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Das Ende des unipolaren Menschenrechtsimperialismus während der Trump-Ära.

Es wäre falsch, in schlechter bürgerlicher Tradition dem scheidenden US-Präsidenten vorzuwerfen, während seiner Amtszeit nichts Nennenswertes erreicht zu haben – selbst wandelnde Katastrophen wie Trump vollbringen zwangsläufig in vier Präsidentschaftsjahren einiges. Neben dem beschleunigten Ruinieren des Klimas und vieler lokaler Ökosysteme, der emsigen Förderung faschistischer Gruppierungen, sowie der Entfesselung der mit Abstand größten Pandemiewelle in den USA seit der Spanischen Grippe, kann der Rechtspopulist auch auf handfeste außenpolitische „Erfolge“ zurückblicken.

Anfang Mai 2017 kündigte Trumps damaliger Außenminister Rex Tillerson an, es künftig mit den bürgerlichen Menschenrechten nicht mehr so genau nehmen zu wollen, die immer wieder als Legitimation für US-Interventionen dienten. Tillerson degradierte dabei Menschenrechte zu „Werten“ der Vereinigten Staaten, die sich zunehmend zu „Hürden“ bei der globalen Verfolgung von US-Interessen entwickelten. „Dies sind unsere Werte. Aber sie sind nicht unsere Politik“, so der damalige Spitzendiplomat. Tillerson brachte somit schon 2017 die kommende außenpolitische Praxis Trumps – der sich in Gesellschaft von Diktatoren und Despoten wie Erdogan wohlfühlte – auf den Punkt.

Am Ende seiner Amtszeit kann konstatiert werden, dass diesem außenpolitischen Kurs Trumps ein durchschlagender Erfolg beschieden war. Menschenrechte spielen in der Legitimierung von Geo- und Außenpolitik kaum noch eine Rolle. Interventionen und Kriege, wie etwa die US-Invasion des Irak, die zuvor standardmäßig mit Demokratiedurchsetzung und Menschenrechten begründet wurden, gehören der Vergangenheit an. Seit dem Ende des Kalten Krieges bildete das propagandistische Repertoire des Menschenrechtsimperialismus die Begleitmusik westlicher Interventionen insbesondere in Bürgerkriegs- oder Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes: in Kosovo, Somalia, Afghanistan oder eben dem Irak.

Nun werden Kriege zumeist ohne diese pseudodemokratische Rhetorik geführt; oder sie ist dermaßen durchsichtig, dass sie kontraproduktiv ist – das nackte imperialistische Interesse tritt unverhüllt hervor. Eine Karikatur dessen lieferte ja gerade Trump selber, der trotz des strategischen Rückzugs, den er in vielen Weltregionen einleitete, punktuell durchaus militärisch intervenierte. Das Aufrechterhalten einer US-Präsenz in Nordostsyrien wurde etwa vom US-Präsidenten ausdrücklich mit der Ausbeutung der dortigen Ölquellen begründet, obwohl dies kaum praktikabel ist und diese im regionalen Vergleich unbedeutend sind.

Ungeschminkter Imperialismus wurde von Trump – der Amerika „wieder groß machen“ wollte – zur Staatsräson erhoben, während dieser faktisch als Totengräber der US-Hegemonie agierte. Die kolossal gescheiterte Strategie des scheidenden US-Präsidenten bestand darin, durch Protektionismus und Wirtschaftsnationalismus eine Reindustrialisierung der Vereinigten Staaten einzuleiten, während die kostspielige Militärpräsenz der US-Army, die faktisch als Weltpolizist des Westens tätig war, zurückgefahren werden sollte, um ausschließlich dem nationalen imperialen Interesse Washingtons zu dienen. Gefolgschaft und Zugeständnisse der westlichen Bündnispartner wollte Trump durch einen selektiven Zugang zum US-Binnenmarkt im Rahmen von Handelsabkommen (gegenüber Berlin), sowie durch die buchstäbliche „Vermietung“ der US-Militärmaschinerie als Schutzmacht sicherstellen (dies etwa in Polen, Südkorea). Die US-Hegemonie wandelte sich so zur bloßen, militärtechnisch grundierten Dominanz.

Die Abwicklung des Menschenrechtsimperialismus, von der Trump-Administration eingeleitet, wurde aber von den Mächten vollendet, die in das geopolitische Machtvakuum vorstießen, das Washington hinterließ. Für die Türkei, die in Konfrontation wie Kooperation mit Russland auf Expansionskurs ging, spielen solche Legitimationsmuster keine Rolle mehr. Erdogan ist beispielsweise in der Lage, den Krieg gegen Armenien in Bergkarabach unter verweis auf das Völkerrecht zu führen, und zeitgleich mit seiner Zweistaatenforderung in Zypern den Völkerrrechsbruch zu fordern. Die weitgehende Entsorgung des Völkerrechts ist gerade ein Merkmal des „multipolaren“ Imperialismus nach dem Ende der US-Hegemonie, der Erinnerungen an die Hochzeit des klassischen Imperialismus im 19. Jahrhundert aufkommen lässt. Legal, illegal, scheißegal – dies scheint die Devise dieses neuen Machtstrebens zu sein, das kaum noch ideologisch verschleiert wird.

Im Nahen Osten, dem Mittelmeerraum und dem südlichen Kaukasus hat sich folglich ein in permanenten Wandel befindliches und äußerst instabiles Machtgeflecht herausgebildet, bei dem – neben den USA – unter anderem die Türkei, Russland, der Iran, Frankreich, die BRD oder auch Saudi-Arabien als imperialistische Akteure nach größtmöglichen Einfluss streben – koste es, was es wolle. Die Auseinandersetzungen und Stellvertreterkriege – in Libyen, im Jemen, in Syrien und im Südkaukasus – der beteiligten Staaten gehen mit gleichzeitiger Kooperation in anderen Regionen oder Bereichen einher, etwa dem Pipelinebau im Schwarzen Meer zwischen Moskau und Ankara. Ähnlich verhält es sich bei der Bündnisbildung, die im Wochenrhythmus wechseln kann. Die islamofaschistische Türkei hat ihre geopolitische Schaukelpolitik zwischen Moskau, Berlin und Washington perfektioniert, um im Rahmen rasch wechselnder geopolitischer Vorstöße ihren neo-onsmaischen Expansionskurs zu forcieren. Gegen Griechenland und die EU gerichtete Provokationen im östlichen Mittelmeer wechseln sich mit Kriegen im Südkaukasus, im Hinterhof Russlands, ab.

Zurück in die Vergangenheit?

Als ob das spätkapitalistische Weltsystem in seine eigene Vergangenheit zurückreiste, etablieren sich im frühen 21. Jahrhundert faktische Grenzverschiebungen, Kriegsabenteuer und ethnische Säuberungen ganzer Landstriche (in Rojava wie in Bergkarabach) zu einer massenmörderischen Praxis imperialistischer Politik, die nun von einer Vielzahl von Staaten betreiben wird, die alle nur ein unerreichbares Ziel haben: so zu werden, wie es die USA einstmals waren. Der Hegemon ist abgestiegen – und zugleich ist aufgrund der Systemkrise kein Nachfolger in Sicht, der über die Ressourcen verfügte, ihn zu beerben. Dies versetzt die krisengebeutelte One World des Kapitals in einem permanenten Vorkriegszustand, bei dem die zunehmenden Spannungen und Kleinkriege jederzeit in eine Katastrophe eines Großkrieges umschlagen können (etwa zwischen den USA und China in Südostasien).

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich – diese alte imperialistische Konstante lässt sich nicht nur in Nahost, sondern auch beim Kampf um die Ressourcen Afrikas im frühen 21. Jahrhundert beobachten. Eine ganze Reihe von Akteuren, mitunter Schwellenländer umfassend, ist seit Jahren bemüht, in Konkurrenz mit den alten europäischen Mächten den jeweiligen Einfluss zu mehren. Die EU versucht etwa, die Staaten Afrikas durch Freihandelsverträge in einseitige Abhängigkeiten zu treiben, während die USA unter Trump ihr verstärktes Engagement auf dem geschundenen Kontinent ausdrücklich als ein Konkurrenzprojekt zu dem Expansionskurs Chinas und Russlands deklarierten.

Russland ist derzeit vor allem in Libyen und dem Sudan aktiv, ebenso die Türkei, die ihre alten imperialen Ambitionen in Ostafrika, im Sudan und Somalia, reanimieren will. China – im 19. Jahrhundert selber Objekt der Opiumkriege des britischen Imperialismus – unterhält inzwischen enge Beziehungen zu einer Vielzahl afrikanischer Länder, bei denen milliardenschwere Investitionen in Infrastruktur mit der Extraktion von Rohstoffen einhergehen. Auch Indien, Opfer des britischen „Late Victorian Holocaust“, ist auf dem afrikanischen Kontinent durch Kapitalexport präsent, etwa beim Land-Grabbing in Äthiopien.

