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Interview mit Çiğdem Çidamlı, früheres Mitglied der Bewegung der Volkshäuser (Halkevleri) in der Türkei und aktuell aktiv in der feministischen Bewegung. Wir sprachen mit ihr über revolutionäre Basisarbeit in unterschiedlichen historischen Phasen und die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der revolutionären Theorie und Programmatik. Das Interview wurde 2020 von kollektiv aus Bremen geführt. 

Kannst du etwas über deine politische Vergangenheit erzählen?

Als 1980 der Militärputsch in der Türkei stattfand, war ich eigentlich noch ein Kind. Ich war in keiner festen politischen Organisation. Wir waren vielmehr in unserer Schule organisiert und befanden uns im alltäglichen Kampf gegen die paramilitärischen faschistischen Kräfte. 

Auch nach dem Militärputsch war ich als junge marxistische Universitätsstudentin bei keiner politischen Organisation. Tatsächlich hatte ich eine Art von politischer Reaktion und Wut gegenüber den politischen Positionen der linken Organisationen der damaligen Zeit. Ich war wütend, weil sie den Widerstand nicht weiter geführt hatten, weil sie nicht so stark waren, wie sie vor dem Staatsstreich vorgegeben hatten und dem Militärputsch nichts entgegen setzen konnten [lacht]. Das heißt, das konstituierende Element meiner politischen Geschichte war nicht geprägt durch politische Organisationen. Ich habe versucht, einen Weg des Kampfes zu finden, der über die damaligen organisatorischen, ideologischen oder programmatischen Formen hinaus ging. Ich war damals – Anfang der 90er Jahre – eine Person, die eine revolutionäre Praxis und Organisation wollte, aber die dachte, dass die Dinge radikal anders sein sollten als die bisherigen Gewohnheiten und organisatorischen und ideologischen Formen der sozialistischen Linken im Allgemeinen. 

Wo warst du damals aktiv?

Der Hauptteil meines organisierten politischen Lebens begann eigentlich zu dem Zeitpunkt, als die „großen Brüder“ aus dem Gefängnis kamen und nicht mehr die Dinge machen konnten, die sie vorher gemacht hatten. Ab 1995 war ich Teil der politischen Organisation, die u.a. versucht hat, die Halkevleri (Volkshäuser) und die Bewegung der prekären Arbeiter*innen aufzubauen. Da ich aktuell kein Mitglied der Bewegung mehr bin, spreche ich hier jetzt jedoch als Einzelperson. 

Ich habe als Außenseiterin in der Organisation angefangen. Eine junge Frau, die dachte, dass sie radikalen Einfluss haben und etwas verändern kann – die Tradition aufnehmen, aber sie auf neue Weise interpretieren. Ich habe ca. 15 Jahre lang daran gearbeitet, einen ideologisch-theoretisch politischen Rahmen für die neue Organisation oder Strömung der Halkevleri (Volkshäuser) zu schaffen. Zu Beginn der 2010er Jahre bin ich dann in einen Stadtteil in Istanbul gegangen, um dort Stadtteilbasisarbeit zu machen. Kurze Zeit später begann die Gezi-Revolte. 

In der Türkei waren die Gezi-Proteste tatsächlich ein sehr wichtiger Wendepunkt für alle politischen Szenen und alle linken Organisationen, egal ob basisorientiert oder nicht. Und natürlich auch in unseren persönlichen Leben. Gezi hat uns dazu gezwungen die eingefrorenen Verhältnisse infrage zu stellen und tut es noch immer – wie in dem berühmten Satz „wir müssen die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.1

Nach den Gezi Protesten haben wir für ein oder zwei Jahre einen Aufschwung der ökologischen und urbanen Bewegungen erlebt, die bereits vor der Revolte begonnen hatten, wie z.B. die Bewegung zur Verteidigung der nördlichen Wälder der Marmara Region oder im städtischen Raum die sogenannten Solidaritäts-Verteidigungsbewegungen. Ich war in diesen ökologischen und sozialen Bewegungen aktiv. Aber nach dem terroristischen Anschlag auf die oppositionellen Kräfte durch den Staat in Gestalt des Bombenanschlags vom 10. Oktober 2015 in Ankara, kam es zu einer Art Rückzug. Die einzige Bewegung, die sich nicht von den Straßen zurück gezogen hat, sondern ihre sozialen und politischen Kämpfen weiter führte, war die feministische Bewegung / Frauenbewegung. Ich war immer schon mit Frauen in den Stadtteilen aktiv gewesen. Ich habe versucht, eine Art feministische Tradition in meiner eigenen Gruppe aufzubauen, die bis zu diesem Zeitpunkt keine explizit feministische Haltung vertrat (obwohl sie schon vor dem Militärputsch Frauen in den Stadtteilen organisierte). In den letzten drei bis vier Jahren haben wir versucht, eine Art unabhängige Frauenorganisation aufzubauen, das Frauenverteidigungsnetzwerk (Kadın Savunma Ağı). Tatsächlich war ich in den letzten drei bis vier Jahren vorwiegend in diesem Kampf praktisch involviert. 

Die Organisation, in der du aktiv warst, hat revolutionäre Basisarbeit als wichtigen Bestandteil ihrer strategischen Ausrichtung betrachtet. Heute, 30 Jahre später, wird innerhalb der linken Bewegung wieder über die Notwendigkeit von Basisarbeit gesprochen. Was sind deine Erfahrungen und Rückschlüsse in Bezug auf die Bedeutung von Basisarbeit?

