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Die ersten Demonstrationen gegen türkischen Einmarsch in Rojava, Nordsyrien, brachten bundesweit zehntausende Menschen auf die Straßen. In über 40 Städten wurde protestiert, die Veranstaltungen waren politisch breit aufgestellt – migrantische Gruppen, Kommunist*innen, Anarchist*innen, kurdische Verbände über Parteigrenzen hinweg -, und gemessen an deutschen Verhältnissen kann man die Stimmung als kämpferisch beschreiben.

Ein Erfolg also? Das kommt darauf an, wie es weitergeht. Wenn wir die Dynamik nutzen, um mehr und anderes als Demonstrationen zustande zu bekommen, ja. Wenn wir in eingespielte Muster zurückfallen, routiniert das Demo-Einmaleins abspulen, das wir kennen und können, dann nein.

Denn die gelernte und tausend Mal wiederholte Demo-Performance mag zwar ein wichtiger Teil des Gesamtkonzepts sein. Aber sie alleine reicht zu nichts. Sie übt keinen Druck aus. Und im schlimmsten Fall dient sie als eingehegte, kontrollierte Entladung von Wut: Man sieht das Unrecht, man will etwas tun, man geht auf die Demo – und hat danach das Gefühl, seinen Beitrag geleistet zu haben.

Aber das wird dem Anlass nicht gerecht. Während Jugendliche mit selbst zusammengeschraubten Motorrädern, auf denen Doschkas montiert sind, versuchen gegen Leopard-II-Panzer, Artillerie und eine NATO-Luftwaffe syrische Grenzstädte zu verteidigen; während über 70 Jahre alte Frauen, mit nichts als einer Kalaschnikow und einem Funkgerät in der Hand sich zehntausenden anrückenden Dschihadisten in den Weg stellen; und während Freiwillige in improvisierten Krankenhäusern um das Leben von Kindern, die ohne Beine, mit inneren Blutungen und Kopfverletzungen eingeliefert werden, kämpfen – während all das passiert, können wir uns nicht mit unserem Standard-Solidaritätsprogramm zufrieden geben, uns auf die Schultern klopfen, zurück in den Hörsaal, an den Arbeitsplatz oder in die Kneipe laufen und behaupten, wir waren ja auch dabei, beim großen Widerstand.

Wir müssen Druck aufbauen. Aber wie? In erster Linie müssen wir kreativer werden. In Bristol blockierten gestern vier aneinandergekettete Aktivist*innen mehrere Stunden lang den Waffenproduzenten BAE Bristol, auf dem Flughafen in Barcelona fand eine kleine Blockade gegen Turkish Airlines statt. Während des Afrin-Widerstandes haben sich Störungen von Bundespressekonferenzen als probates Mittel erwiesen, mit wenigen Genoss*innen und überschaubarem Repressionsdruck bundesweite und bis in die Türkei reichende Medienöffentlichkeit herzustellen.

Auch aus anderen Kontexten kennen wir wirksame Mittel, mehr Druck zu erzeugen, als mit dem Standard-Demoprogramm. Massendemonstrationen in Flughäfen, Ankett- oder Abseilaktionen an neuralgischen Punkten, Go-Ins bei Rüstungsfirmen oder in Parteibüros, Outings von Kriegsprofiteuren in ihrem privaten Umfeld – und vieles mehr.

Sicher, manche dieser Aktionen mögen den Repressionsbehörden missfallen. Wir werden es aushalten. Im Unterschied zu den Jugendlichen, Frauen und Männern Rojavas wird uns selbst bei der entschlossensten Blockadeaktion niemand eine Gliedmaße abtrennen, niemand wird uns durch die Brust schießen und niemand wird unsere Kinder verschleppen und auf Sklavenmärkten verkaufen. Wir verpassen eine Vorlesung, haben etwas Freizeit weniger und im schlimmsten Fall müssen wir Prozesse vor Gericht führen – so what?

Die Revolution in Rojava kämpft ums Überleben. Und selbst diejenigen, die mit dem politischen Aufbruch im Norden Syriens nichts anfangen können, sollten verstehen, dass es sich um einen imperialistischen Krieg handelt, in dem NATO-Staaten tausende Leben auslöschen werden.

