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Die Erdbeben-Katastrophe sei Schicksal gewesen, sagt der türkische Präsident Erdoğan. Nur „Zusammenhalt“ helfe nun. Doch war die Katastrophe wirklich unabwendbar? Und wer hält hier eigentlich mit wem zusammen? In der Türkei ist die politische Diskussion über diese Fragen längst entbrannt – und auch wir in Deutschland sollten uns mit ihr befassen.

Dürfen wir jetzt überhaupt politisch sein?

Es ist klar, dass das Erdbeben selbst eine Naturkatastrophe war. Aber jetzt geht es vor allem darum, wie es in der aktuellen Situation weitergehen soll. Und das ist eine politische Frage – ob wir wollen oder nicht. Wir müssen uns fragen: Geht die Erdoğan-Regierung gut mit der Situation um und tut alles Notwendige für die Betroffenen? Oder organisiert die Regierung die Katastrophenhilfe nicht richtig und es muss mehr getan werden? Wenn man sich dazu nicht positioniert, akzeptiert man Erdoğans aktuelle Krisenpolitik. Es gibt hier keine unpolitische Haltung.

Seit dem Erdbeben äußern unzählige betroffene Menschen massive Kritik daran, wie die Regierung und die Behörden mit der aktuellen Situation umgehen. Sie forderten und fordern schnellere und umfassendere Hilfe. Besonders starke Kritik gibt es von Betroffenen, die Minderheiten angehören, beispielsweise Kurd:innen, Alevit:innen oder Araber:innen. Sie kritisieren unter anderem, dass die Städte, in denen sie mehrheitlich leben, vernachlässigt werden. In tausenden von Fällen trafen staatliche Rettungskräfte erst ein, als es für viele Verschüttete schon zu spät war – falls sie überhaupt eintrafen. Besonders kritisch ist die Situation geflüchteter Menschen. Freiwillige Helfer:innen in der Provinz Hatay berichten, dass die staatliche Katastrophenhilfe „völlig unzureichend“ ist: Nirgendwo ist der Staat zu sehen. Ähnliche Bewertungen hört man von den meisten freiwilligen Helfer:innen und selbst Mitarbeiter:innen des staatlichen Katastrophenschutzes AFAD äußern anonym teilweise scharfe Kritik. Es gibt auch eine Reihe von Berichten, dass AFAD selbstorganisierte Hilfe behindert – beispielsweise die Lieferung von Sachspenden. Nun wurde auch noch aufgedeckt, dass der Türkische Rote Halbmond Geschäfte mit dem Verkauf von Zelten macht – dabei ist erwähnenswert, dass die Organisation eng mit dem Staat zusammenhängt. Außerdem wurden in mehreren Fällen freiwillige Helfer:innen inhaftiert. Als wäre die Lage nicht schon schlimm genug, bombardierte der türkische Staat vom Erdbeben betroffene Gebiete der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, in der vor allem Kurd:innen leben (auch „Rojava“ genannt).

Die Situation macht deutlich, dass es nicht richtig ist, zu sagen: „Wir sollten jetzt nicht über Unterschiede und Minderheiten sprechen.“ Vor allem Erdoğan und seine Unterstützer sagen ja ähnliches. Es geht hier nicht nur um das Unrecht, das Minderheiten all die Jahre erfahren haben. Es geht auch um die jetzige Situation. Denn wenn der Staat diese Menschen schon so lange benachteiligt und unterdrückt, dann wird er das doch auch in der jetzigen Situation fortführen. Es geht nicht darum, in einer theoretischen Diskussion Recht zu haben – sondern ganz real um Menschenleben. Nur wenn das Problem von Benachteiligung und Unterdrückung von Minderheiten auch in der aktuellen Situation öffentlich angeprangert wird, kann der türkische Staat unter Druck gesetzt werden, an den entsprechenden Stellen mehr Hilfe zu leisten.

Was für die Minderheiten gilt, gilt aber für auch für alle anderen Betroffenen. Denn alle brauchen mehr Unterstützung. Die Lage ist katastrophal und der Staat tut viel zu wenig, um den Betroffenen zu helfen. Aber die Regierung wird nur mehr Ressourcen für die Katastrophenhilfe zur Verfügung stellen, wenn die Bevölkerung der Türkei genügend Druck auf die Regierung ausübt. Und wenn wir die Menschen in der Türkei dabei unterstützen können, das Unrecht öffentlich zu machen und anzuklagen, dann sollten wir das tun und ihnen den Rücken stärken.

Erdoğan dagegen sagt, die Bevölkerung solle die Katastrophe nicht politisch betrachten und nicht „Unfrieden und Zwietracht stiften“. Er stellt es so dar, als würden Kritiker:innen die Bewältigung der Katastrophe behindern. Dabei ist klar, dass er nur von den desaströsen Auswirkungen seiner vergangenen und aktuellen Politik ablenken will. Um gegen die Kritik vorzugehen, ließ die Regierung sogar Twitter einschränken. So erschwerte sie der Bevölkerung den Zugang zu unabhängigen Informationsquellen, behinderte aber auch die Kommunikation darüber, an welchen Stellen nach dem Erdbeben Hilfe gebraucht wurde – wahrscheinlich mit tödlichen Konsequenzen.

„Devlet nerede?“

Die Kritik an Erdoğan bezieht sich nicht nur auf die aktuelle Situation. Es geht auch um die letzten 20 Jahre, in denen er die Türkei regierte. Denn das katastrophale Ausmaß der Zerstörung durch das Erdbeben hat großteils damit zu tun, dass der türkische Staat kaum Vorbereitungen für den Fall von Erdbeben traf. Und das, obwohl es schon vorher starke Erdbeben gegeben hatte; beispielsweise das von Gölcük im Jahr 1999 mit über 17.000 Toten und ca. 140.000 Häusern, die entweder einstürzten oder irreparabel beschädigt wurden. Auch die geologischen Gegebenheiten in der jetzt betroffenen Region waren bekannt. Deshalb war es laut Wissenschaftler:innen „nur eine Frage der Zeit, wann sich solche Erdbeben ereignen.“ Auch Oppositionspolitiker:innen hatten die Gefahr zum Thema gemacht; und sogar Erdoğan selbst sprach davon, dass man Vorkehrungen treffen müsse.

Eigentlich wurde seit dem Erdbeben von 1999 in der Türkei deshalb auch eine Erdbebensteuer erhoben, durch die der Staat bis zu 38 Milliarden Euro eingenommen habe. Dieses Geld sei allerdings von Erdoğans Regierungen zu einem großen Teil für andere Zwecke ausgegeben worden als für die Vorbereitung auf Erdbeben. So sorgte der Staat offensichtlich weder konsequent dafür, dass ältere Gebäude saniert und erdbebensicher gemacht wurden, noch wurden die Sicherheitsstandards bei Neubauten eingehalten. Die Baumaterialien sind teilweise so instabil, dass sie mit der bloßen Hand zerbrochen werden können. Vor diesem Hintergrund habe die Erdoğan-Regierung 2018/19 sogar noch „13 Millionen illegale Bauten gegen Zahlungen“ genehmigt. Das Resultat ist eine humanitäre Krise riesigen Ausmaßes, von der viele Millionen Menschen betroffen sind.

Das Budget des staatlichen Katastrophenschutz AFAD kürzte der türkische Staat dieses Jahr außerdem auf nur 66,4 Prozent. Gleichzeitig erhöhte er sein Militärbudget 2022 auf 181 Milliarden türkische Lira. Die Türkischen Streitkräfte sind mit 735.000 Soldaten (inklusive Reservisten) übrigens die zweitgrößte Armee innerhalb der NATO. Der gigantische Militärapparat wird gebraucht, um Widerstand innerhalb der eigenen Grenzen zu bekämpfen, um die Interessen der herrschenden Klasse des Landes aggressiv nach außen zu vertreten (z.B. gegenüber dem griechischen oder dem armenischen Staat) und auch um Invasionen und Angriffe außerhalb der Grenzen des Landes durchzuführen (Beispiele hierfür sind Rojava und die Autonome Region Kurdistan im Nordirak). Selbst in den Tagen nach dem Erdbeben hatte das Militär nichts Besseres zu tun, als die PKK anzugreifen, obwohl diese bereits einseitig einen Waffenstillstand erklärt hatte, damit alle Kräfte auf die Katastrophenhilfe fokussiert werden können – dazu kommt der erwähnte Bombenangriff auf Rojava.

Was hat die normale Bevölkerung von diesem Militärapparat? Statt Menschen zum Militärdienst zu zwingen, hätte der Staat massenhaft Katastrophenhelfer:innen und Sanitäter:innen ausbilden können. Statt Milliarden für Panzer und Kriegsflugzeuge auszugeben, hätte der Staat Ausrüstung für Katastrophenschutz und gesundheitliche Versorgung beschaffen können. Ja, er hätte durch Vorsorge sogar verhindern können, dass es überhaupt zu so einer großen Katastrophe kommt. Aber stattdessen bleibt den Betroffenen in diesem Desaster nur, verzweifelt und wütend zu fragen: „Devlet nerede?“ / „Wo ist der Staat?“

Situationen wie diese sind nicht neu. Man kann sie fast jeden Sommer erleben, wenn die Waldbrände wieder beginnen: Es gibt zu wenige Feuerwehrleute, es fehlt an Ausrüstung, es gibt kaum Löschflugzeuge. Es ist eine bewusste Entscheidung, den Katastrophenschutz derart zu vernachlässigen und die tödliche Gefahr in Kauf zu nehmen. Aber das ist nicht nur in der Türkei der Fall, sondern auch im Nachbarland Griechenland und in anderen Balkan-Ländern – teilweise müssen Feuerwehrleute mit der Gießkanne gegen Waldbrände ankämpfen. Der unzureichende Katastrophenschutz ist ein Dauerzustand, aber das Erdbeben führt ihn noch einmal in aller Grausamkeit vor Augen.

