutigt rauszugehen und sich gegen die Herrschafts- und Ausbeutungssysteme zu wehren. Aber ich denke, die meisten Leute suchen einfach nur nach Orten mit neuen Perspektiven, um sich dort zu informieren.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Menschen nach Organisationen suchen, die ein Programm, Strategien und Taktiken anbieten, um die Systeme der Beherrschung und der Ausbeutung zu verstehen und zu untergraben. Ich denke, viele sind zur Zeit hungrig nach Antworten. Sie schauen auf die Gesamtheit dieser Ausbeutungs- und Herrschaftssysteme, des Rassismus, des Patriarchats, der Altersdiskriminierung, der Art und Weise in der wir versuchen, die nicht-menschliche Natur zu beherrschen, und sie sagen sich: »Was zum Teufel können wir tun? Wir werden an den Rand des Abgrunds getrieben!« Und wir bieten ihnen echte, praktische Vorschläge an. Wir sprechen über den Aufbau neuer Strukturen wie Arbeiter*innen-Kooperativen und Community-Land-Trusts. Außerdem betonen wir, dass wir nicht nur neue Strukturen aufbauen müssen, sondern dass wir auch die sozialen Beziehungen zwischen uns Menschen im Hier und Jetzt ändern müssen.

Ein Aspekt, um den es mir mit der ersten Frage auch ging, war, dass BSA eine spezifisch Schwarze Organisation ist. Hier in Deutschland haben sich, vor allem im vergangenen Jahr nach dem Anschlag in Hanau, viele Migrantifa-Gruppen gegründet. Das sind radikale migrantische Selbstorganisierungen, die gegründet wurden, weil ihre Stimmen in der Linken zu oft nicht gehört wurden. Gab es ähnliche Gründe für die BSA als spezifisch Schwarze Organisation?

Absolut! Es muss Raum für speziell Schwarze oder BIPoC Organisationen geben, weil wir es auch in linken Räumen noch immer mit den Problemen der weißen Vorherrschaft und der White Power zu tun haben. In dem Essay „Autoritäre Linke: Bringt den Bullen in eurem Kopf um!“ von Lorenzo Komboa Ervin, das auch auf unserer Leseliste steht, spricht er von diesen speziellen rassistischen Dynamiken in linken Bewegungen, insbesondere zwischen weißen und Schwarzen Linken. Dadurch kommt es zu diesen merkwürdigen klassenreduktionistischen Ideologien, die sich ausschließlich mit Klasse beschäftigen wollen. Sie wollen sich nicht mit Identitätsfragen beschäftigen, weil Identitätspolitik sei dies und das und überhaupt. Aber viele weiße Linke verstehen nicht, dass diese Denke in Wirklichkeit ein Trojanisches Pferd für weiße Vorherrschaft ist. Sie haben sich einfach noch nicht damit auseinandergesetzt und sich noch nicht von ihrem Weißsein befreit.

Ich denke also, dass diese Räume notwendig sind. Es sollte Asiatische linke Organisationen geben, gerade derzeit, wo Asiat*innenfeindlichkeit und Anti-Asiatische Ressentiments und Gewalt in den USA zunehmen. Unsere Asiatischen Brüder, Schwestern und Älteren werden angegriffen! Und ich denke, dass auch Latinxs eine linke Organisation brauchen. Die Menschen sehnen sich danach!

Als wir unseren Podcast 1000 Cuts gestartet haben, haben wir sehr viel Unterstützung und Lob bekommen, weil er speziell auf Schwarze und PoCs ausgerichtet ist und die Leute sich damit viel wohler fühlen. Wir reden über unsere spezifischen Probleme, während wir gleichzeitig allgemeine linke Theorien und Ideen vorstellen. Wir versuchen dabei, diese Konzepte auf das Wesentliche zu reduzieren und sie BIPoC zu vermitteln, die links sind oder sich für linke Ideen interessieren. Und sie sind hungrig danach! Aber wenn man sich linke Podcasts mal wirklich ansieht, sind sie vollgestopft mit weißen Männern, die lächerliches Zeug sagen. Wenn man kurz schüttelt, fallen überall Autoritäre raus. Natürlich gibt es auch gute linke Podcasts von weißen Podcaster*innen, deren Prinzipien und Praxis solide sind. Aber vieles ist auch einfach lächerlicher Bullshit.

Aber das betrifft nicht nur Podcasts, sondern auch die breitere linke Medienwelt. Ein großer Teil davon ist autoritär, bestärkt linke weiße Vorherrschaft und Klassenreduktionismus durch die Delegitimierung von Konzepten wie Intersektionalität und fördert Narrative, die die brutalen Hinterlassenschaften staatskapitalistischer Regime, wie zum Beispiel in China, weißwaschen. Und das ist gefährlich, weil Medien ein extrem mächtiges Werkzeug für politische Bildung aller Art sind.

Deshalb wollen wir in unserem Podcast praxisnah sein und über Lösungen sprechen, anstatt uns nur immer wieder um die Probleme zu drehen. Außerdem versuchen wir, Positivität und echte Hoffnung in den Podcast zu bringen. Und das sind alles Dinge, die es in vielen linken Podcasts einfach nicht gibt. Sie geben keine Antworten.

Ich habe beim Hören des Podcasts auf jeden Fall auch oft gelacht, was bei linken Podcasts sonst eher nicht passiert. Ein Punkt, den du schon angesprochen hattest ist, dass ihr Leute anderer Ethnien dazu aufruft, ähnliche Organisationen zu gründen, um eine Rainbow-Coalition zu bilden. Warum habt ihr diesen Ansatz anstelle, sagen wir, einer großen Organisation für alle gewählt?

Ich denke, dass Gruppen dieser Art besser angehen können, was im spezifischen Kontext ihrer Community wichtig ist. Was sind beispielsweise die speziellen Probleme der Asiatischen oder der Latinx Communities? Deshalb ist es wirklich sehr wichtig, derartige Organisationen zu haben. Wenn wir die globalen Ausbeutungs- und Herrschaftssysteme zurückdrängen wollen, müssen wir uns am Ende aber die Hände reichen und gemeinsam auf das Monster losgehen. Das ist die wichtige und notwendige Herangehensweise, die die Black Panther Party hatte. Auch sie haben Menschen aus anderen Gruppen dazu ermutigt, sich zu organisieren. Und das ist passiert! Es gab radikale Gruppen, die wie die Black Panthers strukturiert waren: Arabischstämmige Gruppen, White Panthers, queere Organisationen und die Young Lords, eine Puertoricanische revolutionäre Gruppe. Daher kommt dieser Ansatz. Weil wir eigene Räume brauchen, aber ein Systemwandel am Ende des Tages eine internationale Anstrengung sein muss.

Wir sind zur Zeit in einer dynamischen Situation. Wir sind mit einer Pandemie, einer ökonomischen und ökologischen Katastrophe und vielen weiteren Problemen konfrontiert. Aber gleichzeitig sind weltweit zahlreiche soziale Bewegungen im Aufwind. Ich habe neulich das folgende Zitat gelesen: »Wenn die 1970er von zu viel Optimismus gekennzeichnet waren, ist die Gegenwart von zu viel Pessismismus gekennzeichnet.« Was denkst du dazu?

Ich denke, dass wir in einer Zeit leben, in der das Menschsein außerordentlich deprimierend sein kann, wenn man es zulässt. Wenn man diesen unglücklichen, deprimierten und negativen Gemütszustand hat, führt das dazu, dass man sich nur auf die weniger schönen Aspekte des Lebens fokussiert. Und das passiert mit der Linken. Außerdem fördert die Tatsache, dass wir das System analysieren diese Art von Verzweiflung. Selbstverständlich ist Systemanalyse eine unserer zentralen Arbeitsweisen. Aber wenn man die globalen Systeme und Ideologien, mit denen wir es zu tun haben, nicht aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, fragt man sich schon: »Verdammt, wie sollen wir das alles jemals überwinden?«

Aber wir sind gleichzeitig darauf ausgerichtet zu überleben. Murray Bookchin schreibt in Ökologie der Freiheit, wie sich Leben aus Leben entwickelt, wie Leben Leben nach sich zieht. Und dass es nicht nur nach Überleben, sondern nach seiner eigenen Selbstverwirklichung strebt. Nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Und natürlich greifen diese beiden Sphären auch ineinander.

Außerdem brauchen die Herrschaftsstrukturen eine unglaubliche Menge an Energie, um die Menschen unterdrückt zu halten. Viel Geld, Zeit und Hirnschmalz werden aufgewendet, um immer neue Wege zu finden, Bewegungen zu infiltrieren und abzuhören. Weil die Menschen am oberen Ende unserer konstruierten Hierarchie genau wissen, dass die Menschen sich zusammenschließen und sich organisieren würden, wenn die ganzen Hindernisse nicht mehr da wären. Denn das haben wir schon immer getan. Und selbst im Angesicht dieser Strukturen tun wir es weiterhin. Denn wo immer es Autorität und Herrschaft gibt, gibt es Widerstand. Es wird immer diese entgegengesetzten Kräfte geben. Wir sehen sie ständig die Geschichte vorantreiben. Das ist wirklich eine Art wissenschaftliche und spirituelle Wahrheit. Und das sollte uns hoffnungsvoll stimmen!

Letztes Jahr sind die #BlackLivesMatter-Proteste gegen den Mord an George Floyd und gegen Polizeigewalt im Allgemeinen ausgebrochen und hatten weltweit große Auswirkungen. Wie können wir aus diesen wichtigen, aber spontanen Aufständen eine nachhaltige politische Bewegung aufbauen?

Zur Zeit haben die Menschen das Gefühl, dass sie nicht weiter schweigen können. Und ich denke, dass wir diese Energie als Linke nutzen sollten, indem wir Organisation und Kooperation befördern. Denn wir sollten uns wirklich darum kümmern, vom Kurzfristigen zum Langfristigen zu kommen. Und das ist Organisierung. Daher müssen wir einen Aktionsplan vorlegen, wie wir diese Ungerechtigkeiten und dieses korrupte System loswerden können. Und deshalb sind Organisationen wie BSA so wesentlich: Wir geben den Leuten einen solchen Plan. Und es ist wirklich wichtig, dass er für Menschen außerhalb der Linken verständlich gemacht wird und nicht nur für verdammte Theorieköpfe, die den ganzen Tag lang das Kapital lesen. Denn echte Macht und wirkliche Veränderung wird nicht von Akademiker*innen kommen, so wichtig sie auch sind. Sie kommt von den Menschen aus der Arbeiterklasse vor Ort. Von einer Mutter von drei Kindern, die an der Tankstelle arbeitet, von einem Koch in der Küche. Von den Arbeiter*innen, die die Schnauze voll haben, nach Antworten suchen und die dazu bereit sind, sich mit anderen zusammenzutun, um gemeinsam etwas zu erreichen. Und ich denke, dass wir genau das nach dem Tod an George Floyd gesehen haben. Menschen, die vorher bereits progressiv waren, rücken weiter nach links, schließen sich uns an und fangen wirklich damit an, sich zu organisieren.

Beispielsweise hatten wir hier in Texas vor kurzem einen Kälteeinbruch, bei dem es sogar geschneit hat. Das Stromnetz ist zusammengebrochen, Rohre sind durch die Kälte geplatzt und die Menschen waren ohne Strom und Wasser. Es gab Vorfälle wie den einer Großmutter und ihrer drei Enkelkinder, die in ihrem eigenen Haus verbrannten, weil sie versuchten, sich am Ofen warm zu halten. Aber was hier passiert, so schmerzhaft es auch für mich und meine eigene Familie war, ist ein weiterer Beweis für das Versagen nicht nur des Kapitalismus, sondern auch des Staates. Die Menschen haben genug! Es ist schwer für sie, sich und ihre Kinder zu ernähren. Und das aufgrund von systemischem Versagen, das letztlich vermeidbar war. Und das ist genug, um Menschen zu radikalisieren. Zum Beispiel organisieren wir derzeit mit Menschen in einem Appartementkomplex einen Mietstreik. Es ist wie die große Abolitionistin Mariame Kaba sagte: »Lasst euch von diesem Moment radikalisieren!« Wir als Linke müssen also flink sein, auf die Leute vor Ort achten und sagen: »Okay, schaut her: Ihr seid wütend und angepisst und das hier machen wir jetzt kurzfristig. Aber so und so können wir die Dinge langfristig ändern!« Wir müssen also einen Weg finden, zu längerfristigen Zielen überzugehen.

Habt ihr als Organsiation staatliche Repression erfahren seit ihr BSA gegründet habt und angefangen habt, euch zu organisieren?

Oh, wir werden definitiv überwacht. Sie haben uns im Auge. Das allgemeine Level von Überwachung in diesem Land und speziell in Bezug auf Befreiungsbewegungen ist wahnsinnig. Insbesondere, wenn du Schwarz bist. Unter der Trump-Administration wurde die Kategorie »Black Identity Extremists« vom FBI eingeführt. Sie beobachten also jede Schwarze Befreiungsbewegung hier. Erst vor kurzem wurden ein Genosse und seine Familie direkt vom FBI kontaktiert. Das ist ein Beweis dafür, dass sie uns beobachten. Und als jemand, der relativ neu dabei ist, ist das furchteinflößend und unheimlich. Aber am Ende des Tages haben wir uns als Linke, die sich ernsthaft zur Wehr setzen wollen, darauf eingelassen.

Und das soll nicht heißen, dass man keine Angst haben sollte. Aber man muss im Angesicht dieser Angst weitermachen und dagegenhalten. Denn man ist auf der richtigen Seite und tut, was richtig ist! Und natürlich bin auch ich ein Mensch wie jeder andere auch und es gibt Zeiten, in denen ich mir Sorgen mache. Ich habe Beziehungen und Familie und Freunde, um die ich mehr Angst habe als um mich selbst. Aber wir müssen eben vorwärts gehen und weiterhin sagen, was wir sagen. Wir werden nicht aufhören dagegenzuhalten und Dual Power zu bewerben und zu fördern. Obwohl unsere Vorfahren nicht einmal als Menschen, sondern als menschliches Eigentum angesehen wurden, haben sie sich gewehrt! Ich habe also keine Ausreden.

# Titelbild: BSA

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In den kolumbianischen Bergen sprach der britische Journalist Oliver Dodd mit Villa Vazquez, einem Oberbefehlshaber der kürzlich wiederhergestellten FARC (Segunda Marquetalia). Es ist das erste Interview mit einem Vertreter der Guerilla seit Scheitern des sogenannten Friedensprozesses. Sein Text liegt Lower Class Magazine exklusiv auf Deutsch vor.

Trotz der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr 2016, mit dem der 53-jährige Krieg mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) beendet wurde, haben sich die herrschenden Klassen Kolumbiens, einschließlich der rechten Regierung, geweigert, die Bedingungen des Abkommens umzusetzen.

Stattdessen sahen der Staat und die Kapitalisten den Frieden als wirtschaftliche Chance: Mit dem Ende der größten Bedrohung für die Kapitalakkumulation, der Guerilla, sind ehemalige von der FARC kontrollierte Gebiete zu den Adern geworden, durch die multinationale Unternehmen jetzt versuchen, zu expandieren. Das nun ungeschützte Land und diejenigen die auf ihm und von ihm leben, leiden unter den damit einhergehenden Umweltschäden und der Unterdrückung.

Bergbau, Rodung, Ölbohrungen, Palmölgewinnung, Privatisierung von Trinkwasserquellen, Wilderei und Drogenhandel haben ehemalige Hochburgen der FARC verwüstet und Millionen von Bauern aus ihren Häusern in die Slums Kolumbiens vertrieben, wo sie soziale Unsicherheit und ein Mangel an Arbeitsplätzen erwartet.

Gleichzeitig wurden seit 2016 mehr als 1200 Führer der sozialen-fortschrittlichen Bewegung, insbesondere Gewerkschafter und ehemalige FARC- Kombattanten, von Paramilitärs ermordet.

Kolumbianische Gerichte haben es sich zur Aufgabe gemacht, ehemalige linke Aufständische zu verurteilen und strafrechtlich zu verfolgen, die im Rahmen des Friedensabkommens ihre Waffen niederlegten, Hingegen wurden staatliche Akteure und ihre Kriegsverbrechen ignoriert. Zum Beispiel bezeichnen sie die Inhaftierung durch linke Rebellen als Kriegsverbrechen, betrachten die politische Inhaftierung durch den kolumbianischen Staat jedoch als vollkommen legal und gerecht.

Die großen Hoffnungen der FARC, die ihre Reformation als legale politische Partei unter demselben Akronym – der Kolumbianischen Alternativen Revolutionären Kräfte – ankündigten, bevor sie sich in “Comunes” (Die Einheitlichen) umbenannten, wurden zunichte gemacht, da sie keine ernsthaften Land- oder politischen Reformen vorsahen. Jetzt unbewaffnet sind sie dem bereits bestehenden Ausmaß parastaatlicher Gewalt ausgesetzt.

Es überrascht daher nicht, dass am 29. August 2019 zahlreiche historisch wichtige FARC-Führer, von denen einige plötzlich und dramatisch aus dem öffentlichen Leben verschwanden, sich neu formierten und die Wiederherstellung einer kommunistischen Partei ankündigten, die einen legalen politischen Kampf in sozialen Bewegungen und Gewerkschaften zusammen mit einem bewaffneten Kampf in ländlichen und städtischen Gebieten verbinden würde.

In ihrem politischen Manifest erklärte diese Fraktion, die als FARC (Segunda Marquetalia) bekannt ist, um sich von ihrem Vorgänger zu unterscheiden, dass es ein strategischer Fehler gewesen sei, ihre Waffen vor der Umsetzung des Friedensabkommens aufgegeben zu haben. Sie kamen zu dem Schluss, dass dies der einzige Weg ist, welche den Peace-Deal garantieren würde, denn sie leben in einem Land welches seit langem am konsequentesten auf dem lateinamerikanischen Kontinent unterdrückerisch handelt.

Um die politische Situation besser zu verstehen, reiste ich in die ländliche Region Catatumbo in Kolumbien, um die FARC bei der Wiederbelebung ihres politisch-militärischen Kampfes zu beobachten und eine ihrer führenden Persönlichkeiten, Comandante Villa Vazquez, zu interviewen, der für das Danilo-Garcia-Kommando verantwortlich ist und Mitglied ist von FARCs Äquivalent zu einem Zentralkomitee, bekannt als “Nationale Direktion”.

Als Teenager trat Vazquez der Young Communist League bei, einem Flügel der legalen Kommunistischen Partei. Als Mitte bis Ende der 1980er Jahre mehr als 5000 unbewaffnete linke Aktivisten, hauptsächlich aus der Partei der Patriotischen Union, die aus den Friedensverhandlungen von La Uribe hervorgegangen war, von Todesschwadronen massakriert wurden, nahm er die Waffen auf und war seitdem Mitglied der FARC Guerilla.

Viele der Getöteten wurden mit den grausamsten Methoden abgeschlachtet, die man sich vorstellen kann. Oft ist es eine beliebte paramilitärische Taktik, die Gliedmaßen der Sozialist:innen mit Kettensägen und Macheten abzutrennen, bevor die Leichen in den Fluss geworfen oder in den Dörfern und Städten zum verrotteten gelassen werden – als Warnung an die Bevölkerung.

Das Gemetzel geht weiter: Im Dezember 2020 wurde Rosa Mendoza, eine ehemalige FARC-Guerillera, zusammen mit fünf Familienmitgliedern ermordet, darunter eine nur wenige Monate alte Tochter. Am 13. Februar wurde der 23-jährige Leonel Restrepo der 258. ehemalige FARC-Guerillero, der im „Friedensprozess” ermordet wurde. Die Zahl ist seitdem auf 259 gestiegen, nachdem Jose Paiva Virguez am 19. Februar getötet wurde.

Der FARC Kommandant Vazquez bestand darauf, dass die FARC Unterzeichner:innen an dem Friedensabkommen festhielten und ihre Seite des Abkommens erfüllten und trotzdem missachtet der kolumbianische Staat das Abkommen und tötet weiterhin Ex-FARC-Militante, andere Aktivist:innen und begeht konsequent Verrat “auf Kosten des kolumbianischen Volkes, der internationalen Community und ex-FARC Guerilla”.

Der Kommandant argumentierte, dass die FARC und das kolumbianische Volk das Recht auf Rebellion und den bewaffneten Kampf haben, denn die „Segunda Marquetalia ist das Ergebnis des Bruchs des Friedensabkommens von 2016 durch die kolumbianische Regierung und Oligarchie“.

Vazquez wies auf die Zunahme der paramilitärischen Tötungen sozialistischer Aktivist:innen hin und kam zu dem Schluss: „Alle unsere Hoffnungen waren auf das Abkommen gerichtet, aber das Abkommen wurde von der Regierung und anderen dominierenden Klassen verraten. Deshalb mussten wir zu den Waffen zurückkehren. Aber es ist nicht die FARC, die zu den Waffen zurückgekehrt ist – es sind die Menschen selbst. Heute können wir sagen, dass 60 Prozent der Guerilla der FARC neu sind und keine Ex-Mitglieder. „

Als Reaktion darauf, dass Kolumbien die Segunda Marquetalia als unpolitische kriminelle Einheit abgetan hatte, beschrieb Villa Vazquez mir FARCs Strategie ausführlich.