Eigentlich war es verblüffend und überraschend, als ich vor dem Interview die 11 Thesen2 gelesen habe, die ihr von kollektiv geschrieben habt. Ich denke, dass die zentralen Diskussionen und Fragen sehr ähnlich zu den Fragen sind, die wir hier diskutieren. Auch wenn die Geographie und die konkreten Bedingungen sich unterscheiden. Aber die Frage, was wir als Linke tun sollten, ist uns natürlich allen gemein, und diese Gemeinsamkeit teilen wir mit der europäischen, der lateinamerikanischen und sogar mit der nordamerikanischen Linken. Alle Diskussionen stehen in einem ähnlichen Kontext. 

Ich denke, wir befinden uns an einem neuen Wendepunkt in der Geschichte. Wir waren bereits an einem Wendepunkt als die Pandemie begann, die mit all den vielfältigen Krisen des kapitalistischen Systems zusammen gekommen ist. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem die Fragen und die Diskussionen zu einer Überlebensfrage für die gesamte Menschheit geworden sind, nicht nur speziell für die Linken. 

Also wir sind an einem Wendepunkt, aber auch an einem Brennpunkt [lacht].

Die wichtigste Frage für eine revolutionäre Linke ist: Wie können wir nach der Niederlage des Sozialismus als Bewegung und im Allgemeinen eine neue Epoche einer selbst-emanzipatorischen sozialistischen Bewegung aufbauen? Unser Ausgangspunkt zu Beginn der 90er Jahre war die Feststellung, dass die historische Epoche des Sozialismus zu Ende ist. Das Ende war nicht nur verbunden mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sondern auch mit dem Ende der weltweiten Gewerkschaftsbewegung, der politischen Bewegungen und all ihrer Organisationen, Begriffe, Ideologien und Rahmenbedingungen. Wir befanden uns am Ende der historischen Epoche des Sozialismus – die im 19. Jahrhundert begonnen und bis Anfang der 1990er existiert hat – und wir haben diskutiert, auf welchen Grundlagen sich eine neue historische Epoche des Sozialismus aufbauen lässt. 

Anfang der 90er dachten wir, die neue historische Epoche des Sozialismus kann beginnen, wenn wir eine neue Form der Klassenbewegung aufbauen, eine neue Form der Klassenkämpfe. Denn die vorhergehende Phase des Sozialismus baute auf einer spezifischen Form der Klassenkämpfe auf. Und das führt uns zu den ersten Fragen: Was ist die Klasse heutzutage? Wie ist sie zusammen gesetzt? Wo kann man die Klasse heutzutage finden? In den großen Fabriken, Stahlwerken oder vielleicht in den Stadtteilen? Oder wo sonst? Und wie ist die alltägliche Erscheinung der Klasse und der Klassenkämpfe selbst? Diese Gedanken haben wir uns parallel zu gesellschaftlichen Entwicklungen wie der zunehmenden Prekarisierung der Arbeit und Privatisierungen gemacht, in deren Folge die großen Fabriken abgebaut wurden und die Formen der Arbeit sich veränderten.

Wenn ich vom heutigen Standpunkt aus retrospektiv auf die Geschichte schaue, dann denke ich, unsere Fragen waren gut und richtig. Aber was wir damals im Gegensatz zu heute nicht wussten, ist, dass wir uns die Fragen in einem bestimmten Moment der Geschichte stellten, d.h. sogar die Fragen, die wir wagten, uns zu stellen, waren historisch bedingt. Und dieser Moment war nicht geprägt vom Sieg der Revolutionen, sondern von deren Niederlage. Der Beginn der historischen Phase des Sozialismus befand sich in der traditionellen revolutionären Phase, z.B. 1830er, noch immer unter dem Einfluss der französischen Revolution, dann die Pariser Kommune 1871. In den 90er Jahren hingegen haben wir an einem Punkt begonnen, der komplett von einem Gefühl der Niederlage charakterisiert war. Ich denke, das hat nicht nur uns ausgemacht, sondern auch andere Bewegungen wie z.B. den MST (Anm. d. Red.: portugiesisch Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, deutsch: Bewegung der Landarbeiter ohne Boden) in Brasilien usw. Natürlich hat die Niederlage oder der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Niederlage der vorangegangenen Phase des Sozialismus uns auch vor die Frage der Kritik dieser vorangegangenen Bewegungen gestellt. Und natürlich hat diese Kritik dazu geführt, dass wir die Bedeutung von Basisarbeit betont haben. Aber Basisarbeit kann in zwei verschiedenen Arten interpretiert werden: als Ausgangspunkt für eine selbst-emanzipatorische Bewegung oder als Selbstzweck. Ich denke, Basisarbeit kann nicht für sich selbst stehen und nicht an sich das Ziel sein.

Du kannst Basisarbeit machen, aber Basisarbeit ist nicht an sich revolutionär. Aus einer Kritik des realexistierenden Sozialismus heraus waren wir davon überzeugt, dass Basisarbeit wichtig ist. So weit, so gut. Aber die eigentliche Bedeutung von Basisarbeit lässt sich nur vor dem Hintergrund der Frage der Selbsttätigkeit der Arbeiter:innen innerhalb des revolutionären Prozess verstehen. Also: Ist die neue sozialistische Bewegung, die revolutionäre Bewegung, selbst-emanzipatorisch oder nicht? Wird sie durch die Selbsttätigkeit der Arbeiter*innen, Frauen, etc. getragen? Ist der Sozialismus etwas, das von außen zu ihnen gebracht werden muss oder entsteht er durch die Aktivität der Massen?

