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Heute, am 06.08.19, wurde eine Wohngemeinschaft in Dubliner Straße 8 in Berlin-Wedding zwangsgeräumt – allerdings nicht ohne Widerstand. Die WG kämpft seit vier Jahren zusammen mit linksradikalen Stadtteilgruppen für ihre Wohnung. Was hat es gebracht und welche Konsequenzen können gezogen werden?

Mobilisiert hat die WG auf jeden Fall, auch zur heutigen Zwangsräumung. Schon Tage zuvor waren im Wedding überall Plakate zu sehen. „Zwangsräumung stoppen“ als Aufruf, am 06. August um 6 Uhr morgens zur Dubliner Straße 8 zu kommen und die Räumung zu verhindern. Auch online wurde auf allen Kanälen mobilisiert, die man sich vorstellen kann: Homepages verschiedener Gruppen, auf de.indymedia.org, Facebook und Twitter. Aber auch kiezübergreifend ist die Dubliner 8 bekannt. So mobilisierte zum Beispiel auch die geräumte Friedel54 . „Man darf nicht vergessen: die meisten halten solche Prozesse nicht ewig durch und ziehen lieber aus, als sich den ewigen Stress mit den Eigentümern zu geben. Die WG in der Dubliner aber kämpft entschlossen und antikapitalistisch seit vier Jahren. Das finden viele toll und deswegen unterstützen auch so viele.“, so Alex vom Bündnis Zwangsräumung verhindern.

Stress haben die Bewohner*innen der seit 2010 bestehenden WG schon lange: 2012 wurde das Haus an die italienische Briefkastenfirma „Großvenediger GmbH“ verkauft, darunter ist seit 2014 die Martina-Schaale-Hausverwaltung zuständig. Seitdem musste sich die WG immer wieder mit falschen Betriebskostenabrechnungen, absurden Vorwürfen und mehreren fehlerhaften Kündigungen herumschlagen. „Zunächst kämpften wir gegen die Eigentümerfirma und die Hausverwaltung. Allein das war schon anstrengend.“ so Flo, einer der Bewohner der Dubliner 8.

Der Rechtsanwalt der Briefkastenfirma Hans Georg Helwig hatte schon in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, was er damit meint, wenn er auf seiner Homepage mit „kreativen rechtlichen Lösungen“ wirbt. So verklagte er die WG zum Beispiel wegen einer vermeintlich unzulässigen Mietminderung. Diese erfolgte, weil ein Wasserschaden nicht behoben wurde. Vor Gericht meinte Helwig anschließend, dass die Mietminderung zwar zulässig war, sie aber in den darauffolgenden Wochen nicht dem Abtrocknungsgrad des Wasserschadens angepasst worden sei. Die WG wurde daraufhin zu einer Räumung zum 25.04.18 verurteilt, das Urteil wurde aber wegen schwerer Rechtsfehler in der Berufung aufgehoben und die Räumung kurzerhand wieder abgesagt. Helwig blieb weiterhin kreativ.

So behauptete er nun, dass die WG gar keine WG sei, sondern eine „Personenmehrzahl“. Während man in einer WG die Mieter*innen selbstständig wechseln kann, bedeutet ein Wechsel bei einer Nicht-WG eine „unerlaubte Überlassung der Wohnung an Dritte“ – und ist dadurch ein Kündigungsgrund. Richter Reifenrath bestätigte den gegnerischen Anwalt darin, dass die vier jungen Menschen in der Wohnung keine WG seien. Reifenraths Begründung: bei zwei Frauen und zwei Männern in einer Wohnung handle es sich ganz klar um Paarbeziehungen. Diese konservative Vorstellung von Beziehungen führte schließlich zum Räumungstitel. Den Stress mit Eigentümer, Hausverwaltung und Justiz macht die WG seit vier Jahren öffentlich und bettet sie durch die Zusammenarbeit mit dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ und der linksradikalen Stadtteilinitiative „Hände weg vom Wedding“ in antikapitalistische Stadtteilkämpfe ein.