Die Segunda Marquetalia kombiniert drei wichtige Organisationsstrukturen als Teil ihrer Gesamtstrategie: bewaffnete Guerilla-Streitkräfte, bewaffnete und unbewaffnete Milizeinheiten und eine völlig unbewaffnete Partido Comunista Clandestino de Colombia (klandestine Kommunistische Partei).

Guerilla-Streitkräfte sind in erster Linie, aber nicht ausschließlich, für offensive bewaffnete Operationen gegen den Staat und die herrschende Klasse verantwortlich. Die Miliz hat hauptsächlich die Aufgabe, die Ziele der FARC in einem bestimmten Gebiet wie einer Stadt oder einem Dorf zu fördern – insbesondere in den Zonen, die von den Guerillas eingenommen wurden, während die klandestine kommunistische Partei unbewaffnet ist: Wie konventionelle kommunistische Parteien arbeiten diese Militanten innerhalb von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Universitäten und lokalen Gemeinschaften, müssen aber aufgrund ihrer Beziehung zu der FARC verdeckt bleiben.

Villa Vazquez bestand darauf, dass die Farc hauptsächlich eine politische Partei im Gegensatz zu einer bewaffneten Gruppe sei, und sagte, dass „Waffen Teil der Kombination der Kampfmethoden sind und die eigenen Ideen beschützen“ und „es nicht so ist, dass wir die Macht durch eine bewaffnete Bewegung erreichen werden – bewaffneter Kampf findet statt, weil es keine Garantie gibt, Ideen zu manifestieren. “

Der Kommandant regte sich fluchend über die Charakterisierung der FARC als Bauernaufstand auf. Die drei organisatorischen Komponenten – Guerilla, Miliz und kommunistische Partei – spiegeln die historisch besonderen Bedingungen des Klassenkampfes in Kolumbien wider.

„Wo entwickelt sich der revolutionäre Kampf?“, fragte er mich. „Er wird dort entwickelt, wo sich die Menschen befinden, nicht in der Isolation des Dschungels, sondern dort, wo sich die Massen von Menschen befinden – und die meisten Menschen leben heute in den Städten, und dort wird sich der revolutionäre Kampf und Guerillakrieg entwickeln.“

Durch die Ausführung von Schlüsselfunktionen eines Staates – Steuern, Sicherheit und Instandhaltung der Infrastruktur – in den Basisgebieten und Hochburgen der FARC proklamiert diese die Führung als legitime Regierung, die durch ein umfassendes politisches Programm und einen Gesellschaftsvertrag gestützt wird.

Obwohl die Gruppe erst am 29. August 2019 wieder gegründet wurde, verfügt die FARC in den von mir besuchten Gemeinden bereits über eine bedeutende Basis an ziviler Unterstützung. Ich beobachtete, wie ihre Truppen ungehindert durch Dörfer zogen und ihre Mitglieder offen arbeiteten, mit den Menschen auf den Straßen interagierten und sogar öffentliche Versammlungen abhielten, ohne Angst zu haben, dass ihre politische Präsenz an das kolumbianischen Militär verraten werden könnte.

Eine einheimische Frau, die auf einer Farm in einem FARC Gebiet lebte und sich nicht als Sozialistin oder politische Aktivistin sah, sagte mir: „Die Gemeinde hier zieht die FARC der Polizei und dem Militär vor.“ Denn: „Sie sind immer da, um sofort zu helfen, wenn sie gefragt werden. Sie sind Teil von uns und unterstützen uns bei Grundbedürfnissen in einer schwierigen Situation. Sie helfen uns auch, die Community hier zu organisieren. “

Die jüngsten Behauptungen der größten kolumbianischen Zeitschrift Semana, dass die FARC 5000 Kombattant:innen hat und mit Zustimmung von Caracas systematisch venezolanisches Territorium ausbeutet, sind jedoch eindeutig ungenau. Obwohl es für pro-staatliche Medien kontraproduktiv erscheinen mag, den Erfolg ihrer Feinde zu übertreiben, dient es dazu, die Verstärkung der bereits umfangreichen militärischen Hilfe, die Kolumbien erhält, zu rechtfertigen – und den USA einen Vorwand für Interventionen gegen Venezuela zu geben.

In Wahrheit befindet sich die FARC in einem Erneuerungsprozess und obwohl sie es schafft, in Gemeinden die Unterstützung des Volkes zu gewinnen, ist die Anzahl der Kombattanten erheblich geringer als die der FARC, die den Peace-Deal unterschrieben haben.

Trotzdem wird es nicht lange dauern, bis die USA tatsächlich beginnen, ihre Unterstützung für die bedrängte kolumbianische Oligarchie zu verstärken, da neue Militante in die Reihen der Guerilla eintreten und ihr Leben der Organisation verpflichten, zusammen mit einer sehr erfahrenen politischen Führung, die jahrzehntelangen Kampf hinter sich.

Für die Regierung ist dies eine Situation, die sie selbst geschaffen hat. Indem sie nicht in der Lage oder nicht bereit war, die Sicherheit von demobilisierten Guerilla und der Zivilgesellschaft zu gewährleisten, haben sie den Rebellen keine Wahl gelassen. Die Guerilla-Verhandlungsführer werden in Zukunft zögern, den Vertretern des kolumbianischen Staates bei künftigen Friedensgesprächen zu vertrauen – und die FARC hat viel zu verhandeln.

Die “Revolutionssteuern” an denjenigen, die natürliche Ressourcen ausbeuten, also die multinationalen Unternehmen und Rohstoffindustrien, sowie die Nutzung des Schwarzmarkts, ermöglichen es der FARC ihre Guerillakämpfer mit drei Mahlzeiten am Tag zu versorgen, für Kleidung zu sorgen und Sie mit modernen Waffen & Transportmitteln auszurüsten.

Im Gegensatz zur westlichen Linken verfügt die FARC über das Geld und die Ressourcen, um es allen Mitgliedern zu ermöglichen, sich 365 Tage im Jahr 24 Stunden am Tag der revolutionären Sache zu widmen. Und dort geht das Geld hin; das Leben der FARC jeden Ranges war immer ein bescheidenes – getreu allen linken kolumbianischen Guerilla-Bewegungen, die ich in den letzten 10 Jahren studiert habe, als ich zum ersten Mal in Kolumbien an der Front war.

Ich ging mit Villa Vazquez durch eine kleine Farm, auf der die Guerillas ihr eigenes Essen anbauten und Vieh züchteten. Jeden Tag wechseln sie sich ab, um die Ernte zu verwalten und die Tiere zu füttern, eine Methode der Eigenständigkeit, auf die Vazquez stolz war. „Die Kosten für eine Organisation wie unsere sind signifikant“, erklärte er. „Als Revolutionäre kultivieren wir, wir erfinden Dinge, so wie die Schaffung landwirtschaftlicher Kollektive mit der Bevölkerung. Wir entwickeln wirtschaftliche Aktivitäten, einschließlich der Herstellung unserer eigenen Lebensmittel.“

Der Staat versagte darin, systematische Reformen durchzuführen, die sich gegen die Großgrundbesitzer und andere Kapitalisten richten. Gleichzeitig wird eine wichtige Forderung der FARC im Friedensabkommen von 2016, die Zwangsumsiedlung von Bauern zu bekämpfen, vom Staat ignoriert. Dies garantiert beinahe, dass die FARC die Möglichkeit hat schrittweise zu expandieren.

Als ich mein Interview mit Vazquez beendet und die FARC über einen Zeitraum von einer Woche beobachtet hatte, wurde mir klar, dass der „Friedensprozess” durch den kolumbianischen Staat missbraucht wurde und ihm die Möglichkeit bietet, die FARC als ihre akuteste Bedrohung zu entwaffnen und zu demobilisieren. Dies wird sich wahrscheinlich als Fehler herausstellen. Von jetzt an sind die revolutionären Streitkräfte dazu gezwungen, ihre Banner noch hartnäckiger als zuvor zu hissen.

Wieder einmal geht ein Gespenst in Kolumbien um: Es ist das Gespenst der FARC.

# Oliver Dodd ist Doktorand an der Universität von Nottingham und arbeitet zu dem Bürgerkriegs- und Friedensprozessen in Kolumbien. Er kann auf Twitter @olivercdodd verfolgt werden. Übersetzt wurde der Artikel in Absprache mit dem Autor von K. Nazari.



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Das Ende des unipolaren Menschenrechtsimperialismus während der Trump-Ära.

Es wäre falsch, in schlechter bürgerlicher Tradition dem scheidenden US-Präsidenten vorzuwerfen, während seiner Amtszeit nichts Nennenswertes erreicht zu haben – selbst wandelnde Katastrophen wie Trump vollbringen zwangsläufig in vier Präsidentschaftsjahren einiges. Neben dem beschleunigten Ruinieren des Klimas und vieler lokaler Ökosysteme, der emsigen Förderung faschistischer Gruppierungen, sowie der Entfesselung der mit Abstand größten Pandemiewelle in den USA seit der Spanischen Grippe, kann der Rechtspopulist auch auf handfeste außenpolitische „Erfolge“ zurückblicken.

Anfang Mai 2017 kündigte Trumps damaliger Außenminister Rex Tillerson an, es künftig mit den bürgerlichen Menschenrechten nicht mehr so genau nehmen zu wollen, die immer wieder als Legitimation für US-Interventionen dienten. Tillerson degradierte dabei Menschenrechte zu „Werten“ der Vereinigten Staaten, die sich zunehmend zu „Hürden“ bei der globalen Verfolgung von US-Interessen entwickelten. „Dies sind unsere Werte. Aber sie sind nicht unsere Politik“, so der damalige Spitzendiplomat. Tillerson brachte somit schon 2017 die kommende außenpolitische Praxis Trumps – der sich in Gesellschaft von Diktatoren und Despoten wie Erdogan wohlfühlte – auf den Punkt.

Am Ende seiner Amtszeit kann konstatiert werden, dass diesem außenpolitischen Kurs Trumps ein durchschlagender Erfolg beschieden war. Menschenrechte spielen in der Legitimierung von Geo- und Außenpolitik kaum noch eine Rolle. Interventionen und Kriege, wie etwa die US-Invasion des Irak, die zuvor standardmäßig mit Demokratiedurchsetzung und Menschenrechten begründet wurden, gehören der Vergangenheit an. Seit dem Ende des Kalten Krieges bildete das propagandistische Repertoire des Menschenrechtsimperialismus die Begleitmusik westlicher Interventionen insbesondere in Bürgerkriegs- oder Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes: in Kosovo, Somalia, Afghanistan oder eben dem Irak.

Nun werden Kriege zumeist ohne diese pseudodemokratische Rhetorik geführt; oder sie ist dermaßen durchsichtig, dass sie kontraproduktiv ist – das nackte imperialistische Interesse tritt unverhüllt hervor. Eine Karikatur dessen lieferte ja gerade Trump selber, der trotz des strategischen Rückzugs, den er in vielen Weltregionen einleitete, punktuell durchaus militärisch intervenierte. Das Aufrechterhalten einer US-Präsenz in Nordostsyrien wurde etwa vom US-Präsidenten ausdrücklich mit der Ausbeutung der dortigen Ölquellen begründet, obwohl dies kaum praktikabel ist und diese im regionalen Vergleich unbedeutend sind.

Ungeschminkter Imperialismus wurde von Trump – der Amerika „wieder groß machen“ wollte – zur Staatsräson erhoben, während dieser faktisch als Totengräber der US-Hegemonie agierte. Die kolossal gescheiterte Strategie des scheidenden US-Präsidenten bestand darin, durch Protektionismus und Wirtschaftsnationalismus eine Reindustrialisierung der Vereinigten Staaten einzuleiten, während die kostspielige Militärpräsenz der US-Army, die faktisch als Weltpolizist des Westens tätig war, zurückgefahren werden sollte, um ausschließlich dem nationalen imperialen Interesse Washingtons zu dienen. Gefolgschaft und Zugeständnisse der westlichen Bündnispartner wollte Trump durch einen selektiven Zugang zum US-Binnenmarkt im Rahmen von Handelsabkommen (gegenüber Berlin), sowie durch die buchstäbliche „Vermietung“ der US-Militärmaschinerie als Schutzmacht sicherstellen (dies etwa in Polen, Südkorea). Die US-Hegemonie wandelte sich so zur bloßen, militärtechnisch grundierten Dominanz.

Die Abwicklung des Menschenrechtsimperialismus, von der Trump-Administration eingeleitet, wurde aber von den Mächten vollendet, die in das geopolitische Machtvakuum vorstießen, das Washington hinterließ. Für die Türkei, die in Konfrontation wie Kooperation mit Russland auf Expansionskurs ging, spielen solche Legitimationsmuster keine Rolle mehr. Erdogan ist beispielsweise in der Lage, den Krieg gegen Armenien in Bergkarabach unter verweis auf das Völkerrecht zu führen, und zeitgleich mit seiner Zweistaatenforderung in Zypern den Völkerrrechsbruch zu fordern. Die weitgehende Entsorgung des Völkerrechts ist gerade ein Merkmal des „multipolaren“ Imperialismus nach dem Ende der US-Hegemonie, der Erinnerungen an die Hochzeit des klassischen Imperialismus im 19. Jahrhundert aufkommen lässt. Legal, illegal, scheißegal – dies scheint die Devise dieses neuen Machtstrebens zu sein, das kaum noch ideologisch verschleiert wird.

Im Nahen Osten, dem Mittelmeerraum und dem südlichen Kaukasus hat sich folglich ein in permanenten Wandel befindliches und äußerst instabiles Machtgeflecht herausgebildet, bei dem – neben den USA – unter anderem die Türkei, Russland, der Iran, Frankreich, die BRD oder auch Saudi-Arabien als imperialistische Akteure nach größtmöglichen Einfluss streben – koste es, was es wolle. Die Auseinandersetzungen und Stellvertreterkriege – in Libyen, im Jemen, in Syrien und im Südkaukasus – der beteiligten Staaten gehen mit gleichzeitiger Kooperation in anderen Regionen oder Bereichen einher, etwa dem Pipelinebau im Schwarzen Meer zwischen Moskau und Ankara. Ähnlich verhält es sich bei der Bündnisbildung, die im Wochenrhythmus wechseln kann. Die islamofaschistische Türkei hat ihre geopolitische Schaukelpolitik zwischen Moskau, Berlin und Washington perfektioniert, um im Rahmen rasch wechselnder geopolitischer Vorstöße ihren neo-onsmaischen Expansionskurs zu forcieren. Gegen Griechenland und die EU gerichtete Provokationen im östlichen Mittelmeer wechseln sich mit Kriegen im Südkaukasus, im Hinterhof Russlands, ab.

Zurück in die Vergangenheit?

Als ob das spätkapitalistische Weltsystem in seine eigene Vergangenheit zurückreiste, etablieren sich im frühen 21. Jahrhundert faktische Grenzverschiebungen, Kriegsabenteuer und ethnische Säuberungen ganzer Landstriche (in Rojava wie in Bergkarabach) zu einer massenmörderischen Praxis imperialistischer Politik, die nun von einer Vielzahl von Staaten betreiben wird, die alle nur ein unerreichbares Ziel haben: so zu werden, wie es die USA einstmals waren. Der Hegemon ist abgestiegen – und zugleich ist aufgrund der Systemkrise kein Nachfolger in Sicht, der über die Ressourcen verfügte, ihn zu beerben. Dies versetzt die krisengebeutelte One World des Kapitals in einem permanenten Vorkriegszustand, bei dem die zunehmenden Spannungen und Kleinkriege jederzeit in eine Katastrophe eines Großkrieges umschlagen können (etwa zwischen den USA und China in Südostasien).

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich – diese alte imperialistische Konstante lässt sich nicht nur in Nahost, sondern auch beim Kampf um die Ressourcen Afrikas im frühen 21. Jahrhundert beobachten. Eine ganze Reihe von Akteuren, mitunter Schwellenländer umfassend, ist seit Jahren bemüht, in Konkurrenz mit den alten europäischen Mächten den jeweiligen Einfluss zu mehren. Die EU versucht etwa, die Staaten Afrikas durch Freihandelsverträge in einseitige Abhängigkeiten zu treiben, während die USA unter Trump ihr verstärktes Engagement auf dem geschundenen Kontinent ausdrücklich als ein Konkurrenzprojekt zu dem Expansionskurs Chinas und Russlands deklarierten.

Russland ist derzeit vor allem in Libyen und dem Sudan aktiv, ebenso die Türkei, die ihre alten imperialen Ambitionen in Ostafrika, im Sudan und Somalia, reanimieren will. China – im 19. Jahrhundert selber Objekt der Opiumkriege des britischen Imperialismus – unterhält inzwischen enge Beziehungen zu einer Vielzahl afrikanischer Länder, bei denen milliardenschwere Investitionen in Infrastruktur mit der Extraktion von Rohstoffen einhergehen. Auch Indien, Opfer des britischen „Late Victorian Holocaust“, ist auf dem afrikanischen Kontinent durch Kapitalexport präsent, etwa beim Land-Grabbing in Äthiopien.

Handelt es sich bei den geopolitischen Realitäten nach dem Zerfall der US-Hegemonie somit um ein bloßes Reenactment des 19. Jahrhunderts mit wechselnden Akteuren? Ein zentrales Merkmal des neuen imperialistischen „Great Game“ macht klar, dass dem nicht so ist: der imperialistische Expansionsdrang geht mit Abschottungsbestrebungen einher. Kaum ein Staatschef verkörpert diese seit längerem bestehenden Tendenzen zum großen Mauerbau in den Zentren stärker als Donald Trump, wobei die diesbezügliche mörderische Abschottungspraxis in den USA und der EU sich kaum unterscheidet.

Imperialistische Politik im frühen 21. Jahrhundert zielt somit nicht nur auf Ressourcenraub in der Peripherie ab, sie ist zugleich bemüht, die Abschottung der Zentren gegenüber den Massen ökonomisch überflüssiger Menschen in der Peripherie zu perfektionieren – etwa bei der Finanzierung und dem Umdeklarieren libyscher Milizen zu „Grenzschutzkräften“ durch die EU. Flüchtlinge aus den ökonomisch abgehängten und durch Entstaatlichungskriege verwüsteten Zusammenbruchsgebieten des Weltmarkts werden überdies als geopolitische Waffe eingesetzt. Diese Taktik hat der türkische Islamofaschismus gegenüber der EU zur Anwendung gebracht, um ökonomische und politische Konzessionen von Berlin zu erpressen. Die Intervention der Türkei in Libyen zielte nicht nur auf die Kontrolle der dortigen Energieträger und die Annektion libyscher Seegebiete im Rahmen eines „Vertrags“ mit islamistischen Milizen ab, sondern auch auf die Kontrolle der entsprechenden Fluchtrouten, um so einen weiteren Hebel bei Machtkämpfen mit Brüssel zu erlangen.

Expansion und Abschottung

Demgegenüber fehlt ein weiteres Moment des „klassischen“ Imperialismus nahezu vollkommen: die massenhafte Ausbeutung der Lohnabhängigen des globalen Südens. Es reicht, sich beispielsweise in Erinnerung zu rufen, dass Europas historische Expansion auch durch den Hunger nach Arbeitskräften getrieben war, die durch Sklavenarbeit in den Plantagen der „Neuen Welt“ ausgebeutet werden konnten. Die Blutspur dieser Ausbeutung von Arbeitskräften reicht vom Genozid an den Ureinwohnern Amerikas, über den berüchtigten „atlantischen Dreieckshandel“ mit afrikanischen Sklaven in der frühen Neuzeit, bis zur mörderischen Auspressung des Kongos durch die Belgier, die Afrikanern massenhaft die Hände abhacken ließen, wenn diese die vorgegebenen Arbeitsnormen nicht erfüllten. Der belgische König Leopold II. reagierte auf entsprechende Anschuldigungen in der Presse empört: „Hände abhacken, das ist idiotisch! Ich würde eher alles übrige abschneiden, aber doch nicht die Hände. Genau die brauche ich doch im Kongo!“

Niemand würde heutzutage auf die Idee kommen, dass die neoimperialistischen Interventionen der vergangenen Dekaden ausgerechnet deswegen unternommen wurden, um die „Hände“ der einheimischen Bevölkerung zur Sklavenarbeit zwingen zu können. Der Charakter des Imperialismus in der historischen Krisenphase des Kapitals unterscheidet sich somit tatsächlich grundlegend vom Imperialismus in der Expansions- und Aufstiegsphase des kapitalistischen Weltsystems. Die Ausbeutung von Arbeitskräften des globalen Südens ist im Spätkapitalismus in ihr Gegenteil umgeschlagen – in die Exklusion von Arbeitskräften. Dies vollzieht sich einerseits marktvermittelt durch die zunehmenden Produktivitätsungleichgewichte zwischen Zentren und Peripherie, durch Agrarsubventionen und durch erpresserische Freihandelsverträge, die Kleingewerbe und bäuerliche Agrarstrukturen in der Peripherie zerstören. Die EU und die USA „produzieren“ faktisch die Fluchtbewegungen, die von der Neuen Rechten in beiden Regionen dann verteufelt werden.

