Das Weiße Haus hat dem NATO-Partner in
Ankara grünes Licht für einen Einmarsch im Norden Syriens gegeben.
Die Fraktionskämpfe innerhalb der US-Administration sind
kompliziert, auch die Interessen Russlands und des Irans noch nicht
klar. Wer jede für die Öffentlichkeit bestimmte Meldung für bare
Münze nimmt, wird in einem Chaos der Desinformation hin und her
geschleudert, weiß am Ende nicht mehr, wo oben und wo unten ist.
Doch eigentlich ist die Story nicht
schwer zu verstehen: Wir haben ein faschistisches Regime in Ankara,
das bei allen Friktionen mit den USA und Deutschland verbündet ist;
dazu eine ungelöste „Kurdenfrage“ in der gesamten Region und den
absoluten Willen der türkischen Regierung, jeden Ansatz von
Selbstverwaltung der kurdischen Bevölkerung auszulöschen. Und auf
der anderen Seite haben wir ein demokratisch-sozialistisches Projekt
im Norden Syriens, das darum kämpft, sich gesellschaftlich weiter zu
entwickeln und sich dabei militärisch wie diplomatisch verteidigen
muss – durch unangenehme Bündnisse genauso wie mit zehntausenden
bewaffneten Revolutionär*innen. Und zwar nicht erst jetzt, sondern
seit es existiert. Und nicht nur gegen die Türkei, sondern gegen
alle Global und Regional Player in Syrien sowie diverse
dschihadistische Milizen.
Es prallen zwei Weltanschauungen
aufeinander: die diversen kapitalistischen Nationen, die mit Gewalt
den Mittleren Osten nach ihrem jeweiligen Interesse gestalten wollen;
und die kurdische Bewegung, die auf dem Trümmerhaufen, den der
Imperialismus in der Region hinterlassen hat, eine auf
basisdemokratischer Selbstbestimmung aufbauendes Zusammenleben aller
Völker und Religionsgemeinschaften erschaffen will, das
ökologischen, geschlechtergerechten und sozialistischen Grundsätzen
genügt.
Militärisch wird dieser Krieg nicht
erst seit vorgestern ausgetragen. In Afrin hat er als andauernder
Guerilla-Krieg gegen die Besatzer seit Januar 2018 nie geendet; im
irakisch-türkischen Grenzgebiet sowie in den kurdischen Gebieten auf
dem Territorium der Türkei läuft er seit Jahren auf hoher
Intensität – und ohne jede Beachtung durch die internationale
Öffentlichkeit.
Der nun – aller Wahrscheinlichkeit
bevorstehende – Einmarsch der Türkei in die Gebiete der
Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyriens hat dennoch eine
neue Qualität. Er zielt auf die vollständige Zerschlagung der
kurdischen Bewegung und ihrer Verbündeten in Syrien. Und er visiert
ethnische Säuberungen in einem an die 1990er erinnernden Ausmaß an.
Zudem ist er Teil des Projekts der Türkei, sich eine aus
dschihadistischen Milizionären bestehende Proxy-Armee zu schaffen,
die nach Bedarf in Nachbarstaaten einsetzbar ist.
Die Verteidigungsstrategie der zivilen
wie militärischen Vertreter*innen der Demokratischen Konföderation
ist divers. Bis zur völligen Unvermeidbarkeit des Krieges besteht
sie in diplomatischen Schachspielen. So laufen derzeit Gespräche mit
Damaskus, gleichzeitig wird darauf gesetzt, Widersprüche innerhalb
der US-Regierung zu nutzen, nachdem sich zahlreiche Republikaner wie
Demokraten – zumindest öffentlich – scharf gegen Trumps Deal mit
Erdogan wandten.
Doch auch in Nordsyrien weiß man: Der
Angriff der Türkei wird früher oder später, auf die ein oder
andere Weise kommen, sollte nichts völlig Unvorhersagbares
eintreten. Was aber dann? Leicht bewaffnete Menschen aus dem Volk
gegen eine von den USA, Israel und Deutschland hochgerüsteten
NATO-Staat? Ist das nicht von vornherein eine verlorene Schlacht? Und
sollte man dann lieber nicht gleich die Waffen strecken?