„Eigentlich war alles dabei, was man sich vorstellen kann. Menschen haben im Kiez plakatiert und geflyert, ständig auf unsere Situation aufmerksam gemacht. Wir haben an vielen Demonstrationen und öffentlichen Veranstaltung teilgenommen, zum Beispiel auch beim dem Lauf ‚Run for Rebels‘. Dieser wurde von der Radikalen Linken Berlin (RLB) organisiert und ging an vielen bedrohten Projekten und Wohnungen vorbei. Wir waren mit einem Stand vertreten. Insgesamt haben wir viel Zuspruch, vor allem von der Nachbarschaft, bekommen.“, so Flo. Eine besondere Aktionsform: die Online-Soap „Verdrängt in Berlin“. Sie dokumentiert all die Einzelheiten rund um die WG, die Vermietung und Hausverwaltung und deren Zusammenarbeit mit dem staatlichem Repressionsapparat. Denn diesen bekommt die WG, seit sie ihren Stress mit dem Eigentümer und der Hausverwaltung zusammen mit antikapitalistischen Gruppen öffentlich macht, auch deutlich zu spüren. „Am 30.04.19 gab es zum Beispiel im Rahmen der Organize Demo eine Kundgebung vor unserem Haus. Das ganze Haus war von einer Polizeikette umstellt.“ Aber nicht nur bei Demonstrationen, wo die Präsenz von Polizist*innen schon Normalität geworden ist, war die WG mit ihnen konfrontiert.

Als die angedrohte Räumung zum 25.04.2018 zwei Tage vorher abgesagt wurde, veranstaltete die WG in Freude darüber vor ihrem Haus ein gemeinsames „Käffchen statt Räumkommando“. Nicht eingeladen, trotzdem vor Ort: uniformierte Bullen, welche die Aktivist*innen und solidarischen Nachbar*innen stundenlang beim Kaffeetrinken beobachten. Im Innenhof des Hauses waren die Beamt*innen auch schon mal, „wahrscheinlich, um sich für die Zwangsräumung vorher die Lage anzuschauen“. Flo sieht sich seit der intensiven Stadtteilarbeit auch mit vielen Anzeigen konfrontiert. Die Vorwürfe: „eine Anzeige wegen angeblicher Verleumdung durch Verbreitung eines Plakats, eine weitere wegen geklebten DIN-A4-Zetteln an Haustüren. Das Klebeband soll wohl Rückstände an den Türen hinterlassen haben, woraus eine Sachbeschädigung konstruiert wurde. Die meiner Meinung nach lächerlichste Anzeige war wegen Hausfriedensbruch. Die Hausverwaltung hatte uns wegen Betriebskosten betrogen, weswegen wir direkt zu ihnen gingen. Sie ließen uns rein, aber als ich nach den Betriebskostenbelegen fragte, rief sie die Polizei und erstattete Anzeige. Die wurde auch angenommen.“

Die WG ist der Hausverwaltung und den Repressionsbehörden offensichtlich ein Dorn im Auge, weshalb, lassen sie auch durchsickern: im Zuge der Anzeige wegen Sachbeschädigung bekam Flo im Dezember 2017 von der Polizei eine schriftliche Befragung zugesandt. In dieser wird er nach seiner Beziehung zur linksradikalen Gruppe „Hände Weg vom Wedding“ gefragt.

Eindeutig: wenn linksradikale Gruppen eng mit der Nachbarschaft, wie in dem Fall der WG der Dubliner 8 zusammen arbeiten und von dieser auch viel Zuspruch erfahren, stellt das eine Bedrohung für den Staatsapparat dar. Anders ist die Aufdringlichkeit der Bullen nicht zu erklären. „Umso mehr wir mobilisieren und mit antikapitalistischen Perspektiven in die Nachbarschaft reingehen, desto mehr betreibt natürlich auch die Gegenseite, um uns im Keim zu ersticken“, so Alex von dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“.