Handelt es sich bei den geopolitischen Realitäten nach dem Zerfall der US-Hegemonie somit um ein bloßes Reenactment des 19. Jahrhunderts mit wechselnden Akteuren? Ein zentrales Merkmal des neuen imperialistischen „Great Game“ macht klar, dass dem nicht so ist: der imperialistische Expansionsdrang geht mit Abschottungsbestrebungen einher. Kaum ein Staatschef verkörpert diese seit längerem bestehenden Tendenzen zum großen Mauerbau in den Zentren stärker als Donald Trump, wobei die diesbezügliche mörderische Abschottungspraxis in den USA und der EU sich kaum unterscheidet.

Imperialistische Politik im frühen 21. Jahrhundert zielt somit nicht nur auf Ressourcenraub in der Peripherie ab, sie ist zugleich bemüht, die Abschottung der Zentren gegenüber den Massen ökonomisch überflüssiger Menschen in der Peripherie zu perfektionieren – etwa bei der Finanzierung und dem Umdeklarieren libyscher Milizen zu „Grenzschutzkräften“ durch die EU. Flüchtlinge aus den ökonomisch abgehängten und durch Entstaatlichungskriege verwüsteten Zusammenbruchsgebieten des Weltmarkts werden überdies als geopolitische Waffe eingesetzt. Diese Taktik hat der türkische Islamofaschismus gegenüber der EU zur Anwendung gebracht, um ökonomische und politische Konzessionen von Berlin zu erpressen. Die Intervention der Türkei in Libyen zielte nicht nur auf die Kontrolle der dortigen Energieträger und die Annektion libyscher Seegebiete im Rahmen eines „Vertrags“ mit islamistischen Milizen ab, sondern auch auf die Kontrolle der entsprechenden Fluchtrouten, um so einen weiteren Hebel bei Machtkämpfen mit Brüssel zu erlangen.

Expansion und Abschottung

Demgegenüber fehlt ein weiteres Moment des „klassischen“ Imperialismus nahezu vollkommen: die massenhafte Ausbeutung der Lohnabhängigen des globalen Südens. Es reicht, sich beispielsweise in Erinnerung zu rufen, dass Europas historische Expansion auch durch den Hunger nach Arbeitskräften getrieben war, die durch Sklavenarbeit in den Plantagen der „Neuen Welt“ ausgebeutet werden konnten. Die Blutspur dieser Ausbeutung von Arbeitskräften reicht vom Genozid an den Ureinwohnern Amerikas, über den berüchtigten „atlantischen Dreieckshandel“ mit afrikanischen Sklaven in der frühen Neuzeit, bis zur mörderischen Auspressung des Kongos durch die Belgier, die Afrikanern massenhaft die Hände abhacken ließen, wenn diese die vorgegebenen Arbeitsnormen nicht erfüllten. Der belgische König Leopold II. reagierte auf entsprechende Anschuldigungen in der Presse empört: „Hände abhacken, das ist idiotisch! Ich würde eher alles übrige abschneiden, aber doch nicht die Hände. Genau die brauche ich doch im Kongo!“

Niemand würde heutzutage auf die Idee kommen, dass die neoimperialistischen Interventionen der vergangenen Dekaden ausgerechnet deswegen unternommen wurden, um die „Hände“ der einheimischen Bevölkerung zur Sklavenarbeit zwingen zu können. Der Charakter des Imperialismus in der historischen Krisenphase des Kapitals unterscheidet sich somit tatsächlich grundlegend vom Imperialismus in der Expansions- und Aufstiegsphase des kapitalistischen Weltsystems. Die Ausbeutung von Arbeitskräften des globalen Südens ist im Spätkapitalismus in ihr Gegenteil umgeschlagen – in die Exklusion von Arbeitskräften. Dies vollzieht sich einerseits marktvermittelt durch die zunehmenden Produktivitätsungleichgewichte zwischen Zentren und Peripherie, durch Agrarsubventionen und durch erpresserische Freihandelsverträge, die Kleingewerbe und bäuerliche Agrarstrukturen in der Peripherie zerstören. Die EU und die USA „produzieren“ faktisch die Fluchtbewegungen, die von der Neuen Rechten in beiden Regionen dann verteufelt werden.

Aber auch die direkten Kapitalinvestitionen in der Peripherie, etwa in exportorientierte Agrarprojekte, führen oftmals schlicht zu Land Grabbing und zur Enteignung der lokalen Bevölkerung, wobei der niedrige Arbeitskräftebedarf auf den effizient aufgebauten Plantagen eine breite Transformation der vertriebenen Bevölkerung in Lohnarbeiter unmöglich macht. Überlides werden viele strategisch wichtige Rohstoffe in den ökonomischen Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes – etwa im Kongo – unter brutalsten und archaisch anmutenden Bedingungen von Milizen und sonstigen postsaatlichen Rackets gefördert, um dann durch eine Kette von Zwischenhändlern und Zuliefern ihren Weg auf den Weltmarkt und in die Hightech-Geräte der globalen Mittelklasse zu finden. (Einschränkend ließe sich aber durchaus diskutieren, inwiefern die umfassenden chinesischen Kapitalexporte in Afrika dem Kontinent eine objektive Entwicklungschance innerhalb der engen systemischen Zwänge bieten, da die Volksrepublik inzwischen zum größten Investor Afrikas avancierte, der auch wichtige Infrastrukturprojekte finanziert.)

Von den Charakteristika des „klassischen“ Imperialismus ist beim gegenwärtigen Krisenimperialismus vor allem das Bemühen um Kontrolle der Energieträger und Ressourcen der Peripherie übrig geblieben. Diese imperialistischen Tendenzen, bei denen Expansion mit Abschottung einhergeht, lassen sich nur dann vollauf begreifen, wenn imperialistische Praxis mit dem historischen Krisenprozess des kapitalistischen Weltsystems in Zusammenhang gebracht wird.

Die einzelnen Staatssubjekte versuchen nach dem partiellen Rückzug der USA, in alter imperialistischer Manier ihre Machtmittel zu mehren. Neben dieser „subjektiven“ Ebene, auf der die einzelnen geopolitischen Subjekte agieren, muss aber die „objektive“ Ebene berücksichtigt werden, auf der sich die Krise des Kapitals entfaltet und den geopolitischen Akteuren in Form zunehmender innerer Widersprüche und „Sachzwänge“ gegenübertritt. Die Charakteristika des Krisenimperialismus ergeben sich somit aus der Wechselwirkung zwischen den geopolitischen Subjekten und dem objektiven Krisenprozess, der sich hinter dem Rücken der Subjekte entfaltet. Auch die mächtigsten „Imperialisten“ agieren als Getriebene der eskalierenden inneren Widersprüche des Kapitalverhältnisses.

Hieraus entspringt die für den Krisenimperialismus charakteristische Form der „negativen“ Krisenkonkurrenz, in der die Großmächte ihre eigene Stellung im erodierenden Weltsystem nur noch auf Kosten des Abstiegs anderer Konkurrenten vorübergehend halten können (was ja auch die zunehmende Konkurrenz zwischen der EU und den USA erklärt). Der gegen die Peripherie gerichtete Ausgrenzungsimperialismus geht mit dieser Ausscheidungskonkurrenz – eine Art geopolitischen Kampf auf der Titanic – innerhalb der erodierenden Zentren einher. Gerade deswegen wächst die Gefahr eines Großkrieges im 21. Jahrhundert.

Die zunehmenden inneren Widersprüche sollen hierbei durch äußere Expansion überbrückt werden, wie es ja auch im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges der Fall war – mit dem Unterschied, dass nun das vom Spätkapitalismus akkumulierte Vernichtungspotential der menschlichen Zivilisation, ja der Gattung Mensch jederzeit ein Ende bereiten könnte. Der Expansionskurs der Türkei im allgemeinen, wie auch die von Ankara unterstützte Aggression Aserbaidschans gegen Armenien, bilden aktuelle Beispiele für diese imperialistische Krisentendenz (Kurz vor dem Angriff auf Berg Karabach bedrohten zunehmende soziale Unruhen die Macht Alijews).

Krise und die neue imperialistische Erhlichkeit

Die Krise sitzt somit allen spätkapitalistischen Staatsmonstern im Nacken – und sie versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten, durch diverse Formen der politischen oder ökonomischen Expansion, mitunter durch blanke militärische Aggression, die Krisenfolgen auf andere Staatssubjekte abzuwälzen. Trump selber ist ja gerade ein politisches Symptom dieser Krise – er kam 2016 hauptsächlich durch die Stimmen der abgehängten weißen Arbeiterklasse aus dem ehemals demokratischen „Rostgürtel“ der USA an die Macht.