Erdoğan und seine Regierungen sind zwar einerseits verantwortlich für diese Zustände, aber andererseits sind solche Zustände auch die schreckliche Normalität einer Welt, in der Profit an erster Stelle steht. Auch wenn wir es uns wünschen, dass die Staaten sich um das Wohl der Bevölkerung kümmern: Das ist nicht, wozu sie existieren. Die Hauptaufgabe von kapitalistischen Staaten ist, die Ordnung aufrecht zu erhalten, in der private Wirtschaftsunternehmen Profite machen können. Darüber hinaus sollen diese Staaten die Interessen dieser Unternehmen in der internationalen Konkurrenz des Kapitalismus durchsetzen. Das Wohl der Bevölkerung spielt in der Regel nur dann eine Rolle, wenn es diesen Zwecken der Staaten dient. Deswegen hat Erdoğan in einer Weise Recht, wenn er in seiner Rede von „devletimiz“ spricht – von „unserem Staat“. Denn dieser Staat gehört ihm und der herrschenden Klasse, einer kleinen, aber reichen und mächtigen Minderheit. Aber es ist nicht der Staat der gesamten Bevölkerung.

„Nur das Volk wird das Volk retten.“

Während sich die Betroffenen auf den Staat kaum verlassen können, unterstützen sie sich viel untereinander. Vielen ist klar, dass sie jetzt nur mit Zusammenhalt und Solidarität weiterkommen. Es haben sich auch schnell Strukturen gebildet, über die Hilfen unabhängig vom Staat organisiert werden – von den Menschen vor Ort selbst, aber auch mit Unterstützung von angereisten freiwilligen Helfer:innen. Zahlreiche linke politische Organisationen und Menschen beteiligen sich dabei in der Katastrophenregion.

Dieser solidarische Einsatz aus breiten Teilen der Bevölkerung ist ein Lichtblick in der ansonsten düsteren Lage. Hier wird deutlich, wie viel der Zusammenhalt der Menschen bewirken kann. Linke in Griechenland haben eine Parole, die an dieser Stelle gut passt: „Nur das Volk wird das Volk retten.“ Der Ausdruck „Volk“ meint im Griechischen wie auch im Türkischen in dieser Verwendung nicht eine ethnische Gruppe, sondern die breite Bevölkerung im Gegensatz zur Minderheit der herrschenden Klasse (die Wörter für „Volk“ sind „λαός“ und „halk“). Das Volk also ist zwar einerseits auf sich allein gestellt und kann von der herrschenden Klasse keine Unterstützung erwarten. Es hat aber andererseits auch die Kraft, schwierige Situationen wie die aktuelle vereint zu bewältigen.

Unter den zahlreichen Menschen, die nach dem Erdbeben in die betroffenen Gebiete gereist sind, sind auch Minenarbeiter. Sie haben nicht nur wichtiges Wissen und Fähigkeiten für Rettungseinsätze – aufgrund häufig unsicherer Arbeitsbedingungen ist es für einige von ihnen leider keine gänzlich neue Situation, verschüttete Menschen zu retten. Die wahrscheinlich prägendste Erfahrung für Minenarbeiter in der Türkei war das „Unglück“ von Soma 2014, bei dem über 300 Kollegen starben. Neben Minenarbeitern meldeten sich unter anderem auch Bauarbeiter am Flughafen von İstanbul freiwillig, um in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten Hilfe zu leisten. Allerdings hinderte das Management sie daran – Hauptsache: die Profit-Maschinerie läuft weiter. Außerdem häufen sich mittlerweile Meldungen von Kündigungen von Arbeiter:innen, die sich an der Katastrophenhilfe beteiligt haben – und den Unternehmen deshalb kurzzeitig nicht als Arbeitskraft zur Ausbeutung zur Verfügung standen.

Zur Katastrophenhilfe gehört aber nicht nur die Rettung Verschütteter, sondern auch die Versorgung Überlebender. So hat beispielsweise eine Gruppe kurdischer Frauen innerhalb kurzer Zeit 18.000 Brote für Bedürftige gebacken. Es ist das Volk selbst, das sich jetzt einsetzt, um die Katastrophe gemeinsam durchzustehen – jede:r nach seinen/ihren Fähigkeiten.

Währenddessen schläft Erdoğan in einem der 1.000 Zimmer seines Palastes, der 270 Millionen Euro gekostet hat – oder vielleicht auch in seiner Ferienanlage an der Küste mit 300 Zimmern, die 62 Millionen Euro gekostet hat. Aber nicht nur er muss sich keine Sorgen um seine Existenz machen: In der Türkei gibt es 24 Milliardäre. Welche Berechtigung hat solch ein Reichtum angesichts einer Katastrophe wie der aktuellen? Warum leben die einen in Palästen, während andere unter Trümmern begraben erfrieren? In manchen der betroffenen Gebiete sanken die Temperaturen nachts auf unter -15 °C. Nicht einmal Zelte, Nahrung, Toiletten und Medizin gibt es bisher für alle Menschen. Viele von ihnen haben bei Minusgraden kein Dach über dem Kopf.

Kapitalismus bedeutet Klassengesellschaft: die einen arbeiten, die anderen werden davon reich. Milliarden-Reichtum lässt sich niemals durch eigene Arbeit erreichen, sondern basiert immer auf der Ausbeutung tausender anderer Menschen. Diese Gesellschaftsordnung war nie im Interesse der breiten Bevölkerung. Aber in Notsituationen wie der aktuellen, wenn es um Leben und Tod geht, wird die Unmenschlichkeit dieses Systems besonders deutlich. Wo sind die Reichen, wo sind die Herrscher dieser Welt jetzt? Es sind die Menschen aus dem Volk, die die Verschütteten retten, die ihnen zu Essen geben, die ihre Wunden pflegen – die körperlichen wie die seelischen. Wir haben kein Interesse an dieser Klassengesellschaft. Es gibt für uns keinen „Zusammenhalt“ mit der kapitalistischen Klasse. Wir und sie stehen nicht miteinander, sondern gegeneinander.

Widersprüche der Klassengesellschaft werden auch deutlich, wenn wir uns anschauen, wie jetzt finanziell versucht wird, die Betroffenen zu unterstützen: Während Hilfsorganisationen in Deutschland bei aller Mühe einige Millionen Euro an Spenden sammeln, liegt der Jahresgewinn von einem Unternehmen wie der Mercedes-Benz Group bei über 14 Milliarden Euro. Das Spendensammeln ist hilfreich und notwendig, das steht außer Frage. Aber der Punkt ist, dass es gleichzeitig immensen Reichtum in dieser Welt gibt, der dem Wohl der meisten Menschen nicht zu Gute kommt – nicht mal im Fall existentieller Not. Es liegt in unserem Interesse, dass wir der herrschenden Minderheit den Reichtum nehmen und als gesamte Gesellschaft über ihn verfügen. Wie viele Menschenleben hätten nach dieser Katastrophe mit den Milliarden und Billionen der kapitalistischen Klasse gerettet werden können?

Internationale Solidarität und die Perspektive

Solidarität kam aber nicht nur aus der Türkei und Syrien selbst, sondern auch aus anderen Ländern. So reisten Rettungs- und Hilfsteams aus über 40 Ländern in die betroffenen Gebiete auf türkischem Staatsgebiet. Sie halfen bei der Bergung Verschütteter und bei der humanitären und medizinischen Versorgung Überlebender. Viel weniger Unterstützung gab es leider für die betroffenen Menschen auf syrischem Staatsgebiet: zunächst kamen nur Hilfsteams aus drei Ländern – aus Russland, Algerien und Palästina. Auch bei Spenden und Hilfslieferungen sieht es ähnlich aus.

In der Türkei halfen auch Rettungsteams, die von Staaten geschickt wurden, mit denen der türkische Staat im Konflikt steht. So wurde auch aus Armenien ein Team entsendet. Und das obwohl der türkische Staat 2020 einen Krieg des aserbaidschanischen Staates gegen den armenischen Staat unterstütze. Und auch aus Griechenland kamen Rettungsteams – trotz des politischen Dauerkonflikts zwischen dem griechischen und dem türkischen Staat in den letzten Jahren. Erdoğan drohte dabei 2022 sogar, griechische Inseln zu überfallen.

Beachtlich ist unter anderem auch die Hilfe, die von Linken und der Arbeiter:innenbewegung Griechenland für die Betroffenen in der Türkei und in Syrien geleistet wird: Gewerkschafter:innen und Studierende sammeln Sachspenden. Die klassenkämpferische Gewerkschaftsplattform PAME organisierte Blutspenden unter dem Motto „Solidarität ist in unserem Blut“. Eine Ärzt:innengewerkschaft rief zur Teilnahme von Ärzt:innen an Rettungseinsätzen auf. Sogar migrantische Feldarbeiter sammelten Spenden, obwohl sie selbst unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und leben müssen. PAME brachte mittlerweile 100 Tonnen an Hilfsgütern in die betroffenen Gebiete auf türkischem Staatsgebiet, weitere 100 Tonnen stehen in Griechenland bereit. Dabei sollen die Hilfsgüter auch an Betroffene auf syrischem Staatsgebiet gehen.

Es helfen jetzt unter anderem also genau die Menschen, die all die Jahre in den staatstreuen Medien als Feinde dargestellt wurden. Die Feindschaft besteht aber nicht zwischen den Völkern. In der internationalen Solidarität zeigt sich aktuell im Gegenteil eine Verbundenheit zwischen Menschen egal welcher Nationalität. Wir alle haben Interesse an einem guten Leben in Frieden – egal in welchem Land. Die Feindschaft besteht zwischen den Staaten und sie basiert auf der internationalen Konkurrenz zwischen den herrschenden Klassen um Profit und Macht. Die Völker werden in ihrem Interesse gegeneinander aufgehetzt.