Um die Bedeutung zu verstehen, die Basisarbeit Anfang der 90er Jahre für uns hatte, ist es aber auch wichtig, den historischen Kontext zu betrachten, in dem all diese Überlegungen stattgefunden haben. Der Neoliberalismus war in einer Phase, die auf der politischen Ebene mit einem gewissen Liberalismus und sogenannten politischen Öffnungen einher ging. Die politische Sphäre war so, dass sie dir erlaubt hat, in die Stadtteile zu gehen, um dort die mikrodimensionalen Klassenkämpfe zu suchen. Du hast gedacht, du kannst diesen Problemen mit Basisarbeit begegnen, also z.B. Mietproblemen etc. Die alltäglichen Erscheinungsformen der Klassenkämpfe, die aus der Prekarisierung, Kommodifizierung (Anm. d. Red.: beschreibt den Prozess des „zur-Ware-werdens“) oder dem Neoliberalismus im Allgemeinen resultieren. Und wir dachten, wenn wir diese Kämpfe anhand von Basisarbeit bearbeiten, würde das eine Art von kleiner Politisierung gegen den Kapitalismus ermöglichen. 

Und teilweise tat es das auch. Wie die Erfahrungen gezeigt haben, war es möglich, mit Menschen zusammen zu kommen, starke Kämpfe aufzubauen und zu versuchen, darüber die politischen Einstellungen schleichend zu verändern, wie z.B. im Dikmen Tal3 oder in einigen anderen großen Kämpfen wie diesem. Natürlich haben sich die Einstellungen der Leute an diesem Punkt oder an jenem Thema verändert und auch ihre Position gegenüber der politischen Macht oder ihre Aktionsformen. 

Aber nach der Wirtschaftskrise von 2008 haben wir gemerkt, dass sich die Verhältnisse verändert haben. Man kann das vielleicht als Rückkehr oder Wiederkehr der politischen Sphäre an sich bezeichnen. 2008 war ein wichtiger Scheidepunkt, weil sich die Bedingungen all dieser Kämpfe stark verändert haben. Man könnte von der Vor-Krise und der Krisenperiode des Neoliberalismus sprechen. 

Nach 2008 hat uns die politische Sphäre überholt. Während Gezi haben wir erlebt, dass all diese kleinen Basisbewegungen, die aufgebaut wurden, nicht groß und kraftvoll genug waren, um die Reaktionen der Leute und ihren Ärger über den Neoliberalismus und dessen politischen Akteure aufzufangen oder einzubeziehen. Die Politik hat uns überholt, und nicht nur in der Türkei sondern auch in Brasilien oder anderen Orten. All die Basisbewegungen konnten an einem gewissen Punkt auf die Rückkehr der politischen Sphäre nicht mehr angemessen reagieren. Und die politische Sphäre wurde so manipulativ. Und auch der Linkspopulismus, wie in Spanien mit Podemos und Syriza in Griechenland, wandte sich gegen die Bewegungen selbst. Die linken sozialistischen Basisbewegungen konnten bis zu einem gewissen Punkt nur eine radikale sozialdemokratische Alternative anbieten und diese Alternative wurde manipuliert durch die Angriffe des kapitalistischen Systems nach der Krise von 2008. Die Leute, die ihrer grundlegenden Mittel der Existenzsicherung beraubt wurden, wurden sehr schnell proletarisiert, aber weder die Basisbewegungen noch die politischen Projekte, wie PodemosSyriza etc. konnten darauf eine angemessene Antwort finden und keine davon konnte die revolutionären politischen Erscheinungsformen all dieser Kämpfe vereinen. 

Kannst du das näher ausführen?

Ich denke, die zentrale Form der Herrschaft hat sich nach 2008 verändert. Vor 2008 zielte der Kern der kapitalistischen Herrschaft darauf ab, die Leute zu atomisieren und die Einheit der proletarischen Klassenstrukturen zu zerstören, die vorher aufgebaut wurde. Hinzu kam eine Form der Liberalisierung im Regierungsstil. Man kann ersteres in der Türkei auch mit den ersten Jahren der AKP Regierung gleichsetzen: Eine Öffnung gegenüber der kurdischen Frage, gegenüber LGBTIQ+ Personen, Frauen etc. Identitätspolitiken wurden benutzt, um die neuen Bereiche des Proletariats in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Meiner Meinung nach wurde Identitätspolitik erfolgreich benutzt, um den Arbeitsmarkt zu erweitern, die Proletarisierung und Kommodifizierung voran zu treiben und all diese Menschen in den kapitalistischen Markt im Allgemeinen einzubinden. Der Neoliberalismus hat so getan, als könnte er die historischen Probleme lösen, die in der vorherigen Phase des Kapitalismus bestanden – wie die kurdische Frage, die Unterdrückung der Frauen und ähnliche demokratische Probleme. Und er war sehr erfolgreich dabei, die Einheit der Arbeiter*innenklasse in dieser Zeit zu zerstören. 

Aber nach 2008 hat sich die politische Sphäre verändert. Die neoliberale Identitätspolitik wurde von oben aufgekündigt und wir erleben Regierungen wie in der Türkei, auf den Philippinen, in Russland; die Bolsonaros, Trumps und all diese neoliberalen, man kann sagen neofaschistischen, Regierungen. Sie zielen darauf ab, die Einheit der nunmehr massenhaft proletarischen Bevölkerung zu zerstören. Und all die Selbstverteidigungsbewegungen oder Basisbewegungen waren politisch nicht in der Lage, adäquat auf diese neuen politischen Entwicklungen zu reagieren. 