Aus diesem Krisenprozess resultieren folglich die Tendenzen zur Barbarisierung imperialistischer Praxis, deren Symptom der Eingangs geschilderte Abschied des Westens vom Menschenrechtsimperialismus ist. Die Bereitschaft, sich bei der Rechtfertigung imperialer Aggression nicht mehr auf Menschenrechte und Völkerrecht zu berufen, somit Ideologie über Bord zu werfen, verweist zuallererst auf die Gesellschaften des Zentrums selber.

Dieser Menschenrechts-Diskurs war ja praktisch ein Überbleibsel des Kalten Krieges, als der Staatssozialismus der imperialistischen Gewaltanwendung des Westens in der Peripherie doch gewisse Grenzen setzte. Der Menschenrechtsdiskurs nach dem ende der Systemkonkurrenz wies aber einen ambivalenten Charakter auf. Menschenrechte fungierten auf geopolitischer Ebene einerseits als Ideologie. Sie dienten dazu, ein falsches Bewusstsein zu schaffen, mit dem Kriege gerechtfertigt werden konnten. Anderseits waren sie – auch in ihrer kapitalistisch verkürzten, um jede soziale Dimension beraubten Form – weiterhin gesellschaftlich wirksam.

Dies war vor allem deswegen der Fall, weil es in den Zentren des Weltsystems noch eine breite Mittelschicht gab, die diese bürgerlichen Werte – wenn auch unvollkommen – verwirklicht sah und an ihren universellen Anspruch glaubte. Es gab folglich eine gesellschaftliche Nachfrage nach der Verklärung der brutalen kapitalistischen Realität in der zunehmend zerfallenden Peripherie des Weltsystems. Dies ist – gerade in den USA – nicht mehr der Fall. Die breite amerikanische Mittelschicht, in der noch ein massenhafter Bedarf nach einem menschenrechtspolitischen „Weichzeichner“ der imperialen Realität herrschte, befindet sich seit dem Krisenschub von 2008 in Auflösung. Folglich zerfällt auch der ideologische Schleier, der diese Phase des „Mittelklassekapitalismus“ kennzeichnete.

Die zunehmende Härte des alltäglichen Existenzkampfes im Spätkapitalismus lässt somit die menschenrechtspolitische Legitimierung von Ausbeutung, Marginalisierung und Unterdrückung auch auf geopolitischer Ebene als unnötigen Ballast erscheinen. Illusionen über den barbarischen Zustand des Spätkapitalismus will man sich nicht mehr leisten. Die imperialistische Logik – zuvor noch durch die übliche Freiheitsrhetorik maskiert – wurde von Trump Außenminister direkt, in aller Brutalität formuliert: Amerika soll wieder groß werden, gerade durch die rücksichtslose Vertretung des nationalen Interesses. Dies ist letztendlich das Angebot des Imperialismus an die erodierende und krisenbedingt angstschwitzende Mittelklasse: Ihr Reproduktionsniveau soll auf Kosten der Konkurrenz, der Peripherie gehalten werden. Und es ist eben diese barbarische Leistung der Trump-Administration, auf der seine Nachfolger aufbauen können.

Der von regressiven Antiimps aller Couleur innigst gehasste Adorno bemerkte schon auf dem Höhepunkt des fordistischen Nachkriegsbooms hellsichtig, dass es sich bei Ideologie letztendlich um ein Luxusgut handelt: „Zur Ideologie im eigentlichen Sinn bedarf es sich selbst undurchsichtiger, vermittelter und insofern auch gemilderter Machtverhältnisse.“ Die „gemilderten“ Machtverhältnisse weichen aber für immer größere Teile der Bevölkerung der Zentren dem offenen Terror der amoklaufenden Ökonomie. Die offene Verelendung und die offene Gewalt machen Ideologie überflüssig. Insofern kommt der Abschied von der „gemilderten“ Form des Menschenrechtsimperialismus einem weiteren Abstieg in die offene Barbarei gleich. Nicht die imperialistische Politik wurde von Trump aufgegeben, sondern deren „Maskierung“ in Menschenrechtsrhetorik. Seine Anhängerschaft, die diese Haltung als „Ehrlichkeit“ und „Geradlinigkeit“ bewundert, geht somit in offene Bejahung des Imperialismus über, der ohne jedwede Legitimierung auskommt.

Es ist der Tod der Ideologie, der sich in den USA als den avanciertesten Metropolenstaat andeutet (und den der Rest der Welt mit der üblichen Verzögerung nachvollziehen wird). Die Herrschaftsverhältnisse treten ungeschminkt hervor, ohne Legitimierung. Die Welt ist ein Höllenloch. Es ist, wie es ist. Und wir wollten herrschen – auf diesen Nenner lässt sich diese durch Trump vollführte Kehrtwende, die seinem geopolitischen Erbe entspricht, bringen.

#Titelbild: Töten und Sterben fürs Kapital – US-Soldaten während einer Luftlandeübung in Deutschland The U.S. Army/CC BY 2.0

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Ein Hintergrundbericht zur Wechselwirkung zwischen Klimakrise und Spätkapitalismus am Beispiel Kaliforniens.

Und wieder mal häufen sich die Rekorde, wenn es um die diesjährige Feuersaison in Kalifornien geht. Den Anfang machte diesmal die Zahl an Blitzeinschlägen, die im August im bevölkerungsreichsten Bundesstaat niedergingen. Allein vom 19.bis 21. August schlugen innerhalb von 72 Stunden mehr als 12 000 Blitze ein – ein Rekordwert. Satellitenaufnahmen zeigen die aus dem Weltraum sichtbaren Folgen dieses ungewöhnlich heftigen und ausgedehnten Extremwetterereignisses. Durch die Blitze wurden mehr als 560 Feuer entzündet, die sich inzwischen zu einer der schwersten Feuerkatastrophen in der Geschichte des Bundesstaats ausgeweitet haben.

Verantwortlich dafür sei, laut Meteorologen, der sehr trockenen Winter, auf den ein besonders heißer und trockener Sommer folgte. Mitunter seien die Brände in dem ausgedorrten und unter einer regelrechten „Hitzekuppel“ leidenden Land durch sogenannte „Trockenstürme“ (dry storms) ausgelöst worden, bei denen der die Blitzeinschläge begleitende Regen vor dem Auftreffen auf die staubtrockene Vegetation in der heißen Luft verdunstete.

Anfang September wandelten sich Teile Kaliforniens so in eine apokalyptische, von Orangetönen geprägte Kulisse, die an Filme wie Blade Runner 2049 das Reboot der Doom-Shooter von 2016 erinnerte. Angefacht von neuen Temperaturrekorden, die lokal an die 50 Grad Celsius heranreichten, blockten Rauchwolken das Sonnenlicht in Los Angeles und San Francisco, sodass die Bewohner dieser Westküstenstädte ihre Tage unter einem orangen Himmel in Atemschutzmasken verbringen mussten, während zugleich ein Ascheregen auf Teile Südkaliforniens niederging.

Die verheerenden Feuer, die zehntausende Quadratkilometer Kaliforniens erfassten, haben mindestens 86 Menschenleben gefordert und mehr als 1600 Häuser zerstört. Dabei gerieten die Einsatzkräfte Kaliforniens bei der Feuerbekämpfung schnell an ihre Kapazitätsgrenzen. Die Ressourcen und das Personal des Sonnenstaates seinen bereits überbelastet, klagte dessen Gouverneur, Gavin Newsom, bei einem Appell um Beistand Ende August. Zwar hatten etliche US-Bundesstaaten Kalifornien ihre volle Unterstützung zugesagt, doch blieb die konkrete Hilfe für die rund 12 000 Feuerwehrleute, die in Kalifornien die diesjährigen Feuer bekämpften, weit hinter den Erwartungen zurück. Von den 375 Einsatzgruppen der Feuerwehr, die der Gouverneur bei seinen Amtskollegen in zehn Bundesstaaten angefordert hatte, kamen nur 45 tatsächlich zum Einsatz.

Von der ungewöhnlich starken Hitzewelle ist nämlich nicht nur Kalifornien betroffen, sondern weite Teile der westlichen USA. Die „Hitzekuppel“, unter der sich viele Regionen des Landes befänden, entfache auch in anderen Bundesstaaten Brände, sodass die Möglichkeiten zur „gegenseitigen Hilfe“ beschränkt seien, erklärte der demokratische Gouverneur. Die Trump-Administration hat indes in dieser schweren Krise konsequent jegliche Hilfe aus Washington verweigert.