Bisher waren die Menschen in den betroffenen Gebieten darauf fokussiert, ihre verschütteten Angehörigen und Freund:innen zu retten. Schock und Trauer sind noch stark. In der Türkei drückt sich aber auch an vielen Stellen Wut aus: darüber, dass kaum staatliche Hilfe kommt, und vor allem darüber, dass der Staat das Ausmaß dieser Katastrophe erst möglich gemacht hat. Auch die Sorge vor einer womöglich noch größeren Erdbeben-Katastrophe in İstanbul besteht. Dagegen werden Erdoğan und seine Anhänger weiter versuchen, von den eigenen Verbrechen abzulenken und andere beschuldigen, für das Desaster verantwortlich zu sein. Sie werden weiter über die Medien verbreiten, dass sie umfassende und ausreichende Hilfe leisten würden. Sie werden weiter den Menschen vermitteln, dass alle im gleichen Boot sitzen würden – als wäre das Volk eine Einheit mit Kapital und Staat.

In Deutschland sind einige linke Organisationen aktiv, die ihren Ursprung in der Türkei und in Kurdistan haben. Wir können sie in der aktuellen Situation unterstützen: Zum einen können wir ihnen den Rücken stärken in der Kritik am türkischen Staat und auch am deutschen Staat, der den türkischen Staat mit seiner Politik unterstützt. Und zum anderen können wir mit den Genoss:innen Solidaritätsaktionen für die Menschen im Erdbebengebiet organisieren.

(Wer vom Erdbeben betroffene Menschen mit Geldspenden unterstützen möchte, kann das gut über medico international tun. Die Hilfsorganisation ist sowohl in der Türkei als auch in Syrien aktiv, hat jahrelange Erfahrung in der Region und arbeitet mit politisch fortschrittlichen Partner:innen vor Ort zusammen – unter anderem mit dem Kurdischen Roten Halbmond.)

#Titelbild: eigenes Archiv.

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Interview mit Çiğdem Çidamlı, früheres Mitglied der Bewegung der Volkshäuser (Halkevleri) in der Türkei und aktuell aktiv in der feministischen Bewegung. Wir sprachen mit ihr über revolutionäre Basisarbeit in unterschiedlichen historischen Phasen und die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der revolutionären Theorie und Programmatik. Das Interview wurde 2020 von kollektiv aus Bremen geführt. 

Kannst du etwas über deine politische Vergangenheit erzählen?

Als 1980 der Militärputsch in der Türkei stattfand, war ich eigentlich noch ein Kind. Ich war in keiner festen politischen Organisation. Wir waren vielmehr in unserer Schule organisiert und befanden uns im alltäglichen Kampf gegen die paramilitärischen faschistischen Kräfte. 

Auch nach dem Militärputsch war ich als junge marxistische Universitätsstudentin bei keiner politischen Organisation. Tatsächlich hatte ich eine Art von politischer Reaktion und Wut gegenüber den politischen Positionen der linken Organisationen der damaligen Zeit. Ich war wütend, weil sie den Widerstand nicht weiter geführt hatten, weil sie nicht so stark waren, wie sie vor dem Staatsstreich vorgegeben hatten und dem Militärputsch nichts entgegen setzen konnten [lacht]. Das heißt, das konstituierende Element meiner politischen Geschichte war nicht geprägt durch politische Organisationen. Ich habe versucht, einen Weg des Kampfes zu finden, der über die damaligen organisatorischen, ideologischen oder programmatischen Formen hinaus ging. Ich war damals – Anfang der 90er Jahre – eine Person, die eine revolutionäre Praxis und Organisation wollte, aber die dachte, dass die Dinge radikal anders sein sollten als die bisherigen Gewohnheiten und organisatorischen und ideologischen Formen der sozialistischen Linken im Allgemeinen. 

Wo warst du damals aktiv?

Der Hauptteil meines organisierten politischen Lebens begann eigentlich zu dem Zeitpunkt, als die „großen Brüder“ aus dem Gefängnis kamen und nicht mehr die Dinge machen konnten, die sie vorher gemacht hatten. Ab 1995 war ich Teil der politischen Organisation, die u.a. versucht hat, die Halkevleri (Volkshäuser) und die Bewegung der prekären Arbeiter*innen aufzubauen. Da ich aktuell kein Mitglied der Bewegung mehr bin, spreche ich hier jetzt jedoch als Einzelperson. 

Ich habe als Außenseiterin in der Organisation angefangen. Eine junge Frau, die dachte, dass sie radikalen Einfluss haben und etwas verändern kann – die Tradition aufnehmen, aber sie auf neue Weise interpretieren. Ich habe ca. 15 Jahre lang daran gearbeitet, einen ideologisch-theoretisch politischen Rahmen für die neue Organisation oder Strömung der Halkevleri (Volkshäuser) zu schaffen. Zu Beginn der 2010er Jahre bin ich dann in einen Stadtteil in Istanbul gegangen, um dort Stadtteilbasisarbeit zu machen. Kurze Zeit später begann die Gezi-Revolte. 

In der Türkei waren die Gezi-Proteste tatsächlich ein sehr wichtiger Wendepunkt für alle politischen Szenen und alle linken Organisationen, egal ob basisorientiert oder nicht. Und natürlich auch in unseren persönlichen Leben. Gezi hat uns dazu gezwungen die eingefrorenen Verhältnisse infrage zu stellen und tut es noch immer – wie in dem berühmten Satz „wir müssen die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.1

Nach den Gezi Protesten haben wir für ein oder zwei Jahre einen Aufschwung der ökologischen und urbanen Bewegungen erlebt, die bereits vor der Revolte begonnen hatten, wie z.B. die Bewegung zur Verteidigung der nördlichen Wälder der Marmara Region oder im städtischen Raum die sogenannten Solidaritäts-Verteidigungsbewegungen. Ich war in diesen ökologischen und sozialen Bewegungen aktiv. Aber nach dem terroristischen Anschlag auf die oppositionellen Kräfte durch den Staat in Gestalt des Bombenanschlags vom 10. Oktober 2015 in Ankara, kam es zu einer Art Rückzug. Die einzige Bewegung, die sich nicht von den Straßen zurück gezogen hat, sondern ihre sozialen und politischen Kämpfen weiter führte, war die feministische Bewegung / Frauenbewegung. Ich war immer schon mit Frauen in den Stadtteilen aktiv gewesen. Ich habe versucht, eine Art feministische Tradition in meiner eigenen Gruppe aufzubauen, die bis zu diesem Zeitpunkt keine explizit feministische Haltung vertrat (obwohl sie schon vor dem Militärputsch Frauen in den Stadtteilen organisierte). In den letzten drei bis vier Jahren haben wir versucht, eine Art unabhängige Frauenorganisation aufzubauen, das Frauenverteidigungsnetzwerk (Kadın Savunma Ağı). Tatsächlich war ich in den letzten drei bis vier Jahren vorwiegend in diesem Kampf praktisch involviert. 

Die Organisation, in der du aktiv warst, hat revolutionäre Basisarbeit als wichtigen Bestandteil ihrer strategischen Ausrichtung betrachtet. Heute, 30 Jahre später, wird innerhalb der linken Bewegung wieder über die Notwendigkeit von Basisarbeit gesprochen. Was sind deine Erfahrungen und Rückschlüsse in Bezug auf die Bedeutung von Basisarbeit?

Eigentlich war es verblüffend und überraschend, als ich vor dem Interview die 11 Thesen2 gelesen habe, die ihr von kollektiv geschrieben habt. Ich denke, dass die zentralen Diskussionen und Fragen sehr ähnlich zu den Fragen sind, die wir hier diskutieren. Auch wenn die Geographie und die konkreten Bedingungen sich unterscheiden. Aber die Frage, was wir als Linke tun sollten, ist uns natürlich allen gemein, und diese Gemeinsamkeit teilen wir mit der europäischen, der lateinamerikanischen und sogar mit der nordamerikanischen Linken. Alle Diskussionen stehen in einem ähnlichen Kontext. 

Ich denke, wir befinden uns an einem neuen Wendepunkt in der Geschichte. Wir waren bereits an einem Wendepunkt als die Pandemie begann, die mit all den vielfältigen Krisen des kapitalistischen Systems zusammen gekommen ist. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem die Fragen und die Diskussionen zu einer Überlebensfrage für die gesamte Menschheit geworden sind, nicht nur speziell für die Linken. 

Also wir sind an einem Wendepunkt, aber auch an einem Brennpunkt [lacht].

Die wichtigste Frage für eine revolutionäre Linke ist: Wie können wir nach der Niederlage des Sozialismus als Bewegung und im Allgemeinen eine neue Epoche einer selbst-emanzipatorischen sozialistischen Bewegung aufbauen? Unser Ausgangspunkt zu Beginn der 90er Jahre war die Feststellung, dass die historische Epoche des Sozialismus zu Ende ist. Das Ende war nicht nur verbunden mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sondern auch mit dem Ende der weltweiten Gewerkschaftsbewegung, der politischen Bewegungen und all ihrer Organisationen, Begriffe, Ideologien und Rahmenbedingungen. Wir befanden uns am Ende der historischen Epoche des Sozialismus – die im 19. Jahrhundert begonnen und bis Anfang der 1990er existiert hat – und wir haben diskutiert, auf welchen Grundlagen sich eine neue historische Epoche des Sozialismus aufbauen lässt. 