Heute ist der Tag, an dem diese Mobilisierung und intensive Arbeit von vier Jahren um 6 Uhr zusammentrifft in Form von über 100 Menschen, die sich gegen die Zwangsräumung wehren wollen. Die Gerichtsvollzieherin hat sich um 7 Uhr angekündigt. „Unsere Erfahrung ist aber, dass es besser ist, früher da zu sein. Sonst machen die Bullen vielleicht alles um sieben dicht, dann kommt man nicht mehr zum Haus und kann nicht blockieren“, so Alex. Es gibt eine angemeldete Kundgebung direkt am Eingang der Dubliner Straße 8 mit bis zu 30 Demonstrant*innen, zwei Sitzblockaden vor Eingängen in der Glasgowerstraße, jeweils mit etwa 20-30 Blockierenden. „Wir sitzen hier, weil wir denken, dass die Bullen und die Gerichtsvollzieherin über die Eingänge zur Wohnung wollen.“, so eine Aktivistin in den Blockaden.

Vor Ort sind anfänglich nur wenige Polizist*innen, sowie allerdings die Zahl Demonstrant*innen steigt, kommen auch immer mehr Einsatzfahrzeuge und Wannen dazu. Zwischenzeitlich sind sieben Einsatzfahrzeuge und fünf Wannen vor Ort. „Fast eins zu eins Betreuung hier“, kommentiert ein Aktivist. Von Anfang an mit dabei: Zivilkräfte vom Staatsschutz, der PMS („Politisch Motivierte Straßengewalt“), welche das Geschehen beobachten . Die PMS-Einheit umfasst etwa 60 Polizeibeamt*innen zur Überwachung, Verfolgung und Einschüchterung politischer Aktivist*innen. Wer bei einer Demo von ihnen ins Visier genommen wird, kann später in der Datei „Straftäter-Links“ auftauchen. Angesicht der sehr freidlichen Proteste vor der Dubliner Str. 8 völlig absurd. Zwar dröhnt es durch die Lautsprecherboxen laut und kämpferisch, von einer Gewaltbereitschaft kann aber weder bei der angemeldeten Kundgebung noch bei den Sitzblockaden ausgegangen werden.
Unter den Demonstrierenden sind linke Aktivist*innen, sowie Nachbar*innen– der Protest ist vielfältig. Sie sind laut und wütend, mit vielen Parolen, Transparenten und Schildern gekommen und machen mit Pfannen und Kochlöffeln Lärm. „Nicht wir sind kriminell, sondern das System, was solche Schweinereien wie heute hier zulässt!“ dröhnt es vom Lautsprecher.

Es zeigt sich wieder einmal, dass es nicht einmal konfrontative Aktionsformen braucht, um die Staatsgewalt im Nacken zu haben. So wird auch die gewaltfreie Sitzblockade um 6:35 Uhr von den Bullen angegriffen. Allerdings ziehen diese auch schnell wieder ab, nachdem die Blockierenden lautstark demonstrieren. „Insgesamt wirken die Bullen heute ganz schön verwirrt. Vielleicht können die hier im Wedding nicht mit so etwas umgehen? Auch ist ihre Präsenz im Vergleich zu einer Zwangsräumung in Kreuzberg nicht so stark“, so Alex.

Allzu verwirrt scheinen sie dann aber doch nicht zu sein. So wie sich Flo damals schon dachte, dass die Polizei den Innenhof der Dublinerstr. 8 ausspäht, um sich über mögliche Wege zur Wohnung zu erkunden, bestätigt sich diese Vermutung heute. Gegen 7:20 Uhr, also kurz nach Ankündigung der Gerichtsvollzieherin, verschafft sich diese mitsamt Polizeiunterstützung einen völlig anderen Zugang zum Haus als die Blockierten. „Alle Innenhöfe zwischen der Dubliner und der Parallelstraße sind miteinander verbunden, beziehungsweise nur abgetrennt durch Zäune“, erklärt ein Aktivist vor Ort. So wird ein Maschendrahtzaun von den Bullen zerstört, die Gerichtsvollzieherin nutzt einen Eingang der Parallelstraße und räumt zusammen mit der Polizei gegen 7:30 Uhr die WG.

Die Räumung bleibt nicht unkommentiert. Gegen 8 Uhr zieht anschließend eine Spontandemonstration durch den Kiez Richtung Leopoldtplatz. Auch hier sind die Leute laut und wütend. Die Nachbarschaft wird über den Lautsprecher auf die Räumung hingewiesen, was Wirkung zeigt. Trotz der Uhrzeit schließen sich einige Passant*innen an und laufen bis zum Endpunkt mit.