Aber auch die direkten Kapitalinvestitionen in der Peripherie, etwa in exportorientierte Agrarprojekte, führen oftmals schlicht zu Land Grabbing und zur Enteignung der lokalen Bevölkerung, wobei der niedrige Arbeitskräftebedarf auf den effizient aufgebauten Plantagen eine breite Transformation der vertriebenen Bevölkerung in Lohnarbeiter unmöglich macht. Überlides werden viele strategisch wichtige Rohstoffe in den ökonomischen Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes – etwa im Kongo – unter brutalsten und archaisch anmutenden Bedingungen von Milizen und sonstigen postsaatlichen Rackets gefördert, um dann durch eine Kette von Zwischenhändlern und Zuliefern ihren Weg auf den Weltmarkt und in die Hightech-Geräte der globalen Mittelklasse zu finden. (Einschränkend ließe sich aber durchaus diskutieren, inwiefern die umfassenden chinesischen Kapitalexporte in Afrika dem Kontinent eine objektive Entwicklungschance innerhalb der engen systemischen Zwänge bieten, da die Volksrepublik inzwischen zum größten Investor Afrikas avancierte, der auch wichtige Infrastrukturprojekte finanziert.)

Von den Charakteristika des „klassischen“ Imperialismus ist beim gegenwärtigen Krisenimperialismus vor allem das Bemühen um Kontrolle der Energieträger und Ressourcen der Peripherie übrig geblieben. Diese imperialistischen Tendenzen, bei denen Expansion mit Abschottung einhergeht, lassen sich nur dann vollauf begreifen, wenn imperialistische Praxis mit dem historischen Krisenprozess des kapitalistischen Weltsystems in Zusammenhang gebracht wird.

Die einzelnen Staatssubjekte versuchen nach dem partiellen Rückzug der USA, in alter imperialistischer Manier ihre Machtmittel zu mehren. Neben dieser „subjektiven“ Ebene, auf der die einzelnen geopolitischen Subjekte agieren, muss aber die „objektive“ Ebene berücksichtigt werden, auf der sich die Krise des Kapitals entfaltet und den geopolitischen Akteuren in Form zunehmender innerer Widersprüche und „Sachzwänge“ gegenübertritt. Die Charakteristika des Krisenimperialismus ergeben sich somit aus der Wechselwirkung zwischen den geopolitischen Subjekten und dem objektiven Krisenprozess, der sich hinter dem Rücken der Subjekte entfaltet. Auch die mächtigsten „Imperialisten“ agieren als Getriebene der eskalierenden inneren Widersprüche des Kapitalverhältnisses.

Hieraus entspringt die für den Krisenimperialismus charakteristische Form der „negativen“ Krisenkonkurrenz, in der die Großmächte ihre eigene Stellung im erodierenden Weltsystem nur noch auf Kosten des Abstiegs anderer Konkurrenten vorübergehend halten können (was ja auch die zunehmende Konkurrenz zwischen der EU und den USA erklärt). Der gegen die Peripherie gerichtete Ausgrenzungsimperialismus geht mit dieser Ausscheidungskonkurrenz – eine Art geopolitischen Kampf auf der Titanic – innerhalb der erodierenden Zentren einher. Gerade deswegen wächst die Gefahr eines Großkrieges im 21. Jahrhundert.

Die zunehmenden inneren Widersprüche sollen hierbei durch äußere Expansion überbrückt werden, wie es ja auch im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges der Fall war – mit dem Unterschied, dass nun das vom Spätkapitalismus akkumulierte Vernichtungspotential der menschlichen Zivilisation, ja der Gattung Mensch jederzeit ein Ende bereiten könnte. Der Expansionskurs der Türkei im allgemeinen, wie auch die von Ankara unterstützte Aggression Aserbaidschans gegen Armenien, bilden aktuelle Beispiele für diese imperialistische Krisentendenz (Kurz vor dem Angriff auf Berg Karabach bedrohten zunehmende soziale Unruhen die Macht Alijews).

Krise und die neue imperialistische Erhlichkeit

Die Krise sitzt somit allen spätkapitalistischen Staatsmonstern im Nacken – und sie versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten, durch diverse Formen der politischen oder ökonomischen Expansion, mitunter durch blanke militärische Aggression, die Krisenfolgen auf andere Staatssubjekte abzuwälzen. Trump selber ist ja gerade ein politisches Symptom dieser Krise – er kam 2016 hauptsächlich durch die Stimmen der abgehängten weißen Arbeiterklasse aus dem ehemals demokratischen „Rostgürtel“ der USA an die Macht.

Aus diesem Krisenprozess resultieren folglich die Tendenzen zur Barbarisierung imperialistischer Praxis, deren Symptom der Eingangs geschilderte Abschied des Westens vom Menschenrechtsimperialismus ist. Die Bereitschaft, sich bei der Rechtfertigung imperialer Aggression nicht mehr auf Menschenrechte und Völkerrecht zu berufen, somit Ideologie über Bord zu werfen, verweist zuallererst auf die Gesellschaften des Zentrums selber.

Dieser Menschenrechts-Diskurs war ja praktisch ein Überbleibsel des Kalten Krieges, als der Staatssozialismus der imperialistischen Gewaltanwendung des Westens in der Peripherie doch gewisse Grenzen setzte. Der Menschenrechtsdiskurs nach dem ende der Systemkonkurrenz wies aber einen ambivalenten Charakter auf. Menschenrechte fungierten auf geopolitischer Ebene einerseits als Ideologie. Sie dienten dazu, ein falsches Bewusstsein zu schaffen, mit dem Kriege gerechtfertigt werden konnten. Anderseits waren sie – auch in ihrer kapitalistisch verkürzten, um jede soziale Dimension beraubten Form – weiterhin gesellschaftlich wirksam.

Dies war vor allem deswegen der Fall, weil es in den Zentren des Weltsystems noch eine breite Mittelschicht gab, die diese bürgerlichen Werte – wenn auch unvollkommen – verwirklicht sah und an ihren universellen Anspruch glaubte. Es gab folglich eine gesellschaftliche Nachfrage nach der Verklärung der brutalen kapitalistischen Realität in der zunehmend zerfallenden Peripherie des Weltsystems. Dies ist – gerade in den USA – nicht mehr der Fall. Die breite amerikanische Mittelschicht, in der noch ein massenhafter Bedarf nach einem menschenrechtspolitischen „Weichzeichner“ der imperialen Realität herrschte, befindet sich seit dem Krisenschub von 2008 in Auflösung. Folglich zerfällt auch der ideologische Schleier, der diese Phase des „Mittelklassekapitalismus“ kennzeichnete.

Die zunehmende Härte des alltäglichen Existenzkampfes im Spätkapitalismus lässt somit die menschenrechtspolitische Legitimierung von Ausbeutung, Marginalisierung und Unterdrückung auch auf geopolitischer Ebene als unnötigen Ballast erscheinen. Illusionen über den barbarischen Zustand des Spätkapitalismus will man sich nicht mehr leisten. Die imperialistische Logik – zuvor noch durch die übliche Freiheitsrhetorik maskiert – wurde von Trump Außenminister direkt, in aller Brutalität formuliert: Amerika soll wieder groß werden, gerade durch die rücksichtslose Vertretung des nationalen Interesses. Dies ist letztendlich das Angebot des Imperialismus an die erodierende und krisenbedingt angstschwitzende Mittelklasse: Ihr Reproduktionsniveau soll auf Kosten der Konkurrenz, der Peripherie gehalten werden. Und es ist eben diese barbarische Leistung der Trump-Administration, auf der seine Nachfolger aufbauen können.

Der von regressiven Antiimps aller Couleur innigst gehasste Adorno bemerkte schon auf dem Höhepunkt des fordistischen Nachkriegsbooms hellsichtig, dass es sich bei Ideologie letztendlich um ein Luxusgut handelt: „Zur Ideologie im eigentlichen Sinn bedarf es sich selbst undurchsichtiger, vermittelter und insofern auch gemilderter Machtverhältnisse.“ Die „gemilderten“ Machtverhältnisse weichen aber für immer größere Teile der Bevölkerung der Zentren dem offenen Terror der amoklaufenden Ökonomie. Die offene Verelendung und die offene Gewalt machen Ideologie überflüssig. Insofern kommt der Abschied von der „gemilderten“ Form des Menschenrechtsimperialismus einem weiteren Abstieg in die offene Barbarei gleich. Nicht die imperialistische Politik wurde von Trump aufgegeben, sondern deren „Maskierung“ in Menschenrechtsrhetorik. Seine Anhängerschaft, die diese Haltung als „Ehrlichkeit“ und „Geradlinigkeit“ bewundert, geht somit in offene Bejahung des Imperialismus über, der ohne jedwede Legitimierung auskommt.

Es ist der Tod der Ideologie, der sich in den USA als den avanciertesten Metropolenstaat andeutet (und den der Rest der Welt mit der üblichen Verzögerung nachvollziehen wird). Die Herrschaftsverhältnisse treten ungeschminkt hervor, ohne Legitimierung. Die Welt ist ein Höllenloch. Es ist, wie es ist. Und wir wollten herrschen – auf diesen Nenner lässt sich diese durch Trump vollführte Kehrtwende, die seinem geopolitischen Erbe entspricht, bringen.

#Titelbild: Töten und Sterben fürs Kapital – US-Soldaten während einer Luftlandeübung in Deutschland The U.S. Army/CC BY 2.0

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Im Zuge der Wahl Donald Trumps fand ein bemerkenswerter Wandel innerhalb der deutschen Rechten statt. Einst als unnatürliches Völkergemisch, als Inbegriff des Kapitalismus und der Globalisierung geschmäht, sind die USA heute zum Sehnsuchtsort der Rechten geworden – Ein Gastbeitrag von Ivan Klinge.

Es ist der 15. August 2020, in Berlin findet eine der mittlerweile zahlreichen Kundgebungen von Reichsbürgern, Verschwörungsideologen und Neonazis statt. Mittendrin, zwischen allen bekannten Neonazimarken und schwarz-weiß-roten Flaggen, ist auch eine Flagge der Vereinigten Staaten zu sehen. Was vor 10 Jahren undenkbar war, ist im Jahr 2020, dem es an Überraschungen nicht mangelt, Normalität geworden. Vor Jahren noch Erzfeind der „freien Völker“ und Marionette der „Ostküstenkapitalisten“, sind die USA seit 2016 und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten zum neuen Verbündeten der globalen Rechten geworden.

Wo es früher noch „Witze“ über Joghurt und die Kulturlosigkeit der USA gab, gehört heute die „Make America Great Again“- Mütze zum Repertoire der Rechten, genau wie Anti-Antifa T-Shirts mit Donald Trump darauf. Denn wie so oft lohnt sich ein Blick zur Rechten, wenn es um die Einschätzung angeblich konservativer Akteure geht – im Gegensatz zum deutschen Bürgertum erkennen Rechte nämlich ihre Leute. So auch bei Trump. Schon 2016 traten in Neonazi-Podcasts wenige Tage nach Trumps Wahlsieg Neonazis mit Trump-Fanartikeln auf. Sie wussten schon damals, gerade wurde einer von ihnen zum Präsidenten gewählt. Und während sich das deutsche Bürgertum über die impulsive Art und die unzureichende Allgemeinbildung des Präsidenten amüsierte – und gleichzeitig chauvinistisch feststellte, dass er ja wohl von der amerikanischen Unterschicht gewählt wurde und nicht vom aufgeklärten Bürgertum – setzte Trump sein rechtes Programm um und veränderte die Gesellschaft nachhaltig. Denn im Gegensatz zur nie vollendeten Mauer nach Mexiko, kam die Steuerreform zugunsten der Oberschicht sehr schnell.

Im Jahr 2020 ist unverkennbar, was Trump ist, wofür er steht und wer ihn unterstützt. Im Zuge der BLM-Bewegung und dem Aufstehen der Bürger*innen der USA gegen die strukturell rassistische Polizei hat sich eine reaktionäre Gegenbewegung gebildet, die bewaffnet durch Städte zieht und gewillt ist, für ihr weißes Amerika zu kämpfen. Für die Aktivist*innen in den USA ist dabei besonders gefährlich, wie gewaltbereit und bewaffnet diese rechten Milizen sind.

Einen Vorgeschmack ihres Mobilisierungspotentials gab es im Frühjahr 2020, als Regierungsgebäude in demokratisch regierten Bundesstaaten als Reaktion auf die lokalen Coronamaßnahmen von schwer bewaffneten Männern besetzt wurden. Seitdem marschieren sie landesweit regelmäßig auf, mit dem vorrangigen Ziel, Linke, Migrant*innen und People of Colour einzuschüchtern und für ein weißes Amerika zu kämpfen. Vor Gewalt und auch vor Mord schrecken sie dabei nicht zurück. Es wurden bereits Antifaschist*innen ermordet – eines der bekannteren Opfer ist Heather Heyer, die 2017 von einem Neonazi getötet wurde. Die Rechten wähnen sich 2020 im lange herbeigesehnten „Race War“, dem Rassenkrieg. Die Sehnsucht nach selbigem ist der Rechten immanent, der apokalyptische Wahn ist auch in der deutschen Rechten präsent und immer Teil ihrer Ideologie gewesen: Für Volk und Nation im heiligen Endkampf – dem „Ragnarök“ – sterben und zu töten.

Verstärkt wird das Ganze noch durch antisemitische Ideologien wie die von „Qanon“ verbreiteten Verschwörungstheorien. Kern dieser Thesen ist, dass Trump mit dem US-Militär Vorkämpfer gegen die degenerierte, pädophile, kindermordende globale Elite ist. Das Erkennungszeichen der Anhänger der QAnon-Theorie, der Buchstabe Q, ist mittlerweile auch auf rechten Kundgebungen in Deutschland zu finden. Im deutschen Ableger sind so die US-Truppen in Deutschland von verhassten Besatzern zu Verbündeten der Verschwörungsideolog*innen geworden, die nur darauf warten, Deutschland zu „befreien“. Zwar ist im Gegensatz zu den USA, in denen sich schon mehrere Politiker der Republikaner zu QAnon bekennen, in Deutschland noch kein Politiker öffentlich als Anhänger in Erscheinung getreten. Das kann (und wird) sich aber noch ändern, gerade in der AfD als Sammelbecken von Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern ist es wohl nur eine Frage der Zeit bis zum offenen Bekenntnis Einzelner.

Dass die USA von Besatzern und Globalisten zu Verbündeten werden, ist also kein Zufall. Es ist auch Resultat der Präsidentschaft Trumps. Diese war und ist Katalysator und Verstärker der amerikanischen Rechten und somit Bindeglied zur europäischen Rechten. Durch ihn fühlen sich Rassist*innen in Uniform erst recht ermuntert, ihre White-Supremacy-Ideologie immer offener und direkter auszuleben. Durch ihn bekommen Antisemiten enormen Aufwind, die Zahl antisemitischer Angriffe in den USA steigt seit 2016 an und wird durch den Präsidenten selbst angefacht. Dabei beeinflussen sich die amerikanische und die europäische Rechte seit Jahren regelmäßig gegenseitig, ein bekanntes Beispiel dafür sind die „Turner-Diaries“, die von den Vereinigten Staaten aus das Konzept des „führerlosen Widerstandes“ propagieren und auch im Deutschland der 90er-Jahre bekannt machten. Eine weitere Präsidentschaft Trumps würde die amerikanische Rechte (und so auch die europäische) weiter dramatisch stärken, ganz zu schweigen davon, dass es fraglich ist, ob das demokratische US-System mit seinen „Checks and Balances“ vier weitere Jahre Trump überleben würde oder in eine rechte Autokratie bzw. eine „gelenkte Demokratie“ münden würde. Dabei kommt auch die Frage auf, ob Trump im Falle einer Niederlage selbige überhaupt akzeptieren würde, oder nicht stattdessen seine Anhänger mobilisieren und sich selbst zum Sieger erklären würde.

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Die Wucht des aktuellen Wirtschaftseinbruchs ist so groß, dass es schwer geworden ist, überhaupt noch historische Analogien zu finden. In den Vereinigten Staaten, wo die Prekarisierung des Arbeitslebens besonders weit vorangeschritten ist, explodiert die Arbeitslosigkeit regelrecht. Allein in der zweiten Märzhälfte mussten sich in den USA rund zehn Millionen Lohnabhängige arbeitslos melden, wobei vor allem die letzte Märzwoche verheerend ausfiel, als 6,65 Millionen US-Bürger ihren Job verloren.

Zum Vergleich: Der stärkste wöchentliche Anstieg der Erwerbslosenzahl seit Einführung der Statistik war bis dahin im Jahr 1982, am Ende der historischen Krisenperiode der Stagflation registriert worden, als während einer schweren Rezession, die durch radikale Zinserhöhungen der Fed („Volcker-Schock“) ausgelöst wurde, rund 695 000 Lohnabhängige staatliche Unterstützung beantragen mussten.

Das beispiellose Tempo, mit dem aktuell Millionen Menschen aus der Lohnarbeit geschleudert werden, liegt weit über den Prognosen. Die waren davon ausgegangen, dass die sich auf insgesamt zwei Billionen US-Dollar summierenden Konjunkturmaßnahmen der Regierung Trump die Entlassungswellen abmildern würden. Die in der USA nur rudimentär vorhandene Arbeitslosenhilfe ist im Rahmen des trumpschen Konjunkturpakets vorübergehend ausgeweitet worden, indem neue Regelungen es dem Kapital erlauben, Lohnabhängige für einen Zeitraum von bis zu vier Monaten zu beurlauben, anstatt sie zu entlassen, während der Staat die Gehaltszahlungen partiell übernimmt. Diese neuen Regelungen haben auf die jüngsten Entlassungswellen bisher allerdings keinen Einfluss gehabt – es bleibt abzuwarten, ob sie in den kommenden Wochen greifen und die Dynamik abmildern. Zudem wurde in der US-Öffentlichkeit die Hoffnung genährt, dass Unternehmen, die milliardenschwere Hilfsleistungen vom Streuzahler erhielten, von massenhaften Entlassungen Abstand nehmen würden. Erste Prognosen von Konzernen, wie etwa der Fluggesellschaft United Airlines, gehen allerdings davon aus, dass die massenhafte „Freisetzung“ ihrer Mitarbeiter über kurz oder lang kommen wird, da eine wirtschaftliche Erholung nicht zu erwarten sei.

Schon jetzt sind es aber die prekär Beschäftigten des breiten amerikanischen Niedriglohnsektors, die am schnellsten und härtesten getroffen werden. Die Löhne sind dabei oftmals so mager, dass mehrere Jobs übernommen werden müssen, um überhaupt über de Runden zu kommen. Rund 44 Prozent der Lohnarbeiter*innen muss mit Löhnen zurecht kommen, die keinerlei Rücklage für Krisenzeiten erlauben. Von diesen 53 Millionen arbeitenden Armen, die sich allmonatlich bis zum nächsten Gehaltscheck durchschlagen müssen, lebt rund ein Drittel in extremer Armut, knappe 50 Prozent sind in ihren Familien Alleinverdiener*in, mehr als die Hälfte verfügt über eine abgeschlossene Schulbildung, Frauen und Afroamerikaner sind in dieser Gruppe überrepräsentiert.

Die Deindustrialisierung der USA der letzten Jahrzehnte, bei der sich die ehemaligen Industriezentren im Norden in den berüchtigten „Rust Belt“ verwandelten, ging mit der sukzessiven Ausbreitung dieses Niedriglohnsektors einher, der vor Krisenausbruch kurz davor stand, die Mehrheit der US-Bürger auszubeuten. Die Erosion der amerikanischen Arbeitsgesellschaft wird auch an dem Aufkommen der Sharing- oder Gig-Economy deutlich, bei der internetbasierende Plattformen wie der berüchtigte Fahrdienst Uber als Vermittler von Dienstleistungen dienen. Inzwischen sollen sich rund 30 Prozent der Lohnabhängigen in den Vereinigten Staaten in diesem Sektor in Teilzeitjobs als scheinselbstständige prekäre Tagelöhner durchschlagen. Und es sind gerade diese von ihren jeweiligen Plattformen abhängigen Tagelöhner des Internetzeitalters, die von der Pandemie besonders gefährdet sind. Arbeiten und eine Infizierung riskieren oder Verhungern – das sind die Alternativen, mit denen sich etwa die „vogelfreien“ Fahrer des Beförderungsdienstes Uber konfrontiert sehen, wie The Guardian berichtete.