Anfang der 90er dachten wir, die neue historische Epoche des Sozialismus kann beginnen, wenn wir eine neue Form der Klassenbewegung aufbauen, eine neue Form der Klassenkämpfe. Denn die vorhergehende Phase des Sozialismus baute auf einer spezifischen Form der Klassenkämpfe auf. Und das führt uns zu den ersten Fragen: Was ist die Klasse heutzutage? Wie ist sie zusammen gesetzt? Wo kann man die Klasse heutzutage finden? In den großen Fabriken, Stahlwerken oder vielleicht in den Stadtteilen? Oder wo sonst? Und wie ist die alltägliche Erscheinung der Klasse und der Klassenkämpfe selbst? Diese Gedanken haben wir uns parallel zu gesellschaftlichen Entwicklungen wie der zunehmenden Prekarisierung der Arbeit und Privatisierungen gemacht, in deren Folge die großen Fabriken abgebaut wurden und die Formen der Arbeit sich veränderten.

Wenn ich vom heutigen Standpunkt aus retrospektiv auf die Geschichte schaue, dann denke ich, unsere Fragen waren gut und richtig. Aber was wir damals im Gegensatz zu heute nicht wussten, ist, dass wir uns die Fragen in einem bestimmten Moment der Geschichte stellten, d.h. sogar die Fragen, die wir wagten, uns zu stellen, waren historisch bedingt. Und dieser Moment war nicht geprägt vom Sieg der Revolutionen, sondern von deren Niederlage. Der Beginn der historischen Phase des Sozialismus befand sich in der traditionellen revolutionären Phase, z.B. 1830er, noch immer unter dem Einfluss der französischen Revolution, dann die Pariser Kommune 1871. In den 90er Jahren hingegen haben wir an einem Punkt begonnen, der komplett von einem Gefühl der Niederlage charakterisiert war. Ich denke, das hat nicht nur uns ausgemacht, sondern auch andere Bewegungen wie z.B. den MST (Anm. d. Red.: portugiesisch Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, deutsch: Bewegung der Landarbeiter ohne Boden) in Brasilien usw. Natürlich hat die Niederlage oder der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Niederlage der vorangegangenen Phase des Sozialismus uns auch vor die Frage der Kritik dieser vorangegangenen Bewegungen gestellt. Und natürlich hat diese Kritik dazu geführt, dass wir die Bedeutung von Basisarbeit betont haben. Aber Basisarbeit kann in zwei verschiedenen Arten interpretiert werden: als Ausgangspunkt für eine selbst-emanzipatorische Bewegung oder als Selbstzweck. Ich denke, Basisarbeit kann nicht für sich selbst stehen und nicht an sich das Ziel sein.

Du kannst Basisarbeit machen, aber Basisarbeit ist nicht an sich revolutionär. Aus einer Kritik des realexistierenden Sozialismus heraus waren wir davon überzeugt, dass Basisarbeit wichtig ist. So weit, so gut. Aber die eigentliche Bedeutung von Basisarbeit lässt sich nur vor dem Hintergrund der Frage der Selbsttätigkeit der Arbeiter:innen innerhalb des revolutionären Prozess verstehen. Also: Ist die neue sozialistische Bewegung, die revolutionäre Bewegung, selbst-emanzipatorisch oder nicht? Wird sie durch die Selbsttätigkeit der Arbeiter*innen, Frauen, etc. getragen? Ist der Sozialismus etwas, das von außen zu ihnen gebracht werden muss oder entsteht er durch die Aktivität der Massen?

Um die Bedeutung zu verstehen, die Basisarbeit Anfang der 90er Jahre für uns hatte, ist es aber auch wichtig, den historischen Kontext zu betrachten, in dem all diese Überlegungen stattgefunden haben. Der Neoliberalismus war in einer Phase, die auf der politischen Ebene mit einem gewissen Liberalismus und sogenannten politischen Öffnungen einher ging. Die politische Sphäre war so, dass sie dir erlaubt hat, in die Stadtteile zu gehen, um dort die mikrodimensionalen Klassenkämpfe zu suchen. Du hast gedacht, du kannst diesen Problemen mit Basisarbeit begegnen, also z.B. Mietproblemen etc. Die alltäglichen Erscheinungsformen der Klassenkämpfe, die aus der Prekarisierung, Kommodifizierung (Anm. d. Red.: beschreibt den Prozess des „zur-Ware-werdens“) oder dem Neoliberalismus im Allgemeinen resultieren. Und wir dachten, wenn wir diese Kämpfe anhand von Basisarbeit bearbeiten, würde das eine Art von kleiner Politisierung gegen den Kapitalismus ermöglichen. 

Und teilweise tat es das auch. Wie die Erfahrungen gezeigt haben, war es möglich, mit Menschen zusammen zu kommen, starke Kämpfe aufzubauen und zu versuchen, darüber die politischen Einstellungen schleichend zu verändern, wie z.B. im Dikmen Tal3 oder in einigen anderen großen Kämpfen wie diesem. Natürlich haben sich die Einstellungen der Leute an diesem Punkt oder an jenem Thema verändert und auch ihre Position gegenüber der politischen Macht oder ihre Aktionsformen. 

Aber nach der Wirtschaftskrise von 2008 haben wir gemerkt, dass sich die Verhältnisse verändert haben. Man kann das vielleicht als Rückkehr oder Wiederkehr der politischen Sphäre an sich bezeichnen. 2008 war ein wichtiger Scheidepunkt, weil sich die Bedingungen all dieser Kämpfe stark verändert haben. Man könnte von der Vor-Krise und der Krisenperiode des Neoliberalismus sprechen. 

Nach 2008 hat uns die politische Sphäre überholt. Während Gezi haben wir erlebt, dass all diese kleinen Basisbewegungen, die aufgebaut wurden, nicht groß und kraftvoll genug waren, um die Reaktionen der Leute und ihren Ärger über den Neoliberalismus und dessen politischen Akteure aufzufangen oder einzubeziehen. Die Politik hat uns überholt, und nicht nur in der Türkei sondern auch in Brasilien oder anderen Orten. All die Basisbewegungen konnten an einem gewissen Punkt auf die Rückkehr der politischen Sphäre nicht mehr angemessen reagieren. Und die politische Sphäre wurde so manipulativ. Und auch der Linkspopulismus, wie in Spanien mit Podemos und Syriza in Griechenland, wandte sich gegen die Bewegungen selbst. Die linken sozialistischen Basisbewegungen konnten bis zu einem gewissen Punkt nur eine radikale sozialdemokratische Alternative anbieten und diese Alternative wurde manipuliert durch die Angriffe des kapitalistischen Systems nach der Krise von 2008. Die Leute, die ihrer grundlegenden Mittel der Existenzsicherung beraubt wurden, wurden sehr schnell proletarisiert, aber weder die Basisbewegungen noch die politischen Projekte, wie PodemosSyriza etc. konnten darauf eine angemessene Antwort finden und keine davon konnte die revolutionären politischen Erscheinungsformen all dieser Kämpfe vereinen. 

Kannst du das näher ausführen?

Ich denke, die zentrale Form der Herrschaft hat sich nach 2008 verändert. Vor 2008 zielte der Kern der kapitalistischen Herrschaft darauf ab, die Leute zu atomisieren und die Einheit der proletarischen Klassenstrukturen zu zerstören, die vorher aufgebaut wurde. Hinzu kam eine Form der Liberalisierung im Regierungsstil. Man kann ersteres in der Türkei auch mit den ersten Jahren der AKP Regierung gleichsetzen: Eine Öffnung gegenüber der kurdischen Frage, gegenüber LGBTIQ+ Personen, Frauen etc. Identitätspolitiken wurden benutzt, um die neuen Bereiche des Proletariats in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Meiner Meinung nach wurde Identitätspolitik erfolgreich benutzt, um den Arbeitsmarkt zu erweitern, die Proletarisierung und Kommodifizierung voran zu treiben und all diese Menschen in den kapitalistischen Markt im Allgemeinen einzubinden. Der Neoliberalismus hat so getan, als könnte er die historischen Probleme lösen, die in der vorherigen Phase des Kapitalismus bestanden – wie die kurdische Frage, die Unterdrückung der Frauen und ähnliche demokratische Probleme. Und er war sehr erfolgreich dabei, die Einheit der Arbeiter*innenklasse in dieser Zeit zu zerstören. 

Aber nach 2008 hat sich die politische Sphäre verändert. Die neoliberale Identitätspolitik wurde von oben aufgekündigt und wir erleben Regierungen wie in der Türkei, auf den Philippinen, in Russland; die Bolsonaros, Trumps und all diese neoliberalen, man kann sagen neofaschistischen, Regierungen. Sie zielen darauf ab, die Einheit der nunmehr massenhaft proletarischen Bevölkerung zu zerstören. Und all die Selbstverteidigungsbewegungen oder Basisbewegungen waren politisch nicht in der Lage, adäquat auf diese neuen politischen Entwicklungen zu reagieren. 

Aber trotz allem sehe ich uns nicht als besiegt. Ich denke nicht, dass wir Teil einer Niederlage sind. Ich ziehe es vor, uns am Anfang einer neuen historischen Epoche zu sehen. Das kann man so sehen, wenn man akzeptiert, dass die alten früheren Strukturen tot sind, die alten Annahmen, Formierungen und Gebilde einer sozialistischen Linken – sie sind tatsächlich in der Türkei mit Gezi gestorben [lacht].

Aber wenn du das Material der Kämpfe selbst betrachtest, vor dem Hintergrund der multiplen Krise des Kapitalismus, kannst du keinen Bereich des Lebens finden, der nicht unter Druck geraten ist, auch alle Kampfbereiche – seien es feministische Kämpfe, die Ökologiebewegung und natürlich die täglichen Kämpfe der Arbeiter*innen. Weil der Neoliberalismus alles kommodifiziert, alles. Und diese Pandemie zeigt, dass der Grad der Kommodifizierung und Proletarisierung nicht mit dem menschlichen Leben an sich vereinbar ist. Du kannst kaum noch irgendwelche Menschen finden, die nicht auf die ein oder andere Art und Weise mit der proletarischen Klasse im Allgemeinen verbunden sind, du kannst kein alltägliches Thema, kein Moment der Existenzsicherung finden, das nicht mit dem politischen Klassenkonflikt des Kapitalismus an sich verbunden ist. Alle Bereiche des Lebens sind proletarisiert und zum Symbol der sozialen und politischen Klassenkonflikte geworden, der Interessen der Mehrheit der Leute gegen das Interesse des Kapitalismus. 