Obwohl die WG heute geräumt wurde und in der Vergangenheit Repression erfahren musste, bereut sie ihren Kampf nicht, im Gegenteil. Es hat sich gezeigt, dass linksradikale nachbarschaftliche Organisierung sehr viel bringen kann. „Ein Mal stand auf einem „Verdrängt in Berlin Plakat“ mit Kuli geschrieben: ‚Weiter so – ihr seid stark!‘. Auch die Unterstützung und der Zuspruch beim Flyern war viel größer als wir dachten, was uns Mut gemacht hat. Ganz viele berichteten von eigenen Problemen durch die Gentrifizierung und haben uns Unterstützung zugesagt. Das fand ich cool!“., so Flo.

„Antikapitalistische Perspektiven müssen aber noch viel mehr in die aktuelle Mietenbewegung einfließen.“, so Alex. Diese sind im Wedding durch die WG der Dubliner. 8, dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ und „Hände weg vom Wedding“ heute auf jeden Fall schon einmal angekommen. Für zukünftige antikapitalistische und herrschaftsfeindliche Kämpfe, welche nicht in der linken Blase verharren wollen, kann das nur vom Vorteil sein. Linksradikale Stadtteilarbeit und nachbarschaftliche Organisierung sind bitter nötig. Laut dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ gibt es in Berlin jährlich 5.000 Räumungsurteile, 30.000 Menschen leben in Notunterkünften, 10.000 auf der Straße. Aktuell sind Alex, Cora, Diesel A, Gerald, die Habersaathstraße, Lene, die Meuterei, Munir, der Oranien-Späti, die Potse, die Liebig 34, die Reiche 73 und das Syndikat von Zwangsräumung bedroht, wobei dass nur diejenigen sind, welche ihre Situation öffentlich gemacht haben.

Aber auch berlinweit werden, angesichts dieser zuspitzenden Wohnungspolitik, linksradikale antikapitalistische Positionen lauter. Kiezkommunen bilden sich, Aktivist*innen besetzen leere Häuser und Wohnungen, in Kreuzberg verhinderten Kiezinitiativen weltweit zum ersten Mal einen Google Campus und die Zahl der militanten Aktionen gegen Verdrängung und in Solidarität mit bedrohten Projekten nimmt stetig zu. „Für tatsächliche Veränderungen ist ziviler Ungehorsam notwendig. Davon braucht es auf jeden Fall noch mehr!“, so Alex.

Am Beispiel der Dubliner 8 zeigen sich beide Seiten wachsender linksradikaler Kämpfe: Wenn antikapitalistische Perspektiven in die Mietenbewegung einfließen, fühlt sich der Staat bedroht, „denn man könnte ja ein gemeinsames Klassenbewusstsein entwickeln und damit die herrschende kapitalistische Ordnung in Frage stellen, sich gegen sie organisieren und rebellieren“, sagt Alex zwinkernd. Infolgedessen schwingt der Staat die Repressionskeule, um es gar nicht erst zu einer Organisierung kommen zu lassen. Und manchmal funktioniert diese Keule auch ganz gut. „Durch die zunehmende Repression nehmen an unseren Aktionen zivilen Ungehorsams immer weniger Leute Teil. Da merkt man dann leider schon, dass deren Strategie ganz gut aufgeht“, so Alex.

Die WG ließ und lässt sich aber nicht einschüchtern. „Wir machen auf jeden Fall weiter. Solange, bis alle in dieser Stadt leben können, unabhängig von ihrem Geld auf dem Konto.“

#Titelbild: Spontandemonstration nach der Zwangsräumung zum Leopoldtplatz

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„Am 5. November 2018 haben die Inkompetenz, die Verachtung und die Spielereien der Stadt Marseille Ouloumé, Fabien, Simona, Pape Maguette, Marie-Emannuelle, Chérif, Taher und Julien ermordet. Zineb, gestorben am 2. November an den Folgen einer Tränengasgranate, wurde auch zu Ihrem Opfer.“ Manifest für ein „Marseille populaire“ 2019

Als am 5. November in Marseille zwei Häuser einstürzten, wussten alle, dass es nicht der Regen war. Der Bürgermeister, Jean-Claude Gaudin, 85 Jahre alt und seit 25 Jahren im Amt, versuchte zwar dieses Bild in den Medien zu streuen, aber niemand glaubte ihm.