Die Krise der US-Arbeitsgesellschaft

Die Krise des Jahres 2020 trifft somit auf eine kriselnde US-Arbeitsgesellschaft, die ganz anders strukturiert ist als beim Krisenschub von 2008. Das große Drama entfaltete sich damals in den Vororten der US-Metropolen, wo Massen absteigender Mittelklasse-Familien ihre mit Hypotheken belasteten, überschuldeten Eigenheime verloren. Diesmal sind es eher Geschichten von schlecht bezahlten Beschäftigen, etwa im Gesundheitswesen, die sich durch plötzliche Kündigungen ihrer Mietwohnungen durch panische Vermieter auf der Straße wiederfinden, die für Empörung sorgen. Die massiven sozialen Umbrüche nach dem Platzen der Immobilienblase haben zu einem raschen Abschmelzen der einstmals breiten amerikanischen Mittelschicht geführt, die angesichts jahrzehntelang stagnierender Löhne und steigender Lebenshaltungskosten bis zum Krisenschub von 2008 ihren Lebensstil ohnehin nur durch zunehmende Verschuldung – etwa durch Hypothekenaufnahme auf das im Preis steigende Eigenheim – halten konnte.

Studien, bei denen die soziale Selbsteinschätzung von US-Bürgern untersucht wurde, konstatierten ein Abschmelzen der Mittelschicht von rund 53 Prozent am Beginn der Immobilienkrise 2008, auf nur noch 44 Prozent im Jahr 2014. Zugleich stieg der Anteil der US-Bürger, die sich als arm wahrnahmen, von 25 Prozent im Krisenjahr 2008 auf 40 Prozent 2014 – was ziemlich genau dem Anteil der arbeitenden Armen an der erodierenden US-Arbeitsgesellschaft entspricht. Hinzu kommt, dass ein breiter Anstieg der Löhne in den Vereinigten Staaten, von dem endlich auf die arbeitenden Armen profitierten, erst ab 2018/19 einsetzte, während der „Aufschwung“ zuvor an den Lohnabhängigen größtenteils vorbeiging. Ein Jahr lang vor dem gegenwärtigen Wirtschaftseinbruch stiegen die Löhne am unteren Ende der Einkommenspyramide.

Erst die langfristige Perspektive mach aber deutlich, wie schwach der letzte, hauptsächlich von der Liquiditätsblase der Notenbanken getragene Aufschwung in den Vereinigten Staaten war. Die durch die neoliberale „Finanzialisierung“ des Kapitalismus generierte Blasenökonomie, bei der Kreditwachstum und Spekulationsblasen auf den wuchernden Weltfinanzmärkten als Wirtschaftstreiber fungieren, verliert zunehmend an konjunktureller Dynamik: zwischen dem Platzen der Immobilienblase 2008 und dem letzten Boomjahr 2019 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Vereinigten Staaten durchschnittlich um 1,7 Prozent pro Jahr. In der Aufstiegsphase der großen transatlantischen Immobilienblase, zwischen 2001 und 2007, konnte die US-Wirtschaft hingegen jährlich im Schnitt noch um 2,5 Prozent wachsen. In der Hochphase des neoliberalen Finanzmarktbooms, im Zeitraum von 1991 bis 2000, als die Hoffnung auf ein neues Akkumulationsregime die Aktien von High-Tech-Unternehmen während der Dot-Com-Blase in absurde Höhen trieb, konnte die amerikanische Volkswirtschaft gar durchschnittlich um 3,4 Prozent wachsen. Doch selbst diese Boomphase während der Clinton-Administration verblasst vor dem langen fordistischen Boom der Nachkriegszeit zwischen 1948 und 1973, da in dieser Periode die US-Wirtschaft im Schnitt um 4 Prozent jährlich wuchs.

Der gegenwärtige Krisenschub trifft also eine von konjunkturellen Stagnationstendenzen erfasste, verarmte US-Gesellschaft, die sich von den Verwerfungen der Immobilienkrise samt Rezession 2008/09 nicht mehr erholt hat. Die US-Mittelklasse schmilzt rapide ab, der Arbeitsmarkt weist die charakteristische Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und Elendslöhne auf, die die Erosion der kapitalistischen Arbeitsgesellschaften seit dem massiven Rationalisierungsschüben im Gefolge der IT-Revolution in den meisten Kernländern des Weltsystems begleitet. Selbst wenn es der US-Notenbank Fed gelingt, mittels ihrer historisch beispiellosen Stützungsmaßnahmen den Zusammenbruch der Weltfinanzmärkte und die Entwertung des darauf kursierenden, fiktiven Kapitals vorerst zu verhindern, scheint klar zu sein, dass die dargelegte historische Tendenz zur Stagnation und Erosion der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft in den Vereinigten Staaten weiterhin bestehen wird. In der Konsequenz können sich die sozialen Realitäten für Lohnabhängige in den Zentren des Weltsystems denjenigen der Peripherie oder Semiperipherie angleichen, wo es schon längst eine breite Schicht ökonomisch „überflüssiger“ Menschen gibt – die ja das zentrale Subjekt der „Flüchtlingskrise“ bildete.

Historisch betrachtet spiegeln die Schübe von Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und Tagelöhnertum in der Zerfallsphase des kapitalistischen Weltsystems die ungeheure Verelendung bei der historischen Durchsetzung des Kapitals vor rund 300 Jahren wider, bei der ebenfalls eine breite Schicht ökonomische Überflüssiger geschaffen wurde, die mit Terror und Folter drangsaliert wurden. Der Krisentheoretiker Robert Kurz hat den sozialen Fallout dieser historischen Widerspruchsentfaltung des Kapitals auf den Punkt gebracht: „Der Blick in das 18. Jahrhundert ist der Blick in die Hölle unserer eigenen Zukunft“. Das bedeutet, dass die gegenwärtige „Proletarisierung“ der Lohnabhängigen selber ein zeitlich begrenztes Moment einer systemischen Krisendynamik ist, bei dem keine stabile Arbeiterklasse entsteht, sondern sich die Arbeitsgesellschaft als solche – über die Zwischenstufen von Prekarisierung und Verelendung – auflöst. Die notwendigen Versuche, diese wachsende Schicht von prekären arbeitenden Armen zu organisieren, finden somit in einem historischen Zeitfenster statt, bei dem die von Bernie Sanders verkörperte linkssozialdemokratische Perspektive, die von einer Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat des Fordismus träumt, längst anachronistisch ist. Stattdessen müssten die Kämpfe in diesem prekären Sektor als Momente eines Transformationskampfes begriffen und gestaltet werden. Konkret: Das prekäre Proletariat könnte nur dann noch als „Revolutionäres Subjekt“ einer Systemtransformation aktiv werden, wenn es nicht mehr Proletariat sein will.

Die Nuklearoption der Fed

Rezession oder Kollaps? Der Ausgang des gegenwärtigen Krisenschubes ist keinesfalls klar. Ob es den USA noch gelingt, die Schockwellen der Coronakrise vor einer Kernschmelze des Weltfinanzsystems abzufangen, hängt im Wesentlichen von der US-Notenbank Fed ab. Das zwei Billionen US-Dollar umfassende Konjunkturpaket Washingtons mag die Konjunktur kurzfristig vor dem totalen Absturz bewahren und etliche Wirtschaftszweige am Leben halten. Es sind aber die Maßnahmen zur Stützung der globalen Schuldenberge auf den Weltfinanzmärkten, die darüber entscheiden, ob der marode Spätkapitalismus noch einmal irgendwie stabilisiert werden kann. Bereits jetzt ist klar, dass auch hier die kapitalistische Geldpolitik Neuland betritt, da die zuletzt beschlossenen Maßnahmen weit über die Gelddruckerei hinausgehen, die ab 2008 betrieben wurde. Die Befürchtung, „die Notenbank werde sich an das Manuskript von 2008″ halten sei zerstreut worden, heißt es in ersten Einschätzungen.

Der Versuch einer ersten Quantifizierung der großen Geldflut der Fed, die sich nun über das panische Weltfinanzsystem ergießt, vorgenommen durch die New York Times (NYT), geht aus von „Kreditprogrammen der Fed, die vier Billionen US-Dollar überschreiten“ könnten. Diese geschätzten 4 000 Milliarden US-Dollar der Fed dürften nicht mit den 454 Milliarden verwechselt werden, die von der US-Regierung im Rahmen des Konjunkturpaketes dafür vorgesehen sind, die amerikanische Wirtschaft während des „Lockdown“ mit Krediten zu versorgen und so vor dem Kollaps zu schützen. Dabei sei es aber bislang unklar, ob dieses gigantische Kreditprogramm wirken werde, bemerkte die NYT. Weil es unklar sei, wie lange die Pandemie andauern werde, könne auch nicht abgeschätzt werden, wie viel Kredit notwendig sein werde. Bereits jetzt manifestiert sich die Krise in einem rasanten Anschwellen der Bilanz der Fed, die binnen weniger Wochen von 4,1 Billionen auf aktuell 5,8 Billionen US-Dollar hochschnellte. Zum Vergleich: Im September 2008, am Beginn der Immobilienkrise, lag die Bilanz der Fed unter einer Billion, bei rund 920 Milliarden, um dann innerhalb weniger Monate, in denen massiv Werpapierschrott aufgekauft wurde, auf 2,5 Billionen anzusteigen.

Die Fed würde die nukleare Option („going nuclear“) ausführen war die allgemeine Einschätzung nach dem obligatorischen Absenken des Leitzinses auf nahezu Null Prozent. Die diversen Aufkaufprogramme für Wertpapierschrott auf den Finanzmärkten sind prinzipiell nach oben hin offen – und sie suchen ihresgleichen in der Geschichte der US-Notenbank. Bei der klassischen „Quantitativen Lockerung“ sollen vorerst 500 Milliarden an Bonds der US-Regierung und 200 Milliarden an Hypothekenverbriefungen (mortgage-backed securities) aufgekauft werden, um die Konjunkturprogramme Washingtons zu finanzieren und den abermals strauchelnden Immobilienmarkt zu stabilisieren. Um darüber hinaus ein verheerendes Einfrieren des Interbankenmarktes zu verhindern, wie es sich nach der Pleite von Lehman Brothers abspielte, hält die Fed Garantien (repurchase agreements) im Umfang von fünf Billionen US-Dollar bereit.

Eine Reihe von Programmen geht erstmals daran, Schuldtitel von Konzernen und Unternehmen aufzukaufen, da diese Schuldenberge bei einer längeren Rezession das größte systemische Risiko für das Weltfinanzsystem bilden. Weil die Fed diese Bonds der Privatwirtschaft – im Gegensatz zu Staatsanleihen – nicht direkt aufkaufen kann, wird dies mittels eigens eingerichteter Zweckgesellschaften (special purpose vehicle – SPV) abgewickelt. Überdies werden inzwischen auch Schuldtitel von Kommunen der US-Notenbank aufgekauft. Diese große Geldflut geht einher mit Maßnahmen, die zur Stabilisierung des Finanzsystems auf globaler Ebene beitragen sollen. Mit rasch abgeschlossenen Währungsabkommen mit fünf weiteren Notenbanken (Darunter die EZB und die Bank of Japan), sogenannten swap-lines, will die Fed zudem die globale Verfügbarkeit der Weltreservewährung sicherstellen. Schließlich wurden die strikten Eigenkapital-Vorgaben für Banken, die nach dem Ende Immobilienblase erlassen wurden, von der Notenbank rasch ausgehebelt, um der Finanzsphäre zusätzliche Manövrierräume zu verschaffen, indem diese gesetzlich vorgeschriebenen „Reserven“ nun mobilisiert werden können.

Diese Gigantomanie macht vor allem eins deutlich: Die Funktionseliten des Kapitals wurden diesmal – im Gegensatz zu 2008 – nicht vom Krisenschub überrascht, sie handeln systemimmanent richtig, indem sie alle Hebel in Bewegung setzen, um das System zu stabilisieren. Dennoch hängt der Erfolg dieser großen amerikanischen Geldflut vor allem vom Faktor Zeit ab, also von der Länge der Pandemiebekämpfung und der anschließenden globalen Rezession, die laut jüngsten Prognosen unvermeidlich sein wird. Laut der Financial Times, die sich auf Prognosen des IWF beruft, droht der Weltwirtschaft der schärfste Einbruch seit der „Großen Depression“, gegenüber der NYT erklärten Ökonomen, die Krise von 2008/09 erscheine ihnen als ein bloßer „Probelauf“ für das, was sich nun entfalte.

Sollte diese drohende Rezession zu lange dauern, würde sich das Scheitern der Großen Geldflut in einer gigantischen Entwertung des Werts in allen seinen Aggregatzuständen manifestieren: Vom Wertpapierschrott auf den Finanzmärkten, über stillgelegte Produktionsstätten und die ohnehin abstürzenden Rohstoffpreise, den Preis der zunehmend überflüssigen Ware Arbeitskraft, bis hin zum Geld als dem allgemeinen Wertäquivalent, das dann einem inflationären Schub ausgeliefert wäre.

Deswegen wächst der Druck, die Pandemiebekämpfung einfach einzustellen und den Verwertungsprozess des Kapitals umgehend wieder aufzunehmen. Während die US-Administration, die mit der Krisenbekämpfung aufgrund der maroden sozialen Infrastruktur der USA und rasch steigender Todeszahlen gnadenlos überfordert ist, inzwischen zu Maßnahmen einer Kriegsökonomie greift, konkretisieren sich schon die Planungen zum baldigen Hochfahren der Verwertungsmaschine – trotz Pandemie. Das Virus sei ohnehin „überall“, agitierte ein bekannter Kommentator des erzreaktionären Fernsehsenders FoxNews. Gegenmaßnahmen würden ohnehin kaum was bringen, sie stellten vielmehr eine „sich selbst zugefügte Wunde“ dar.

#Titelbild: Gemeinfrei

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Man hats von kantigen Kommunisten aus allen Ecken schon gehört und gelesen, aber in Deutschland geht ein kleines Empören rum, dass selbst Europäer sich so für die Kandidatur von Bernie Sanders zum US-Präsidenten so begeistern, obwohl er hier nichts weiter als ein Sozialdemokrat sei. Die sozialstaatlichen Mindeststandards, die er etablieren wolle, seien hier seit Jahrzehnten bereits etabliert und er wolle auch nicht die Abschaffung des Kapitalismus.

Abgesehen davon, dass Sanders Forderung nach Krankenversicherung und Energiewende weitaus progressiver ist als jede relevante Forderung in der deutschen Politik diesbezüglich, geht es hier um mehr als die Frage nach den konkreten Policy-Ansätzen. Seine Basis besteht zum Großteil aus Minderheiten, jungen Leuten und der Arbeiterklasse, die in der Lage sind, die konkreten materiellen Probleme, die sie haben als solche zu artikulieren. Das erste Mal seit dem Beginn des Kalten Krieges gibt es in den USA eine Situation, in der von Arbeiterklasse gesprochen wird und das begrifflich gefüllt wird.

Die Sanders-Kampagne macht in einer objektiv-materiellen Situation von sozialer Ungleichheit den Interessengegensatz zu Kapital und den politischen Eliten sichtbar. Überhaupt schafft der Senator aus Vermont es mit einer Selbstverständlichkeit die Rhetorik der Arbeiterbewegung in einer Post-McCarthy-USA wiederzubeleben, die man hier seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hat – seien es zentrale sozialistische Kategorien, wie Arbeiterklasse, oder Begriffe wie Imperialismus. Der Stand der Bewegung muss immer auch am Widerstand gemessen werden, der ihr gesellschaftlich entgegengebracht wird.

Von welchem „wir hier“ die Rede ist, wenn in Deutschland gegen Sanders das Wort ergriffen wird, bleibt schleierhaft. Denn in der Bundesrepublik haben wir keine relevante sozialistische Partei, und selbst die Sozialdemokraten von der Linkspartei beugen sich den Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates, geben Hetze der Springer-Presse nach und wählen schon mal Faschisten in Ämter oder fordern dass Migranten der rassistischen Konkurrenz auf dem kapitalistischen Weltmarkt zum Opfer fallen, indem man in das „Ausländer Raus“ und „Ausländer nehmen Deutschen die Jobs weg“ einsteigt, als wäre Madonna immer noch in den Charts.

Die nationalbolschewistische Fraktion bedient sich dabei der rassistischen Logik der AfD, weil sie Migant_innen für die Probleme verantwortlich macht, die der postfordistische Kapitalismus nun mal mit sich bringt. Dagegen positioniert sich Sanders nicht nur gegen die rassistische Verschärfung der Konkurrenz durch die US-Rechte, sondern ordnet den Rassismus ganz deutlich als politische Waffe zur Verklärung dieser Verhältnisse ein. Das ist insbesondere in den USA, wo ökonomische Konflikte vor allem über ethnische Kategorien verhandelt werden, nicht unerheblich.

Sanders ist kein Sozialist. Was er jedoch schafft, ist eine Kampagne zu etablieren und Bewegung hinter sich zu vereinen, die es möglich machen die realen Bedingungen für sozialistische Politik zu erkämpfen, indem die nötige Lage und das nötige Klassenbewusstsein hergestellt wird.

Das Establishment der „Demokraten“ schafft es dabei trotz ihrer offensichtlichen Verzweiflung sehr gut ihren Antikommunismus und ihre zutiefst arbeiterfeindliche Politik zu tarnen, indem sie Bernies Anhänger als „Toxic Bernie Bros“ diffamieren und liberalen Feminismus als vernünftige Alternative zum Sozialismus als rein männliches Konzept darstellen. Dieser intersektionale Imperialismus macht nicht mal davor halt die Co-Vorsitzende seiner Kampagne, Nina Turner, eine Schwarze Frau, rassistisch zu attackieren. Dabei geht es weniger um die Person Sanders als um den aktuellen Stand der Bewegung, der von US-Medien immer wieder verständnislos und ungewollt meme-haft mit „millenials are socialist“ kommentiert wird.

Ich wäre ja froh, wenn wir „hier“ wenigstens mal eine vernünftige Sozialdemokratie im eigentlichen Sinne hätten, geschweige denn Sozialismus. Stattdessen bekommen wir grünen Neoliberalismus, rechte Sozialdemokratie, die uns als „Sozialismus“ verkauft wird und linken Verbalradikalismus von edgy Internetsozialisten, die reden als wären wir an der vordersten Linie des globalen Kommunismus. Auf die glorreiche Geschichte des Marxismus und der Arbeiterbewegung in Deutschland zurückzublicken und sich für dessen kulturelle Überbleibsel abzufeiern, ist mehr als unzureichend. Vor allem wenn die parlamentarischen Erben dieser Bewegung sich beinahe allen relevanten Errungenschaften mit der neoliberalen Wende entledigt haben.

#Titelbild: wikimedia.commons

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Ein Versuch, die „multipolare“ imperialistische Dynamik rund um den Konflikt in Syrien zu beleuchten und theoretisch zu erfassen.

Tomasz Konicz

Das, was sich im Februar 2020 in Syrien zwischen der Türkei und Russland vollzieht, ist selbst für kapitalistische Verhältnisse außergewöhnlich. Während türkische und russische Truppen an der Grenze zwischen der Türkei und der nordsyrischen Autonomieregion Rojava gemeinsame, von wütenden Kurden immer wieder mit Steinen angegriffene Patrouillen durchführen, bombardieren russische Kampfflugzeuge wenige Kilometer weiter südlich in der westsyrischen Provinz Idlib von der Türkei unterstützte Dschihadisten und türkische Truppen, die bereits erhebliche Verluste hinnehmen mussten.

Die spätkapitalistischen Staatssubjekte sind keine Menschen, keine bürgerlichen Marktsubjekte, die in ihrem Konkurrenzgebaren zumeist sehr eindimensional sind. Die imperialistischen Staatsmonster können miteinander kooperieren, Bündnisse oder Allianzen bilden und zugleich in anderen Politikbereichen oder Einflusssphären heftige Konflikte austragen. Pack schlägt sich, Pack verträgt – dies ist die jahrhundertealte blutige Normalität imperialistischer Auseinandersetzungen, bei denen Millionen von Menschen verheizt wurden und werden.

Die vertrackte Lage in Syrien, wo Kooperation und Konfrontation zweier imperialistischer Mächte bei ihrem mörderischen „Great Game“ eng beieinander liegen, ist Ausdruck der auf die Spitze getriebenen Widersprüche im russisch-türkischen Verhältnis. Während Moskau und Ankara sich einerseits bekriegen, wollen sie andererseits Kooperieren und ziehen enorme Vorteile aus dieser Kooperation. So konnten in den vergangenen Monaten und Jahren einige wichtige wirtschaftspolitische Projekte initiiert oder realisiert werden, die für beide Seiten von Vorteil sind.

Einseitige Abhängigkeit –Russisch-türkische Kooperation

Die Anfang 2020 in Dienst gestellte Turkstream-Pipeline, die russisches Erdgas über das Schwarze Meer bis in die Türkei befördert, bring sowohl für den Kreml wie für Ankara enorme strategische Vorteile, da sie – gemeinsam mit der Ostseepipeline – Russland dabei hilft, die Transitwege russischen Erdgases nach Westeuropa zu diversifizieren, sowie Ankara der ersehnten Rolle einer energiepolitischen Drehscheibe an der südöstlichen Flanke der EU näherbringt. Zudem haben beide Seiten den Bau eines russischen Atomkraftwerks in der Türkei vereinbart, der Russlands Atomindustrie einen Auslandsauftrag einbringt und Ankara dabei hilft, seine Abhängigkeit von Energieimporten zu reduzieren und die Option einer türkischen Atombombe eröffnet.