Die Klimaleugner im Weißen Haus sabotieren nicht nur jegliche nennenswerte Klimapolitik in den Vereinigten Staaten, sie instrumentalisieren zugleich die Folgen des Klimawandels im voll entbrannten US-Wahlkampf. Kalifornien höre nicht auf die Bundesregierung, polterte der Präsident Ende August, deswegen würden die Feuer das Land verwüsten, da das Landesregierung nicht – so wörtlich – „den Boden sauber“ halte. Trump drohte überdies, finanzielle Forderungen gegenüber dem Bundesstaat zu erheben, weil der nicht alle abgestorbenen Blätter und Bäume beseitige.

Dabei dürften die knappen „Ressourcen“ zur Bekämpfung der an Intensität zunehmenden Brände in den alljährlichen Feuersaisons noch weiter abschmelzen. Das zeigt sich allein schon daran, wie in Folge des letzten Krisenschubs im Jahr 2008 damit umgegangen wurde. Nach dem Platzen der großen Immobilienblasen in den Vereinigten Staaten, als die milliardenschweren „Bailouts“ für den mit Schrottpapieren überschwemmten Finanzsektor die öffentliche Verschuldung rasch ansteigen ließen, mussten auch die zuvor ausgesparten Feuerwehren harte Einschnitte hinnehmen. Reportagen aus dem Jahr 2010 geben einen Einblick in den „beispiellosen“ Kahlschlag, den die Feuerwehren im Gefolge der Wirtschaftskrise, die dem Platzen der Immobilienblasen folgte, in vielen Regionen Kaliforniens erfahren haben. In Städten wie Vallejo ist die Zahl der Feuerwehrlaute halbiert worden, in San Jose oder San Diego sind ganze Feuerwachen einfach geschlossen worden. Die Bürger wurden auf den Schildern, die auf den geschlossenen Gebäuden angebracht wurden, darüber aufgeklärt, dass hier keine Feuerwehrleute mehr tätig seien. Im Notfall solle man die Nummer 911 wählen – den Notruf der Polizei. Begrenzte Neueinstellungen von Feuerwehrleuten gab es in Kalifornien erst wieder nach den verheerenden Bränden 2018.

Die „knappen Ressourcen“, die nun der Gouverneur Kaliforniens beklagt, sind also genauso eine Folge der zunehmenden Krisenanfälligkeit und der eskalierenden inneren Widersprüche des Spätkapitalismus, wie die diesjährige Feuerkatastrophe. Der die neoliberale Finanzialisierung und Globalisierung der Weltwirtschaft begleitende Kahlschlag der Infrastruktur, der die spätkapitalistischen Gesellschaften anfälliger für klimabedingte Naturkatastrophen macht, ist aufgrund der krisenbedingt zunehmenden Systemzwänge auch nicht so einfach revidierbar. CalFire, die Brandbekämpfungsbehörde Kaliforniens, wollte aufgrund des sich immer stärker im Bundesstaat bemerkbar machenden Klimawandels eigentlich 500 neue Feuerwehrleute einstellen. Aufgrund der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise in den USA, die durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ausgelöst worden ist, sind es nur 167 Neueinstellungen geworden. Es gebe nicht genug Personal, Löschfahrzeuge und Bulldozer, klagte ein Mitarbeiter der Behörde gegenüber Medien. Die Feuerwehrleute müssten derzeit Wochenarbeitszeiten von 72 Stunden durchhalten.

Zudem werden die Effekte dieser mageren Neueinstellungen bei der Landesbehörde durch Kürzungen bei etlichen städtischen Feuerwehren konterkariert. Aufgrund der katastrophalen Finanzlage sah sich etwa San Diego im vergangenen Mai genötigt, erhebliche Kürzungen bei städtischen Programmen zu erwägen – darunter auch Trainingsprogramme für die Feuerwehr. In Hemet im kalifornischen Riverside Country werden aufgrund der Wirtschaftskrise frei werdende Stellen bei der Feuerwehr nicht besetzt, die mitunter noch dazu mit veraltetem Gerät arbeiten muss. Die Stadt hat im Krisenverlauf rund 34 Prozent ihrer Steuereinnahmen verloren.

Die Folgen der Wirtschaftskrise – die massiven Streuausfälle – schränken somit die Möglichkeiten des Staates ein, den Folgen der Klimakrise wirksam zu begegnen. Besonders krass trat diese Wechselwirkung zwischen der inneren und äußeren Schranke des Kapitals in Südeuropa zutage, wo in den letzten Jahren hunderte Menschen bei historisch beispiellosen Feuerkatastrophen umkamen. Die Länder der europäischen Peripherie waren nach Ausbruch der Eurokrise vom damaligen deutschen Finanzminister Schäuble mit sadistischen Sparpaketen drangsaliert worden. Davon war auch die Infrastruktur zur Feuerbekämpfung betroffen. Anders als Portugal und Griechenland handelt es sich bei Kalifornien aber um ein Zentrum des Weltsystems, das sich kaum noch eine adäquate Feuerbekämpfung leisten kann. Das erlaubt einen Einblick in die gesellschaftliche Zerrüttung der USA.

Die Haushaltskürzungen an der Westküste, die die Bekämpfung der Feuerkatastrophe erschweren, haben auch vor den Gehältern der nun bis an den Rand der totalen Erschöpfung arbeitenden Feuerwehrleute nicht halt gemacht. Im Mai beschloss das klamme Kalifornien, wo einige der reichsten Konzerne und Oligarchen der Welt residieren, die Vergütungen der in der Brandbekämpfung arbeitenden Angestellten um 7,5 Prozent zu kürzen. Anstatt gut bezahlter und ausgebildeter Feuerwehrleute setzt der verbrennende Sonnenstaat auf saisonal angestellte und in Windseile ausgebildete Kräfte. Rund 900 solcher Saisonarbeiter wurden im Juli, bei Beginn der Feuersaison, in aller Eile zu „Feuerwehrleuten“ ausgebildet und an die Feuerfront geworfen.

Mit diesen Notmaßnahmen will der Westküstenstaat die Ausfälle bei der Beschaffung von Arbeitskräften in der Feuerbekämpfung kompensieren. Sobald notwendige Arbeiten im Kapitalismus nicht in Form von Lohnarbeit gelistet werden können, greifen seit der Frühen Neuzeit, seit dem berüchtigten atlantischen Dreieckshandel, Tendenzen zum Aufbau eines auf Zwangsarbeit beruhenden Arbeitsregimes. Im Fall Kaliforniens waren es die, weltweit in Relation zur Bevölkerung zahlreichsten, Gefängnisinsassen, die zumeist in solchen Fällen bei der Brandbekämpfung als „Infanterie“ eingesetzt wurden. Doch auch hier greift bereits eine Krisentendenz in die Andere: Die Corona-Pandemie hat sich in der Gefängnisindustrie der USA bereits stark ausgebreitet, weshalb kaum noch Feuerbekämpfungsmannschaften aus Gefängnisinsassen gebildet werden konnten.

Der krisenbedingte Zerfall der gesellschaftlichen Infrastruktur, der zunehmend mit den Folgen des kapitalistischen Klimawandels in Wechselwirkung tritt, wirkt sich besonders verheerend beim Energiesektor Kaliforniens aus. Angesichts von neuen Rekordwerten bei den Temperaturen, die bis knapp 50 Grad Celsius reichten, stellen Klimaanlagen insbesondere für viele ältere Bürger Kaliforniens eine Überlebensnotwendigkeit dar. Und es waren gerade diese heißen Tage Mitte August, wo die Energieversorger des bevölkerungsreichsten Bundesstaates den Strom für mehr als drei Millionen Bürger abstellen mussten, um im Heimatland der globalen IT-Industrie einen Zusammenbruch des maroden Stromnetzems zu verhindern. Der in Hitzephasen durch die massenhafte Benutzung von Klimaanlagen zunehmende Strombedarf überfordert das alte Stromnetz Kaliforniens, das in etwa so marode ist wie die Infrastruktur der Sowjetunion in der zweite Hälfte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Während rechte und neoliberale Medien umgehend den in Kalifornien eingeleiteten Umstieg auf erneuerbare Energien für die Stromausfälle verantwortlich machten, sind die Ursachen der „Blackouts“ eher im Fehlen eines neuen Akkumulationsregimes zu verorten.