Es war klar, dass es die Risse in den Mauern, die maroden Balken und die herabfallende Fassade waren, die dem Gewicht eines menschenunwürdigen Systems nicht mehr standhalten konnten. Der Regen war nur ein Vorwand um sich aus der Affäre zu ziehen, denn die Häuser waren schon lange einsturzgefährdet und Gaudin, sowie die Stadt wussten das. Sie hatten Gutachten anfertigen lassen; die Rue d’Aubagne 63, die sich in ihrem Besitz befand, wurde schon vor ein paar Jahren geräumt und seitdem dem Verfall und den Ziagrettendealern und Junkies überlassen. Doch das Nachbarhaus, die Nummer 65, war immer noch bewohnt und hatte Mietverträge. Die Bewohner*innen durften erst ein paar Wochen zuvor in Ihre Wohnungen zurückkehren, nachdem sie für ein paar Tage evakuiert worden waren. In den Tagen vor dem 5. November riefen sie vergeblich immer wieder bei der Immobilienfirma, die das Haus verwaltete und bei der Stadt an. Es knarrte und ächzte, die Wände waren nass, die Risse wurden immer größer und die Decken wölbten sich. Weder die Stadt, noch die Verwaltung schickten jemanden. Die Wohnungen gehörten schließlich einer Eigentümer*innengemeinschaft, die nicht renovieren ließ. Es gab zwar ein neues Gutachten vom 15. Oktober, dem zufolge das Haus nicht mehr bewohnbar sei und die Stadt damit in Mitverantwortung nahm, aber den Bewohner*innen gegenüber hieß es, es sei alles eigentlich gar kein Problem. Außerdem wohnten sie in Noailles, einem der Armenviertel im Zentrum, da seien die Wohnungen halt etwas heruntergekommen. Diejenigen, die konnten zogen woanders hin oder schliefen bei Freund*innen und Familie, die Anderen blieben.

Es gibt weitere Gutachten, die sagen, dass etwa 100.000 Menschen in Marseille nur ein ungesundes und unwürdiges wohnen ermöglicht wird, denn 40.000 Wohnungen seien in schlechtem Zustand oder einsturzgefährdet. Diese Häuser befinden sich vor allem in den armen Vierteln im Zentrum, und in den berüchtigten Nordvierteln. Dieser Zustand ist Gaudin und der Stadt schon lange bekannt und trotzdem wurden die Förderung für Stadtentwicklung systematisch gekürzt.

Seitdem die beiden Häuser der Rue d’Aubagne eingestürzt sind, wurden mehr als 2.200 Menschen aus Ihren Wohnungen zwangsevakuiert. Ganze Straßenzüge stehen leer. „Die meisten von uns hatten nur eine Stunde um Sachen aus der Wohnung zu holen, ich hatte weniger. Das durften die eigentlich nicht, aber den Bullen war das egal, die mögen uns einfachen Leute aus Noailles nicht so. Seitdem bin ich mit den anderen in einem Hotel am Stadtrand untergebracht. Ich habe noch Glück, ein paar meiner Nachbarn sind auch hier. Es tut gut, ein paar bekannte Gesichter zu sehen.“ so Thierry aus evakuierten der Rue des Feuillants 22 in Noailles im Gespräch mit dem LCM. Frühstück gibt morgens im Hotel, mittags und abends kann man in der Kantine im Zentrum umsonst essen. Sodexo, die Firma die für den Fraß in vielen Knästen verantwortlich ist, liefert. Die Schulwege haben sich verdreifacht, die Kids wissen nicht was los ist. Niemand weiß wie lange das noch so weiter gehen wird. Auch die Schulen sind marode, die Lehrer streiken deswegen immer wieder, aber nichts passiert. Trotzdem – da sind sich alle einig – beschissener als in ihren alten Wohnungen kann es nicht werden.