Protest reicht hier nicht aus. Eine Aussicht auf diplomatische Vermeidung des mörderischen Feldzugs gibt es nicht mehr. Wir haben nicht viel an Organisation, Struktur und Logistik in diesem Land. Aber das, was wir haben, sollten wir jetzt in die Waagschale werfen. Ein Später gibt es nicht.

# Bildquelle: : @momozumkreis

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Das Weiße Haus hat dem NATO-Partner in Ankara grünes Licht für einen Einmarsch im Norden Syriens gegeben. Die Fraktionskämpfe innerhalb der US-Administration sind kompliziert, auch die Interessen Russlands und des Irans noch nicht klar. Wer jede für die Öffentlichkeit bestimmte Meldung für bare Münze nimmt, wird in einem Chaos der Desinformation hin und her geschleudert, weiß am Ende nicht mehr, wo oben und wo unten ist.

Doch eigentlich ist die Story nicht schwer zu verstehen: Wir haben ein faschistisches Regime in Ankara, das bei allen Friktionen mit den USA und Deutschland verbündet ist; dazu eine ungelöste „Kurdenfrage“ in der gesamten Region und den absoluten Willen der türkischen Regierung, jeden Ansatz von Selbstverwaltung der kurdischen Bevölkerung auszulöschen. Und auf der anderen Seite haben wir ein demokratisch-sozialistisches Projekt im Norden Syriens, das darum kämpft, sich gesellschaftlich weiter zu entwickeln und sich dabei militärisch wie diplomatisch verteidigen muss – durch unangenehme Bündnisse genauso wie mit zehntausenden bewaffneten Revolutionär*innen. Und zwar nicht erst jetzt, sondern seit es existiert. Und nicht nur gegen die Türkei, sondern gegen alle Global und Regional Player in Syrien sowie diverse dschihadistische Milizen.

Es prallen zwei Weltanschauungen aufeinander: die diversen kapitalistischen Nationen, die mit Gewalt den Mittleren Osten nach ihrem jeweiligen Interesse gestalten wollen; und die kurdische Bewegung, die auf dem Trümmerhaufen, den der Imperialismus in der Region hinterlassen hat, eine auf basisdemokratischer Selbstbestimmung aufbauendes Zusammenleben aller Völker und Religionsgemeinschaften erschaffen will, das ökologischen, geschlechtergerechten und sozialistischen Grundsätzen genügt.

Militärisch wird dieser Krieg nicht erst seit vorgestern ausgetragen. In Afrin hat er als andauernder Guerilla-Krieg gegen die Besatzer seit Januar 2018 nie geendet; im irakisch-türkischen Grenzgebiet sowie in den kurdischen Gebieten auf dem Territorium der Türkei läuft er seit Jahren auf hoher Intensität – und ohne jede Beachtung durch die internationale Öffentlichkeit.

Der nun – aller Wahrscheinlichkeit bevorstehende – Einmarsch der Türkei in die Gebiete der Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyriens hat dennoch eine neue Qualität. Er zielt auf die vollständige Zerschlagung der kurdischen Bewegung und ihrer Verbündeten in Syrien. Und er visiert ethnische Säuberungen in einem an die 1990er erinnernden Ausmaß an. Zudem ist er Teil des Projekts der Türkei, sich eine aus dschihadistischen Milizionären bestehende Proxy-Armee zu schaffen, die nach Bedarf in Nachbarstaaten einsetzbar ist.

Die Verteidigungsstrategie der zivilen wie militärischen Vertreter*innen der Demokratischen Konföderation ist divers. Bis zur völligen Unvermeidbarkeit des Krieges besteht sie in diplomatischen Schachspielen. So laufen derzeit Gespräche mit Damaskus, gleichzeitig wird darauf gesetzt, Widersprüche innerhalb der US-Regierung zu nutzen, nachdem sich zahlreiche Republikaner wie Demokraten – zumindest öffentlich – scharf gegen Trumps Deal mit Erdogan wandten.