Aber trotz allem sehe ich uns nicht als besiegt. Ich denke nicht, dass wir Teil einer Niederlage sind. Ich ziehe es vor, uns am Anfang einer neuen historischen Epoche zu sehen. Das kann man so sehen, wenn man akzeptiert, dass die alten früheren Strukturen tot sind, die alten Annahmen, Formierungen und Gebilde einer sozialistischen Linken – sie sind tatsächlich in der Türkei mit Gezi gestorben [lacht].

Aber wenn du das Material der Kämpfe selbst betrachtest, vor dem Hintergrund der multiplen Krise des Kapitalismus, kannst du keinen Bereich des Lebens finden, der nicht unter Druck geraten ist, auch alle Kampfbereiche – seien es feministische Kämpfe, die Ökologiebewegung und natürlich die täglichen Kämpfe der Arbeiter*innen. Weil der Neoliberalismus alles kommodifiziert, alles. Und diese Pandemie zeigt, dass der Grad der Kommodifizierung und Proletarisierung nicht mit dem menschlichen Leben an sich vereinbar ist. Du kannst kaum noch irgendwelche Menschen finden, die nicht auf die ein oder andere Art und Weise mit der proletarischen Klasse im Allgemeinen verbunden sind, du kannst kein alltägliches Thema, kein Moment der Existenzsicherung finden, das nicht mit dem politischen Klassenkonflikt des Kapitalismus an sich verbunden ist. Alle Bereiche des Lebens sind proletarisiert und zum Symbol der sozialen und politischen Klassenkonflikte geworden, der Interessen der Mehrheit der Leute gegen das Interesse des Kapitalismus. 

Wir befinden uns in einer Situation, in der wir uns fragen müssen, was das grundlegende Interesse aller proletarischen Massen ist und welche Form der Organisierung es braucht. Welche Art der Basisarbeit, von Selbstbildung, welche Atmosphäre der politischen Selbstbildung für die Massen, deren grundlegende Bedürfnisse und Interessen mit dem alltäglichen Leben an sich in Konflikt stehen. Wir stehen an einem Punkt, an dem weder die partiellen Kämpfe noch die linken populistischen politischen Projekte die realen Bedürfnisse und Reaktionen der Leute auffangen und beantworten können. 

Das können wir auch in den massiven Revolten sehen, die kontinuierlich weltweit seit einigen Jahren ausbrechen. Erst vor der Pandemie, wenn ihr euch erinnert, gab es in fast 20 Ländern Massenrevolten. In diesen Revolten gab es einige politische oder ideologische Übereinkünfte, die sich zwischen den Leuten auf der Straße oder in Aktionen herausgebildet haben. Aber den politischen Projekten, die aus diesen Massenbewegungen entstanden sind, sei es Podemos, Syriza oder anderen, fehlt – was ihr politisches Programm und ihre Organisationsweise angeht – genau das, was die Menschen auf der Straße auf eine emotionale Art während der Revolte miteinander entwickelt haben.

Was bedeutet das in Bezug auf revolutionäre Basisarbeit in der politischen Praxis?

Ich denke, natürlich brauchen wir Basisarbeit, aus zwei Gründen: ohne Basisarbeit kannst du keine selbst emanzipatorische Bewegung des Sozialismus aufbauen. Sozialismus ist nicht nur eine Utopie, oder ein Dogma oder intellektuelles Denken, dass du den Massen aufdrücken kannst. Natürlich brauchen wir eine selbst-emanzipatorische Bewegung und die Basisarbeit, die zu den alltäglichen Problemen der Leute gemacht wird. Denn die alltäglichen Probleme sind zu einem Symbol des Konfliktes zwischen dem gesamten kapitalistischen Establishment und dem Leben der Leute geworden. 

Aber gleichzeitig haben wir erfahren, dass Basisarbeit zwar ein starkes Mittel sein kann, aber nicht einfach so aus sich selbst heraus. Wenn du keine richtige Programmatik und theoretische Ausarbeitung von dem hast, was Sozialismus heutzutage ist und was die Antworten sind, die wir zur Lösung der multiplen Krisen des Kapitalismus vorschlagen oder wessen Sozialismus es sein soll, laufen unsere praktischen Anstrengungen ins Leere. 

Die Tatsache, dass eine historische Epoche des Sozialismus zu Ende gegangen ist, bedeutet auch, dass sich die Art und Weise der antikapitalistischen Klassenkämpfe verändert hat. Die Klassenkämpfe der damaligen sozialistischen Ära basierten auf dem Industrieproletariat, alle anderen Kämpfe und Basisbewegungen von Unterdrückten wurden unter diese Hegemonie untergeordnet. Aber wessen Hegemonie wird heutzutage über alle Kämpfe der Unterdrückten gebildet? Wessen Sozialismus? Oder haben wir eine reale Möglichkeit, einen Weg zu finden, um all die antikapitalistischen Tendenzen und Impulse, die von unterschiedlichen Basisbewegungen kommen (z.B. der feministischen, der ökologischen, der der Kleinbäuer*innen und allen anderen antikapitalistischen Bewegungen), in eine sozialistische Einheit des Proletariats/der Unterdrückten des 21. Jahrhunderts einzubetten? Ich denke, das ist möglich. Und das ist der Grund, warum ich denke, dass wir uns an einem Wendepunkt der Geschichte befinden. Vielleicht war es das in den 90er Jahren noch nicht, aber heute ist es möglich, dass wir diesen Anfang einer neuen sozialistischen Bewegung erleben, ich meine eine neue sozialistische Epoche hat vielleicht bereits begonnen. 