Dabei wurden 2013, als Marseille Europäische Kulturhauptstadt wurde, 20 Millionen Euro für die Sanierung der Häuser im Zentrum zur Verfügung gestellt. Nur ein Drittel davon floss wirklich in die Sanierung, der Rest versickerte still und heimlich in irgendwelchen Taschen. Üblich für Marseille, einer der korruptesten Städte Frankreichs. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es hier drei Bürgermeister. „Alles Mafiosis“, wie fast alle sagen, die man nach ihnen fragt. Denn Marseille ist die Vorzeigestadt des Klientelismus, hier wird mit Gefälligkeiten Politik gemacht. Bauprojekte gegen Wählerstimmen, Gesetze gegen Imagekampagnen, Loyalität, Prestige und Kapital, das geht schon sehr lange so. Investiert wird vor allem in Fassaden, in Luxusprojekte und nicht in menschenwürdige Wohnverhältnisse in den Armenvierteln. Am 5. November forderte diese Politik der Verachtung ihre Opfer.

Es dauerte vier Tage bis alle Toten geborgen wurden, die acht Märtyrer der Rue d’Aubagne wie sie im Viertel genannt werden. Sie stehen symbolisch für all die Verlierer eines korrupten, klientelistischen Systems, die aufgrund ihrer Klasse und den diskriminierenden Faktoren der Stadtpolitik und Gesellschaft tagtäglich ihr Leben aufs Spiel setzen müssen. Viele von ihnen sind ohne französischen Pass oder ganz ohne Papiere, denn der Großteil der 900.000 offiziellen Bewohner*innen Marseilles hat eine Migrationsgeschichte. Der Hafen ist schon lange ein Tor und die Stadt ein Zufluchtsort für Menschen aus der ganzen Welt. Armenier*innen, Jüd*innen, spanische und italienische Kommunist*innen, die pieds noires aus Algerien, Menschen aus dem Maghreb und Zentralafrika, politische Flüchtlinge aus der Türkei, Kurd*innen, Roma, Syrer*innen, Afghan*innenen. Sie alle kamen und kommen und finden hier ein zu Hause. Sie leben in diesen Vierteln, die populaire genannt werden. Populaire bedeutet soviel wie kulturell durchmischt und nicht reich und steht im Gegensatz zu citoyen und bourgeois, was bürgerlich, also auch mit französischem Pass bedeutet. Diese quartiers populaires befinden sich untypisch auch im Zentrum der Stadt, so das man sie sehen, riechen und spüren kann. Doch die Mittelmeerstadt lockt reiche Investoren. Seit einigen Jahren soll direkt an den Markt von Noailles ein Luxushotel gebaut werden, ein Millionenprojekt. Gerade erst privatisiert, subventioniert von der Stadt, gebaut von Bekannten des Bürgermeisters.

Mit all seiner Brutalität zeigte sich in Noailles, wie sehr die Regierung gegen diese quartiers populaires vorgeht; wie sie eine rassistische Politik des Verfalls vorantreibt und versucht die Menschen systematisch aus Ihren Kiezen zu vertreiben. Bei seinem zweiten Amtsantritt sagte Bürgermeister Gaudin „Das populäre Marseille ist nicht maghrebisch, nicht comorisch, das Zentrum wurde von Fremden erobert. Ich, ich renoviere, ich kämpfe gegen die Händler des Schlafmarktes und ich lasse die Bürger wiederkommen, die auch Steuern bezahlen.“

Um in Marseille eine Wohnung mieten zu können, muss man eine hohe Kaution hinterlegen und mindestens das dreifache der Miete verdienen. Doch das kann fast niemand und die, die nicht wissen, wo man sich seine Kontoauszüge fälschen lassen kann, greifen auf den marché de sommeil (Schlafmarkt) zurück. Auf Ganoven, Kapitalisten, die neue Schlösser an leerstehende Häuser anbringen und die heruntergekommenen Wohnungen dann wochenweise, völlig überteuert vermieten. Oder auf Wohnungseigentümer*innen, die maximalen Profit aus der Misere anderer schlagen wollen. Zum Beispiel Xavier Cachard, der mittlerweile suspendierte Co-Vorsitzende des Bezirksrates der Stadt, der eine Wohnung in der Rue d’Aubagne Nummer 65 besaß und Anwalt mit einer Spezialisierung auf Immobilien ist. Er kannte den Zustand des Gebäudes genau, wusste auch von dem Gutachten, bekam Briefe von den Bewohner*innen und stimmte über die Jahre konstant für Kürzungen der Renovierung der Häuser in den quartier populaires. Jetzt vertritt er als Anwalt seine Eigentümergemeinschaft juristisch.