Doch auch in Nordsyrien weiß man: Der Angriff der Türkei wird früher oder später, auf die ein oder andere Weise kommen, sollte nichts völlig Unvorhersagbares eintreten. Was aber dann? Leicht bewaffnete Menschen aus dem Volk gegen eine von den USA, Israel und Deutschland hochgerüsteten NATO-Staat? Ist das nicht von vornherein eine verlorene Schlacht? Und sollte man dann lieber nicht gleich die Waffen strecken?

Das zu glauben, die eigene Ohnmacht und Chancenlosigkeit zu zelebrieren, ist eine der herausragendsten Bemühungen jener Spezialkriegsführung, kurdisch: şerê taybet, die mit jeder Militäroperation einhergeht. Das Vertrauen der Unterdrückten in sich selbst, ein Subjekt von Geschichte zu sein, soll zerschlagen werden, bevor der erste Schuss gefallen ist. Regelmäßig werden hochrangige Kader*innen der kurdischen Bewegung für tot erklärt, nur um eine Woche später lächelnd auf Sterk TV aufzutauchen. Dr. Bahoz Erdal wurde türkischen Angaben zufolge bereits 11 Mal “liquidiert”, erfreut sich allerdings immer noch bester Gesundheit. Der angreifende Staat will sagen: Ihr könnt euch nicht wehren. Ihr seid klein. Gebt auf. Die kurdische Bewegung demonstriert seit 40 Jahren: Du bist selber klein. Ein tönerner Riese vielleicht, aber du kannst eine kämpfende Bevölkerung weder verstehen, noch schlagen.

Die Kraft aber, einen so verlustreichen Kampf zu führen, kommt aus der Überzeugung von einem politischen Ziel. Aus einer Ideologie, einer jener totgesagten Großen Erzählungen. Und der Krieg ist dementsprechend auch ein Krieg um die Köpfe. Und dieser şerê taybet kann viele Formen annehmen. Die offensichtlichen sind nicht schwer zu identifizieren: Abertausende nationalistischer Social-Media-Accounts schütten unter dem Hashtag #barispinarharekati – so der Operationsname des geplanten Einmarsches – Kurdenhass, Morddrohungen und Fake-News ins Internet. Im Wochentakt wird seit 40 Jahren wiederholt, man stehe Tage davor, die kurdische Bewegung endgültig und final zu besiegen.

Die nett gemeinte Variante dieses Spezialkriegs sind all jene fürsorglichen liberalen Beobachter*innen, die sich jetzt darin ergehen, „die Kurden“ als schwache, hilfsbedürftige Kinder zu inszenieren, denen unsere tollen Regierungen, sobald sie nur endlich ihre moralische Pflicht begreifen, rettend wie Superman zur Seite springen sollen.

Gerade für die liberalen Formen des şerê taybet sind auch wir Linke und Internationalist*innen sehr anfällig. Formen, die ob unserer Sozialisierung durch Liberalismus, Individualismus und Staatsgläubigkeit in unserer aller Köpfen vorkommen. Die wir reproduzieren, wenn wir schreiben. Und die wir uns abgewöhnen müssen, wenn wir als Revolutionär*innen und Internationalist*innen eine Rolle im Kampf um die Herzen und Gehirne spielen wollen.

Eine dieser Tendenzen ist, eine kämpfende, selbstbewusste, kräftige Bewegung zum bloßen Objekt zu degradieren. Zu armen Opfern, die wie Schafe von einem Global Player zum anderen durchgereicht werden. Hilf- und willenlose Gestalten, bedauernswert und traurig mitanzusehen. „We used the kurds and now we abandon them“, so eine trendige Formulierung dieses liberalen Mitleids aus den Vereinigten Staaten. Wir „verwendeten die Kurden“ – gemeint ist der Kampf gegen den Islamischen Staat -, jetzt geben wir sie auf. Die liberalen Meldungen, die die Revolution positiv wertend als nette „ground forces“ des US-Imperialismus inszenieren, sind da nur die Kehrseite der Russland-, Erdogan- und Assad-Fans, die sie als ebensolche „Proxies“ diffamieren. Dass da eine eigenständige Kraft ist, das können beide nicht begreifen.