Amerikas derzeitige Infrastruktur wurde im Nachkriegsaufschwung errichtet, in den 50er bis 70er Jahren, als der Boom der Autoindustrie und das Fordistische Akkumulationsregime den Staaten genug Steuergelder für den entsprechenden Infrastrukturellen Umbau der kapitalistischen Gesellschaften verschafften. Nach dem Auslaufen dieses Booms – in Deutschland gerne als Wirtschaftswunder bezeichnet – ab den 80er Jahren mussten auch die substanziellen Aufwendungen zum Ausbau der Infrastruktur eingestellt werden, da der Staat langfristig nur dann investieren kann, wenn er genügend Finanzmittel aus breiter Akkumulation in Gestalt von Lohnsteuern, etc. abschöpfen kann. Mit der Deindustrialisierung der USA ging somit auch ein Verfall der Infrastruktur einher, die nur noch notdürftig aufrechterhalten wird, ohne dass umfassende Modernisierungsprogramme ernsthaft umgesetzt würden. Dies gilt auch für das kalifornische Stromnetz, das sich in langsamer Auflösung befindet und schon des öfteren durch Funkenflug Feuerkatastrophen verursacht hat. Der Spätkapitalismus ist somit selbst in seinen Zentren kaum noch in der Lage, die unrentablen, infrastrukturellen Fixkosten des Verwertungsprozesses zu tragen. Gewissermaßen steht nun wieder die Elektrifizierung der Gesellschaft zur Disposition – zumindest der abgehängten und marginalisierten Gesellschaftssichten.

Die mit dem Neoliberalismus einhergehende soziale Spaltung der Gesellschaft droht, in Wechselwirkung mit der Klimakrise, zu einem buchstäblichen Auseinanderbrechen der spätkapitalistischen Gesellschaft als einer einigermaßen kohärenten, sozialen Struktur zu führen. In einem Meer aus Zerfall zeichnen sich nur noch Inseln funktionierender Kapitalverwertung ab. Zwischen jenen Bevölkerungsteilen auf, die noch die Mittel haben, der Klimakatastrophe zu begegnen, und all jenen, die diese Mittel nicht haben, tut sich ein immer größer werdender Abgrund auf. Auch hier, beim Zerfall der Kapitalvergesellschaftung, ist Kalifornien Avantgarde und Schrittmacher für den gesamten Westen.

Wer kann sich in Zeiten knapper Kassen beispielsweise noch eine anständige Feuerwehr leisten? Schon im vergangenen Jahr zeichnete sich im Sonnenstaat ein neuer Trend zur Privatfeuerwehr ab. Reiche Gated Communities oder von der Oberklasse bewohnte Siedlungen und Stadtteile leisten sich einfach private Brandbekämpfer, die nicht unter dem Mangel an Ausrüstung und Personal leiden, den ihre öffentlich angestellten Kollegen erfahren. Je nach Standpunkt handelt es sich hierbei, laut New York Times, um eine „dystopische Form der Ungleichheit“, oder eine „notwendige Dienstleistung“. So oder so werden der Branche angesichts des Klimawandels, der die Feuer Kaliforniens immer gefährlicher macht, sowie einer unterfinanzierten öffentlichen Feuerwehr gute Wachstumschancen prognostiziert: Rund 3000 Dollar koste eine private Feuerbekämpfungseinheit – pro Tag, versteht sich.

Nicht nur die unterschiedlich effektive Bekämpfung der Brände, auch der ungleiche Wiederaufbau der durch Feuersbrünste verwüsteten Ortschaften vertieft die bereits gegebene soziale Spaltung der kalifornischen Gesellschaft. Das Ausmaß und die Schnelligkeit, mit der öffentliche Gelder und sonstige Hilfen in verbrannte Ortschaften und Regionen fließen, sind abhängig von deren Durchschnittseinkommen und sozialer Schichtung. Dabei sind gerade die sozial benachteiligen afroamerikanischen oder hispanischen Minderheitenin Kalifornien besonders benachteiligt. Diese Diskrepanz im Wiederaufbau resultiert oft aus der schwachen Machtstellung ärmerer Communities im Politbetrieb, die sich keine effektive Lobbyarbeit leisten können. Zudem können sich in den armen Vierteln die Bewohner kaum noch die beständig im Preis steigenden Feuerversicherungen leisten, was den Wiederaufbau zusätzlich erschwert und in die Länge zieht. Und selbst die Programme zur Förderung regenerativer Energiegewinnung, etwa durch die Installation subventionierter Solarzellen auf Hausdächern, kommen hauptsächlich wohlhabenden Kaliforniern zugute.

Die geheiligte „unsichtbare Hand“ des kapitalistischen Marktes ist dabei der wichtigste Brandbeschleuniger. Dies nicht nur aufgrund des dem Kapital innewohnenden Verwertungszwanges, der die Welt um seiner Selbstvermehrung willen buchstäblich verbrennt, sondern, im Falle Kaliforniens, auch ganz konkret, wo das Feuerrisiko inzwischen einfach in dem Immobilienmarkt eingepreist ist. Die absurden Immobilienpreise an der Küste Kaliforniens haben einkommensschwache Bevölkerungsschichten in die feuergefährdeten Regionen im Inneren des Bundesstaates abgedrängt.

Deswegen finden sich nun die Armen in den am meisten von Wald- und Buschbränden gefährdeten Regionen wieder. Den besten Schutz vor Bränden stellen aber gerade die teuren Hausdächer aus Stein dar, die sich nur diejenigen wohlhabenden Kalifornier leisten können, die ohnehin die feuergefährdeten Regionen meiden, in denen fast alle Häuser Holzdächer haben. Der kapitalistische Markt sorgt in seiner unergründlichen Weisheit also dafür, dass gerade in den Regionen leicht brennbare Holzhäuser errichtet werden, die besonders anfällig für Großfeuer sind.

Der Autor publizierte zu diesem Thema das Buch Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört.

# Titelbild: Christopher Michel: CC BY 2.0 „The day The Sun Didn’t Rise“ Golden Gate Bridge in San Francisco

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Im Zuge der Wahl Donald Trumps fand ein bemerkenswerter Wandel innerhalb der deutschen Rechten statt. Einst als unnatürliches Völkergemisch, als Inbegriff des Kapitalismus und der Globalisierung geschmäht, sind die USA heute zum Sehnsuchtsort der Rechten geworden – Ein Gastbeitrag von Ivan Klinge.

Es ist der 15. August 2020, in Berlin findet eine der mittlerweile zahlreichen Kundgebungen von Reichsbürgern, Verschwörungsideologen und Neonazis statt. Mittendrin, zwischen allen bekannten Neonazimarken und schwarz-weiß-roten Flaggen, ist auch eine Flagge der Vereinigten Staaten zu sehen. Was vor 10 Jahren undenkbar war, ist im Jahr 2020, dem es an Überraschungen nicht mangelt, Normalität geworden. Vor Jahren noch Erzfeind der „freien Völker“ und Marionette der „Ostküstenkapitalisten“, sind die USA seit 2016 und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten zum neuen Verbündeten der globalen Rechten geworden.

Wo es früher noch „Witze“ über Joghurt und die Kulturlosigkeit der USA gab, gehört heute die „Make America Great Again“- Mütze zum Repertoire der Rechten, genau wie Anti-Antifa T-Shirts mit Donald Trump darauf. Denn wie so oft lohnt sich ein Blick zur Rechten, wenn es um die Einschätzung angeblich konservativer Akteure geht – im Gegensatz zum deutschen Bürgertum erkennen Rechte nämlich ihre Leute. So auch bei Trump. Schon 2016 traten in Neonazi-Podcasts wenige Tage nach Trumps Wahlsieg Neonazis mit Trump-Fanartikeln auf. Sie wussten schon damals, gerade wurde einer von ihnen zum Präsidenten gewählt. Und während sich das deutsche Bürgertum über die impulsive Art und die unzureichende Allgemeinbildung des Präsidenten amüsierte – und gleichzeitig chauvinistisch feststellte, dass er ja wohl von der amerikanischen Unterschicht gewählt wurde und nicht vom aufgeklärten Bürgertum – setzte Trump sein rechtes Programm um und veränderte die Gesellschaft nachhaltig. Denn im Gegensatz zur nie vollendeten Mauer nach Mexiko, kam die Steuerreform zugunsten der Oberschicht sehr schnell.

Im Jahr 2020 ist unverkennbar, was Trump ist, wofür er steht und wer ihn unterstützt. Im Zuge der BLM-Bewegung und dem Aufstehen der Bürger*innen der USA gegen die strukturell rassistische Polizei hat sich eine reaktionäre Gegenbewegung gebildet, die bewaffnet durch Städte zieht und gewillt ist, für ihr weißes Amerika zu kämpfen. Für die Aktivist*innen in den USA ist dabei besonders gefährlich, wie gewaltbereit und bewaffnet diese rechten Milizen sind.