Wir befinden uns in einer Situation, in der wir uns fragen müssen, was das grundlegende Interesse aller proletarischen Massen ist und welche Form der Organisierung es braucht. Welche Art der Basisarbeit, von Selbstbildung, welche Atmosphäre der politischen Selbstbildung für die Massen, deren grundlegende Bedürfnisse und Interessen mit dem alltäglichen Leben an sich in Konflikt stehen. Wir stehen an einem Punkt, an dem weder die partiellen Kämpfe noch die linken populistischen politischen Projekte die realen Bedürfnisse und Reaktionen der Leute auffangen und beantworten können. 

Das können wir auch in den massiven Revolten sehen, die kontinuierlich weltweit seit einigen Jahren ausbrechen. Erst vor der Pandemie, wenn ihr euch erinnert, gab es in fast 20 Ländern Massenrevolten. In diesen Revolten gab es einige politische oder ideologische Übereinkünfte, die sich zwischen den Leuten auf der Straße oder in Aktionen herausgebildet haben. Aber den politischen Projekten, die aus diesen Massenbewegungen entstanden sind, sei es Podemos, Syriza oder anderen, fehlt – was ihr politisches Programm und ihre Organisationsweise angeht – genau das, was die Menschen auf der Straße auf eine emotionale Art während der Revolte miteinander entwickelt haben.

Was bedeutet das in Bezug auf revolutionäre Basisarbeit in der politischen Praxis?

Ich denke, natürlich brauchen wir Basisarbeit, aus zwei Gründen: ohne Basisarbeit kannst du keine selbst emanzipatorische Bewegung des Sozialismus aufbauen. Sozialismus ist nicht nur eine Utopie, oder ein Dogma oder intellektuelles Denken, dass du den Massen aufdrücken kannst. Natürlich brauchen wir eine selbst-emanzipatorische Bewegung und die Basisarbeit, die zu den alltäglichen Problemen der Leute gemacht wird. Denn die alltäglichen Probleme sind zu einem Symbol des Konfliktes zwischen dem gesamten kapitalistischen Establishment und dem Leben der Leute geworden. 

Aber gleichzeitig haben wir erfahren, dass Basisarbeit zwar ein starkes Mittel sein kann, aber nicht einfach so aus sich selbst heraus. Wenn du keine richtige Programmatik und theoretische Ausarbeitung von dem hast, was Sozialismus heutzutage ist und was die Antworten sind, die wir zur Lösung der multiplen Krisen des Kapitalismus vorschlagen oder wessen Sozialismus es sein soll, laufen unsere praktischen Anstrengungen ins Leere. 

Die Tatsache, dass eine historische Epoche des Sozialismus zu Ende gegangen ist, bedeutet auch, dass sich die Art und Weise der antikapitalistischen Klassenkämpfe verändert hat. Die Klassenkämpfe der damaligen sozialistischen Ära basierten auf dem Industrieproletariat, alle anderen Kämpfe und Basisbewegungen von Unterdrückten wurden unter diese Hegemonie untergeordnet. Aber wessen Hegemonie wird heutzutage über alle Kämpfe der Unterdrückten gebildet? Wessen Sozialismus? Oder haben wir eine reale Möglichkeit, einen Weg zu finden, um all die antikapitalistischen Tendenzen und Impulse, die von unterschiedlichen Basisbewegungen kommen (z.B. der feministischen, der ökologischen, der der Kleinbäuer*innen und allen anderen antikapitalistischen Bewegungen), in eine sozialistische Einheit des Proletariats/der Unterdrückten des 21. Jahrhunderts einzubetten? Ich denke, das ist möglich. Und das ist der Grund, warum ich denke, dass wir uns an einem Wendepunkt der Geschichte befinden. Vielleicht war es das in den 90er Jahren noch nicht, aber heute ist es möglich, dass wir diesen Anfang einer neuen sozialistischen Bewegung erleben, ich meine eine neue sozialistische Epoche hat vielleicht bereits begonnen. 

Aber dafür ist es aus meiner Sicht unbedingt notwendig, dass eine neue Art der revolutionären politischen Theorierekonstruiert wird. Das ist, was uns heutzutage fehlt. Die traditionelle politische Theorie des 20. Jahrhunderts war geprägt von der Russischen Revolution und danach von den antikolonialen Revolutionen und ihren Rahmenbedingungen. Aber was ist heutzutage die politische Arena? Und wie kann eine politische revolutionäre Praxis aufgebaut werden? Wie kann eine revolutionäre Dialektik zwischen den Basisbewegungen und der politischen Ebene etabliert werden, die die politische Revolution auf der einen und die soziale Revolution auf der anderen Seite miteinander verbindet. Im 20. Jahrhundert gab es eine etablierte politische Systematik dieser revolutionären Dialektik zwischen dem politischem Moment und dem Moment der sozialen- /Klassenkämpfe. Aber ich denke, wir haben diese revolutionäre Dialektik verloren. Die zentrale Krise der Linken in den 70er Jahren resultierte daraus und natürlich hatten wir auch keine solche politische Theorie in den 90er Jahren. Aber das Leben und vor allem die aktuellen Massenaufstände zwingen uns dazu, diese neue Form der revolutionären politischen Theorie aufzubauen. Es stellt sich die Frage, was ist Politik heutzutage? Und wie können wir diese revolutionäre Dialektik zwischen dem Basiskampf und dem politischen Kampf an sich entwickeln?

Denn wenn es keine richtige politische Analyse innerhalb der Bewegungen gibt, die mit einem bestimmten Problem zu tun haben, dann wird diese Bewegung an unterschiedlichen Themen gespalten werden, wie z.B. an der kurdischen Frage oder der Frauenfrage. Nehmen wir z.B. die ökologische Bewegung in der Türkei, in der sich Menschen zusammen gefunden haben, um für den Erhalt von Wäldern, Flüssen, Tälern zu protestieren. Wenn sich solche Bewegungen nur auf die Lebensbedingungen beschränken, dann werden sie sich anhand der kurdischen Frage, der nationalen Frage, der Migrationsfrage spalten. Das bedeutet, dass Basisarbeit und eine damit verbundene Organisation glaubhaft machen muss, dass sie in der Lage ist, die alltäglichen Probleme der Arbeiter*innenklasse zu lösen, aber auch all die historischen Probleme wie die kurdische Frage, die Frauenfrage, die Migrationsfrage und so weiter. Es braucht also eine Basisarbeit, die nicht anhand von neoliberaler Identitätspolitik gespalten ist, sondern die dazu beiträgt, dass Menschen daran glauben, dass z.B. kurdische Frauen oder andere Identitäten ein historisches politisches Subjekt innerhalb der sozialistischen Organisation sein können, damit sie sich nicht in die typischen anti-narrativen Ansätze (Anm. v. kollektiv: Ansätze, die große Narrative i.S. von einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive ablehnen: Der Fokus liegt auf Teilbereichskämpfen oder 
Mikropolitiken, 
die Möglichkeit und Notwendigkeit der Verbindung unterschiedlicher Kämpfe zu einem gemeinsamen Kampf gegen das gesamte System wird negiertflüchten.

Du hast ja bereits die Massenproteste erwähnt, die als eine Reaktion auf die neoliberale Politik weltweit vor Beginn der Pandemie entstanden sind. Welche Rolle spielen diese aus deiner Sicht in der Herausbildung?

Viele der unterschiedlichen Formen von Unzufriedenheit, die in den zahlreichen Protesten weltweit zum Ausdruck kamen, verstehen sich selbst nicht per se als antikapitalistische Aktionen oder Bewegungen. Wenn das so ist, wovon ich ausgehe, dann stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten wir haben, um solche Aktionen und Bewegungen dazu zu bringen, antikapitalistische Bewegungen zu werden. Es geht mir nicht darum, wie wir diese Massenproteste interpretieren, sondern als was sie sich selbst verstehen. Ich stimme vollkommen mit euch überein, dass wir eine neue Form der der revolutionären Politik entwickeln müssen, aber was ist die materielle Basis dafür? Wir wissen, dass viele Menschen unzufrieden sind und in prekären Situationen leben, aber was ist die Subjektivität der Menschen? Ich denke, die Massenproteste sind antikapitalistisch aber viele der Menschen auf den Straßen sind sich selbst darüber nicht bewusst. Sie reagieren auf die kapitalistischen Lebensbedingungen, aber sie sehen sich selbst nicht als antikapitalistische, sozialistische, historisch-politische Subjekte, welche in die Geschichte eingreifen und sie verändern können. Und selbst wenn sie sich als antikapitalistisch verstehen, vermeiden sie es, Teil eines großen Narrativs zu sein, das Sozialismus heißt, weil sie vor solchen Ansätzen fliehen, vor Politik fliehen. Ich denke, das ist die größte Frage. Sozialismus oder Antikapitalismus – bewusster Antikapitalismus – ist eine Art Selbstnarrativ der Massen. Sozialismus war ein Narrativ, dass von den Massen selbst erzählt wurde. Natürlich bin ich inspiriert von dem theoretischen Körper aber Sozialismus, wie er real existierte, war in der damaligen Zeit revolutionär und, eine selbstemanzipatorische Erzählung der Massen. 