Das Komplement dieser verbalen Herabsetzung einer revolutionären Bewegung zu einem vollständig von äußeren Mächten abhängigen Gegenstand ist das ständige appellieren an Staaten. Man bittet wahlweise die Bundesregierung, US-Senatoren, Außenminister, Regierungsparteien oder Regionalmächte jetzt doch endlich etwas moralisch richtiges zu tun – ganz als ob die nicht aus eigenen Interessen, sondern in ständiger Abwägung des sittlich Gebotenen handeln würden. Und man erfreut sich an jedem türkeikritischen Tweet – und komme er vom letzten reaktionären Schwein – als sei nun die Krise abgewendet.

Die Reaktion ist verständlich. Und sie ist erklärbar. Sie kommt aus einem Gefühl der Ohnmacht. Man sieht das Geschehen. Man will etwas tun. Aber es ist gar nicht so leicht herauszufinden, was man denn eigentlich Wirksames machen könnte. Gerade wir in Deutschland, organisiert in zutiefst zerrütteten Kleinstgruppen, haben es schwer, uns selbst etwas zuzutrauen. Wir leben in ständiger Angst. Und weil uns schon die kleinste Kleinigkeit das Schaudern lehrt, hoffen wir, jemand anders könnte jene Angelegenheiten regeln, die schmerzhaft und bedrückend sind.

Die Wahrheit jenseits aller diplomatischen Höflichkeitsbekundungen ist aber: In Kurdistan geht es längst um viel mehr als um das physische Überleben. Diejenigen, die die Revolution vorantreiben, wollen mehr als nur atmen, sich ernähren und gelegentlich tanzen. Es geht nicht um irgendein Existieren, sondern um ein Leben in Würde.

Die Mütter in Waffen, die schwören, ihr Leben bei der Verteidigung ihres Landes und ihrer Kinder zu geben, sind keine skurrile Propagandaklatsche. Die revolutionäre Kultur, nicht auf Knien leben zu wollen, ist wichtig für das, was Rojava ist. Sie ist es, die dafür sorgt, dass dieses Gebiet etwas anderes ist, als ein x-beliebiger von einer x-beliebigen Miliz besetzter öder Streifen Land. Es ist ein Aufbruch. Die Schönheit dieses Aufbruchs, bei all seinen Schwierigkeiten, liegt in der Unbeugsamkeit der Menschen in Nordsyrien. Als die Türkei im Januar 2018 in Afrin einfiel, fuhren zehntausende Zivilist*innen direkt in das Kriegsgebiet. Sie hatten wirklich das Bewusstsein, dass es ihr eigenes Land ist. Nicht das irgendeiner Bürokratie, irgendeiner Regierung. Ihres.

Wenn wir über die Revolution aufklären – und das wird in den kommenden Tagen unser aller Pflicht sein -, müssen wir genau das der bürgerlichen Berichterstattung – selbst jener, die oberflächlich betrachtet „freundlich“ ist – entgegenhalten. Denn: „Was der Feind will, ist unsere Entmenschlichung, die Niederlage“, schreibt Abdullah Öcalan in seinem Buch nasil yasamali, „Wie leben?“. Die Entmenschlichung aber hat viele Gesichter. Die verzerrten blutrünstigen Fratzen eines Erdogans oder Trumps sind nur die hässlichsten; aber die stets lächelnden, aalglatten Visagen aus diversen Think-Tanks und liberalen wie konservativen Kreisen gehören genauso dazu.

„Wir wissen, dass unsere Verbündeten keine Regierungen, Staaten und deren Armeen sind, sondern alle Frauen, die sich in allen Teilen der Welt erheben, um das Patriarchat zu stürzen. Unsere Verbündeten sind die Kräfte, die Tag für Tag eine andere Welt aufbauen und sich für ihre Verteidigung einsetzen“, schreibt die kurdische Frauenbewegung in Europa TJK-E in ihrem Aufruf zur aktuellen Mobilisierung.