Aber dafür ist es aus meiner Sicht unbedingt notwendig, dass eine neue Art der revolutionären politischen Theorierekonstruiert wird. Das ist, was uns heutzutage fehlt. Die traditionelle politische Theorie des 20. Jahrhunderts war geprägt von der Russischen Revolution und danach von den antikolonialen Revolutionen und ihren Rahmenbedingungen. Aber was ist heutzutage die politische Arena? Und wie kann eine politische revolutionäre Praxis aufgebaut werden? Wie kann eine revolutionäre Dialektik zwischen den Basisbewegungen und der politischen Ebene etabliert werden, die die politische Revolution auf der einen und die soziale Revolution auf der anderen Seite miteinander verbindet. Im 20. Jahrhundert gab es eine etablierte politische Systematik dieser revolutionären Dialektik zwischen dem politischem Moment und dem Moment der sozialen- /Klassenkämpfe. Aber ich denke, wir haben diese revolutionäre Dialektik verloren. Die zentrale Krise der Linken in den 70er Jahren resultierte daraus und natürlich hatten wir auch keine solche politische Theorie in den 90er Jahren. Aber das Leben und vor allem die aktuellen Massenaufstände zwingen uns dazu, diese neue Form der revolutionären politischen Theorie aufzubauen. Es stellt sich die Frage, was ist Politik heutzutage? Und wie können wir diese revolutionäre Dialektik zwischen dem Basiskampf und dem politischen Kampf an sich entwickeln?

Denn wenn es keine richtige politische Analyse innerhalb der Bewegungen gibt, die mit einem bestimmten Problem zu tun haben, dann wird diese Bewegung an unterschiedlichen Themen gespalten werden, wie z.B. an der kurdischen Frage oder der Frauenfrage. Nehmen wir z.B. die ökologische Bewegung in der Türkei, in der sich Menschen zusammen gefunden haben, um für den Erhalt von Wäldern, Flüssen, Tälern zu protestieren. Wenn sich solche Bewegungen nur auf die Lebensbedingungen beschränken, dann werden sie sich anhand der kurdischen Frage, der nationalen Frage, der Migrationsfrage spalten. Das bedeutet, dass Basisarbeit und eine damit verbundene Organisation glaubhaft machen muss, dass sie in der Lage ist, die alltäglichen Probleme der Arbeiter*innenklasse zu lösen, aber auch all die historischen Probleme wie die kurdische Frage, die Frauenfrage, die Migrationsfrage und so weiter. Es braucht also eine Basisarbeit, die nicht anhand von neoliberaler Identitätspolitik gespalten ist, sondern die dazu beiträgt, dass Menschen daran glauben, dass z.B. kurdische Frauen oder andere Identitäten ein historisches politisches Subjekt innerhalb der sozialistischen Organisation sein können, damit sie sich nicht in die typischen anti-narrativen Ansätze (Anm. v. kollektiv: Ansätze, die große Narrative i.S. von einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive ablehnen: Der Fokus liegt auf Teilbereichskämpfen oder 
Mikropolitiken, 
die Möglichkeit und Notwendigkeit der Verbindung unterschiedlicher Kämpfe zu einem gemeinsamen Kampf gegen das gesamte System wird negiertflüchten.

Du hast ja bereits die Massenproteste erwähnt, die als eine Reaktion auf die neoliberale Politik weltweit vor Beginn der Pandemie entstanden sind. Welche Rolle spielen diese aus deiner Sicht in der Herausbildung?

Viele der unterschiedlichen Formen von Unzufriedenheit, die in den zahlreichen Protesten weltweit zum Ausdruck kamen, verstehen sich selbst nicht per se als antikapitalistische Aktionen oder Bewegungen. Wenn das so ist, wovon ich ausgehe, dann stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten wir haben, um solche Aktionen und Bewegungen dazu zu bringen, antikapitalistische Bewegungen zu werden. Es geht mir nicht darum, wie wir diese Massenproteste interpretieren, sondern als was sie sich selbst verstehen. Ich stimme vollkommen mit euch überein, dass wir eine neue Form der der revolutionären Politik entwickeln müssen, aber was ist die materielle Basis dafür? Wir wissen, dass viele Menschen unzufrieden sind und in prekären Situationen leben, aber was ist die Subjektivität der Menschen? Ich denke, die Massenproteste sind antikapitalistisch aber viele der Menschen auf den Straßen sind sich selbst darüber nicht bewusst. Sie reagieren auf die kapitalistischen Lebensbedingungen, aber sie sehen sich selbst nicht als antikapitalistische, sozialistische, historisch-politische Subjekte, welche in die Geschichte eingreifen und sie verändern können. Und selbst wenn sie sich als antikapitalistisch verstehen, vermeiden sie es, Teil eines großen Narrativs zu sein, das Sozialismus heißt, weil sie vor solchen Ansätzen fliehen, vor Politik fliehen. Ich denke, das ist die größte Frage. Sozialismus oder Antikapitalismus – bewusster Antikapitalismus – ist eine Art Selbstnarrativ der Massen. Sozialismus war ein Narrativ, dass von den Massen selbst erzählt wurde. Natürlich bin ich inspiriert von dem theoretischen Körper aber Sozialismus, wie er real existierte, war in der damaligen Zeit revolutionär und, eine selbstemanzipatorische Erzählung der Massen. 