Einen Vorgeschmack ihres Mobilisierungspotentials gab es im Frühjahr 2020, als Regierungsgebäude in demokratisch regierten Bundesstaaten als Reaktion auf die lokalen Coronamaßnahmen von schwer bewaffneten Männern besetzt wurden. Seitdem marschieren sie landesweit regelmäßig auf, mit dem vorrangigen Ziel, Linke, Migrant*innen und People of Colour einzuschüchtern und für ein weißes Amerika zu kämpfen. Vor Gewalt und auch vor Mord schrecken sie dabei nicht zurück. Es wurden bereits Antifaschist*innen ermordet – eines der bekannteren Opfer ist Heather Heyer, die 2017 von einem Neonazi getötet wurde. Die Rechten wähnen sich 2020 im lange herbeigesehnten „Race War“, dem Rassenkrieg. Die Sehnsucht nach selbigem ist der Rechten immanent, der apokalyptische Wahn ist auch in der deutschen Rechten präsent und immer Teil ihrer Ideologie gewesen: Für Volk und Nation im heiligen Endkampf – dem „Ragnarök“ – sterben und zu töten.

Verstärkt wird das Ganze noch durch antisemitische Ideologien wie die von „Qanon“ verbreiteten Verschwörungstheorien. Kern dieser Thesen ist, dass Trump mit dem US-Militär Vorkämpfer gegen die degenerierte, pädophile, kindermordende globale Elite ist. Das Erkennungszeichen der Anhänger der QAnon-Theorie, der Buchstabe Q, ist mittlerweile auch auf rechten Kundgebungen in Deutschland zu finden. Im deutschen Ableger sind so die US-Truppen in Deutschland von verhassten Besatzern zu Verbündeten der Verschwörungsideolog*innen geworden, die nur darauf warten, Deutschland zu „befreien“. Zwar ist im Gegensatz zu den USA, in denen sich schon mehrere Politiker der Republikaner zu QAnon bekennen, in Deutschland noch kein Politiker öffentlich als Anhänger in Erscheinung getreten. Das kann (und wird) sich aber noch ändern, gerade in der AfD als Sammelbecken von Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern ist es wohl nur eine Frage der Zeit bis zum offenen Bekenntnis Einzelner.

Dass die USA von Besatzern und Globalisten zu Verbündeten werden, ist also kein Zufall. Es ist auch Resultat der Präsidentschaft Trumps. Diese war und ist Katalysator und Verstärker der amerikanischen Rechten und somit Bindeglied zur europäischen Rechten. Durch ihn fühlen sich Rassist*innen in Uniform erst recht ermuntert, ihre White-Supremacy-Ideologie immer offener und direkter auszuleben. Durch ihn bekommen Antisemiten enormen Aufwind, die Zahl antisemitischer Angriffe in den USA steigt seit 2016 an und wird durch den Präsidenten selbst angefacht. Dabei beeinflussen sich die amerikanische und die europäische Rechte seit Jahren regelmäßig gegenseitig, ein bekanntes Beispiel dafür sind die „Turner-Diaries“, die von den Vereinigten Staaten aus das Konzept des „führerlosen Widerstandes“ propagieren und auch im Deutschland der 90er-Jahre bekannt machten. Eine weitere Präsidentschaft Trumps würde die amerikanische Rechte (und so auch die europäische) weiter dramatisch stärken, ganz zu schweigen davon, dass es fraglich ist, ob das demokratische US-System mit seinen „Checks and Balances“ vier weitere Jahre Trump überleben würde oder in eine rechte Autokratie bzw. eine „gelenkte Demokratie“ münden würde. Dabei kommt auch die Frage auf, ob Trump im Falle einer Niederlage selbige überhaupt akzeptieren würde, oder nicht stattdessen seine Anhänger mobilisieren und sich selbst zum Sieger erklären würde.

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In der Nacht zum 3. Januar töteten die Streitkräfte der USA den hochrangigen iranischen Militär Qassem Suleimani mit einem gezielten Drohnenschlag in der Nähe des Flughafens von Bagdad. Mit ihm starben mindestens sechs weitere Menschen, darunter der Kommandant der irakischen Volksmobilmachungseinheiten (PMU), Abu Mahdi Al-Muhandis.

Die Ermordung der beiden dem Regime in Teheran nahestehenden Befehlshaber stößt bei der rechten transatlantischen Presse auf Zustimmung. Trump habe „uns von einem Monster befreit“, titelt etwa die Bild. Was aber bedeutet der Anschlag für den Mittleren Osten?

Sie bedeutet noch mehr Blutvergießen, Eskalation und imperialistische Kriege. Das ist nichts Neues. Seit Jahrzehnten besteht der Alltag der Menschen von Afghanistan bis Palästina und von Kurdistan bis in den Jemen aus Krieg, Zerstörung und Vertreibung. Sind es gerade nicht die amerikanischen, russischen, türkischen oder israelischen Luftschläge, so sind es die Bomben von Al-Qaida oder die Kriegsverbrechen von Daesh und Hashd al-Shaabi. Die Region ist ein blutiges Schachfeld zwischen imperialistischen Großmächten und den expansionistischen Bestrebungen regionaler Mächte, ausgefochten auf dem Rücken der proletarischen Klassen und der unterdrückten Völker. Einer der Akteure in diesem Machtkampf ist eben auch die Islamische Republik Iran.

1979 ging die Islamische Republik als dominante Kraft aus der Revolution gegen die US-gestützte Schah-Diktatur hervor und festigte sich als Nachfolgersystem. Ein Kind der ersten Tage der Islamischen Republik, als das Militär und der Geheimdienst noch von Schah-treuen Elementen gesäubert wurden und somit nicht handlungsfähig waren, war die „Armee der Wächter der Islamischen Republik“ – auch bekannt als die „Revolutionsgarden“.

Die „Revolutionsgarde“ wurde als ideologisch treue Parallelarmee zur Verteidigung der Werte der Islamischen Revolution aufgestellt und spielte fortan eine zentrale Rolle in dem Prozess der Festigung der Islamischen Republik – der fast eine Dekade lang dauerte. Dieser Prozess der inneren Festigung war nicht nur begleitet von Krieg und Massakern in Torkamansahra und Kurdistan, sondern forderte auch das Leben Zehntausender Linker und Kommunisten, die auf offener Straße und in den Gefängnissen gefoltert und ermordet wurden.

Dabei beschränkte sich die „Revolutionsgarde“ nicht nur auf die innenpolitische Repression politischer Opposition, sondern richtete ihren Blick auch jenseits der iranischen Grenzen. Das von Khomeini theoretisierte Paradigma vom „Exportieren der Islamischen Revolution“ gilt dafür bis heute als Grundlage. Im Paragraph 154 der iranischen Verfassung verankert, galt sie als Grundlage um sich in der muslimischen Welt auszubreiten, insbesondere Schiiten nach Vorbild der Islamischen Republik zu organisieren und somit die eigenen nationalen Expanisonsbestrebungen zu ermöglichen.

Diese Politik spielte eine signifikante Rolle in der Provokation des Irak und dem anschliessenden Überfall Saddam Husseins 1981 auf den Iran, was in den ersten Golfkrieg mündete und das Leben Hunderttausender junger Menschen an den Fronten eines achtjährigen Krieges forderte. Die zuständige Abteilung bei den Revolutionsgarden für den „Export der Revolution“ trug zunächst den Namen „Einheiten für die Unterstützung der Befreiungsbewegungen“. Sie bestand aus Islamischen Revolutionären, die seit den 1970er-Jahren Kontakte nach Libyen und in den Libanon hatten und teilweise militärisch dort ausgebildet worden waren. Im Libanon beteiligten sie sich auch z.B an der Seite der Amal-Bewegung am Bürgerkrieg.

Im Verlauf der 1980er-Jahre bauten diese die Grundlagen einer strategischen Partnerschaft bis zum Mittelmeer aus. Vor allem sollte die arabische Linke, die revolutionäre Bewegung Paläsitinas und der irakische Baathismus geschwächt werden und der islamische und schiitische Widerstand als Alternative aufgebaut werden. Auch die strategische Allianz mit Hafez Assad, dem Vater des jetzigen syrischen Machthabers, geht auf diese Zeit zurück.

Im Zuge der Iran-Contra-Affäre und als Friedensgeste der Islamischen Republik an die USA wurden jedoch die „Einheiten für die Unterstützung der Befreiungsbewegungen“ aufgelöst und ihre Anführer als Konterrevolutionäre liquidiert. Als einige Jahre später die Islamische Republik ihre Expansionspolitik wieder aufnahm, nannte sich die Abteilung für die internationalen Operationen der Revolutionsgarden „Al-Quds-Brigaden“. Eben jenen stand der nun ermordete Sulaimani vor.