Gemeint damit sind wir alle. Wir können uns davor nicht drücken. Und wir können es nicht delegieren. Und angesichts dessen, wie die Linke in diesem Land aufgestellt ist, sollten wir zumindest versuchen, über uns hinauszuwachsen, wenn der finale Angriff auf jenen Landstrich beginnt, den viele von uns in den vergangenen Jahren als Quelle der Hoffnung in düsteren Zeiten lieben gelernt haben. „Wenn Ihr keine großen Gefühle, großen Gedanken, großen Handlungen entwickelt, so werdet Ihr Gefangene des Feindes und zu seinen Instrumenten werden“, schreibt Öcalan. Wir sollten zumindest versuchen, diese Art der Gefangenschaft zu vermeiden. Auch wenn das nicht leicht oder bequem wird.

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Im Nordirak und in der Südtürkei greift die türkische Armee kurdische Gebiete an. Erdogans Feldzug könnte sich auch auf das nordsyrische Rojava ausweiten.

Die Kamera zeigt einen steinigen Hügel. Langsam kriecht ein LKW die enge Schotterstraße hinauf. „Hazir bê“, mach dich bereit, sagt eine Stimme auf kurdisch. Und wenig später: „Bitaqine“, lass es explodieren. Der LKW verschwindet in einer Wolke aus Feuer und Staub. Die Erklärung der kurdischen Volksverteidigungskräfte HPG im Abspann des Videos bilanziert: Drei türkische Soldaten sind bei der Aktion getötet worden.

Anschläge wie diesen in der kurdischen, im Südosten der Türkei gelegenen Provinz Hakkari (Colemêrg) sind derzeit häufig. Die Guerillakräfte der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) veröffentlichen fast täglich die Ergebnisse der Aktionen und Gefechte: Am 16. Juli griff die Frauenguerilla YJA-Star einen Wachposten einer Militärbasis bei Bajêrgan an; am 18. Juli wurden im Gebiet Dola Çingene türkische Soldaten von zwei Seiten angegriffen, die von Transporthubschraubern im Gelände abgesetzt werden sollten; am 19. Juli starben bei einer Sabotageaktion in Şirnex eine ungeklärte Anzahl an Besatzungsoldaten.

Die Schwerpunkte der aktuellen Kämpfe erstrecken sich rund um das türkisch-irakische Grenzgebiet, von den Provinzen Şirnex und Colemêrg bis weit in den Süden, auf irakisches Territorium. Dort versucht Ankara sich seit mehreren Monaten festzusetzen und – ähnlich wie seit Anfang 2018 in der nordsyrischen Kurdenprovinz Afrin – ein Terrorregime gegen die lokale Bevölkerung zu errichten.

Operation Klaue“

Ende Mai begann, so ist türkischen Regimezeitungen zu entnehmen, die Militäroperation „Klaue“, deren Ziel die „Auslöschung“ der kurdischen Befreiungsbewegung in den gebirgigen Regionen zwischen dem Irak und der Türkei ist. Dort liegen die sogenannten „Medya-Verteidigungsgebiete“, die als Hauptquartier der seit 40 Jahren gegen NATO und türkischen Kolonialismus kämpfenden kurdischen Befreiungsbewegung. „Diese Gebiete sind Stützpunktgebiete der Guerilla, aber sie sind vor allem das ideologische Herz der Partei“, erklärt Özgür Pirr Tirpe, ein Vertreter der kurdischen Revolutionären Jugendbewegung „Tevgera Ciwanên Şoreşger“ (TCS) gegenüber dem LCM. „Hier werden die Kader*innen ausgebildet. Strategische Zentren sind hier ebenfalls angesiedelt. Seit mehr als 30 Jahren nutzt die Bewegung diese Berge in Südkurdistan als Hauptquartier und Rückzugsgebiet zugleich.“

Irakisch-türkisches Grenzgebiet auf einer Karte der türkischen Propagandamedien – Gare, Metina, Zap, Xakurke zählen zu den von der PKK gehaltenen Gebieten

Die türkische Regierung weiß: Wenn sie diese Berge nicht knacken kann, kann sie die militärische, letztlich genozidale „Lösung“ der Kurdenfrage nicht umsetzen, die sie zum eigenen Machterhalt braucht. Deshalb steht dieses Gebiet seit Jahren unter Dauerbombardement der Luftwaffe. Doch allein durch Drohnen und Kampfjets ist den Guerillakämpfern nicht beizukommen. Ein weit verzweigtes Höhlensystem und jahrzehntelange Erfahrung im Konflikt mit der NATO-Armee garantieren die Sicherheit der PKK-Kämpfer*innen.