Diese handelspolitischen Bezeigungen sind aber von einer einseitigen Abhängigkeit geprägt, da die Türkei in sehr viel größeren Ausmaß von Russland abhängig ist als umgekehrt – dies vor allem bei dem Import fossiler Energieträger. Hier verfügt der Kreml, der beim Export zur Not Turkstream schließen und auf andere Pipelines ausweichen kann, eindeutig über den längeren Machthebel.

Weitere Interessenüberschneidungen zwischen Ankara und Moskau existierten bei der Geopolitik, wie es der strategische Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 durch die Türkei zeigte, der in Washington für Empörung sorgte und der das türkisch-amerikanische Verhältnis stark belastet. Ankara und Moskau haben – gemeinsam mit dem Iran – ein Interesse daran, den Einfluss des Westens – hier vor allem der USA – in der Region zurückzudrängen. Zusätzlich motiviert wurde diese kurzfristige Allianz zwischen Ankara, Teheran und Moskau durch das gemeinsame Interesse an der Zerschlagung des basisdemokratischen Experiments in Rojava, das alle autoritären, islamistischen Regimes und Rackets in der Region als eine existenzielle Bedrohung ansahen, wobei die klerikalfaschistische Türkei und das theokratische Regime im Iran aufgrund ihrer substanziellen kurdischen Minderheiten hier besonders schnell zur einer punktuellen Kooperation bereit waren.

Über die Leiche Rojavas – der Verrat der USA

Gerade die zeitweilige Zusammenarbeit der USA mit den kurdischen SDF zwecks Bekämpfung des Islamischen Staates hat maßgeblich zum Zerwürfnis zwischen Ankara und Washington beigetragen, das Moskau durch Zugeständnisse gegenüber Erdogan, die in der Invasion Afrins gipfelten, möglichst weit forcieren wollte. Es ließe sich gar argumentieren, dass die Annäherung zwischen Moskau, Teheran und Ankara gerade über die Leiche des selbstverwalteten nordsyrischen Kantons Afrin erfolgte, das sich in Russlands Einflusssphäre befand – und das Putin der türkischen Soldateska zum Fraß vorwarf, um die Türkei zusätzlich aus der westlichen Einflusssphäre zu lösen.

Mit dem Verrat der USA an den Kurden Nordsyriens im vergangenen Oktober wurde dieser reaktionären, gegen die USA wie auch den emanzipatorischen Aufbruch in Nordsyrien gerichteten unheiligen Allianz der wichtigste gemeinsame Nenner entzogen. So wie Putin sich bemühte, durch die Opferung Afrins an den türkischen Kelrikalfaschismus die Türkei aus dem Westen zu lösen, so hat Trump durch den Verrat an den östlichen Kantonen Rojavas die Türken dazu motivieren wollen, die Annäherung an Moskau zu revidieren. Die USA benutzten somit die Kurden im Kampf gegen den Islamischen Staat, um sie hiernach der islamistischen Regionalmacht auszuliefern, die zu den wichtigsten Unterstützern des Islamischen Staates gehörte, da die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien den wichtigsten Streitpunkt bei der Entfremdung zwischen Ankara und Trump bildete.

Tatsächlich könnte dieses brutale imperialistische Kalkül Washingtons, wo man trotz des Verlusts der Hegemonie noch maßgeblich Einfluss auf die Gestaltung der Region nehmen will, aufzugehen. Die USA haben Rojava verraten und sich weitgehend zurückgezogen aus Syrien, sie okkupieren nur noch die – regional unbedeutenden – Ölquellen in Ostsyrien. Dies tun sie nicht etwa, um dieses Öl in Eigenregie zu verkaufen, wie wohl nur Trump glaubt, sondern um die Kosten der Intervention Russlands und der eventuellen Wiederaufbaubemühungen in Syrien in die Höhe zu treiben, sowie einen Keil in die Achse Damaskus–Teheran zu treiben.

Doch, und dies ist entscheidend, überwiegen seit dem partiellen Rückzug Washingtons die Differenzen der Regionalmächte das vormalige Interesse an der Verdrängung der USA. Nun steht Russland unter Druck in Syrien, es muss sich mit Ankara auseinandersetzen und das komplexe Interessengewirr in der Region managen. Washington spekuliert schlicht darauf, dass Moskau damit überfordert sein wird.

Die Hegemonialmacht tritt ab

Was sich nun in der Region entfaltet, ist somit schlicht jene Realität einer „multipolaren Weltordnung“, die von allen Herausforderern der US-Hegemonie in den vergangenen Dekaden gefordert wurde. Die USA, seit Langem im hegemonialen Abstieg begriffen, haben ihre seit dem Zerfall des Ostblocks etablierte Rolle als globale militärische „Ordnungsmacht“ – die Interventionen, Strafexpeditionen und Invasionen in der Peripherie des Weltsystems über gut drei Dekaden weitgehend monopolisieren konnte – zumindest im Nahen und Mittleren Osten – endgültig verloren. In dieses Vakuum drängen nun viele kleine Nachwuchs-USA, die dem großen, abgetakelten Vorbild jenseits des Atlantiks nacheifern und ihr eigenen geopolitisches und imperialistisches Kalkül verfolgen.

Die Hegemonialmacht tritt ab – doch der Imperialismus bleibt bestehen, da dessen ökonomisches Fundament, die krisengebeutelte und widerspruchszerfressene kapitalistische Produktionsweise, weiterhin bestehen bleibt. Mehr noch: Der Abstieg der ökonomisch durch die Krise verwüsteten und weitgehend deindustrialisierten Vereinigten Staaten wird nicht mehr durch den Aufstieg eines neuen globalen Hegemons begleitet, der es wiederum schaffen würde, die Anwendung militärischer Gewalt weitgehend zu monopolisieren. Keine Großmacht – auch nicht China – ist dazu in der Lage; aufgrund zunehmender Krisentendenzen, wie einer ausartenden Verschuldung. Die Folge: Der partielle Rückzug der USA geht nicht mit einem Ende der Spannungen einher, sondern mit deren „multipolarer“ Vervielfältigung.

In der Region entfalten folglich der schiitische Iran und das sunnitische Saudi-Arabien bei ihrem jeweiligen Hegemonialstreben eine zunehmende geopolitische Konkurrenzdynamik, in deren Folge etwa der Jemen von einem blutigen Stellvertreterkrieg erfasst wurde, bei dem die USA nur noch eine Nebenrolle spielen. Diese Inflationierung des Konfliktpotenzials in einem in Auflösung übergehenden spätkapitalistischen Weltsystem kann somit gerade an den konkreten Konfliktlinien in der Region nachvollzogen werden – dies vor allem hinsichtlich der klerikalfaschistischen, von neo-osmanischen Wahn beseelten Türkei. Erdogan muss Expandieren, da ihm die schwere ökonomische Krise in der Türkei dazu nötigt, mittels äußerer Expansion die zunehmenden sozioökonomischen Verwerfungen im Land zu überbrücken. Es geht hierbei nicht nur um das klassische Schüren chauvinistischer Stimmungen, um so vom permanenten Grütel-enger-schnallen breiter Bevölkerungsschichten in der Türkei abzulenken, sondern um ganz konkrete Strategien oder Kontrolle der Beseitigung der Massen ökonomisch „überflüssiger“ Menschen, die die Systemkrise in der Region produzierte.

Idlib – geopolitische Sackgasse

Idlib soll als informelles türkisches Protektorat vor allem dazu dienen, die Flüchtlingsmassen, die der syrische Bürgerkrieg produzierte, dort zu konzentrieren, da sie aufgrund der Krise in der Türkei nicht mehr als Billiglohnsklaven verwertet werden können. Ähnliche Planungen zur Errichtung einer Art gigantischen Flüchtlingsghettos gibt es in den von der Türkei okkupierten Region Rojavas, wo die ethnische „Säuberung“ der kurdischen Bevölkerung durch die türkische Soldateska mit der Ansiedlung von Islamisten und der Deportation von Flüchtlingen abgeschlossen werden soll. Dieses Vorgehen Erdogans, der Flüchtlinge längst als politische Waffe gegenüber der EU einsetzt, brachte ihm die taktische und finanzkräftige Unterstützung Berlins ein, wo man aufgrund des Aufstiegs der Neuen Rechten panische Angst vor weiteren „Flüchtlingswellen“ hat. Merkel hat sich bei ihrer letzten Türkeivisite dazu entschlossen, im Endeffekt ethnische Säuberungen in Rojava zu finanzieren. Flüchtlinge und Abschottungstendenzen bilden somit – neben dem Kampf um Ressourcen und Energieträger – inzwischen einen neuartigen, zentralen Faktor beim „multipolaren“ neoimperialistischen Hauen und Stechen in der Region, das Phasenweise an die Hochzeit des Imperialismus in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert erinnert. Es ist gewissermaßen eine alte, neue Weltunordnung, die sich nun etabliert.

Die Dramatik und Gefährlichkeit der Lage in Idlib, die jederzeit eskalieren kann, resultiert andrerseits aus dem simplen Umstand, dass beide Seiten – sowohl die Türkei wie auch Russland – aller geschilderten Kooperation zum Trotz ihre zunehmenden geopolitischen Interessenskonflikte nicht mehr weiter verdecken oder überbrücken können. Erdogan kann sich einen Verlust von Idlib samt zu erwartender Massenflucht in der ökonomisch zerrütteten Türkei kaum politisch erlauben, da dies seine Herrschaft – und buchstäblich seine physische Existenz – bedroht. Der Kreml kann wiederum letzten Endes kaum dazu übergehen, Teile von Syrien langfristig an die Türkei in geopolitischen Deals zu verscherbeln, will Putin tatsächlich Russland als einen verlässlichen regionalen Machtfaktor im Nahen- und Mittleren Osten etablieren. Beide Seiten befinden in einer geopolitischen Sackgasse, aus der der Verlierer nur unter einem massiven Verlust an Prestige oder Einfluss ausbrechen kann.

Die Grenzen des türkischen Dominazstrebens

Zudem ist das geopolitische Vabanque Spiel Erdogans, bei dem Ankara im Gefolge des regionalen Dominanzstrebens erfolgreich zwischen Ost und West pendelte, um immer neue Zugeständnisse von Moskau (Afrin), Washington (östliches Rojava) und Berlin (Geld und Investitionen) zu erpressen, an seine Grenzen gelangt. Auch diesmal ging die türkische Konfrontationshaltung gegenüber Russland mit einer raschen Annäherung an den Westen, vor allem an die USA, einher, doch konnte Erdogan keine handfeste militärische Unterstützung seitens der Trump-Administration erwirken. Die brandgefährlichen Forderungen Ankaras nach amerikanischen Luftabwehrsystemen oder einer Flugverbotszone über Idlib sind im Sande verlaufen, da das Pentagon nicht den 3. Weltkrieg riskieren will. Die USA sind zwar im Abstieg begriffen, aber sie bilden weiterhin einen wichtigen Machtfaktor in der Region – ähnlich dem Großbritannien der Nachkriegszeit, dass ja sogar in der Suez-Krise 1956 einen erfolgloses imperialistisches Comeback versuchte.

Washington ist derzeit schlicht bemüht, dafür sorge zu tragen, dass der vergangenen Oktober begangene Verrat an der Kurden sich nun geopolitisch rentiert. Der Imageverlust vom Herbst 2019 – der den USA die Bündnisbildung in der Region ungemein erschweren wird – soll im Frühjahr geopolitische Rendite einbringen, indem der Konflikt zwischen Ankara und Moskau möglichst weit angeheizt wird, um so die Türkei zurück in die westliche Einflusssphäre zu bugsieren. Auch dies ist ein Balanceakt, den Washington vollführen muss: Es gilt, die Konfrontation durch rhetorische und öffentliche Solidaritätsbekundungen an das Erdogan-Regime anzuheizen, ohne je konkret zu werden. Die Trump-Administration muss im Wahljahr 2020 eine militärische Eskalation in Syrien um nahezu jeden Preis vermeiden – vor allem bei einem eventuellen Duell zwischen Trump und dem Antikriegskandidaten Sanders.

Dabei wählte Putin einen guten Moment, um die letztendlich unausweichliche Konfrontation mit Erdogan zu suchen, da dieser sich in seinem – durch innertürkische Widersprüche angetriebenen – Expansionsdrang regional weitgehend isoliert hat. Die arabischen Länder, wie etwa Jordanien und Ägypten, bilden aufgrund der neo-osmantische Ambitionen Erdogans eine nahezu geschlossene antitürkische Front, währnend weite Teile der EU, angeführt von Frankreich, sich wegen der Auseinandersetzungen um die Energieträger vor der Küste Zyperns im Streit mit der Türkei befinden. Koordiniert von Paris, bemühen sich Teile der EU somit, den türkischen Hegemonialstreben eindeutige Grenzen zu setzen. Die USA wiederum werden Erdogan nur verbal zur Auseinandersetzung mit Putin ermuntern, da man Ihm in Washington den Kauf der russischen S-400 so schnell, und vor allem so billig, nicht verziehen wird. Mal ganz abgesehen davon, dass man es sich in Ankara ganz genau überlegen wird, ob man sich wieder einer Großmacht in die Arme wirft, die laut türkischer Überzeugung den gescheiterten Putsch gegen Erdogan unterstützt haben soll.

Die evidente, nahezu vollständige Erosion der US-Hegemonie führte somit dazu, dass etliche kapitalistische Staaten in der Region (Türkei, Russland, Teile der EU, Saudi-Arabien, Iran) ihre Interessen stärker geopolitisch zur Geltung bringen können; es entsteht eine multipolare Dynamik vielfältiger regionaler imperialistischer Interessen, die sehr viel stärker und deutlicher in Erscheinung treten können, nachdem der hegemoniale Druck der US-Militärmaschine schwindet. Diese prekäre Rückkehr zu einem instabilen Imperialismus ohne Hegemon sorgt bei vielen Beobachtern, die es gewohnt sich, in den Frontstellungen des Zeitalters der US-Hegemonie zu denken, für Verwirrung und Desorientierung. Die USA, oftmals in verkürzter Kapitalismuskritik als Urquell allen Übels wahrgenommen, steigen ab, aber die mörderischen imperialistischen Kriege, letztendlich angefacht durch den widersprüchlichen Verwertungszwang des Kapitals, blieben bestehen. Die drohende Eskalation in Idlib stellt letztendlich auch eine Blamage des dummdeutschen Antiamerikanismus dar, der sich schon immer nicht primär aus einer fehlgeleiteten antiimperialistischen Motivation, sondern aus blankem imperialistischen Neid speiste.

#Titelbild: türkische und US-Soldaten in Syrien, wikipedia

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In der Nacht zum 3. Januar töteten die Streitkräfte der USA den hochrangigen iranischen Militär Qassem Suleimani mit einem gezielten Drohnenschlag in der Nähe des Flughafens von Bagdad. Mit ihm starben mindestens sechs weitere Menschen, darunter der Kommandant der irakischen Volksmobilmachungseinheiten (PMU), Abu Mahdi Al-Muhandis.

Die Ermordung der beiden dem Regime in Teheran nahestehenden Befehlshaber stößt bei der rechten transatlantischen Presse auf Zustimmung. Trump habe „uns von einem Monster befreit“, titelt etwa die Bild. Was aber bedeutet der Anschlag für den Mittleren Osten?

Sie bedeutet noch mehr Blutvergießen, Eskalation und imperialistische Kriege. Das ist nichts Neues. Seit Jahrzehnten besteht der Alltag der Menschen von Afghanistan bis Palästina und von Kurdistan bis in den Jemen aus Krieg, Zerstörung und Vertreibung. Sind es gerade nicht die amerikanischen, russischen, türkischen oder israelischen Luftschläge, so sind es die Bomben von Al-Qaida oder die Kriegsverbrechen von Daesh und Hashd al-Shaabi. Die Region ist ein blutiges Schachfeld zwischen imperialistischen Großmächten und den expansionistischen Bestrebungen regionaler Mächte, ausgefochten auf dem Rücken der proletarischen Klassen und der unterdrückten Völker. Einer der Akteure in diesem Machtkampf ist eben auch die Islamische Republik Iran.

1979 ging die Islamische Republik als dominante Kraft aus der Revolution gegen die US-gestützte Schah-Diktatur hervor und festigte sich als Nachfolgersystem. Ein Kind der ersten Tage der Islamischen Republik, als das Militär und der Geheimdienst noch von Schah-treuen Elementen gesäubert wurden und somit nicht handlungsfähig waren, war die „Armee der Wächter der Islamischen Republik“ – auch bekannt als die „Revolutionsgarden“.

Die „Revolutionsgarde“ wurde als ideologisch treue Parallelarmee zur Verteidigung der Werte der Islamischen Revolution aufgestellt und spielte fortan eine zentrale Rolle in dem Prozess der Festigung der Islamischen Republik – der fast eine Dekade lang dauerte. Dieser Prozess der inneren Festigung war nicht nur begleitet von Krieg und Massakern in Torkamansahra und Kurdistan, sondern forderte auch das Leben Zehntausender Linker und Kommunisten, die auf offener Straße und in den Gefängnissen gefoltert und ermordet wurden.

Dabei beschränkte sich die „Revolutionsgarde“ nicht nur auf die innenpolitische Repression politischer Opposition, sondern richtete ihren Blick auch jenseits der iranischen Grenzen. Das von Khomeini theoretisierte Paradigma vom „Exportieren der Islamischen Revolution“ gilt dafür bis heute als Grundlage. Im Paragraph 154 der iranischen Verfassung verankert, galt sie als Grundlage um sich in der muslimischen Welt auszubreiten, insbesondere Schiiten nach Vorbild der Islamischen Republik zu organisieren und somit die eigenen nationalen Expanisonsbestrebungen zu ermöglichen.

Diese Politik spielte eine signifikante Rolle in der Provokation des Irak und dem anschliessenden Überfall Saddam Husseins 1981 auf den Iran, was in den ersten Golfkrieg mündete und das Leben Hunderttausender junger Menschen an den Fronten eines achtjährigen Krieges forderte. Die zuständige Abteilung bei den Revolutionsgarden für den „Export der Revolution“ trug zunächst den Namen „Einheiten für die Unterstützung der Befreiungsbewegungen“. Sie bestand aus Islamischen Revolutionären, die seit den 1970er-Jahren Kontakte nach Libyen und in den Libanon hatten und teilweise militärisch dort ausgebildet worden waren. Im Libanon beteiligten sie sich auch z.B an der Seite der Amal-Bewegung am Bürgerkrieg.

Im Verlauf der 1980er-Jahre bauten diese die Grundlagen einer strategischen Partnerschaft bis zum Mittelmeer aus. Vor allem sollte die arabische Linke, die revolutionäre Bewegung Paläsitinas und der irakische Baathismus geschwächt werden und der islamische und schiitische Widerstand als Alternative aufgebaut werden. Auch die strategische Allianz mit Hafez Assad, dem Vater des jetzigen syrischen Machthabers, geht auf diese Zeit zurück.

Im Zuge der Iran-Contra-Affäre und als Friedensgeste der Islamischen Republik an die USA wurden jedoch die „Einheiten für die Unterstützung der Befreiungsbewegungen“ aufgelöst und ihre Anführer als Konterrevolutionäre liquidiert. Als einige Jahre später die Islamische Republik ihre Expansionspolitik wieder aufnahm, nannte sich die Abteilung für die internationalen Operationen der Revolutionsgarden „Al-Quds-Brigaden“. Eben jenen stand der nun ermordete Sulaimani vor.

Die Erfahrungen die in den 1990er-Jahren an der Seite der Nordallianz in Afghanistan, in Bosnien und mit der Hizbollah im Libanon gesammelt wurden, flossen ab 2003 in die Organisierung der irakischen Schiiten ein. Qassem Suleimani der schon an dem Krieg in Rojhilat (iranisches Kurdistan) beteiligt war, übernahm seit 1997 die Führung der Al-Quds-Brigaden und spielte eine zentrale Rolle in der Festigung des politischen und militärischen Einflusses des Iran im Irak nach der Militäraggression der USA im Jahr 2003. Seit 2011 und später mit dem Aufkommen des IS in Syrien und im Irak übernahmen die Al-Quds-Brigaden defacto die Aufgabe paramilitärische und ideologisch treue Strukturen aufzubauen, um die Interessen der Islamischen Republik im Nahen Osten zu sichern. Der Kampf gegen den IS, aber auch die Stützung von Bashar al-Assad und von Marionettenregierungen im Irak um jeden Preis, sind zentraler Bestandteil ihrer Aufgaben.