Ich weiß nicht wie, ich habe keine fertigen Antworten, man muss es ausprobieren. Aber ich denke, es braucht eine Art neuer Bildung, eine Bildung über den wahren Inhalt des Sozialismus, nicht über seine konkreten historischen Formen, nicht über die Formen des 20. Jahrhunderts, sondern über die reale Essenz des Sozialismus. Das bedeutet, eine Interpretation der Essenz für heutzutage. Damit sich die Massen über den Sozialismus an sich bilden, aber auch durch die feministische Bewegung , wie ni una menos und andere. Was wir tatsächlich in dieser Art von Bewegungen (wie z.B. ni una menos oder der Kampf für die Legalisierung von Abtreibungen) sehen, ist nicht nur eine Bewegung gegen Feminizide. Es ist vielmehr eine Bewegung der proletarisierten und prekarisierten Frauen, die die multiplen Krisen der Produktion und Reproduktion erleben und versuchen, diese Lücke in der Klassenbewegung zu füllen. Die Ökologiebewegung, die Bewegung der Kleinbäuer*innen, die feministische Bewegung und natürlich die alltäglichen sozialen Kämpfe sollten aus der Sicht der reinen Essenz des Sozialismus heraus kritisiert werden. Aber natürlich muss auch der Sozialismus von diesen Bewegungen kritisiert werden, insbesondere in Bezug auf seine organisatorischen Ansätze, in Bezug auf die Frage, wessen Hegemonie auf welche Art innerhalb der sozialistischen Bewegung aufrecht erhalten wird. Oder ist es möglich, neue Formen der Hegemonie zu finden?

Ich denke, wir stecken komplett in einer Welt fest, in der es auf der einen Seite historisch dogmatische Formen wie die der kommunistischen Parteien gibt. Und auf der einen Seite neue Organisationsformen und postmoderne Bewegungen, die jegliches Narrativ ablehnen bzw. es nicht erlauben, dass Menschen ihre eigenen Erfahrungen mit den Worten und Begriffen des Sozialismus erzählen und damit verbinden. An diesem Punkt befinden wir uns aktuell. Ich denke, dass wir eine neue Art der leninistischen Bewegung des 21. Jahrhunderts brauchen. Wir müssen uns eine solche Bewegung vor dem Hintergrund der Verhältnisse des 21. Jahrhunderts vorstellen, sie organisieren und aufbauen. Die Geschichte wird es uns zeigen. Ich habe die Fragen hier genannt, aber das heißt nicht, dass ich Antworten darauf habe. Was wir brauchen, ist eine revolutionäre und sich gegenseitig beeinflussende Bildung zwischen Sozialismus und Massen-/ Klassenbewegungen. 

Vielen Dank!

#Foto: Wikimedia Commons

1 [Karl Marx (1844): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW Bd. 1. Berlin: Dietz Verlag. S 381: “Man muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse |den Schandfleck| der deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen. Man erfüllt damit ein unabweisbares Bedürfnis des deutschen Volks, und die Bedürfnisse der Völker sind in eigner Person die letzten Gründe ihrer Befriedigung.”]

2https://solidarisch-in-groepelingen.de/eigenetexte

3Die Bewohner*innen des Dicmen-Tals bei Ankara sollten 2007 geräumt werden, um Platz zu schaffen für ein an landesweite Programme der Erdogan-Regierung anknüpfendes großflächiges Städtebauprojekt, das aus dem Tal ein kommerzielles Tourismus- und Naherholungsgebiet machen sollte. Aufgrund des militanten Widerstands der verbliebenen Bewohner*innen und deren Unterstützer*innen musste am 1. Februar 2007 der erste Räumungsversuch mit 8.000 Einsatzkräften und 44 Abrissbaggern schließlich abgebrochen werden. Insgesamt gelang es dem Widerstand, die Umsetzung des Projekts bis 2009 herauszuzögern. In dieser Zeit wurden lokale Selbstverwaltungsstrukturen in Form von Vollversammlungen verwirklicht, selbstorganisierte Sozial- und Bildungseinrichtungen geschaffen und eine Vernetzung mit anderen Regionen aufgebaut, die von Städtebauprojekten betroffen sind

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Ein Diskussionsbeitrag von kollektiv aus Bremen

Seit einigen Monaten flammt weltweit eine neue Welle von Massenprotesten auf: Ob im Sudan, Haiti, in Ecuador, Chile, Kolumbien, Guinea, dem Irak, Libanon, dem Iran, Frankreich oder anderswo. Überall gehen Massen von Menschen auf die Straßen. Sie kämpfen gegen ständig steigende Preise von Bustickets und Benzin, gegen die permanente Verteuerung von Grundnahrungsmitteln und das unaufhörliche Steigen der Mieten, sie protestieren gegen Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne und sie prangern die unzureichende Gesundheitsversorgung und die teuren Bildungssysteme an. Ihre Wut richtet sich dabei auch gegen eine korrupte politische Elite, die als verlängerter Arm von Unternehmen und einer kleinen Oberschicht agiert, an ihrer Macht unbeirrt festhält und in die eigene Tasche wirtschaftet, während die Masse der Menschen in Armut versinkt. Kurz gesagt: Die Proteste in den unterschiedlichen Ländern richten sich gegen die Auswirkungen von über 30 Jahren neoliberaler Politik der gezielten Verarmung der Massen, sie richten sich gegen Korruption und Unterdrückung. Hinzu kommen wachsende Mobilisierungen von Frauen*, zum Beispiel in der Türkei, die nicht nur gegen patriarchale Unterdrückung und Gewalt kämpfen, sondern häufig auch eine zentrale Rolle in den Massenprotesten einnehmen. Die Antwort der Regierungen auf die Proteste ist überall die selbe: Tränengas, Schlagstöcke, Massenverhaftungen, Folter, Vergewaltigung, das Verschwindenlassen bis hin zur gezielten Ermordung von Demonstrant*innen1.

Die Ähnlichkeit der Proteste ist kein Zufall, sondern macht deutlich, dass sich das gesamte kapitalistische System in einer tiefen Krise befindet, von der die Länder des Globalen Südens am stärksten betroffen sind. Aber nicht nur sie. Was bedeuten also die Proteste für linke Kräfte in den kapitalistischen Zentren?

Aktiver Internationalismus

Internationalismus ist über viele Jahre in der radikalen Linken – abgesehen von einigen Ausnahmen – eher in Vergessenheit geraten. Es schien als sei internationale Solidarität (als auch Anti-Imperialismus) ein Relikt aus alten Zeiten, das für die eigene Praxis kaum noch eine Rolle spielt. In den letzten Jahren hat sich dies erfreulicherweise verändert. Mit den Krisenprotesten von 2010/2011, dem sogenannten Arabischen Frühling, den Entwicklungen in Rojava und den jüngsten Massenaufständen richtet sich auch der Blick vieler Linksradikaler wieder stärker in die Welt.

Dabei stellt sich die Frage, was wir eigentlich unter Internationalismus und internationaler Solidarität verstehen. Und: Wie kann diese Solidarität hier praktisch gelebt und organisiert werden?

Wir denken, dass in der Gleichzeitigkeit und der Ähnlichkeit der aktuellen (oder zukünftiger) Massenproteste eine Möglichkeit liegt, hierzulande die Grundlagen für einen neuen lebendigen Internationalismus zu schaffen. Einen Internationalismus, der aus einer Dynamik von unten entsteht, der eine langfristige Perspektive entwickelt und der strategisch mit der Frage der Gesellschaftsveränderung verbunden ist. Dieser Internationalismus, den wir als „aktiven Internationalismus“ bezeichnen, umfasst vor allem zwei wesentliche Aspekte: die Solidaritätsarbeit mit emanzipatorischen Bewegungen und Massenprotesten weltweit einerseits2 und anderer seits die Entwicklung und Stärkung von internationalistisch geprägten Kämpfen von unten in den und gegen die imperialistischen Zentren selbst. Beide Aspekte sind dabei miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Was meinen wir damit?

Internationalismus als strategische Notwendigkeit

Die gängige internationale Solidaritätsarbeit erschöpft sich häufig in der bloßen Solidarität mit und der Unterstützung von emanzipatorischen Bewegungen oder Massenprotesten weltweit. Sie wird entweder von denjenigen getragen, die sich speziell als Solidaritätsgruppen einer bestimmten Bewegung verstehen, oder von Gruppen/Einzelpersonen, die sich anlassbezogen damit beschäftigen. Internationalismus wird jedoch häufig auf diese Form der Solidaritätsarbeit reduziert oder mit ihr gleich gesetzt. Fast immer wird sie lediglich als ein weiteres politisches Feld betrachtet, das relativ getrennt von der eigenen lokalen Praxis und den Kämpfen vor Ort steht.

Internationalismus ist aber mehr. Im zunehmend global organisierten Kapitalismus und vor dem Hintergrund der weltweit erlebbaren Auswirkungen imperialistischer Politik ist Internationalismus keine bloße ‚moralische‘ Verpflichtung oder ein zusätzliches politisches Prinzip oder Aktionsfeld, sondern vielmehr strategische Notwendigkeit für eine tägliche Praxis der Gesellschaftsveränderung. Denn die Lebensbedingungen in Ländern des Globalen Südens aber auch die Unterdrückung von emanzipatorischen Bewegungen und Massenprotesten kann nicht getrennt von der Politik der kapitalistischen Zentren und ihrer Interessen betrachtet werden3. Deshalb ist die Entwicklung von antikapitalistischen und internationalistischen Kämpfen innerhalb dieser Zentren selbst ein wichtiger Bestandteil einer globalen revolutionären Perspektive4.