Deshalb verheizt die Türkei in regelmäßigen Abständen Soldaten beim Versuch, auch am Boden in die Medya-Verteidigungsgebiete einzudringen. „Die Region ist schwer zugänglich und äußerst bergig. Dementsprechend war es für die türkische Armee auch nie möglich, hier vollständig einzudringen. Es war immer nur möglich einzelne Hügel zu besetzen, aber unter dem Druck der HPG-Gerila mussten sie sich immer wieder zurückziehen“, sagt Özgür Pirr Tirpe.

Dementsprechend setzt sich auch die Strategie der derzeit laufenden, direkt im Anschluss an „Operation Klaue“ begonnenen „Operation Klaue 2“ aus verschiedenen Elementen zusammen. Der Luftraum wird andauernd mit Drohnen überwacht, Kampfjets bombardieren alles, was sich bewegt – meistens Zivilist*innen aus den Dörfern rund um die umkämpften Regionen. Gleichzeitig versuchen Hubschrauber Spezialeinheiten auf Hügeln abzusetzen, die dort Stützpunkte errichten sollen. Die allerdings haben oft eine relativ kurze Halbwertszeit, bevor die Guerilla sie wieder einreißt oder sprengt.

Kurdische Kollaborateure

Hauptschauplatz dieses Kampfes ist die Region Xakurke (Hakurk) im Nordirak. Und hier kommt eine weitere Kraft ins Spiel: Die „Demokratische Partei Kurdistans“ (KDP). Die eng mit Deutschland, den USA und der Türkei verbundene Gruppe herrscht in Teilen der Kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak. Basierend auf einem feudalen Clansystem lebt sie vom Ausverkauf der Ressourcen des Landes, stets bereit den ausländischen „Partnern“ jeden Dienst zu erweisen, der ihr die Macht über die eigene Bevölkerung sichert.

„Die KDP beschreibt sich selbst als patriotisch-nationalistische Partei die für die Freiheit Kurdistans kämpfen würde“, lacht Özgür Pirr Tirpe. „Tatsache aber ist, dass diese Partei in den letzten 16 Jahren der Herrschaft des Barzani-Clans nichts anderes war, als ein die Bevölkerung ausbeutendes Machtinstrument. Das gesamte Ölgeschäft, welches einen Großteil des Reichtums Südkurdistans darstellt, ist in den Händen dieser Familie zentralisiert. Auch sämtliche Posten innerhalb der KDP bleiben innerhalb der Familie Barzani.“

Der Barzani-Clan unterhält indes enge ökonomische Beziehungen zum Erdogan-Regime in der Türkei. Die Sprösslinge des Clans sind häufig in Ankara zu Gast. Und im Gegenzug für die Gunst der AKP-Diktatur hilft die KDP, wann immer sie kann, bei den Angriffen auf andere kurdische Parteien, insbesondere jenen, die der PKK nahe stehen. Derzeit stellt die KDP Stützpunkte ihrer Peschmerga-Truppen der türkischen Armee zur Verfügung, lässt türkische Soldaten frei in den Städten der Kurdischen Autonomieregion operieren und deckt den türkischen Geheimdienst MIT.

Unter der Ägide der KDP wurde in den vergangenen Jahren der Nordirak zu einem Gebiet, in dem es keine eigenen Hoheitsrechte mehr gibt. Die Türkei kann – auf dem Boden wie in der Luft – kommen und gehen, wie es ihr beliebt. Genau das dürfte ohnehin eines der Ziele der Besatzungsoperation sein: Das Erdogan-Regime hat mehr als einmal erklärt, es möchte sich Gebiete des früheren osmanischen Reichs wieder angliedern. Und dazu gehört eben auch die heute umkämpfte Region.

Ausweitung auf Nordsyrien?