Die Stadtpolitik Marseilles ist entsprechend. Sozialer Wohnungsbau wird gekürzt und Fassaden werden saniert. Was mit den heruntergekommenen Häusern passiert ist nicht klar und viele Menschen befürchten zurecht, dass in ein paar Jahren einfach alles abgerissen wird und dann neue schicke Häuser gebaut werden. Das ist in Marseille schonmal passiert, ein ganzes Arbeiterviertel der Altstadt wurde nach und nach geräumt. Nachdem alle Häuser leer waren, wurden sie kurzerhand abgerissen und es entstand die sogenannte große Leere, eine riesige Brachfläche. Nach dem zweiten Weltkrieg entstand dort dann ein Börsenviertel, mit ganz vielen Neubauten.

Doch so richtig klappt die Gentrifizierung, wie von Gaudin und seinen Freunden angestrebt nicht. Das liegt nicht zuletzt am Widerstand der Menschen, denn sie organisieren sich gegen all den Wahnsinn. Im Herbst gab es Auseinandersetzungen rund um den Platz von La Plaine und eine Mauer aus Beton wurde gebaut, um die Bauarbeiten vor Sabotageaktionen zu schützen. 20 Millionen kostet diese Baustelle plus nochmal etwa zwei Millionen Euro für die Polizieinsätze und den Bau der Mauer.

Die Märtyrer der Rue d’Aubagne und der Mord an Zineb Redouane die von den Bullen mit einer Tränengasgranate beschossen wurde, als sie ihre Fenstern schließen wollte, haben die Menschen bedrückt und betroffen gemacht, aber auch sehr wütend. Initiativen haben sich gegründet, es finden Demos und Kundgebungen statt, öffentliche Versammlungen werden abgehalten, es wird versucht Kämpfe zu verbinden.

Da es seit dem 5. November sehr viel schwerer ist, heimlich in leeren Häusern zu wohnen, der Staat nichts macht und es in Marseille mehr als 12.000 Obdachlose gibt, besetzten im Dezember geflüchtete Minderjährige ein Gebäude im Norden der Stadt, den Squat St. Just. Am 1 April endete die Zeit im Winter, in der Räumungen in Frankreich nicht erlaubt sind und was jetzt aus den mehr als 200 Bewohner*innen wird ist unklar. Wohnungen stehen nur theoretisch in Aussicht. „Die Beamten, die uns eigentlich helfen sollen, stecken sich das Geld doch nur in Ihre Taschen und wir müssen draußen schlafen. Nichtmal ihre Hunde müssen draußen schlafen. Aber egal was sie machen, wir sind da und nicht einfach so weg. Wir werden nicht ruhig bleiben, dass ist klar!“ so ein Aktivist und Bewohner von St. Just, der nicht namentlich genannt werden will zum LCM.

Dann wären da noch die gilets jaunes und all die Diskurse die darum schweben. Repräsentative Demokratie, die regierende Elite, der Kapitalismus, soziale Fragen. Die Positionen innerhalb der Linken sind divers, denn die gilets jaunes sind umstritten, manche supporten, andere nicht. Die Aktionen, die Blockaden von Supermärkten, die Straßenbarrikaden, die Autobahnbesetzungen, die Grillabende an Straßenecken und die Fahrradrennen um die Baustellen, wegen denen es gerne mal Stau in der ganzen Stadt gibt zeigen aber, dass sich etwas bewegt.

Ein paar Tage nach dem 5. November gab es einen Trauermarsch durch die Stadt, die Menschen wollten Gedenken und wurden schließlich von den Bullen durchs Viertel gejagt. Die Rue d’Aubagne versank an diesem Tag wieder in einer Wolke, nur diesmal nicht aus Staub, sondern aus Tränengas.

# Theresa Bauer ist Journalistin und Aktivistin und in Frankreich und Deutschland unterwegs
# Titelbild: Demo am 1. Dezember in Marseille, Wikimedia Commons, Lewisiscrazy CC-BY-SA 4.0

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