Die Erfahrungen die in den 1990er-Jahren an der Seite der Nordallianz in Afghanistan, in Bosnien und mit der Hizbollah im Libanon gesammelt wurden, flossen ab 2003 in die Organisierung der irakischen Schiiten ein. Qassem Suleimani der schon an dem Krieg in Rojhilat (iranisches Kurdistan) beteiligt war, übernahm seit 1997 die Führung der Al-Quds-Brigaden und spielte eine zentrale Rolle in der Festigung des politischen und militärischen Einflusses des Iran im Irak nach der Militäraggression der USA im Jahr 2003. Seit 2011 und später mit dem Aufkommen des IS in Syrien und im Irak übernahmen die Al-Quds-Brigaden defacto die Aufgabe paramilitärische und ideologisch treue Strukturen aufzubauen, um die Interessen der Islamischen Republik im Nahen Osten zu sichern. Der Kampf gegen den IS, aber auch die Stützung von Bashar al-Assad und von Marionettenregierungen im Irak um jeden Preis, sind zentraler Bestandteil ihrer Aufgaben.

Wie im Iran, wo die Revolutionsgarden fast alle wirtschaftlichen Stränge kontrollieren, heißt es hier auch neoliberale Umstrukturierung, Vetternwirtschaft, Korruption und die gewaltsame Unterdrückung der Bevölkerung, wenn sie für die eigene Souveränität, Unabhängigkeit und Würde auf die Strassen geht. Ob nun im Iran die proletarischen Klassen nach Brot und Freiheit rufen oder im Irak und Libanon die Menschen sich gegen Armut, Sektierertum und Diktaturen auflehnen – stets antworten die Revolutionsgarden, die Al-Quds-Brigade und die ihnen treuen Milizen mit roher Gewalt.

So viel zu Suleimani. Aber die Rechnung bliebe unvollständig ohne die Gräueltaten jener zu erwähnen, die ihn heute töteten. Der US-Imperialismus hat zur Durchsetzung seiner politischen und wirtschaftlichen Agenda in der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg Abermillionen Menschen ermordet. Im Mittleren Osten zieht sich seine Blutspur vom Irakkrieg mit über einer halben Million Toten bis in den Jemen, in dem derzeit Tag für Tag gemordet und ausgehungert wird. Die USA brachten dem Mittleren Osten nie Frieden, nie Prosperität, nie irgendetwas Gutes. Und auch die Hinrichtung von Suleimani wird nur noch mehr Verheerung bringen.

Die revolutionären Kräfte sollten Suleimani keine Träne nachtrauern, denn die proletarischen Klassen im Nahen Osten tun es bestimmt nicht. Und im gleichen Atemzug gilt die Verachtung dem amerikanischem Imperialismus, der seit Jahrzehnten eine mörderische Präsenz im Nahen Osten hat und nach Belieben Menschen aus der Luft ermorden lässt. Was im Irak dagegen notwendig wäre, ist der sofortige Abzug aller ausländischen Mächte und die Hoffnung und der Kampf für den Tag an dem Kriegsverbrecher – ob nun Trump oder Figuren wie Suleimani – zur Rechenschaft gezogen werden.

# Bildquelle: wikimedia.commons

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Das Weiße Haus hat dem NATO-Partner in Ankara grünes Licht für einen Einmarsch im Norden Syriens gegeben. Die Fraktionskämpfe innerhalb der US-Administration sind kompliziert, auch die Interessen Russlands und des Irans noch nicht klar. Wer jede für die Öffentlichkeit bestimmte Meldung für bare Münze nimmt, wird in einem Chaos der Desinformation hin und her geschleudert, weiß am Ende nicht mehr, wo oben und wo unten ist.

Doch eigentlich ist die Story nicht schwer zu verstehen: Wir haben ein faschistisches Regime in Ankara, das bei allen Friktionen mit den USA und Deutschland verbündet ist; dazu eine ungelöste „Kurdenfrage“ in der gesamten Region und den absoluten Willen der türkischen Regierung, jeden Ansatz von Selbstverwaltung der kurdischen Bevölkerung auszulöschen. Und auf der anderen Seite haben wir ein demokratisch-sozialistisches Projekt im Norden Syriens, das darum kämpft, sich gesellschaftlich weiter zu entwickeln und sich dabei militärisch wie diplomatisch verteidigen muss – durch unangenehme Bündnisse genauso wie mit zehntausenden bewaffneten Revolutionär*innen. Und zwar nicht erst jetzt, sondern seit es existiert. Und nicht nur gegen die Türkei, sondern gegen alle Global und Regional Player in Syrien sowie diverse dschihadistische Milizen.

Es prallen zwei Weltanschauungen aufeinander: die diversen kapitalistischen Nationen, die mit Gewalt den Mittleren Osten nach ihrem jeweiligen Interesse gestalten wollen; und die kurdische Bewegung, die auf dem Trümmerhaufen, den der Imperialismus in der Region hinterlassen hat, eine auf basisdemokratischer Selbstbestimmung aufbauendes Zusammenleben aller Völker und Religionsgemeinschaften erschaffen will, das ökologischen, geschlechtergerechten und sozialistischen Grundsätzen genügt.

Militärisch wird dieser Krieg nicht erst seit vorgestern ausgetragen. In Afrin hat er als andauernder Guerilla-Krieg gegen die Besatzer seit Januar 2018 nie geendet; im irakisch-türkischen Grenzgebiet sowie in den kurdischen Gebieten auf dem Territorium der Türkei läuft er seit Jahren auf hoher Intensität – und ohne jede Beachtung durch die internationale Öffentlichkeit.

Der nun – aller Wahrscheinlichkeit bevorstehende – Einmarsch der Türkei in die Gebiete der Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyriens hat dennoch eine neue Qualität. Er zielt auf die vollständige Zerschlagung der kurdischen Bewegung und ihrer Verbündeten in Syrien. Und er visiert ethnische Säuberungen in einem an die 1990er erinnernden Ausmaß an. Zudem ist er Teil des Projekts der Türkei, sich eine aus dschihadistischen Milizionären bestehende Proxy-Armee zu schaffen, die nach Bedarf in Nachbarstaaten einsetzbar ist.

Die Verteidigungsstrategie der zivilen wie militärischen Vertreter*innen der Demokratischen Konföderation ist divers. Bis zur völligen Unvermeidbarkeit des Krieges besteht sie in diplomatischen Schachspielen. So laufen derzeit Gespräche mit Damaskus, gleichzeitig wird darauf gesetzt, Widersprüche innerhalb der US-Regierung zu nutzen, nachdem sich zahlreiche Republikaner wie Demokraten – zumindest öffentlich – scharf gegen Trumps Deal mit Erdogan wandten.

Doch auch in Nordsyrien weiß man: Der Angriff der Türkei wird früher oder später, auf die ein oder andere Weise kommen, sollte nichts völlig Unvorhersagbares eintreten. Was aber dann? Leicht bewaffnete Menschen aus dem Volk gegen eine von den USA, Israel und Deutschland hochgerüsteten NATO-Staat? Ist das nicht von vornherein eine verlorene Schlacht? Und sollte man dann lieber nicht gleich die Waffen strecken?

Das zu glauben, die eigene Ohnmacht und Chancenlosigkeit zu zelebrieren, ist eine der herausragendsten Bemühungen jener Spezialkriegsführung, kurdisch: şerê taybet, die mit jeder Militäroperation einhergeht. Das Vertrauen der Unterdrückten in sich selbst, ein Subjekt von Geschichte zu sein, soll zerschlagen werden, bevor der erste Schuss gefallen ist. Regelmäßig werden hochrangige Kader*innen der kurdischen Bewegung für tot erklärt, nur um eine Woche später lächelnd auf Sterk TV aufzutauchen. Dr. Bahoz Erdal wurde türkischen Angaben zufolge bereits 11 Mal „liquidiert“, erfreut sich allerdings immer noch bester Gesundheit. Der angreifende Staat will sagen: Ihr könnt euch nicht wehren. Ihr seid klein. Gebt auf. Die kurdische Bewegung demonstriert seit 40 Jahren: Du bist selber klein. Ein tönerner Riese vielleicht, aber du kannst eine kämpfende Bevölkerung weder verstehen, noch schlagen.