Der Feldzug Erdogans könnte sich in naher Zukunft erneut ausweiten. Das erklärte Ziel der türkischen Regierung ist es, die Selbstverwaltungszone im Norden Syriens, die unter dem Namen Rojava internationale Bekanntheit erlangte, zu vernichten. Mit der seit 2018 andauernden Besatzung in einem Teil dieses Gebiets, dem nordwestsyrischen Afrin, begann dieser Angriff. Doch auch die verbleibenden Provinzen zwischen Kobane und Derik möchte die Türkei besetzen. Dass sie das bislang nicht konnte, liegt an den internationalen Konstellationen in Syrien: Die Interessen der USA und Russlands, von Damaskus und dem Iran ergaben bisher keinen Spielraum für einen Einmarsch.

Die Türkei beschießt zwar regelmäßig über die Grenze kurdische Dörfer und Städte, rüstet Islamisten auf, die Terroranschläge durchführen und setzt Felder in Brand, um die Bevölkerung zu vertreiben. Doch ihr Wunsch, einzumarschieren und sich das Gebiet einzuverleiben, blieb bislang ohne Genehmigung aus Russland oder den USA.

Dennoch könnte, so sind sich die kurdischen Verbände in Syrien einig, bald ein Vorstoß aus dem Norden drohen. Die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ bereiten sich auf den Krieg vor. Und das multiethnische Militärbündnis SDF (Demokratische Kräfte Syriens), das der Selbstverwaltung in Nordsyrien unterstellt ist, kündigte an, im gesamten Grenzgebiet der Türkei zu Syrien zurückschlagen zu wollen, sollte Ankara angreifen.

Auch Özgür Pirr Tirpe hält das Szenario nicht für allzu unwahrscheinlich: „Derzeit sieht es so aus, als könnte sich der bisherige Krieg niederer Intensität zu einem Krieg hoher Intensität entwickeln.“

Autoren: Peter Schaber und Hubert Maulhofer

Bildquelle: ANF

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Der IS kontrolliert keine Gebiete in Syrien mehr. Das ist ein Grund zur Freude. Doch der Krieg ist keineswegs vorüber.

Im Spätherbst 2014 standen Milizionäre der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in der nordsyrischen Kurdenmetropole Kobanê. Es sah schlecht aus. Dschihadisten twitterten schon, man werde die Stadt von den ungläubigen Kommunisten säubern. Der IS kontrollierte damals ein riesiges Gebiet, sowohl auf dem Territorium des Irak, wie auch in Syrien.

Doch der Jubel der islamistischen Mörder war verfrüht. Sie hatten die Rechnung ohne jene Bewegung gemacht, die seit über 40 Jahren im Kampf gegen die NATO, insbesondere den türkischen Staat, im Mittleren Osten überlebt. Knapp fünf Jahre später sieht die Karte Syriens und des Iraks vollständig anders aus. Der IS hat die letzten Gebiete, die er verbissen hielt, verloren. Viele seiner in- wie ausländischen Anführer sind tot oder in Gefangenschaft der Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF), des Bündnisses zwischen kurdischen, assyrischen, arabischen Milizen zur Verteidigung des Aufbaus eines Rätesystems im Norden Syriens.

Nicht nur Syrien kann aufatmen. Der blutige Krieg, das haben die Sprecher*innen der kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) immer wieder betont, war einer für die gesamte Menschheit. Sein Resultat ist die Zurückdrängung einer politischen Kraft, deren Herrschaft für Millionen Menschen, insbesondere für Frauen, im Mittleren Osten nichts als Unterdrückung, Tod und Erniedrigung bedeutete. Man muss es so deutlich sagen: Die immer noch in den USA wie Europa verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat zusammen mit ihren syrischen Verbündeten von YPG und YPJ weitere Genozide etwa im irakischen Jesidengebiet genauso verhindert wie Terroranschläge in Europa oder den Vereinigten Staaten.

Wie kam dieser Sieg zustande? Klar, eine kluge Bündnispolitik spielte eine Rolle; und klar, viel Diplomatie mit denen, die nur darauf warten, das demokratische Projekt in Nordsyrien auszulöschen, wurde betrieben.