Eine „aktive“ internationalistische Praxis sollte sich daher an der Frage orientieren, wie die potentiellen Subjekte in den Zentren selbst gegen die kapitalistische und imperialistische Herrschaft mobilisiert und damit entfaltet werden können. Wichtige potentielle Subjekte im Kampf für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung sind in der BRD ebenjene Menschen, die aus anderen Ländern geflüchtet oder migriert sind und/oder in zweiter, dritter Generation hier leben. Sie sind strukturell am stärksten von prekären Arbeits- und Lebensbedingungen betroffen: sie stellen die Mehrheit derjenigen, die in Leiharbeit oder mit deregulierenden Werkverträgen schuften, in schlechten Wohnverhältnissen leben oder in abgehängten Stadtteilen wohnen, in denen es kaum noch öffentliche Infrastruktur gibt. Gleichzeitig sind sie vom zunehmenden Rassismus und Nationalismus der Dominanzgesellschaft betroffen und damit – alltäglich und strukturell – diversen Diskriminierungs- und Exkludierungserfahrungen ausgesetzt. Ihre Einbindung in den nationalen Klassenkompromiss ist daher schwieriger. Aus diesen Gründen sind (Post)Migrant*innen, Geflüchtete, (Black) Persons of Colour und andere Markierte/Exkludierte wichtige potentielle Subjekte in der Entwicklung von anti-imperialistisch, anti-rassistisch und internationalistisch ausgerichteten Kämpfen gegen die kapitalistische Herrschaft5.

Wenn wir davon ausgehen, dass für einen strategisch ausgerichteten Internationalismus beide Faktoren – die Solidaritätsarbeit und die Entwicklung von Kämpfen vor Ort – unerlässlich sind, stehen wir vor folgenden Fragen: Wie kann eine organische Verbindung von internationalistischer Solidaritätsarbeit auf der einen mit der Entwicklung von Kämpfen von unten in den/gegen die kapitalistischen Zentren selbst auf der anderen Seite aussehen? Was bedeutet eine solche Verbindung für die Form und Ausrichtung von Solidaritätsarbeit?

Klassische Solidaritätsarbeit

Klassische Solidaritätsarbeit folgt meist der auf- und wieder abflammenden Dynamik der weltweiten Proteste und Bewegungen. Breite Aufmerksamkeit und Beteiligung erfährt sie häufig vor allem dann, wenn die Situation an den jeweiligen Orten akut und die Repression hoch ist oder wird. Aus diesen Gründen umfasst klassische Solidaritätsarbeit vor allem öffentlichkeitswirksame Aktionen, die die Aufmerksamkeit – leider häufig nur für begrenzte Zeit – auf die so skandalisierten Verhältnisse in einem internationalen Kontext lenken. Diese sind wichtig und notwendig, um die von den Mainstream-Medien meist ignorierten oder verzerrt dargestellten Bewegungen sichtbar und verstehbar zu machen und Anknüpfungspunkte aufzuzeigen. Außerdem haben Solidaritätsaktionen das Potential, den konkret Kämpfenden vor Ort eine wichtige Stärkung zu sein.

In der gängigen Solidaritätsarbeit liegt der Fokus der Öffentlichkeitsarbeit jedoch häufig darin, bürgerliche und zivilgesellschaftliche Teile der Gesellschaft erreichen und zu einer Positionierung bewegen zu wollen, um so indirekten Druck auf die politisch Verantwortlichen auszuüben oder eine Diskursverschiebung „von oben“ zu erreichen6. Die Methoden sind daher dieselben, die auch in anderen politischen Aktionsbereichen der radikalen Linken verbreitet sind: Kampagnen, öffentlichkeitswirksame Aktionen und Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Parteien, Gewerkschaften etc. Das birgt zum einen die Gefahr, dass die Argumentationen und Begründungen an den bürgerlichen Diskurs angepasst werden, was klassischerweise zu dem Appell an die Bundesregierung führt, wahlweise die Menschenrechte, die Demokratie, das Völkerrecht etc. zu achten oder ihre NATO-Partner zur Räson zu bringen. Dabei wird die Rolle der Bundesregierung bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Ursachen weltweiter Missstände sowie der Unterdrückung von widerständigen Bewegungen verschleiert. Zudem werden falsche Hoffnungen an eine „richtige“, weil moralische Politik geweckt bzw. das Zerrbild der guten westlichen Demokratie verfestigt – gerne auch im Gegensatz zu den autoritären Regierungen in den Ländern, in denen die Proteste / Bewegungen stattfinden und unterdrückt werden. Zum anderen bleibt diese Form der Solidaritätsarbeit meist auf linksradikale und maximal intellektuell-bürgerliche oder zivilgesellschaftliche Kreise der Mehrheitsgesellschaft begrenzt.

Zwei Aspekte der Solidaritätsarbeit im Rahmen eines aktiven Internationalismus

Aus dieser Kritik lassen sich zwei Aspekte benennen, die für die Verbindung von konkreter Solidaritätsarbeit mit einer weiterreichenden internationalistischen Perspektive wichtig sind: 1) die kritische Vermittlung der Rolle der BRD im jeweiligen Kontext und 2) die Ausrichtung auf eine Solidaritätsbewegung „von unten“.

Anstatt Forderungen oder Appelle an politische Verantwortliche oder die Bunderegierung als Ganzer zu formulieren, halten wir es für zielführender in der Solidaritätsarbeit die Rolle der Bundesregierung bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der skandalisierten Verhältnisse sowie der erlebten Unterdrückung heraus zu arbeiten und zu vermitteln. Dadurch kann der Tendenz entgegen gewirkt werden, dass die jeweiligen Verhältnisse in anderen Ländern isoliert von der hiesigen Politik (der Metropolländer) betrachtet werden und das Entsetzen über die Verhältnisse „dort“, die Zufriedenheit mit der guten Demokratie „hier“ stärkt. Diese Tendenz besteht gleichermaßen bei Personen, die keinerlei Verbindungen zu anderen Ländern haben als auch bei Menschen, welche die Unterdrückung offen autoritärer Staaten selbst oder über Familienverbindungen erlebt haben oder noch miterleben. Denn nicht selten wird auch von „fortschrittlich“ denkenden Personen aus Ländern wie dem Irak, Iran, Äypten etc. die Errichtung einer bürgerliche Demokratie am Beispiel der Bundesrepublik als Ziel ihrer widerständigen Bestrebungen definiert. Um diese Illusionen zu zerstören und der bürgerlichen Demokratie ihre humanistische Maske zu entreißen, ist eine wichtige Aufgabe revolutionärer Kräfte in der internationalistischen Solidaritätsarbeit, die direkten Verbindungen zwischen der Politik/den Interessen der Bundesregierung und den unterdrückenden Verhältnissen andernorts aufzuzeigen. Darüberhinaus bietet sich insbesondere in Phasen weltweiter Massenproteste die Möglichkeit, die zugrundeliegenden politischen und wirtschafltichen Ursachen heraus zu arbeiten und Verbindungen zu den Folgen derselben Politik auch innerhalb der Bundesrepublik zu ziehen.

Auf der anderen Seite erachten wir es als notwendig, die Solidaritätsarbeit in den „akuten“ Phasen (ebenso wie allgemein die eigene lokale Praxis7) darauf auszurichten, eine Dynamik „von unten“ zu erzeugen, anstatt primär auf zivilgesellschaftliche Bündnisse und die Intervention in den bürgerlichen Diskurs zu fokussieren. Das bedeutet konkret, vorwiegend („fortschrittlich“ denkende) Menschen aus den jeweiligen Communities zu mobilisieren und für die Solidaritätsarbeit zusammen zu bringen. Zeiten weltweiter Aufstände und Massenproteste bieten hierfür eine gute Möglichkeit. Denn durch die Flucht- und Migrationsbewegungen der letzten sieben Jahrzehnte leben in der Bundesrepublik eine Vielzahl von Menschen, die direkte Bezüge zu den jeweiligen Massenprotesten in Ländern wie Irak, Iran, Libanon, Chile, Ecuador, Kolumbien, Sudan, Guinea und möglichen zukünftigen Protesten haben und von deren Dynamiken beeinflusst werden. Viele von ihnen verfolgen die Entwicklungen vor Ort über soziale Medien und stehen in direktem Kontakt mit Angehörigen und Freund*innen, um deren Wohl und Leben sie fürchten (müssen). Die Dynamik der Proteste bewegt und politisiert also.

Gleichzeitig macht der herrschende alltägliche Rassismus und die strukturelle Ausgrenzung es Exil-Linken und politisch bewegten Einzelpersonen schwer, in der bundesdeutschen Dominanzgesellschaft politisch aktiv zu werden und so ihrer Solidarität mit den Aufständen in den Herkunftsländern – aber auch der eigenen Wut über die unhaltbaren Zustände – einen öffentlichen Ausdruck zu geben. Die wenigen Solidaritätsaktionen, die organisiert werden, bleiben meist auf die eigene Community beschränkt und werden darüber hinaus kaum wahrgenommen.

Aufbau internationalistischer Plattformen

Eine Möglichkeit, diese Isolation und Trennung aufzubrechen, sehen wir darin, gezielt Orte zu schaffen, an denen Aktivist*innen sowie politisch unorganisierte, aber bewegte Einzelpersonen aus den unterschiedlichen Communities zusammenkommen, ihre Erfahrungen mit den und Wissen über die jeweiligen Massenprotesten austauschen und gemeinsam Solidarität organisieren können. Diese Orte bezeichnen wir als internationalistische Plattformen.