Das zu glauben, die eigene Ohnmacht und Chancenlosigkeit zu zelebrieren, ist eine der herausragendsten Bemühungen jener Spezialkriegsführung, kurdisch: şerê taybet, die mit jeder Militäroperation einhergeht. Das Vertrauen der Unterdrückten in sich selbst, ein Subjekt von Geschichte zu sein, soll zerschlagen werden, bevor der erste Schuss gefallen ist. Regelmäßig werden hochrangige Kader*innen der kurdischen Bewegung für tot erklärt, nur um eine Woche später lächelnd auf Sterk TV aufzutauchen. Dr. Bahoz Erdal wurde türkischen Angaben zufolge bereits 11 Mal „liquidiert“, erfreut sich allerdings immer noch bester Gesundheit. Der angreifende Staat will sagen: Ihr könnt euch nicht wehren. Ihr seid klein. Gebt auf. Die kurdische Bewegung demonstriert seit 40 Jahren: Du bist selber klein. Ein tönerner Riese vielleicht, aber du kannst eine kämpfende Bevölkerung weder verstehen, noch schlagen.
Die Kraft aber, einen so verlustreichen Kampf zu führen, kommt aus der Überzeugung von einem politischen Ziel. Aus einer Ideologie, einer jener totgesagten Großen Erzählungen. Und der Krieg ist dementsprechend auch ein Krieg um die Köpfe. Und dieser şerê taybet kann viele Formen annehmen. Die offensichtlichen sind nicht schwer zu identifizieren: Abertausende nationalistischer Social-Media-Accounts schütten unter dem Hashtag #barispinarharekati – so der Operationsname des geplanten Einmarsches – Kurdenhass, Morddrohungen und Fake-News ins Internet. Im Wochentakt wird seit 40 Jahren wiederholt, man stehe Tage davor, die kurdische Bewegung endgültig und final zu besiegen.
Die nett gemeinte Variante dieses Spezialkriegs sind all jene fürsorglichen liberalen Beobachter*innen, die sich jetzt darin ergehen, „die Kurden“ als schwache, hilfsbedürftige Kinder zu inszenieren, denen unsere tollen Regierungen, sobald sie nur endlich ihre moralische Pflicht begreifen, rettend wie Superman zur Seite springen sollen.
Gerade für die liberalen Formen des şerê taybet sind auch wir Linke und Internationalist*innen sehr anfällig. Formen, die ob unserer Sozialisierung durch Liberalismus, Individualismus und Staatsgläubigkeit in unserer aller Köpfen vorkommen. Die wir reproduzieren, wenn wir schreiben. Und die wir uns abgewöhnen müssen, wenn wir als Revolutionär*innen und Internationalist*innen eine Rolle im Kampf um die Herzen und Gehirne spielen wollen.
Eine dieser Tendenzen ist, eine kämpfende, selbstbewusste, kräftige Bewegung zum bloßen Objekt zu degradieren. Zu armen Opfern, die wie Schafe von einem Global Player zum anderen durchgereicht werden. Hilf- und willenlose Gestalten, bedauernswert und traurig mitanzusehen. „We used the kurds and now we abandon them“, so eine trendige Formulierung dieses liberalen Mitleids aus den Vereinigten Staaten. Wir „verwendeten die Kurden“ – gemeint ist der Kampf gegen den Islamischen Staat -, jetzt geben wir sie auf. Die liberalen Meldungen, die die Revolution positiv wertend als nette „ground forces“ des US-Imperialismus inszenieren, sind da nur die Kehrseite der Russland-, Erdogan- und Assad-Fans, die sie als ebensolche „Proxies“ diffamieren. Dass da eine eigenständige Kraft ist, das können beide nicht begreifen.
Das Komplement dieser verbalen Herabsetzung einer revolutionären Bewegung zu einem vollständig von äußeren Mächten abhängigen Gegenstand ist das ständige appellieren an Staaten. Man bittet wahlweise die Bundesregierung, US-Senatoren, Außenminister, Regierungsparteien oder Regionalmächte jetzt doch endlich etwas moralisch richtiges zu tun – ganz als ob die nicht aus eigenen Interessen, sondern in ständiger Abwägung des sittlich Gebotenen handeln würden. Und man erfreut sich an jedem türkeikritischen Tweet – und komme er vom letzten reaktionären Schwein – als sei nun die Krise abgewendet.