Aber all dies wäre nichtig gewesen ohne die hunderttausenden Menschen, die im zivilen politischen Aufbau und in den militärischen Selbstverteidigungseinheiten tagtäglich ihr Bestes gaben. Und viele von ihnen gaben das letzte, was ihnen noch geblieben war: Ihr Leben. Der Preis für diesen Sieg war hoch. Alle, die in diesem Krieg oder im zivilen Aufbau im Norden Syriens einen Beitrag leisteten, haben Menschen verloren, die ihnen sehr nahe standen. Es gibt keine Mutter im Norden Syriens, die nicht eine Tochter oder einen Sohn beweint; keine Schwester, die nicht ihren gefallenen Bruder vermisst und kein Kind, das nicht seinen Onkel oder seine Tante in den Krieg ziehen und nicht mehr wiederkommen sah. Und es gibt unter den Internationalist*innen niemanden, der/die nicht Trauer und Wut über den Verlust von Anna Campbell, Kevin Jochim oder Lorenzo Orsetti fühlt.

Die Trumps und Macrons dieser Welt können sich den Sieg auf die Fahnen schreiben, errungen haben nicht sie ihn, sondern die tausenden Genoss*innen, die in den Schützengräben und Stellungen, auf den Häuserdächern und in den verschachtelten Straßen im Häuserkampf fielen. Dieser Sieg ist ein Sieg der Şehîds, der Gefallenen. An sie sollten wir denken, wenn wir in diesen Tagen jubeln und feiern.

Und wenn wir an sie denken, merken wir auch: Wir haben eine Schlacht gewonnen, aber der Krieg geht weiter. Denn das, wofür sie starben und wofür wir anderen überlebten, ist nicht nur die Zerschlagung einer besonders grausamen Miliz. Sie fielen im Kampf für eine bessere Welt, eine Welt jenseits der kapitalistischen Moderne und jenseits staatlicher, imperialistischer und kolonialer Unterdrückung.

Dieser Krieg geht weiter. Im Mittleren Osten lauern diejenigen, die das kleine befreite Gebiet im Norden und Osten Syriens auslöschen wollen: Das Erdogan-Regime, das es militärisch überrennen will; die Trump-Administration, die es in die Knie zwingen und entpolitisieren will; Moskau und Damaskus, die es dem Assad-Regime unterwerfen wollen. Die Phase, die nun beginnt, wird eine der Neuordnung der Bündnissysteme sein. Die USA wollen ihren Krieg gegen den Iran, die Türkei streben nach der Expansion des von ihr kontrollierten Territoriums. Die Karten werden, wieder einmal, neu gemischt.

Doch der Krieg geht nicht nur irgendwo weit weg, jenseits der Empörungsschwelle der Bevölkerungen der reichen westlichen Nationen weiter. Er geht auch hier weiter. Auch in Deutschland wird der Staat erneut ausholen, um die Kurdinnen und Kurden, die türkische Exilopposition und alle, die mit ihnen zusammenarbeiten, anzugreifen, zu verfolgen und einzusperren.

Wenn es soweit sein wird, dann sollten wir daran denken: Wir alle haben eine Schuld abzutragen. Wir als revolutionäre Linke sowieso, denn es war die kurdische Bewegung, die uns auf einen gangbaren Weg zurückführte, auf dem wir heute unsere ersten kindlichen Schritte gehen können. Aber auch alle anderen stehen in der Schuld der Gefallenen der Syrisch-Demokratischen Kräfte. Es wird genügend Gelegenheiten geben, um zumindest anzufangen, diese abzutragen.

#Titelbild Rodi Said/Reuters

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Cemil Bayik ist Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Co-Vorsitzender des Exekutivrats der Koma Civakên Kurdistan (KCK). Im zweiten Teil des Interviews spricht er über die drohende Invasion Rojavas durch die Türkei, den Stand der Verhandlungen zwischen der Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyriens und der syrischen Regierung und die Transformation der HPG und YJA-Star zur “Siegesguerilla”.
Teil 1 des Interviews kann hier nachgelesen werden. (mehr …)

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Cemil Bayik ist Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Co-Vorsitzender des Exekutivrats der Koma Civakên Kurdistan (KCK). Im ersten Teil des Interviews spricht er über den Abzug der US-Truppen aus Syrien, das Kopfgeld der USA, das auf Murat Karayilan, Duran Kalkan und ihn ausgesetzt wurde, und die Eskalation der Iranpolitik der USA.
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