Ich weiß nicht wie, ich habe keine fertigen Antworten, man muss es ausprobieren. Aber ich denke, es braucht eine Art neuer Bildung, eine Bildung über den wahren Inhalt des Sozialismus, nicht über seine konkreten historischen Formen, nicht über die Formen des 20. Jahrhunderts, sondern über die reale Essenz des Sozialismus. Das bedeutet, eine Interpretation der Essenz für heutzutage. Damit sich die Massen über den Sozialismus an sich bilden, aber auch durch die feministische Bewegung , wie ni una menos und andere. Was wir tatsächlich in dieser Art von Bewegungen (wie z.B. ni una menos oder der Kampf für die Legalisierung von Abtreibungen) sehen, ist nicht nur eine Bewegung gegen Feminizide. Es ist vielmehr eine Bewegung der proletarisierten und prekarisierten Frauen, die die multiplen Krisen der Produktion und Reproduktion erleben und versuchen, diese Lücke in der Klassenbewegung zu füllen. Die Ökologiebewegung, die Bewegung der Kleinbäuer*innen, die feministische Bewegung und natürlich die alltäglichen sozialen Kämpfe sollten aus der Sicht der reinen Essenz des Sozialismus heraus kritisiert werden. Aber natürlich muss auch der Sozialismus von diesen Bewegungen kritisiert werden, insbesondere in Bezug auf seine organisatorischen Ansätze, in Bezug auf die Frage, wessen Hegemonie auf welche Art innerhalb der sozialistischen Bewegung aufrecht erhalten wird. Oder ist es möglich, neue Formen der Hegemonie zu finden?

Ich denke, wir stecken komplett in einer Welt fest, in der es auf der einen Seite historisch dogmatische Formen wie die der kommunistischen Parteien gibt. Und auf der einen Seite neue Organisationsformen und postmoderne Bewegungen, die jegliches Narrativ ablehnen bzw. es nicht erlauben, dass Menschen ihre eigenen Erfahrungen mit den Worten und Begriffen des Sozialismus erzählen und damit verbinden. An diesem Punkt befinden wir uns aktuell. Ich denke, dass wir eine neue Art der leninistischen Bewegung des 21. Jahrhunderts brauchen. Wir müssen uns eine solche Bewegung vor dem Hintergrund der Verhältnisse des 21. Jahrhunderts vorstellen, sie organisieren und aufbauen. Die Geschichte wird es uns zeigen. Ich habe die Fragen hier genannt, aber das heißt nicht, dass ich Antworten darauf habe. Was wir brauchen, ist eine revolutionäre und sich gegenseitig beeinflussende Bildung zwischen Sozialismus und Massen-/ Klassenbewegungen. 

Vielen Dank!

#Foto: Wikimedia Commons

1 [Karl Marx (1844): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW Bd. 1. Berlin: Dietz Verlag. S 381: “Man muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse |den Schandfleck| der deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen. Man erfüllt damit ein unabweisbares Bedürfnis des deutschen Volks, und die Bedürfnisse der Völker sind in eigner Person die letzten Gründe ihrer Befriedigung.”]

2https://solidarisch-in-groepelingen.de/eigenetexte

3Die Bewohner*innen des Dicmen-Tals bei Ankara sollten 2007 geräumt werden, um Platz zu schaffen für ein an landesweite Programme der Erdogan-Regierung anknüpfendes großflächiges Städtebauprojekt, das aus dem Tal ein kommerzielles Tourismus- und Naherholungsgebiet machen sollte. Aufgrund des militanten Widerstands der verbliebenen Bewohner*innen und deren Unterstützer*innen musste am 1. Februar 2007 der erste Räumungsversuch mit 8.000 Einsatzkräften und 44 Abrissbaggern schließlich abgebrochen werden. Insgesamt gelang es dem Widerstand, die Umsetzung des Projekts bis 2009 herauszuzögern. In dieser Zeit wurden lokale Selbstverwaltungsstrukturen in Form von Vollversammlungen verwirklicht, selbstorganisierte Sozial- und Bildungseinrichtungen geschaffen und eine Vernetzung mit anderen Regionen aufgebaut, die von Städtebauprojekten betroffen sind

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Exarchia, Ort der antiautoritären Bewegung, der politischen Außeinandersetzungen und Kämpfe, steht wahrscheinlich vor der größten staatlichen Repressionswelle seit langem: Die „Operation Law and Order“ und das Abschaffen des Universitäts-Asyls. Der Kampf um selbstbestimmtes Leben und Überleben geht weiter.

Schon bevor Kyriakos Mytsotakis am 7. Juli mit seiner rechtskonservativen NeaDemokratia die Parlamentswahlen in Griechenland gewann, wurde in der griechischen Öffentlichkeit hart daran gearbeitet das Feinbild „Anarchistische Szene“ auszubauen. Die Zeitungen sind in langer, bürgerlicher Tradition, voll von Berichten über unerträgliche, gewaltvolle Auseinandersetzungen im Stadtteil Exarchia in Athen, über die Terroristen, die zusammen mit der Mafia Unschuldige angreifen und über den Drogenhandel, der von den Unversitäten aus gesteuert werden soll. Am Wahlabend klauten dann auch noch Vermummte die Wahlurne des Viertels und sollen sie auf der Platia, dem Platz in der Mitte von Exarchia, verbrannt haben.