Wie im Iran, wo die Revolutionsgarden fast alle wirtschaftlichen Stränge kontrollieren, heißt es hier auch neoliberale Umstrukturierung, Vetternwirtschaft, Korruption und die gewaltsame Unterdrückung der Bevölkerung, wenn sie für die eigene Souveränität, Unabhängigkeit und Würde auf die Strassen geht. Ob nun im Iran die proletarischen Klassen nach Brot und Freiheit rufen oder im Irak und Libanon die Menschen sich gegen Armut, Sektierertum und Diktaturen auflehnen – stets antworten die Revolutionsgarden, die Al-Quds-Brigade und die ihnen treuen Milizen mit roher Gewalt.

So viel zu Suleimani. Aber die Rechnung bliebe unvollständig ohne die Gräueltaten jener zu erwähnen, die ihn heute töteten. Der US-Imperialismus hat zur Durchsetzung seiner politischen und wirtschaftlichen Agenda in der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg Abermillionen Menschen ermordet. Im Mittleren Osten zieht sich seine Blutspur vom Irakkrieg mit über einer halben Million Toten bis in den Jemen, in dem derzeit Tag für Tag gemordet und ausgehungert wird. Die USA brachten dem Mittleren Osten nie Frieden, nie Prosperität, nie irgendetwas Gutes. Und auch die Hinrichtung von Suleimani wird nur noch mehr Verheerung bringen.

Die revolutionären Kräfte sollten Suleimani keine Träne nachtrauern, denn die proletarischen Klassen im Nahen Osten tun es bestimmt nicht. Und im gleichen Atemzug gilt die Verachtung dem amerikanischem Imperialismus, der seit Jahrzehnten eine mörderische Präsenz im Nahen Osten hat und nach Belieben Menschen aus der Luft ermorden lässt. Was im Irak dagegen notwendig wäre, ist der sofortige Abzug aller ausländischen Mächte und die Hoffnung und der Kampf für den Tag an dem Kriegsverbrecher – ob nun Trump oder Figuren wie Suleimani – zur Rechenschaft gezogen werden.

# Bildquelle: wikimedia.commons

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Das Weiße Haus hat dem NATO-Partner in Ankara grünes Licht für einen Einmarsch im Norden Syriens gegeben. Die Fraktionskämpfe innerhalb der US-Administration sind kompliziert, auch die Interessen Russlands und des Irans noch nicht klar. Wer jede für die Öffentlichkeit bestimmte Meldung für bare Münze nimmt, wird in einem Chaos der Desinformation hin und her geschleudert, weiß am Ende nicht mehr, wo oben und wo unten ist.

Doch eigentlich ist die Story nicht schwer zu verstehen: Wir haben ein faschistisches Regime in Ankara, das bei allen Friktionen mit den USA und Deutschland verbündet ist; dazu eine ungelöste „Kurdenfrage“ in der gesamten Region und den absoluten Willen der türkischen Regierung, jeden Ansatz von Selbstverwaltung der kurdischen Bevölkerung auszulöschen. Und auf der anderen Seite haben wir ein demokratisch-sozialistisches Projekt im Norden Syriens, das darum kämpft, sich gesellschaftlich weiter zu entwickeln und sich dabei militärisch wie diplomatisch verteidigen muss – durch unangenehme Bündnisse genauso wie mit zehntausenden bewaffneten Revolutionär*innen. Und zwar nicht erst jetzt, sondern seit es existiert. Und nicht nur gegen die Türkei, sondern gegen alle Global und Regional Player in Syrien sowie diverse dschihadistische Milizen.

Es prallen zwei Weltanschauungen aufeinander: die diversen kapitalistischen Nationen, die mit Gewalt den Mittleren Osten nach ihrem jeweiligen Interesse gestalten wollen; und die kurdische Bewegung, die auf dem Trümmerhaufen, den der Imperialismus in der Region hinterlassen hat, eine auf basisdemokratischer Selbstbestimmung aufbauendes Zusammenleben aller Völker und Religionsgemeinschaften erschaffen will, das ökologischen, geschlechtergerechten und sozialistischen Grundsätzen genügt.

Militärisch wird dieser Krieg nicht erst seit vorgestern ausgetragen. In Afrin hat er als andauernder Guerilla-Krieg gegen die Besatzer seit Januar 2018 nie geendet; im irakisch-türkischen Grenzgebiet sowie in den kurdischen Gebieten auf dem Territorium der Türkei läuft er seit Jahren auf hoher Intensität – und ohne jede Beachtung durch die internationale Öffentlichkeit.

Der nun – aller Wahrscheinlichkeit bevorstehende – Einmarsch der Türkei in die Gebiete der Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyriens hat dennoch eine neue Qualität. Er zielt auf die vollständige Zerschlagung der kurdischen Bewegung und ihrer Verbündeten in Syrien. Und er visiert ethnische Säuberungen in einem an die 1990er erinnernden Ausmaß an. Zudem ist er Teil des Projekts der Türkei, sich eine aus dschihadistischen Milizionären bestehende Proxy-Armee zu schaffen, die nach Bedarf in Nachbarstaaten einsetzbar ist.

Die Verteidigungsstrategie der zivilen wie militärischen Vertreter*innen der Demokratischen Konföderation ist divers. Bis zur völligen Unvermeidbarkeit des Krieges besteht sie in diplomatischen Schachspielen. So laufen derzeit Gespräche mit Damaskus, gleichzeitig wird darauf gesetzt, Widersprüche innerhalb der US-Regierung zu nutzen, nachdem sich zahlreiche Republikaner wie Demokraten – zumindest öffentlich – scharf gegen Trumps Deal mit Erdogan wandten.

Doch auch in Nordsyrien weiß man: Der Angriff der Türkei wird früher oder später, auf die ein oder andere Weise kommen, sollte nichts völlig Unvorhersagbares eintreten. Was aber dann? Leicht bewaffnete Menschen aus dem Volk gegen eine von den USA, Israel und Deutschland hochgerüsteten NATO-Staat? Ist das nicht von vornherein eine verlorene Schlacht? Und sollte man dann lieber nicht gleich die Waffen strecken?

Das zu glauben, die eigene Ohnmacht und Chancenlosigkeit zu zelebrieren, ist eine der herausragendsten Bemühungen jener Spezialkriegsführung, kurdisch: şerê taybet, die mit jeder Militäroperation einhergeht. Das Vertrauen der Unterdrückten in sich selbst, ein Subjekt von Geschichte zu sein, soll zerschlagen werden, bevor der erste Schuss gefallen ist. Regelmäßig werden hochrangige Kader*innen der kurdischen Bewegung für tot erklärt, nur um eine Woche später lächelnd auf Sterk TV aufzutauchen. Dr. Bahoz Erdal wurde türkischen Angaben zufolge bereits 11 Mal „liquidiert“, erfreut sich allerdings immer noch bester Gesundheit. Der angreifende Staat will sagen: Ihr könnt euch nicht wehren. Ihr seid klein. Gebt auf. Die kurdische Bewegung demonstriert seit 40 Jahren: Du bist selber klein. Ein tönerner Riese vielleicht, aber du kannst eine kämpfende Bevölkerung weder verstehen, noch schlagen.

Die Kraft aber, einen so verlustreichen Kampf zu führen, kommt aus der Überzeugung von einem politischen Ziel. Aus einer Ideologie, einer jener totgesagten Großen Erzählungen. Und der Krieg ist dementsprechend auch ein Krieg um die Köpfe. Und dieser şerê taybet kann viele Formen annehmen. Die offensichtlichen sind nicht schwer zu identifizieren: Abertausende nationalistischer Social-Media-Accounts schütten unter dem Hashtag #barispinarharekati – so der Operationsname des geplanten Einmarsches – Kurdenhass, Morddrohungen und Fake-News ins Internet. Im Wochentakt wird seit 40 Jahren wiederholt, man stehe Tage davor, die kurdische Bewegung endgültig und final zu besiegen.

Die nett gemeinte Variante dieses Spezialkriegs sind all jene fürsorglichen liberalen Beobachter*innen, die sich jetzt darin ergehen, „die Kurden“ als schwache, hilfsbedürftige Kinder zu inszenieren, denen unsere tollen Regierungen, sobald sie nur endlich ihre moralische Pflicht begreifen, rettend wie Superman zur Seite springen sollen.

Gerade für die liberalen Formen des şerê taybet sind auch wir Linke und Internationalist*innen sehr anfällig. Formen, die ob unserer Sozialisierung durch Liberalismus, Individualismus und Staatsgläubigkeit in unserer aller Köpfen vorkommen. Die wir reproduzieren, wenn wir schreiben. Und die wir uns abgewöhnen müssen, wenn wir als Revolutionär*innen und Internationalist*innen eine Rolle im Kampf um die Herzen und Gehirne spielen wollen.

Eine dieser Tendenzen ist, eine kämpfende, selbstbewusste, kräftige Bewegung zum bloßen Objekt zu degradieren. Zu armen Opfern, die wie Schafe von einem Global Player zum anderen durchgereicht werden. Hilf- und willenlose Gestalten, bedauernswert und traurig mitanzusehen. „We used the kurds and now we abandon them“, so eine trendige Formulierung dieses liberalen Mitleids aus den Vereinigten Staaten. Wir „verwendeten die Kurden“ – gemeint ist der Kampf gegen den Islamischen Staat -, jetzt geben wir sie auf. Die liberalen Meldungen, die die Revolution positiv wertend als nette „ground forces“ des US-Imperialismus inszenieren, sind da nur die Kehrseite der Russland-, Erdogan- und Assad-Fans, die sie als ebensolche „Proxies“ diffamieren. Dass da eine eigenständige Kraft ist, das können beide nicht begreifen.

Das Komplement dieser verbalen Herabsetzung einer revolutionären Bewegung zu einem vollständig von äußeren Mächten abhängigen Gegenstand ist das ständige appellieren an Staaten. Man bittet wahlweise die Bundesregierung, US-Senatoren, Außenminister, Regierungsparteien oder Regionalmächte jetzt doch endlich etwas moralisch richtiges zu tun – ganz als ob die nicht aus eigenen Interessen, sondern in ständiger Abwägung des sittlich Gebotenen handeln würden. Und man erfreut sich an jedem türkeikritischen Tweet – und komme er vom letzten reaktionären Schwein – als sei nun die Krise abgewendet.

Die Reaktion ist verständlich. Und sie ist erklärbar. Sie kommt aus einem Gefühl der Ohnmacht. Man sieht das Geschehen. Man will etwas tun. Aber es ist gar nicht so leicht herauszufinden, was man denn eigentlich Wirksames machen könnte. Gerade wir in Deutschland, organisiert in zutiefst zerrütteten Kleinstgruppen, haben es schwer, uns selbst etwas zuzutrauen. Wir leben in ständiger Angst. Und weil uns schon die kleinste Kleinigkeit das Schaudern lehrt, hoffen wir, jemand anders könnte jene Angelegenheiten regeln, die schmerzhaft und bedrückend sind.

Die Wahrheit jenseits aller diplomatischen Höflichkeitsbekundungen ist aber: In Kurdistan geht es längst um viel mehr als um das physische Überleben. Diejenigen, die die Revolution vorantreiben, wollen mehr als nur atmen, sich ernähren und gelegentlich tanzen. Es geht nicht um irgendein Existieren, sondern um ein Leben in Würde.

Die Mütter in Waffen, die schwören, ihr Leben bei der Verteidigung ihres Landes und ihrer Kinder zu geben, sind keine skurrile Propagandaklatsche. Die revolutionäre Kultur, nicht auf Knien leben zu wollen, ist wichtig für das, was Rojava ist. Sie ist es, die dafür sorgt, dass dieses Gebiet etwas anderes ist, als ein x-beliebiger von einer x-beliebigen Miliz besetzter öder Streifen Land. Es ist ein Aufbruch. Die Schönheit dieses Aufbruchs, bei all seinen Schwierigkeiten, liegt in der Unbeugsamkeit der Menschen in Nordsyrien. Als die Türkei im Januar 2018 in Afrin einfiel, fuhren zehntausende Zivilist*innen direkt in das Kriegsgebiet. Sie hatten wirklich das Bewusstsein, dass es ihr eigenes Land ist. Nicht das irgendeiner Bürokratie, irgendeiner Regierung. Ihres.

Wenn wir über die Revolution aufklären – und das wird in den kommenden Tagen unser aller Pflicht sein -, müssen wir genau das der bürgerlichen Berichterstattung – selbst jener, die oberflächlich betrachtet „freundlich“ ist – entgegenhalten. Denn: „Was der Feind will, ist unsere Entmenschlichung, die Niederlage“, schreibt Abdullah Öcalan in seinem Buch nasil yasamali, „Wie leben?“. Die Entmenschlichung aber hat viele Gesichter. Die verzerrten blutrünstigen Fratzen eines Erdogans oder Trumps sind nur die hässlichsten; aber die stets lächelnden, aalglatten Visagen aus diversen Think-Tanks und liberalen wie konservativen Kreisen gehören genauso dazu.

„Wir wissen, dass unsere Verbündeten keine Regierungen, Staaten und deren Armeen sind, sondern alle Frauen, die sich in allen Teilen der Welt erheben, um das Patriarchat zu stürzen. Unsere Verbündeten sind die Kräfte, die Tag für Tag eine andere Welt aufbauen und sich für ihre Verteidigung einsetzen“, schreibt die kurdische Frauenbewegung in Europa TJK-E in ihrem Aufruf zur aktuellen Mobilisierung.

Gemeint damit sind wir alle. Wir können uns davor nicht drücken. Und wir können es nicht delegieren. Und angesichts dessen, wie die Linke in diesem Land aufgestellt ist, sollten wir zumindest versuchen, über uns hinauszuwachsen, wenn der finale Angriff auf jenen Landstrich beginnt, den viele von uns in den vergangenen Jahren als Quelle der Hoffnung in düsteren Zeiten lieben gelernt haben. „Wenn Ihr keine großen Gefühle, großen Gedanken, großen Handlungen entwickelt, so werdet Ihr Gefangene des Feindes und zu seinen Instrumenten werden“, schreibt Öcalan. Wir sollten zumindest versuchen, diese Art der Gefangenschaft zu vermeiden. Auch wenn das nicht leicht oder bequem wird.

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Der lange angekündigte Krieg der Türkei gegen die selbstverwalteten Gebiete im Norden Syriens beginnt. Am Abend des 6. Oktober veröffentlichte die US-Administration eine Stellungnahme, in der sie den Rückzug ihrer militärischen Kräfte von der türkisch-syrischen Grenze bekannt gibt und den bevorstehenden Einmarsch ihres NATO-Partners ankündigt.

Seit Beginn des demokratischen Experimentes der Selbstverwaltung in der Gegend zwischen Afrin und Derik nach 2011 droht Recep Tayyip Erdogan mit dessen blutiger Zerschlagung. In zwei völkerrechtswidrigen Einmärschen – einmal im Herbst 2016 zwischen Jarablus und al-Bab; einmal in Afrin im Januar 2018 – annektierte die Türkei bereits syrisches Territorium, das sie bis heute besetzt hält. Doch um ihr erklärtes Ziel, die Zerschlagung aller kurdischen Milizen in der Region sowie die Vertreibung der kurdischen Zivilbevölkerung, zu erreichen, muss Ankara sich auch die verbleibenden Gebiete aneignen.

Geplante „Sicherheitszone“ nach türkischem Angriff

Die für den Angriffskrieg nötigen Streitkräfte sind bereits seit geraumer Zeit an der Grenze zusammengezogen. Er könne noch „heute oder morgen“ vorrücken, verkündete Erdogan am vergangenen Samstag.

Das Militärbündnis SDF (Syrisch-Demokratische Kräfte) sowie die zivilen Institutionen der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien versuchten in den vergangenen Monaten durch Zugeständnisse an die US-geführte Anti-IS-Koalition das Unvermeidliche noch hinauszuzögern. Die Überlegung war: Die USA werden die Errungenschaften im Kampf gegen den Islamischen Staat nicht den regionalen Annexionsbestrebungen Erdogans, des offenen Unterstützers aller dschihadistischen Gruppen in Syrien, opfern. Zudem kalkulierte man, dass die Widersprüche zwischen Ankara und Washington in der Region wie im internationalen Konflikt zwischen den USA und Russland groß genug seien, um mit ihnen zu spielen und durch kluge Diplomatie den Bestrebungen Erdogans einen Riegel vorzuschieben.

Die Rechnung ging einige Jahre lang auf. Aber die Strategie war immer ein Spiel auf Zeit. Es war immer zu erwarten, dass Trump an einem bestimmten Punkt nach dem Sieg über den IS die früheren kurdischen, arabischen, christlichen und assyrischen Partner dem Auslöschungswillen der Türkei übergeben würde. Das ist nun eingetreten.

Was wird jetzt passieren? Die Türkei wird einmarschieren. Wenn nicht heute, dann morgen, in einer Woche, in einem Monat. Sie wird mit deutschen Panzern einrücken, wie schon in Afrin. Es wird zu ethnischen Säuberungen kommen, Menschenrechtsverletzungen, zahllosen Toten. Die zehntausenden IS-Gefangenen, die sich in kurdischem Gewahrsam befinden, werden versuchen, sich zu reorganisieren. Die Region wird erneut destabilisiert.

Ob die regulären Truppen der SDF in der Lage sein werden, einen Vormarsch lange aufzuhalten, ist fraglich. Das Territorium ist gegen eine mit Luftwaffe ausgestattete Armee noch schwerer zu verteidigen als Afrin. Dennoch wird auch nach einer türkischen Besatzung keine Ruhe einkehren. Der Guerillakrieg gegen die Besatzer in Afrin dauert seit Monaten auf hohem Niveau an. Zudem führt die kurdische Guerilla HPG derzeit Aktionen im gesamten irakisch-türkischen Grenzgebiet sowie in der Türkei selbst durch. Mit dem Einmarsch wird der Krieg, den die Türkei gegen alle Kurden – auf eigenem, irakischem oder syrischem Gebiet – führt, ein neues Niveau erreichen.

Wie dieser Krieg ausgeht, ist völlig offen. Und die kurdischen sozialistischen Kräfte sowie ihre arabischen, türkischen und assyrischen Verbündeten stehen in ihm alleine. Die Türkei hat alle möglichen Deals durchgedrückt. Mit der NATO auf der einen, mit Russland und dem Iran auf der anderen Seite. Der diplomatische Spielraum scheint zumindest im Moment ausgeschöpft, der alte kurdische Spruch „Keine Freunde außer die Berge“ erweist sich ein weiteres Mal als angemessene Beschreibung der Wirklichkeit.

Mit einer Ausnahme: All jene internationalistischen Unterstützer*innen dieser Revolution müssen jetzt die Karten auf den Tisch legen. Wie viel sind wir in der Lage mit den geringen Kräften, die wir haben, dazu beizutragen, dass dieses Verbrechen nicht still und heimlich über die Bühne geht? Wie viel Druck können wir auf die deutsche Regierung ausüben, die Erdogan mit Waffen unterstützt und deren Gesandter, Innenminister Horst Seehofer, wohl bei einem Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen vor zwei Tagen grünes Licht aus Berlin für Erdogans Ansiedlungsplan von hunderttausenden Geflüchteten im Norden Syriens gegeben hat – samt Milliardenhilfen aus der EU.

Es ist jedenfalls nicht an der Zeit, die Köpfe zu senken und zu verzweifeln. Liberale Hilferufe an die USA sind dafür genauso schädlich wie der resignierte Rückzug. Unsere Freund*innen vor Ort werden kämpfen. Viele von ihnen werden fallen. Wir als Internationalist*innen müssen lernen, das als Verpflichtung zu sehen. Wenn es eine Maxime der kurdischen Revolution gibt, die auch wir zu lernen haben, dann ist es, auf die eigenen Kräfte zu vertrauen – mögen sie auch noch so klein erscheinen.

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Über die Frauenbewegung in Afghanistan, die Rolle der Besatzungsmächte und die Abhängigkeit der internationalistischen Linken von Mainstreammedien. Ein Gespräch mit Mehmooda von der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA) .

Kannst du unseren Leser*innen einen kurzen Überblick über die Geschichte und Gegenwart deiner Organisation RAWA geben?

RAWA steht für „Revolutionary Association of Women in Afghanistan“. Die Organisation wurde 1977 von Meena Keshwar Kamal und einer Gruppe intellektueller Frauen in Afghanistan gegründet. Es handelt sich um eine unabhängige Organisation von Frauen. Wir kämpfen für Frauenrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Das war von Anfang an unser Ziel.

Ein Jahr nach der Gründung, 1978, wurde Afghanistan von sowjetischen Soldaten besetzt. Das war eine große Veränderung, denn wir denken, dass, wenn ein ganzes Land nicht frei ist, wir nicht nur über die Befreiung der Frau sprechen können. Also sind wir Teil des Widerstands geworden. Denn wie leider nicht alle wissen, begann der Widerstand gegen die russische Besatzung von demokratischer Seite, nicht von fundamentalistischer. Der Widerstand hat friedlich begonnen, und die Regierung hat viele Studierende und Lehrende der Universitäten festgenommen, viele Intellektuelle und Linke. Sie haben sie in ihre Gefängnisse gesteckt, sie haben sie gefoltert und sie haben sie getötet.