Die Reaktion ist verständlich. Und sie ist erklärbar. Sie kommt aus einem Gefühl der Ohnmacht. Man sieht das Geschehen. Man will etwas tun. Aber es ist gar nicht so leicht herauszufinden, was man denn eigentlich Wirksames machen könnte. Gerade wir in Deutschland, organisiert in zutiefst zerrütteten Kleinstgruppen, haben es schwer, uns selbst etwas zuzutrauen. Wir leben in ständiger Angst. Und weil uns schon die kleinste Kleinigkeit das Schaudern lehrt, hoffen wir, jemand anders könnte jene Angelegenheiten regeln, die schmerzhaft und bedrückend sind.
Die Wahrheit jenseits aller
diplomatischen Höflichkeitsbekundungen ist aber: In Kurdistan geht
es längst um viel mehr als um das physische Überleben. Diejenigen,
die die Revolution vorantreiben, wollen mehr als nur atmen, sich
ernähren und gelegentlich tanzen. Es geht nicht um irgendein
Existieren, sondern um ein Leben in Würde.
Die Mütter in Waffen, die
schwören, ihr Leben bei der Verteidigung ihres Landes und ihrer
Kinder zu geben, sind keine skurrile Propagandaklatsche. Die
revolutionäre Kultur, nicht auf Knien leben zu wollen, ist wichtig
für das, was Rojava ist. Sie ist es, die dafür sorgt, dass dieses
Gebiet etwas anderes ist, als ein x-beliebiger von einer x-beliebigen
Miliz besetzter öder Streifen Land. Es ist ein Aufbruch. Die
Schönheit dieses Aufbruchs, bei all seinen Schwierigkeiten, liegt in
der Unbeugsamkeit der Menschen in Nordsyrien. Als die Türkei im
Januar 2018 in Afrin einfiel, fuhren zehntausende Zivilist*innen
direkt in das Kriegsgebiet. Sie hatten wirklich das Bewusstsein, dass
es ihr eigenes Land ist. Nicht das irgendeiner Bürokratie,
irgendeiner Regierung. Ihres.
Wenn wir über die Revolution aufklären
– und das wird in den kommenden Tagen unser aller Pflicht sein -,
müssen wir genau das der bürgerlichen Berichterstattung – selbst
jener, die oberflächlich betrachtet „freundlich“ ist –
entgegenhalten. Denn: „Was der Feind will, ist unsere
Entmenschlichung, die Niederlage“, schreibt Abdullah Öcalan in
seinem Buch nasil yasamali, „Wie leben?“. Die Entmenschlichung
aber hat viele Gesichter. Die verzerrten blutrünstigen Fratzen eines
Erdogans oder Trumps sind nur die hässlichsten; aber die stets
lächelnden, aalglatten Visagen aus diversen Think-Tanks und
liberalen wie konservativen Kreisen gehören genauso dazu.
„Wir wissen, dass unsere Verbündeten
keine Regierungen, Staaten und deren Armeen sind, sondern alle
Frauen, die sich in allen Teilen der Welt erheben, um das Patriarchat
zu stürzen. Unsere Verbündeten sind die Kräfte, die Tag für Tag
eine andere Welt aufbauen und sich für ihre Verteidigung einsetzen“,
schreibt
die kurdische Frauenbewegung in Europa TJK-E in ihrem Aufruf zur
aktuellen Mobilisierung.
Gemeint damit sind wir alle. Wir können
uns davor nicht drücken. Und wir können es nicht delegieren. Und
angesichts dessen, wie die Linke in diesem Land aufgestellt ist,
sollten wir zumindest versuchen, über uns hinauszuwachsen, wenn der
finale Angriff auf jenen Landstrich beginnt, den viele von uns in den
vergangenen Jahren als Quelle der Hoffnung in düsteren Zeiten lieben
gelernt haben. „Wenn Ihr keine großen Gefühle, großen Gedanken,
großen Handlungen entwickelt, so werdet Ihr Gefangene des Feindes
und zu seinen Instrumenten werden“, schreibt Öcalan. Wir sollten
zumindest versuchen, diese Art der Gefangenschaft zu vermeiden. Auch
wenn das nicht leicht oder bequem wird.