„Sauber machen“ werden sie das geschichtsträchtige Viertel, „alles räumen“ und die ein oder andere anarchistische Gruppe „jagen“, versprechen Mytsotakis und seine Minister. Dafür haben sie schon die ersten Anpassungen vorgenommen. 2.000 neue Polizist*innen sollen eingestellt werden. 1500 werden die sogenannte Delta Einheit wiederaufbauen, die berüchtigte Motorradstaffel, die vor allem für ihr brutales Vorgehen bekannt ist. Das Universitätsasyl soll abgeschafft werden und den ersten Squats wurde der Strom und das Wasser abgestellt. Auch ein Gesetz, welches es ermöglicht, Menschen ohne gültige Papiere bis zu 12 Monaten einzusperren, ist schon auf den Weg gebracht. Das Ministerium für Migration wurde abgeschafft, der Mindestlohn soll gesenkt werden, eine 7 Tage Woche eingeführt und die Krankenversorgung reformiert werden.

Doch es formiert sich Widerstand. Auch wenn es die letzten Jahre viele Spaltungs- und Konfliktmomente gab, hoffen alle darauf, die Kräfte und den Willen ein weiteres Mal zu sammeln um die aufgebauten Strukturen und das Projekt eines „befreiten“ Viertels vor Repressionen beschützen zu können.

In Exarchia tummelt sich viel. Dichter neben Junkies, Oma neben jungem Polittourist*innen. Menschen, die sich aussuchen hier zu leben und Menschen, die nirgendwo anders hinkönnen. Weil sie keine Papiere haben und weil Griechenland immer noch eines der Hauptankunftsländer für Geflüchtete in der EU ist. Hier sitzt man fest, hier wartet man und langweilt sich. Hier gibt es keine Arbeit, dafür Menschen die miteinander reden. Der Alltag im Viertel ist sehr konfliktreich, es wird an vielen Fronten gekämpft. Und der gemeinsame Konflikt ist der mit dem Staat und dem geltendem Recht. Zumindest von vielen, denn Exarchia hat eine lange Tradition politischer Kämpfe. Schon in den 70er Jahren war es die Polytechnio, die technische Hochschule, von der aus die Studierendenproteste gegen die herrschende Militärdiktatur organisiert wurden. Über mehrere Wochen hinweg besetzten damals Studierende und Sympathisant*innen aus dem Viertel und der ganzen Stadt die Hörsäle, planten Demos, philosophierten und traten gemeinsam in Aktion.

Dem Aufstand des 17. Novembers 1972 wird heute noch feierlich gedacht, genau wie seinen Toten. 23 Menschen wurden vom Militär ermordet, als ein Panzer die Tore der Hochschule überrollte. Jedes Jahr findet deswegen eine große Gedenkdemonstration statt und alle, die Rang und Namen haben (zum Beispiel Alexis Tsipras, der ehemalige Premier des Landes), kommen vorbei um „in tiefer Trauer“ einen Gedenkkranz abzulegen. Auch die Menschen aus dem Viertel und anderen Teilen Athens ziehen jeden 17. November vor die Tore der Hochschule und seit einigen Jahren ist ein Konflikt über die Instrumentalisierung dieses Feiertages, durch Staat oder autoritäre Organisationen, aufgeflammt.

Seit den Revolten gegen die Militärdiktatur gibt es in Griechenland ein Gesetz, das Universitätsasyl gewährt. Das bedeutet, dass es der Polizei und dem Militär untersagt ist, das Gelände von Universitäten im Land zu betreten. Dies ist zu einem wichtigen Element in der politischen Praxis in Griechenland geworden. Unis werden besetzt, es treffen sich politische Gruppen, Aktionen, Demos und Kämpfe werden von dort aus vorbereitet und finden dort statt. Dieses Gesetz will Mytzotakis nun abschaffen. (Das Universitätsasyl wurde nach Redaktionsschluss per Parlamentsbeschluss abgeschafft, Anm. d. Red.)

Denn Anarchismus und Universitätsasyl ist gleich Terror und Mafia. Die Regierung setzt den Vorwurf des Terrorismus als politisches Schwert gegen die anarchistische Szene ein. Eine Gesetzesverschärfung sieht vor, dass immer mehr politische Aktionsformen strafrechtlich unter den Tatbestand des Terrorismus fallen. Zum Beispiel das Verbreiten von Inhalten, welche den Sturz des Staates befürworten oder herbeiführen wollen. Das heißt, jedes Flugblatt und jeder Aufruf mit revolutionärem Inhalt, jede Aktion mit revolutionärem Anspruch könnte vom Staat noch leichter als Terrorismus ausgelegt werden. Es sieht auch eine Arte „Sippenhaft“ für politische Gruppen vor und will den Hafturlaub, welcher Gefangenen in Griechenland zusteht, für „Terrorist*innen“ abschaffen. Auch zu DNA-Analysen im „Terrorismus“ Kontext soll es immer häufiger kommen.

Mafiöse oder hierarchische Strukturen, die versuchen Machtpositionen im Viertel aufzubauen, sind durchaus ein Problem. So gibt es seit Jahren das Spaltungsmoment des Drogenkonsums und Verkaufs. Das bringt Konflikte über Konsum, Klasse und auch Rassismus mit sich, denn die Dealer des Viertels sind fast alles Menschen ohne Papiere oder ohne die Möglichkeit auf ein legales Einkommen. Die großen Fische jedoch lungern nicht auf der Platia herum, sondern hängen mit Bullen und Politiker*innen in Kneipen ab und trinken Raki.