So wurden in dieser Zeit auch einige RAWA-Mitglieder von der Regierung verhaftet, da Meena, die Vorsitzende von RAWA, und andere Frauen Demonstrationen in Kabul und verschiedenen anderen Städten organisiert haben. Da die Situation für die Menschen, die gegen das Regime waren, zu dieser Zeit sehr schlecht war, flohen viele Menschen nach Pakistan und Indien. Auch RAWA hat sich dafür entschieden, nach Pakistan zu gehen. Also haben wir begonnen, mit den geflüchteten Menschen in Pakistan zu arbeiten, vor allem in Quetta und Peschawar [in Ostpakistan nahe der Grenze zu Afghanistan, d. Red.]. Das Problem war, dass unmittelbar nach der russischen Besatzung die USA und andere westliche Länder damit begonnen haben, Fundamentalisten zu unterstützen.

Und diese Fundamentalisten waren noch gefährlicher als das russische Regime. Somit waren wir in Pakistan mit großen Problemen konfrontiert, weil die pakistanische Regierung und der ISI [pakistanischer Geheimdienst] fundamentalistische Gruppen wie Abu Sajaf unterstützt hat. Wir kämpften also nicht nur gegen das russische Regime, sondern auch gegen die Fundamentalisten. Unsere Vorsitzende Meena hat erkannt, dass, wenn die Fundamentalisten die Kontrolle in Afghanistan übernehmen, die Situation noch schlechter sein würde als unter russischer Besatzung. Und weil RAWA die einzige Stimme gegen diese Fundamentalisten war, und Meena die Stimme von RAWA, haben sie beschlossen, diese Stimme verstummen zu lassen, und haben unsere Vorsitzende Meena 1987 in Pakistan ermordet.

Als wir nach Pakistan gegangen sind, haben wir in zwei Bereichen gearbeitet: im Politischen und im Sozialen. Von Anfang an war RAWA eine politische Organisation von Frauen. Denn die anderen Frauenverbände und Organisationen, die es 1977 in Afghanistan gab, drehten sich lediglich um solche Dinge, wie wie werde ich eine gute Frau, eine gute Ehefrau und Mutter, und es wurde vor allem darüber gesprochen, wie man das Haus zu putzen und zu kochen hat und wie man Kinder am besten erzieht. RAWA war die erste Organisation, die damit angefangen hat, über mehr als das zu sprechen; zu sagen, dass Frauen Teil von politischen Prozessen und Entscheidungen in Afghanistan sein können. Also sind wir eine politische Organisation, denn wir denken, dass, um die Situation der Frauen in Afghanistan zu ändern, die politische Struktur geändert werden muss.

Doch als wir in Pakistan waren, haben wir angefangen, in beiden Bereichen zu arbeiten. Denn geflüchtete Frauen brauchten vor allem soziale Aktivitäten, Schulen, Waisenhäuser, Krankenhäuser. Durch diese Projekte konnten wir in Kontakt mit Frauen treten.

Nach der Ermordung unserer Vorsitzenden haben wir nicht aufgehört, ihrem Weg zu folgen. Denn RAWA war nicht Meena, RAWA war und ist eine Organisation. Sie hat sie angeführt, doch andere Mitglieder hatten auch etwas zu sagen und wollten weitermachen. Und trotz all der Schwierigkeiten haben wir auch weitergemacht, auch in Afghanistan waren wir aktiv. Hier jedoch waren wir von der ersten Minute an nur im Untergrund tätig. Selbst während der Zeit der Taliban, als die Fundamentalisten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1992 die Kontrolle in Afghanistan übernahmen, war RAWA die einzige Organisation, die Berichte und Bilder aus den Städten schickte. Denn während dieser Zeit haben sämtlichen Medien und internationale Organisationen das Land verlassen. Afghanistan war vergessen. Aber wir haben dort weitergearbeitet, wir haben die Verbrechen der Taliban dokumentiert und weiterhin Frauen organisiert. Alle Schulen für Frauen waren geschlossen; also hat RAWA im Untergrund Bildung organisiert, überall im Land. Das war unsere Form des Kampfes, so haben wir uns am Leben erhalten.

Wir waren erneut mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert, denn die Taliban und auch die Jihaddisten, die anderen Fundamentalisten, wussten, dass RAWA als einzige Organisation sehr klar und sehr stark gegen sie agiert. Außerdem war es für sie kaum zu verstehen, dass ausgerechnet Frauen Widerstand leisten. Also haben sie immer wieder versucht, uns zu stoppen, indem sie uns verfolgten und unsere Mitglieder verhaften ließen.

Desweiteren war RAWA nach dem Kollaps des Taliban-Regimes mit vielleicht ein paar anderen demokratischen Parteien die einzige Organisation, die klar gesagt hat, dass mit US-amerikanischer Besatzung nichts verändert werden wird. Denn die USA sind Imperialisten, und Imperialisten werden einer Nation nicht zur Freiheit verhelfen. Natürlich sind die Taliban ein diktatorisches Regime gewesen und sie mussten entmachtet werden. Aber das muss in der Hand der afghanischen Bevölkerung liegen, nicht in der der USA oder der anderer westlicher Staaten. Es ist nicht ihre Aufgabe, uns Demokratie und Frauenrechte zu geben.

Seitdem und bis heute arbeiten wir in Afghanistan, wegen der Situation, leider immer noch im Untergrund. Als wir noch in Pakistan waren, konnten wir offener arbeiten und zum Beispiel Demonstrationen veranstalten.

Unsere politische Arbeit besteht vor allem aus der Bildung von Mädchen und jungen Frauen – aber immer im Untergrund. Auch machen wir Veranstaltungen, feiern zum Beispiel Frauen- und Menschenrechte. Diese Veranstaltungen müssen wir mit anderen demokratischen Organisationen zusammen machen, die offen arbeiten können. Wir arbeiten mit ihnen, wenn sie beispielsweise Demonstrationen organisieren, aber nicht unter dem Namen RAWA. Dasselbe gilt aus Sicherheitsgründen für unsere Arbeit im Sozialen Bereich.

Ihr arbeitet nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land. Wie gestaltet sich diese Arbeit und wie weit ist die Bevölkerung dort vom Fundamentalismus geprägt?

In den Städten arbeiten wir eher mit intellektuellen Frauen wie zum Beispiel Studentinnen und Lehrerinnen, Frauen, die lesen und schreiben können. Wir versuchen, sie für Aktionen und Demonstrationen gegen die Besatzung der USA und gegen die Fundamentalisten zu mobilisieren. In den Dörfern haben wir mehr soziale Projekte. Unsere Projekte sind anders als die von anderen Organisationen, die vor allem Geld damit machen wollen. Wir dagegen arbeiten mit sehr wenig Geld, und worum es uns geht ist, mit den Menschen gemeinsam zu arbeiten. In den Dörfern ist es sehr wichtig, unter den Leuten zu sein. Denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass es zu Zeiten der russischen Besatzung eine große linke Bewegung gab. Da diese stark verfolgt wurde, sind viele dieser Menschen nach Europa geflohen. Dort sind sie einfach verschwunden. Aber der Grund, dass RAWA weiterhin existiert, ist, dass wir nicht versuchen, aus dem Land zu fliehen. Wir wollen mit und unter den Menschen sein. Wenn du kämpfen willst, musst du in der Bevölkerung sein, und der beste Ort für eine revolutionäre Organisierung sind die Dörfer; in den Dörfern vertrauen dir die Leute, und du kannst den Leuten ebenfalls vertrauen. Wenn du das Vertrauen der dörflichen Bevölkerung erst einmal gewonnen hast, werden diese Menschen dich um jeden Preis verteidigen. Außerdem wollen wir genau diese Menschen mobilisieren, denn die soziale Ungleichheit betrifft vor allem die Leute in den Dörfern. Heute sind die meisten Dörfer unter der Kontrolle der Taliban, ISIS oder anderer Jihaddisten – wir wollen genau dort sein, mit diesen Frauen arbeiten und sie gegen diese Kontrolle mobilisieren. Die Menschen haben weniger Möglichkeiten und weniger Zugang, also brauchen sie auch mehr Unterstützung. Das ist gut für sie, und das ist gut für uns. Mit diesen Menschen können wir die Revolution machen. Wir dürfen uns nicht nur auf die Städte konzentrieren. Auch ist es so, dass es in den Städten viele Spione gibt, die dich innerhalb kürzester Zeit fertig machen können. In den Dörfern jedoch ist es einfacher, zu überleben – auch deswegen sind wir dort.

Du hast gesagt, dass ihr auch politischen Unterricht organisiert und dass RAWA eine explizit politische Organisation ist. Was unterrichtet ihr?

RAWA ist eine demokratische, säkulare Organisation. Offiziell sind wir keine Marxistinnen, dennoch arbeiten wir mit Marxistinnen zusammen, die sehr willkommen sind. Wir sind nicht anti-marxistisch, wir haben keine Angst vor dem Marxismus und denken auch nicht, er könne in Afghanistan nicht funktionieren. Aber die Situation in Afghanistan bedingt, dass wir erst einmal eine demokratische Veränderung brauchen. Das ist für uns im Moment das Wichtigste. In unseren Klassen sprechen wir über verschiedene Dinge, vor allem über die aktuelle Situation. Denn leider ist die afghanische Bevölkerung, mit diesen Medien und der imperialistischen Besatzung, beinahe apolitisch geworden. Die Menschen versuchen erst mal, nach sich selbst zu schauen, oder sie sind stark beeinflusst von den Medien. Unser Versuch ist es, den Menschen vor allem zwei Dinge nahezubringen; erstens, dass diese „Friedensgespräche“ nicht wirklich solche sind. Wir sprechen über die imperialistischen Pläne für unser Land und versuchen, die Menschen für den Widerstand zu organisieren, sie für Demonstrationen zu mobilisieren und sie dazu zu bringen, ihre Stimmen zu erheben. Aber natürlich lesen wir auch manchmal marxistische Bücher, denn es handelt sich um eine Ideologie, die in manchen Ländern funktionieren kann und manche Menschen, auch manche unserer Mitglieder, denken, der Marxismus sei der einzige Weg, uns zu befreien. Auch lesen wir Bücher über den Iran, zum Beispiel Bücher von Frauen in den dortigen Gefängnissen, schauen Filme oder sprechen über die Politik in Kobanê und Afrin. Denn in einem Land wie Afghanistan müssen wir uns auch Beispiele aus anderen Ländern anschauen. Wenn du mit einer Kultur aufwächst, die dir beibringt, dass Frauen die Hausarbeit machen müssen, dass sie Mutter, Schwester oder gute Ehefrau sein müssen, dann ist es wichtig, Frauen zu ermutigen und ihnen andere Perspektiven beizubringen. Vielleicht macht das für europäische Länder nicht so viel Sinn, aber in unserer Situation funktioniert das sehr gut. Andere Bildung zu erhalten, in einer Gesellschaft, die dir erzählt, Frauen können nur diese kleinen Dinge tun, und sie könnten nur Lehrerinnen, Mutter oder Gynäkologin werden. Wir müssen ihnen eine andere Bildung verschaffen. Das Hauptthema unserer Bildung ist also genau das.

Wie ist eure Selbstverteidigungsstruktur, wie verteidigt ihr euch gegen all die Schwierigkeiten, mit denen ihr konfrontiert seid?

Das Einzige ist, dass wir im Untergrund arbeiten. Natürlich hat diese Untergrundarbeit ihre eigenen Regeln; wir können nicht offen darüber sprechen, was wir tun. Wir ändern unsere Namen, unseren Wohnort regelmäßig. RAWA-Mitglieder ziehen oft in andere Städte, Provinzen oder gehen eine Weile komplett in den Untergrund. Auch können wir elektronische Kommunikationsmittel wie Handys und das Internet nicht für unseren Austausch nutzen. Und vielleicht ist die Burka für Frauen nicht wirklich gut, aber in unserem Fall können wir sie nutzen, um uns selbst zu schützen, vor allem wenn wir in die Dörfer gehen. Wenn du dort eine Burka anziehst, werden dich die Menschen nicht erkennen. Wichtig sind vor allem unsere Verbündeten, Menschen, denen wir vertrauen können und umgekehrt. Diese Beziehungen helfen enorm, dich zu schützen.

Wie schafft ihr es Demonstrationen nur von Frauen zu organisieren, während zur selben Zeit Bombardierungen stattfinden.

Diese Demonstrationen finden nicht unter dem Name RAWA statt und werden nicht von RAWA, sondern von anderen demokratischen Gruppen organisiert. Sie werden dann bei der Regierung registriert, die diese dann auch schützen muss, aber natürlich vertraut niemand der Polizei. Es gibt zwar auch einzelne Verbindungen zu ihnen, die helfen können, aber natürlich haben RAWA und andere demokratische Organisationen in Afghanistan ihre eigenen Verteidigungsstrukturen.

Vielleicht siehst du sie nicht sofort, aber wenn etwas passiert, sind sie da. Wenn wir zum Beispiel zu Demonstrationen gehen, wird das Gelände ein paar Tage vorher angeguckt, mit den Leuten in den Läden gesprochen, zu denen es gute Verbindungen gibt, und durch sie können dann Informationen gesammelt werden. So arbeiten wir also in etwa, aus Sicherheitsgründen kann ich da leider nicht weiter ins Detail gehen.

Könntest du vielleicht noch ein bisschen mehr über die Situation der US-Besatzung und der Verbindung zu den Fundamentalisten erzählen?

Wie ich bereits gesagt habe, sind all diese fundamentalistischen Gruppen nichts als die Söhne der USA. Denn wir wissen, dass die Vereinigten Staaten sie in den 80er-Jahren unterstützt und bewaffnet haben, um gegen die Sowjetunion zu kämpfen. Aber jetzt gibt es andere Pläne für die Region. Afghanistan ist für alle diese Kräfte aus Gründen der strategischen Lage sehr wichtig. Aber auch aus anderen Gründen, wie Opium oder Waffenhandel und den natürlichen Ressourcen. All die Großmächte, die USA, Russland und jetzt auch China, kämpfen um ihre Vormachtstellung. Die Fundamentalisten sind die Söhne der USA. Sie wurden von ihnen etabliert und sie wurden und werden von ihnen unterstützt. Nach dem Kollaps der Taliban, waren die Jihaddisten nicht gerade mächtig. Aber die USA haben 2001, als sie eine sogenannte demokratische Regierung in Afghanistan errichten wollten, die Jihaddisten an die Macht gebracht.

Und wir sagen immer, dass diese Regierung sogar noch terroristischer ist als die Taliban. Ihre Mentalität, ihre Gedanken sind genau dieselben. Aber die USA hat sie zu Demokraten erklärt. Sie wollen eine demokratische Regierung mit diesen undemokratischen Menschen errichten, mit Frauenfeinden. Diese Jihaddisten sind also nun an der Macht in Afghanistan. Alle von ihnen haben Kriegsverbrechen begangen, aber ohne jegliches Verfahren, ohne Fragen gestellt zu bekommen, kamen sie durch die USA an die Macht. Das, was 2001 mit den Jihaddisten passiert ist, passiert nun mit den Taliban. Sie sprechen mit den Taliban und sie nennen es Friedensverhandlungen, aber das sind keine Friedensverhandlungen, das sind politische Deals. Über die Opfer wird nicht gesprochen. Die Taliban attackiert Menschen, sie haben Tausende Unschuldige getötet. Gerade einmal vor ein paar Tagen gab es einen Anschlag, zwei Tage später wieder, kurz darauf ein neuer. Bei jeder Attacke ermorden sie über hundert Menschen. Und zu dieser Zeit werden dann solche Friedensverhandlungen geführt, und dort wird über alles gesprochen, nur nicht über Kriegsverbrechen. Und befragt man sie dazu, antworten sie, naja, in Afghanistan sind eben alle Menschen Kriminelle. Die Taliban sind ebenfalls Kriminelle, also können sie eben auch regieren. Aber die Wahrheit ist, dass die USA eine Marionettenregierung konstituieren will – mit all diesen Verbrechern. Das Einzige, was ihnen wichtig ist, ist die Wirtschaft und ihre strategischen Interessen. Die Menschen in Afghanistan spielen keine Rolle.

Wir sehen, dass es eine große Verbindung gibt zwischen den USA und den Fundamentalisten. Also sagen wir, dass der einzige Weg, diese Krise zu beenden, der ist, beide Akteure zu bekämpfen; sowohl die Besatzung Afghanistans durch die USA und die NATO als auch die Taliban, die Jihaddisten, ISIS und all die anderen.

Am Anfang der Besatzung Afghanistans, als Deutschland Teil der Besatzung war, gab es eine Rede im Deutschen Parlament, und einer der Abgeordneten sagte, dass die deutsche Freiheit auch in Afghanistan verteidigt werden würde. Haben die deutschen Truppen eine besondere Rolle im Krieg eingenommen?

Wie du bereits gesagt hast, war Deutschland zu Beginn des Krieges in Afghanistan involviert. Deutsche Truppen waren vor allem im Norden des Landes aktiv. Es ist offensichtlich, dass auch sie Verbrechen begangen haben – es gab beispielsweise Bombardierungen, bei denen Unschuldige getötet wurden. Aber seit etwa einem Jahr ist Deutschland nicht mehr so sehr involviert, sowie andere europäische Staaten auch. Nun sind es vor allem die USA; sie sagen zwar, es handele sich um die NATO, aber eigentlich sind es vor allem US-Amerikanische Truppen. Das liegt aber nicht daran, dass Deutschland so besonders friedlich ist. Es geht um imperialistische Interessenkonflikte.

Jeder der Beteiligten will mehr – und die USA lässt das nicht zu. Also sind sie heute nicht mehr so aktiv in Afghanistan, denn es passt ihnen nicht, dass sie nicht mehr Macht abbekommen. Trotzdem unterstützt die deutsche Regierung weiterhin die korrupte afghanische Regierung.

Wir können uns die Situation der geflüchteten Menschen hier anschauen. Viele fliehen vor dem Krieg, und sie landen hier in Deutschland, vor allem junge Menschen. Aber sie werden zurück nach Afghanistan abgeschoben und es wird als „sicheres Herkunftsland“ benannt. Es ist absurd, Afghanistan als einen sicheren Ort zu bezeichnen. Nur muss Deutschland das tun, da sie die afghanische Regierung unterstützen. Sie unterstützen damit aber eine der korruptesten Regierungen der Welt, geben ihnen Geld und lassen die Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, im Stich.

Kannst du uns noch mehr über die Situation der Frauen in Afghanistan erzählen und darüber, wie die Organisierung von Frauen eine Basis für eine Veränderung darstellt?

Leider wird die Situation der Frauen jeden Tag schlechter. Einer der Gründe des Krieges, den die USA begonnen hat, war, dass sie gesagt haben, sie müssten die Frauen befreien. Für uns, als eine Organisation von Frauen, war von Anfang an klar, dass das nur eine Ausrede war, um den Krieg zu beginnen. Sie haben die Situation der Frauen missbraucht.

Aber wie ich vorher sagte, haben sie selbst die Frauenfeinde an die Macht gebracht, sie selbst haben diese Regierung kreiert. Du kannst nicht Frauenfeinde in eine Regierung setzen und dann erwarten, dass sie Frauenrechte respektieren und etablieren, das ist nicht möglich. Manchmal propagieren sie auch, dass sich die Dinge in Afghanistan ändern, und listen ein paar Beispiele auf. Diese Beispiele sind aber wenige, und sie zeigen sie nur zu Legitimationszwecken.

Aber die reale Situation ist eine andere, insbesondere in den Dörfern. Die Lage der Frauen dort ist sehr hart, da die fundamentalistischen Gruppen vor allem in den Dörfern viel Macht haben. Sie sind involviert in viele Verbrechen und Gewalt gegen Frauen; es gibt viele Fälle von Vergewaltigung, sexualisierter Gewalt, Zwangsheirat. Aber niemand redet darüber, denn die, die diese Verbrechen begehen, sind die, die Geld, Waffen und Macht von der US-Regierung erhalten, um gegen die Taliban zu kämpfen. Wir sagen, dass es unmöglich ist, die Frauen eines Landes mit fremder Besatzung zu befreien, mit Bombardierungen. Es liegt in der Verantwortung afghanischer Frauen, für ihre Befreiung selber zu kämpfen. Heute sagen sie, sie hätten Angst, dass die Errungenschaften für Frauen in Afghanistan wieder verschwinden könnten. Und ja, warum werden sie wieder verschwinden? Weil sie einfach so aus dem Nichts gebracht wurden. Afghanische Frauen werden nicht für diese Errungenschaften kämpfen. Wenn die Menschen für etwas gekämpft haben, ist es schwierig, das Erkämpfte wieder zu verlieren. Doch wenn etwas nur etabliert wurde, obwohl niemand dafür gekämpft hat, ist es ganz schnell auch wieder verloren. Also werden sie Deals mit der Taliban machen, und sie werden die Rechte der Frauen opfern, denn für sie sind Dinge wie ihre Interessen, strategisch sowie ökonomisch, wichtiger als die Rechte der Frauen und Menschenrechte allgemein.