Die Kraft aber, einen so verlustreichen Kampf zu führen, kommt aus der Überzeugung von einem politischen Ziel. Aus einer Ideologie, einer jener totgesagten Großen Erzählungen. Und der Krieg ist dementsprechend auch ein Krieg um die Köpfe. Und dieser şerê taybet kann viele Formen annehmen. Die offensichtlichen sind nicht schwer zu identifizieren: Abertausende nationalistischer Social-Media-Accounts schütten unter dem Hashtag #barispinarharekati – so der Operationsname des geplanten Einmarsches – Kurdenhass, Morddrohungen und Fake-News ins Internet. Im Wochentakt wird seit 40 Jahren wiederholt, man stehe Tage davor, die kurdische Bewegung endgültig und final zu besiegen.

Die nett gemeinte Variante dieses Spezialkriegs sind all jene fürsorglichen liberalen Beobachter*innen, die sich jetzt darin ergehen, „die Kurden“ als schwache, hilfsbedürftige Kinder zu inszenieren, denen unsere tollen Regierungen, sobald sie nur endlich ihre moralische Pflicht begreifen, rettend wie Superman zur Seite springen sollen.

Gerade für die liberalen Formen des şerê taybet sind auch wir Linke und Internationalist*innen sehr anfällig. Formen, die ob unserer Sozialisierung durch Liberalismus, Individualismus und Staatsgläubigkeit in unserer aller Köpfen vorkommen. Die wir reproduzieren, wenn wir schreiben. Und die wir uns abgewöhnen müssen, wenn wir als Revolutionär*innen und Internationalist*innen eine Rolle im Kampf um die Herzen und Gehirne spielen wollen.

Eine dieser Tendenzen ist, eine kämpfende, selbstbewusste, kräftige Bewegung zum bloßen Objekt zu degradieren. Zu armen Opfern, die wie Schafe von einem Global Player zum anderen durchgereicht werden. Hilf- und willenlose Gestalten, bedauernswert und traurig mitanzusehen. „We used the kurds and now we abandon them“, so eine trendige Formulierung dieses liberalen Mitleids aus den Vereinigten Staaten. Wir „verwendeten die Kurden“ – gemeint ist der Kampf gegen den Islamischen Staat -, jetzt geben wir sie auf. Die liberalen Meldungen, die die Revolution positiv wertend als nette „ground forces“ des US-Imperialismus inszenieren, sind da nur die Kehrseite der Russland-, Erdogan- und Assad-Fans, die sie als ebensolche „Proxies“ diffamieren. Dass da eine eigenständige Kraft ist, das können beide nicht begreifen.

Das Komplement dieser verbalen Herabsetzung einer revolutionären Bewegung zu einem vollständig von äußeren Mächten abhängigen Gegenstand ist das ständige appellieren an Staaten. Man bittet wahlweise die Bundesregierung, US-Senatoren, Außenminister, Regierungsparteien oder Regionalmächte jetzt doch endlich etwas moralisch richtiges zu tun – ganz als ob die nicht aus eigenen Interessen, sondern in ständiger Abwägung des sittlich Gebotenen handeln würden. Und man erfreut sich an jedem türkeikritischen Tweet – und komme er vom letzten reaktionären Schwein – als sei nun die Krise abgewendet.

Die Reaktion ist verständlich. Und sie ist erklärbar. Sie kommt aus einem Gefühl der Ohnmacht. Man sieht das Geschehen. Man will etwas tun. Aber es ist gar nicht so leicht herauszufinden, was man denn eigentlich Wirksames machen könnte. Gerade wir in Deutschland, organisiert in zutiefst zerrütteten Kleinstgruppen, haben es schwer, uns selbst etwas zuzutrauen. Wir leben in ständiger Angst. Und weil uns schon die kleinste Kleinigkeit das Schaudern lehrt, hoffen wir, jemand anders könnte jene Angelegenheiten regeln, die schmerzhaft und bedrückend sind.

Die Wahrheit jenseits aller diplomatischen Höflichkeitsbekundungen ist aber: In Kurdistan geht es längst um viel mehr als um das physische Überleben. Diejenigen, die die Revolution vorantreiben, wollen mehr als nur atmen, sich ernähren und gelegentlich tanzen. Es geht nicht um irgendein Existieren, sondern um ein Leben in Würde.

Die Mütter in Waffen, die schwören, ihr Leben bei der Verteidigung ihres Landes und ihrer Kinder zu geben, sind keine skurrile Propagandaklatsche. Die revolutionäre Kultur, nicht auf Knien leben zu wollen, ist wichtig für das, was Rojava ist. Sie ist es, die dafür sorgt, dass dieses Gebiet etwas anderes ist, als ein x-beliebiger von einer x-beliebigen Miliz besetzter öder Streifen Land. Es ist ein Aufbruch. Die Schönheit dieses Aufbruchs, bei all seinen Schwierigkeiten, liegt in der Unbeugsamkeit der Menschen in Nordsyrien. Als die Türkei im Januar 2018 in Afrin einfiel, fuhren zehntausende Zivilist*innen direkt in das Kriegsgebiet. Sie hatten wirklich das Bewusstsein, dass es ihr eigenes Land ist. Nicht das irgendeiner Bürokratie, irgendeiner Regierung. Ihres.

Wenn wir über die Revolution aufklären – und das wird in den kommenden Tagen unser aller Pflicht sein -, müssen wir genau das der bürgerlichen Berichterstattung – selbst jener, die oberflächlich betrachtet „freundlich“ ist – entgegenhalten. Denn: „Was der Feind will, ist unsere Entmenschlichung, die Niederlage“, schreibt Abdullah Öcalan in seinem Buch nasil yasamali, „Wie leben?“. Die Entmenschlichung aber hat viele Gesichter. Die verzerrten blutrünstigen Fratzen eines Erdogans oder Trumps sind nur die hässlichsten; aber die stets lächelnden, aalglatten Visagen aus diversen Think-Tanks und liberalen wie konservativen Kreisen gehören genauso dazu.

„Wir wissen, dass unsere Verbündeten keine Regierungen, Staaten und deren Armeen sind, sondern alle Frauen, die sich in allen Teilen der Welt erheben, um das Patriarchat zu stürzen. Unsere Verbündeten sind die Kräfte, die Tag für Tag eine andere Welt aufbauen und sich für ihre Verteidigung einsetzen“, schreibt die kurdische Frauenbewegung in Europa TJK-E in ihrem Aufruf zur aktuellen Mobilisierung.

Gemeint damit sind wir alle. Wir können uns davor nicht drücken. Und wir können es nicht delegieren. Und angesichts dessen, wie die Linke in diesem Land aufgestellt ist, sollten wir zumindest versuchen, über uns hinauszuwachsen, wenn der finale Angriff auf jenen Landstrich beginnt, den viele von uns in den vergangenen Jahren als Quelle der Hoffnung in düsteren Zeiten lieben gelernt haben. „Wenn Ihr keine großen Gefühle, großen Gedanken, großen Handlungen entwickelt, so werdet Ihr Gefangene des Feindes und zu seinen Instrumenten werden“, schreibt Öcalan. Wir sollten zumindest versuchen, diese Art der Gefangenschaft zu vermeiden. Auch wenn das nicht leicht oder bequem wird.

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Zwei Antifaschist*innen aus Deutschland sind letztes Jahr an der US-Westküste entlang gefahren. In sieben Städten haben sie Vorträge über die antifaschistische Bewegung in Deutschland gehalten und dort unterschiedliche Menschen getroffen: Von der jungen Basisgewerkschafterin zum Knast-Soli-Opa, von der Queer-Aktivist*in in der Kleinstadt bis zur maoistischen Straßengang in LA. Pünktlich zum Relaunch erscheint im Lower Class Magazine eine dreiteilige Artikelserie zu ihren Erlebnissen. Die Artikelserie bildet nicht die gesamte antifaschistische Bewegung in den USA ab, sondern beschränkt sich auf die Gruppen und deren Strategien, die unsere Autor*innen besucht haben.

(mehr …)
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Die USA wollen den Regime Change in Venezuela – und scheinen dazu bereit, das Land dafür mit Krieg zu überziehen.

Nachdem sich der bis dahin weitgehend unbekannte Juan Guaidó am 23. Januar in einem „Soft Putsch“ selbst zum Interims-Präsidenten Venezuelas ernannte und umgehend die Unterstützung der Trump-Administration erhielt, stehen die Zeichen in Venezuela weiter auf Eskalation. Das südamerikanische Land mit den größten Ölreserven der Welt hat in den letzten Tagen große Demonstrationen gesehen. Die großen Proteste gegen Maduro konzentrierten sich vorwiegend auf die reichen Bezirke der Großstädte. Auf der anderen Seite demonstrierten am Samstag Hunderttausende auf der Avenida Bolívar in Caracas in einem roten Flaggenmeer ihre Loyalität gegenüber der Regierung und der bolivarischen Revolution. Trotz der schweren Krise und Polarisierung im Land kommt die Gefahr aber klar von außen. (mehr …)

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