Der Aktivist Nicos beschreibt die Situation etwas zermürbt so: „Alles ist ein großes Problem. Insgesamt stehen sich Staat und Mafia in nichts nach: Sie wollen mit Mitteln der Gewalt ihre Regeln ins Viertel bringen, Drogen verkaufen und so. Das alles mit Knarren. Die sind kapitalistisch, rassistisch, sexistisch und autoritär. Mafia und Drogen sind scheiße, aber Lynchjagden auf Drogendealer, die zufällig alles Migrant*innen sind, auch. It’s all fucked up!“

It’s all fucked up, ist ein Satz den man hier oft hört. Vor allem, seitdem immer mehr Bullen durchs Viertel laufen und jetzt der Mörder von Alexis Grigoropoulos, der 2008 mit einem Kopfschuss umgebracht wurde, Epaminondas Korkoneas (auch ein Polizist), frei gelassen wurde. Damals gab es überall Riots und die Polizei wurde aus der Nachbarschaft gejagt. Die Augen der Menschen glänzen, wenn über diese Zeit gesprochen wird. Seit diesen Tagen stehen die Polizist*innen um fast das ganze Viertel Spalier, kontrollieren und piesacken diejenigen, deren Haut nicht hell genug ist oder deren Anziehsachen zu schwarz sind. Doch auch das ändert sich. Immer öfter kommen sie bis zum Platia oder stürmen Veranstaltungen auf dem Strefi, dem Hügel über Exarchia. Der Basketballplatz, der viele an den im Knast von Korydallos erinnert, wird dabei Schauplatz von gezielten Provokationen der Polizei. Korydallos, das zentrumsnahe Gefängnis, soll auch erneuert und umgelegt werden. „Sicherer“ und vor allem gut abgeschnitten von Freund*innen, Familie und politischen Kämpfen soll es dann sein.

Am Strefi wurden in den letzten Jahren neue Häuser gebaut, hier wohnen jetzt die Reichen.

Denn hier, wie in anderen Städten, wird die Gentrifizierung für alle immer spürbarer. Vielen Mietwohnungen wird gekündigt um sie in Airbnb Apartments umzuwandeln. Die Menschen müssen aus dem ohnehin immer teurer werdenden Viertel wegziehen. Häuser, die besetzt sind, werden verkauft. So auch das von Eleni, einer 67 jährigen Besetzerin: „Mein Haus wurde von einer chinesischen Firma gekauft. Die will uns raushaben und dann alles in Airbnb Wohnungen verwandeln. Das passiert gerade fast überall, es gibt einen richtigen Run auf die Häuser. Das ist ein großes Problem. Aber ich werde nicht gehen, ich hab keine Angst vor denen und im Knast war ich sowieso schon.“

Investor*innen pokern auf den coolen politischen Kiez, das Riotviertel. Sie pokern darauf, dass sich Widerstand verkaufen lässt und Touris anlockt. Dabei braucht Exarchia gerade jetzt jedes politische Subjekt, welches dauerhaft dafür bereit ist, seine Ideale zu verteidigen. Denn die Polizei hält man nicht ausschließlich beim „bachala“ (Riot) am Freitag und Samstagabend aus dem Viertel raus. Sondern auch immer dann, wenn man Konflikte selber zu bewältigen versucht, dafür Strukturen gefunden werden und man sich dafür organisiert. Never call the Cops! Das kann lange dauern, es läuft nicht immer sehr gut, aber es geht. Wie sehr dem Staat der Kampf gegen Airbnb und Gentrifizierung gegen den Strich geht, konnte man vor kurzem bei einer Demo gegen Ferienapartments sehen, die die Polizei hart angegriffen hat.

„Niemand hat gesagt, dass es einfach wird“ steht mahnend an der Innenwand eines der vielen Squats. Die meisten Squats werden von Menschen bewohnt, die es sich nicht aussuchen können. Es geht bei dem Kampf um Exarchia also für viele ums Überleben, denn wo sollten sie sonst hin?

Seit kurzem wird versucht wieder eine Nachbarschaftswache einzuführen, die die Polizei verjagen soll und es gibt eine Versammlung zum Schutz der Squats. Ob die es schafft, alle wieder an einen Tisch zu bringen, wird man sehen. Die politischen Gräben sind tief, doch der klare Feind könnte die Szene wieder ein wenig zusammenbringen. Das alltägliche Leben gilt es zu retten, die Freiheit sich bewegen zu können, die Freiheit Dinge selbst zu entscheiden, nicht zu vereinzeln, die Freiheit Verantwortung zu übernehmen, sich zu organisieren und bei allen Unterschieden, mit den Menschen Seite an Seite zu kämpfen. Dafür braucht es Exarchia.

Exarchia ist kein Mythos, Exarchia ist Realität und das bedeutet, dass es physisch wird. Dass es wichtig ist die Abgefucktheit als eigene Schwäche, aber auch als Produkt von Wirtschaftskrise, staatlichem Terror, Grenzen, Kapitalismus, orthodoxer, rassistischer Gesellschaft und dem Patriarchat zu sehen. Es bringt nichts einem romantisch-verklärten Bild hinterherzurennen, denn ein gemachtes Nest gibt es nicht. Exarchia aber gibt es und es muss immer wieder neu erkämpft werden.

#Titelbild: Räumung von zwei besetzten Häusern in der Tzavela Straße in Exarchia im April 2019/Refugees_Gr

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