Gibt es eine internationalistische Bewegung in Afghanistan oder bekommt ihr Unterstützung von Internationalist*innen, sowohl heute als auch in der Geschichte?

Leider ist Afghanistan so etwas wie ein vergessener Fleck auf der Landkarte. Die USA unterstützen die Fundamentalist*innen, ebenso wie Saudi-Arabien, Pakistan, Iran. Die demokratischen Gruppen bekommen solche Unterstützung nicht.

RAWA als Organisation steht zur Zeit vielen Problemen gegenüber, zum Beispiel was die Sicherheit, aber auch das Finanzielle angeht, ebenfalls wegen der geringen Unterstützung von Internationalist*innen. Wir haben ein paar Soli-Gruppen in den USA, Italien, Japan und Deutschland, aber die Menschen in Europa und den USA, allgemein in westlichen Staaten, sind stark beeinflusst von den Medien. Wenn die Medien nicht über eine Sache sprechen, dann gibt es auch keinerlei Interesse dafür. Selbst Linke sind stark beeinflusst von diesen Medien.

Heutzutage werden die Medien dieser Länder nicht über Afghanistan berichten, denn es heißt, mit Afghanistan ist jetzt alles in Ordnung, die Frauen sind frei oder wenn sie es noch nicht sind, dann wollen sie es wohl auch nicht anders. Deswegen versuchen selbst die Linken nicht, mehr über die Situation dieses Landes zu erfahren. Aber gerade Unterstützung aus anderen Ländern ist sehr wichtig für eine Bewegung. Ich rede gar nicht über die finanzielle Unterstützung, ich rede von der politischen Unterstützung. Insbesondere in europäischen Ländern könnte der Bewegung eine Stimme gegeben werden; aber wir haben in den letzten Jahren keine Demonstrationen zu Afghanistan gesehen. Die USA haben Afghanistan 2001 bombardiert. In diesem Jahr gab es ein paar Demonstrationen; aber nicht im Ansatz so viele wie während des Irakkriegs. Sie legitimieren ihre Kriege und teilen ein in Gut und Böse, selbst die Linken tun das. Sie sagen, das ist ein guter Krieg, denn wir kämpfen schließlich gegen das Böse, die Taliban. Aber es gibt keinen guten und schlechten Krieg. Alle Kriege sind imperialistische Kriege, die wegen finanzieller und ökonomischer Interessen geführt werden.

Wir sagen also unseren Genoss*innen hier in Deutschland und anderen Ländern: Denkt nach, versucht die Realität in anderen Ländern zu sehen und nutzt andere als die Mainstream-Medien. Denn die vertreten nur die Interessen der Imperialisten und Großmächte.

# Interview: Hubert Maulhofer

# Übersetzt aus dem Englischen

# Titelbild: Eine RAWA-Frauendemonstration in Afghanistan

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Über die Kriegsdrohungen gegen Teheran, die Arbeiterbewegung im Iran und die Perspektive eines sozialistischen Wegs im Iran. Ein Gespräch mit Bahram Ghadimi

#Bahram Ghadimi ist Mitglied des iranischen Kollektivs »Andeesheh va Peykar« (Gedanke und Kampf). Das Kollektiv sieht sich als Fortführung jener kritischen Bewegung, die in den 1960er-Jahren mit der Gründung der »Organisation der Volksmudjahedin des Irans« begann, sich zu »Volksmudjahedin-ML« weiter entwickelte und zuletzt in die „Organisation des Kampfes für die Freiheit der Arbeiterklasse (Peykar)“ mündete. Innere Krisen und die Repression in der islamischen Republik brachten „Peykar“ jedoch zum Schweigen. »Andeesheh va Peykar« gründete sich mit dem Ziel, Auswege und Lösungen für die Lage im Iran zu Finden. Es durchlief theoretische Reflexionsprozesse und legte seinen Fokus auf die Verbreitung der Erfahrungen der Kämpfe des palästinensischen Volkes, der lateinamerikanischen Arbeiterbewegung und der Zapatistas in Mexiko.

In den vergangenen Monaten verschärfte sich die Kriegsrhetorik der USA gegen den Iran zunehmen. Denkst du, eine militärische Intervention ist realistisch? Welche Strategie verfolgt Washington?

Bevor ich antworte, muss ich sagen, dass wir diese Frage noch nicht näher in unserem Kollektiv diskutiert haben. Aber auch das zeigt, dass wir die Möglichkeit eines Kriegs noch nicht wirklich ernst nehmen. Das Gefühl, dass es tatsächlich zum Krieg kommen wird, ist bei uns noch nicht da. Wir sind aber keine Wahrsager. Im Moment zu sagen, ob es zu einer Intervention kommt oder nicht, ist reine Spekulation. Wir kennen die internen Diskussionen der US-Administration und der iranischen Regierung nicht.

Die Spannungen, die aktuell existieren, scheinen sich eher in Richtung Verhandlungen zu entwickeln. Es geht darum, dass die USA den Iran vermehrt unter Druck setzen wollen, um bestimmte Vorteile an anderer Stelle zu erhalten. Dabei kann es um die Konkurrenz zwischen Iran, Israel und Saudi-Arabien um die Vorherrschaft im Mittleren Osten gehen. Denn die wirtschaftlichen Interessen dieses Dreiecks sind manchmal übereinstimmend – zum Beispiel wie es unter dem Schah zwischen Iran und Israel der Fall war -, häufiger jedoch konkurrieren sie. Deswegen denke ich, dass die USA in der jetzigen Lage den Iran aus gewissen Gebieten herausdrängen wollen: Aus Syrien, dem Jemen oder auch aus dem Libanon. Das scheint mir im Moment eher das Ziel und weniger ein wirklicher Krieg. Nicht desto trotz, müssen wir uns immer wieder an den den bekannten Satz von Clausewitz erinnern: Der Krieg ist die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln.

Es bedeutet, auch der Staat bleibt der gleiche, vor dem Krieg, währenddessen und danach. Aber egal, ob es zum offenen Krieg kommt oder nicht: beide Staaten, sowohl die USA als auch die Islamische Republik, sind reaktionär und müssen bekämpft werden. Und zwar nicht erst, wenn der Krieg beginnt, sondern jetzt!

Diese Frage bringt mich aber auch zu einer anderen Überlegung. Als ich noch jung war, war das erste, was uns in den Sinn kam, wenn wir vom Krieg geredet haben,Vietnam oder Korea und darin die Frage des Widerstands gegen den Krieg. Wie waren gegen den Krieg, weil es einen Befreiungskampf gab, den wir unterstützten. Gleiches galt z.B für den Befreiungskampf in El Salvador und Nicaragua. Es gab immer eine Seite, die einen emanzipatorischen Moment hatte. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Schwächung der Befreiungskämpfe stehen auf beiden Seiten meist nationale Interessen, die aber nichts mit Klassenkämpfen und emanzipatorischen Momenten zu tun haben. Das Problem liegt in dem qualitativen Unterschied zwischen diesen zwei Arten von Kriegen und ihrer Vermischung bzw. Verwechslung miteinander. So dass man manchmal wie z.B damals als der Irakkrieg losging, sah dass viele Linke sich auf die Seite Saddam Husseins stellten, um ihn gegen den US-Imperialismus zu unterstützen.

Wie stellt sich die revolutionäre Linke im Iran zu den Angriffen der USA?

Das ist abhängig davon, welchen Teil dieser Linken man fragt. Es gibt im Iran eine traditionelle Linke, von der tatsächlich nur noch Überreste existieren. Im Iran besteht sie nach ihrer Zerschlagung nicht mehr in Form von Organisationen oder Parteien. Im Ausland gibt es Gruppen, die sich gerne so darstellen, als ob sie im Land eine größere Basis hätten.

Ich möchte gerne in diesem Zusammenhang an die 80’er und dem Krieg zwischen Iran und Irak erinnern. Zu jener Zeit, als der Krieg losging, existierte eine ernstzunehmende Opposition zur iranischen Regierung aus vor allem linken Gruppen. Es gab aber auch Gruppierungen, die sich Kommunisten nannten, aber de facto für die Islamische Republik waren, so wie die an der Sowjetunion orientierte Tudeh-Partei oder die Volksfedayin (Mehrheit). Diese gingen tatsächlich so weit mit der Islamischen Republik zu kollaborieren und für sie zu spionieren. Als es zum Krieg kam, waren sie natürlich auf der Regierungsseite. Aber nicht nur sie, auch viele Maoisten, Trotzkisten und die Volksmujahedin verfielen in eine Art nationalistische Positionierung. Sie unterstützten die iranischen Streitkräfte oder formierten ihre eigenen unabhängigen Verbände an der Front gegen den Irak.

Die Politik zu dieser Zeit war so, dass zumindest in den ersten Kriegstagen die einzige größere Organisation, die den Krieg boykottiert hat, die »Peykar« (1) war. Die Position von Peykar war damals, dass das iranische Volk in keinen von reaktionären Staaten geführten Kriege gegen ihre irakischen Brüder und Schwestern treten solle. Dafür wurde Peykar nicht nur von der Regierung, sondern auch von anderen Linken angegriffen. Unter vielen Peykaris gab es wahrscheinlich genau so viele nationalistische Neigungen wie in allen anderen Organisationen. Nur ging es viel mehr darum, zu schauen, was unser Verhältnis zum Volk ist und was unser Verhältnis zu den Mächtigen. Wenn man im Kampf der Mächte zwischen Pest und Cholera eine Entscheidung treffen muss, kann man sich natürlich für eine Seite entscheiden. Oder man wählt einen dritten Weg und sagt: Ich bin gegen den Krieg und stehe gegen beide Staaten!

Auch heute müssen wir darauf achten, dass wir, wenn wir über Imperialismus sprechen, uns Gedanken machen worüber wir genau reden. Imperialismus stellt eine bestimmte Form des Kapitalismus dar. Also anders formuliert, ergibt sich dann die Frage: Auf welcher Seite stehen wir im Krieg zwischen dem kapitalistischen Staat USA und dem kapitalistischen Staat Iran? Egal, wie wir uns entscheiden, entscheiden wir uns für das kapitalistische System. Deswegen denke ich, im Falle eines solchen Krieges, muss sich die Linke entscheiden, will sie für den Kapitalismus eine Seite ergreifen, oder sieht man in der Gesellschaft Kräfte, auf deren Seite man kämpfen sollte.

Man könnte eine Brücke schlagen und sich fragen: Was passiert, wenn so ein Krieg losgeht? Dann kann man sich auch besser entscheiden. Seit Jahrzehnten bewegt sich die Arbeiterbewegung im Iran auf der Ebene defensiver Kämpfe. Besonders nach der Niederschlagung der linken und oppositionellen Bewegung zwischen 1980 und 1988 mit Massenhinrichtungen und dem Ausnahmezustand, war die Gesellschaft quasi paralysiert.

Diese Situation hat sich seit der Zeit von Rafsanjani, Ahmadinedjad und Mousavi, als sich Privatisierung und Neoliberalisierung des Kapitals im Iran durchgesetzt haben, gehalten. Das bezieht sich dabei nicht nur auf die linke Bewegung, sondern auch auf die Kämpfe der Völker im Iran – Araber, Baluchis, Turkemenen, Kurden. Die iranische Regierung hat den Krieg genutzt, um all diese Bewegungen als sogenannte Fünfte Kolonne des Feindes zu denunzieren und zu zerschlagen. In den letzten 3- 4 Jahren haben sich aber andere Kämpfe im Iran entwickelt.

Deshalb würde ich sagen, die Linke im Iran, so klein wie sie auch sein mag, hat Partei ergriffen und steht an der Seite der Arbeiterklasse. Am 1. Mai haben vier Organisationen – die Bussfahrergewerkschaft von Vahed, die Gewerkschaft von Haft-Tapeh, die Rentner Union und das Koordinationskomitee zur Unterstützung des Aufbaus der Arbeiterorganisationen – in einem 15-Punkte-Kommuniqué u.a. gegen jeglichen Besatzungskrieg gegen alle Völker der Welt ausgesprochen. Die restlichen Forderungen richten sich gegen die eigene Regierung.

Du hast von Kräften in der Bevölkerung gesprochen, an deren Seite man kämpfen kann. Welche Kämpfe gibt es derzeit konkret?

Wie ich eben gesagt habe – die Kämpfe sind offensiver geworden, in dem Sinne, dass die Arbeiterbewegung sich aktuell auch Alternativen schafft. Es kann sein, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter von Haft Tapeh aus Ohnmacht gegenüber ihrer Situation zu diesen Aktionen übergegangen sind, aber war es bei den ArbeiterInnen von Zanon, Impa, oder Bruckmann in Argentinien anderes?

Die Aufstände, die im Dezember 2017 und Januar 2018 anfingen, haben eine neue Dimension der Kämpfe im Iran eröffnet. Vielleicht vergleichbar mit der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich. Es war nicht nur die Arbeiterklasse, die auf die Straßen ging, sondern auch diejenigen, die über jedes Maß hinaus ausgebeutet und dann von allem ausgeschlossen, quasi weggeworfen worden sind: Die sog. „Einweg-Arbeiter“. Diese Klasse ist vor allem vorletztes Jahr auf die Straße gegangen und interessant dabei war, dass sie keine Führer hatten, keinen Chef und auch keine Organisation. Ich bin mir der Notwendigkeit einer Organisierung in einem langfristigen Kampf sehr bewusst. Dies ist auch das Resultat vieler Erfahrungen, u.a. der zapatistischen Bewegung in Chiapas. Ohne eine Organisation wäre die Widerstand im Süd-Osten Mexikos unmöglich.

Während in der Regel die Nichtexistenz einer Organisation ein Nachteil ist, war es aber in diesem spezifischem Moment im Iran ein Vorteil, weil niemand durch Festnahmen oder Bestechungen die Bewegung beenden konnte. Diese Bewegung, die von ganz unten aufgestanden war, ist heute wie eine Glut, die unter der Asche begraben ist. Ihre Erfahrungen sind in die Kämpfe der StahlarbeiterInnen von Ahvaz eingegangen. Zum ersten Mal sehen wir, dass die ArbeiterInnen in Ahvaz sich solidarisieren mit streikenden Lehrern in Teheran.

Dann gibt es die Kämpfe und Streiks der Zuckerproduktion von Hafttapeh im Süden Irans und wir sehen, dass viele ihrer taktischen Schritte an die Arbeitskämpfe in Argentinien erinnern. Es gibt Videomaterial von den Führern dieser Arbeiterbewegung wie z.B Herr Bakhschi, der zur Zeit im Gefängnis ist, der auf einer Versammlung redet und die Besetzung der Fabrik vorschlägt. Sie sprechen vom Räteaufbau und Räteorganisationsmodellen. Das sind Dinge, die vor ein paar Jahren unvorstellbar waren im Iran.

Gehen wir jetzt zurück zu der Frage, was passieren wird wenn der Krieg losgeht. In erster Linie werden all diese Bewegungen beschuldigt werden, die 5. Kolonne des US-Imperialismus zu sein. Und sie werden noch härter angegriffen werden. Somit hat der Krieg für die iranische Regierung einige Vorteile, um sich noch handfester gegen die eigene Bevölkerung durchzusetzen.

Die internationale Linke muss entscheiden, ob sie sich auf die Seite einer dieser Staaten stellen will, oder den Spieß umdreht und sagt: unser Subjekt ist die Bevölkerung, um sich nicht nur auf die Arbeiterklasse zu beschränken. Die Armen, die Ausgebeuteten, diejenigen, die nicht die oberen 1% bilden. Mit einer solchen Perspektive macht es dann keinen Unterschied, ob ein Rafsanjani die Leute niedermetzelt oder Bush, ob es Trump ist oder Rohani. Es geht dann darum, etwas von unten aufzubauen. Zweifellos muss die Linke gegen jeglichen Besatzungskrieg, gegen jegliche Art von Ausbeutung, Apartheid und Sexismus sein. Ich will damit betonen das es in dieser Situation keine schlimmere Seite gibt. Unser Kampf gegen Vernichtungskriege hat seinen eigenen Stempel.

Was erwartest du von einer internationalistischen Linken in Deutschland?

Ich glaube, man kann nicht nur als Stellvertreter für Iran oder Kurdistan, Mexiko oder irgendein anderes Land in Deutschland kämpfen. Doch Deutschland hat auch Mitverantwortung für die Kriege im Mittleren Osten, etwa, wenn wir uns die Waffenindustrie ansehen. Wenn wir hier etwas machen wollen, müssen wir z.B. gegen Rheinmetall mobilisieren. Der Krieg beginnt hier! Aber auch gegen die Innen- und Außenpolitik der EU müssen wir uns organisieren. Selbst wenn wir im Falle eines Angriffs für die Bevölkerung im Iran wenig tun können, müssen wir uns mit allen Mitteln gegen diese Kriege wehren.

Für uns sind die tatsächlichen Bewegungen von unten im Iran wichtig. Die Arbeiterbewegung, die kämpfenden Frauen und die kämpfenden Völker im Iran werden jeden Tag niedergemetzelt, nicht nur seit 40, sondern seit über 100 Jahren. Es hat keinen Unterschied gemacht, wer an der Macht war, ob Schah oder Khomeini, für die Bevölkerung änderte es nichts, weil das System stets das gleiche kapitalistische System blieb. Also entweder unterstützen wir eine Kriegsseite gegen die andere, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse anzurühren. Oder wir stehen ein für eine soziale Revolution, dann hat der Krieg darin keinen Platz.

#Interview: Peter Schaber und Yoldas Paramaz

#Bildquelle: http://wpiran.org/english/four-sections-haft-tapeh-sugar-cane-workers-iran-strike-unpaid-wages-job-insecurity/

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Zwei Antifaschist*innen aus Deutschland sind letztes Jahr an der US-Westküste entlang gefahren. In sieben Städten haben sie Vorträge über die antifaschistische Bewegung in Deutschland gehalten und dort unterschiedliche Menschen getroffen: Von der jungen Basisgewerkschafterin zum Knast-Soli-Opa, von der Queer-Aktivist*in in der Kleinstadt bis zur maoistischen Straßengang in LA. Pünktlich zum Relaunch erscheint im Lower Class Magazine eine dreiteilige Artikelserie zu ihren Erlebnissen. Die Artikelserie bildet nicht die gesamte antifaschistische Bewegung in den USA ab, sondern beschränkt sich auf die Gruppen und deren Strategien, die unsere Autor*innen besucht haben.

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Zwei Antifaschist*innen aus Deutschland sind letztes Jahr an der US-Westküste entlang gefahren. In sieben Städten haben sie Vorträge über die antifaschistische Bewegung in Deutschland gehalten und dort unterschiedliche Menschen getroffen: Von der jungen Basisgewerkschafterin zum Knast-Soli-Opa, von der Queer-Aktivist*in in der Kleinstadt bis zur maoistischen Straßengang in LA. Pünktlich zum Relaunch erscheint im Lower Class Magazine eine dreiteilige Artikelserie zu ihren Erlebnissen. Die Artikelserie bildet nicht die gesamte antifaschistische Bewegung in den USA ab, sondern beschränkt sich auf die Gruppen und deren Strategien, die unsere Autor*innen besucht haben.

Der erste Artikel beleuchtete Antifagruppen, die nach europäischem Vorbild arbeiten. Im zweiten Artikel werden die Herausforderungen, die die modernisierte faschistische Bewegung für antifaschistische Arbeit in den USA bedeutet diskutiert. Abschließen geht es im dritten Artikel um die Polizei als Institution und die gesellschaftlichen Verhältnisse, welche diese, vor allem in den USA so gefährlich macht.

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Zwei Antifaschist*innen aus Deutschland sind letztes Jahr an der US-Westküste entlang gefahren. In sieben Städten haben sie Vorträge über die antifaschistische Bewegung in Deutschland gehalten und dort unterschiedliche Menschen getroffen: Von der jungen Basisgewerkschafterin zum Knast-Soli-Opa, von der Queer-Aktivist*in in der Kleinstadt bis zur maoistischen Straßengang in LA. Pünktlich zum Relaunch erscheint im Lower Class Magazine eine dreiteilige Artikelserie zu ihren Erlebnissen. Die Serie bildet nicht die gesamte Antifaschistische Bewegung in den USA ab, sondern beschränkt sich auf die Gruppen und deren Strategien, die unsere Autor*innen besucht haben.

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Cemil Bayik ist Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Co-Vorsitzender des Exekutivrats der Koma Civakên Kurdistan (KCK). Im zweiten Teil des Interviews spricht er über die drohende Invasion Rojavas durch die Türkei, den Stand der Verhandlungen zwischen der Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyriens und der syrischen Regierung und die Transformation der HPG und YJA-Star zur „Siegesguerilla“.
Teil 1 des Interviews kann hier nachgelesen werden. (mehr …)

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