Damit so eine internationalistische Plattform lebendig und dynamisch wird, reicht es nicht, ein Bündnis aus politischen Organisationen oder linken Gruppen ins Leben zu rufen. Dieses läuft Gefahr, sich in ideologischen Auseinandersetzungen zu verlieren und abstrakt oder hohl zu bleiben. Vielmehr geht es darum, innerhalb der einzelnen Communities zu mobilisieren und dadurch auch eine Vielzahl von Menschen zu erreichen, welche die Ereignisse erstmal „nur“ wegen der direkten oder indirekten Betroffenheit bewegen8. Das ist, was wir als Dynamik „von unten“ bezeichnen. Einen Ausgangspunkt hierfür kann zum Beispiel die Organisation einer internationalen Podiumsdiskussion bilden, auf der Menschen aus den unterschiedlichen Communities über die jeweiligen Proteste berichten. (In Bremen gelang es uns, Menschen aus oder mit Bezug zu Kolumbien, Chile, Irak, Iran und Guinea zu einer gemeinsamen Podiumsveranstaltung einzuladen. In den Vorträgen wurden die Ähnlichkeiten der Situation in den unterschiedlichen Ländern sichtbar gemacht – sowohl was die Zusammensetzung, die Methoden und die Forderungen der Massenproteste angeht, als auch die massive Repression und Unterdrückung.) Diese geteilte Erfahrung und erlebte Gemeinsamkeit kann als Bezugspunkt für einen weiteren Austausch und Kennenlernprozess genutzt werden. Eine weitere Möglichkeit ist die Organisation von gemeinsamen Solidaritätsaktionen wie beispielsweise Kundgebungen oder Demonstrationen, bei der die unterschiedlichen Communities zusammen kommen. So kann ein gemeinsamer Raum gestaltet werden, an dem eine emotional-politische Verbindung zu den konkret Kämpfenden hergestellt, den Getöteten gedacht und dem Schmerz wie auch der Wut ein kollektiver, öffentlicher Ausdruck verliehen wird.

Der Aufbau einer internationalistischen Plattform ist ein langfristiger Prozess. Ziel ist es, einen kontinuierlichen Ort zu schaffen, der in der Lage ist Menschen aus verschiedenen Communities in einer Stadt zusammen zu bringen. Durch die gemeinsame Solidaritätsarbeit können Kontakte geknüpft, Verbindungen geschaffen und Vertrauen aufgebaut werden. Gleichzeitig entsteht dadurch ein Raum, in dem über die gemeinsamen Ursachen der unterschiedlichen Proteste diskutiert, Verbindungen zur eigenen Lebenssituation hergestellt und ein Verständnis über die Notwendigkeit gemeinsamer Kämpfe in der hiesigen Gesellschaft geschaffen werden kann. Im besten Fall wird die gemeinsam organisierte Solidaritätsarbeit dadurch zum Ausgangspunkt für eine weitergehende Beteiligung auch am Aufbau von kämpferischen Strukturen rund um Lohnarbeit, Wohnen, Reproduktion, Rassismus und so weiter. In diesem Sinne ist der Aufbau internationalistischer Plattformen strategisch und organisch mit revolutionärer Basisarbeit wie der im Stadtteil oder Betrieb als lokaler Praxis verbunden.

#Titelbild: ROAR Magazine/P2P Attribution-ConditionalNonCommercial-ShareAlikeLicense

1 Im Irak wurden in den ersten zwei Monaten der Proteste schätzungsweise über 450 Personen von Sicherheitskräften erschossen, über 20.000 teilweise schwer verletzt. Im Iran werden erst mit der Zeit die Ausmaße der Unterdrückung bekannt, Schätzungen reichen von 500 bis über 1000 Toten. In Chile verloren über 350 Menschen durch Tränengaskartuschen, die in die Demonstrationen gefeuert wurden, ihr Augenlicht. Mehr als 23 Menschen starben während der Proteste.

2 Sowie der Austausch und die konkrete Vernetzung

3 Sowohl die Durchsetzung und Verschärfung kapitalistischer Ausbeutungsbedingungen wird verstärkt von diversen imperialistischen Staaten vorangetrieben (wie z.B. über bi- oder multinationale Freihandelsabkommen, Aufrechterhaltung postkolonialer Abhängigkeitsstrukturen wie z.B. dem Franc CFA, Durchsetzung von günstigen Bedingungen der Rohstoffausbeutung sowie des Zugangs zu Rohstoffen etc) als auch die Durchsetzung direkter imperialistischer Methoden und Interessen (militärische Interventionen, direkte oder indirekte Kriegsführung, etc.). Auch die Unterdrückung wird zunehmend globalisiert (Polizeiabkommen, Ausbildungsprogramme, Transfer von Sicherheits- und Überwachungstechnologien, Rüstungsexporte etc.).

4 Diese Verbindung gilt selbst innerhalb der EU, in der die Bundesregierung eine zentrale Rolle einnimmt. So beeinflusst die Abwesenheit von größeren Kämpfen gegen die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft innerhalb der BRD direkt die Lebens-, Arbeits- und Kampfbedingungen in Ländern wie Griechenland und Frankreich.

5 Auch wenn natürlich der Einfluss nationalistischer und rassistischer Kräfte und Ideologien auch bei migrantischen Communities ein wichtiges Problem sind.

6 Obwohl die Erfahrung zeigt, dass selbst breite Mobilisierungen wie z.B. die Demonstrationen und vielfältigen Aktionen nach den Angriffen der türkischen Armee auf Rojava, den Kurs und die Politik der Bundesregierung nicht zu ändern vermögen.

7 Siehe ausführlicher dazu 11 Thesen über Kritik an linksradikaler Politik, Organisierung und revolutionäre Praxis von kollektiv aus Bremen, u.a. zu lesen bei https://de.indymedia.org/node/9708

8 Wenn es darum geht, Menschen zu solchen Plattformen einzuladen, gibt es dennoch Grenzen: So würden wir z.B. Personen mit starken nationalistischen oder politisch religiösen Einstellungen oder Verbindungen zu ebensolchen Organisationen nicht einladen.

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In Ecuador gibt es seit dem 2. Oktober massiven Protest gegen das Strukturanpassungsprogramm der Regierung. Mittlerweile hat die Regierung auf Grund der Proteste das umstrittenste Dekret zurück genommen. Das LCM sprach mit Carlos Pazmiños, 32. Pazminõs ist Soziologe, Journalist und Redakteur des linken Online-Magazins Revista Crisis aus Ecuador. Revista Crisis hat die Protestierenden vor allem in Quito begleitet und ist eines der wenigen Medien, das solidarisch mit dem Aufstand im Land berichtet.

Seitdem das Dekret 883 am Mittwoch, den 2. Oktober, vom ecuatorianischen Präsidenten Lenín Moreno verkündet wurde, welches die Richtlinien des Internationalen Währungsfonds (IWF) befolgt und eine Reihe von staatlichen Subventionen für Alltagsgüter kappt, gibt es massive Proteste im Land. Zeitweilig musste sogar die Regierung aus Quito nch Guayaquil fliehen. Bis jetzt werden offiziell 5 Tote gezählt, sowie tausende Verletzte und Verhaftete. Am Sonntag, den 13. Oktober hat die Regierung Morenos nun das Dekret aufgehoben. Welche Folgen hätte das Dekret für die einfache Bevölkerung gehabt? Warum gab und gibt es so massiven Widerstand?

Dieser paquetazo wie wir ihn nennen, hätte vor allem für die normale und eher arme Bevölkerung große ökonomische Konsequenzen gehabt. Sobald die Streichung der Subvention von Kraftstoffen durchgeführt worden wäre, wären die Preise aller produktiven Wirtschaftszweige wie industrieller Produktion, Transport, Konsum in die Höhe geschellt. Auch die Kosten von städtischemöffentlichem Nahverkehr, sowie vom Fernverkehr wäre exponentiell gestiegen. Dies würde konkret weniger Brot auf den Tischen der Menschen bedeuten. Auf der anderen Seite steht die Dollarisierung, denn Ecuador ist seit der Wirtschaftskrise 1998 dollarisiert. Dieses Dekret hätte die Schranken für die Ein- und Ausfuhr von Kapital aufgehoben und da wir dollarisiert sind, würden ecuatorianische Güter katastrophal an Wert verlieren. In einem realistischem Szenario würden wir stärker abstürzen als Argentinien 2001. Zusammengefasst geht es um die Verteuerung des täglichen Lebens sowie alltäglicher Dienstleistungen, wie zum Beispiel der Bildung und der Gesundheit, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Privatisierung dieser Sektoren; es geht um die Verminderung von Wohnqualität und die Deregulierung der staatlichen Werkzeuge zum Eingreifen in die Wirtschaft.

Die CONAIE, die Konföderation der indigenen Völker in Ecuador, ist die am stärksten mobilisierende Kraft und hat auch am 9. Oktober zum Generalstreik aufgerufen. Wer ist die CONAIE und wie können wir diese politisch einordnen?

Die CONAIE ist eine der wichtigsten historischen Organisationen der Indigenenbewegung in Ecuador, in welchem die verschiedenen indigenen Völker und Nationen des Landes vertreten sind. Eines ihrer Ziele war es indigene Politiker*innen zur Wahl stellen zu können, und zwar unabhängig von den jeweiligen politischen Kräften, die gerade in der Regierung sind. Die CONAIE ist eine komplexe Organisation, in der es unterschiedlichste Spannungen und Perspektiven gibt. Das was sie vereint ist die Vernunft der indigegen Völker und Nationen des Landes. Hier spielen vor allem indigene Kosmovisionen und religiöse Überzeugungen eine wichtige Rolle. Die CONAIE ist der zentrale Akteur der aktuellen Proteste und ist eine grundlegende soziale, politische und ideologische Kraft. Ihr Gesellschaftsprojekt ist ein interkulturelles, also zum Aufbau eines tatsächlich interkulturellen Staates. Diese Devise steht im Widerspruch zu der modernen, kapitalistischen Rationalität. Die CONAIE selber ist im ganzen Land vertreten. Sie ist im Grunde wie ein Parallelstaat, da sie in allen gesellschaftlichen Bereichen und auf allen Ebenen vertreten sind. Es ist eine unglaublich beeindruckende Kraft. Die CONAIE und die indigegen Völker und Nationen Ecuadors sind aktuell die Speerspitze im Kampf gegen den Neoliberalismus in diesem Land.

In einem Artikel vom 8. Oktober schriebt ihr über die „Kommune“ von Quito. Welche Erfahrungen der sozialen, politischen und/oder ökonomischen Selbstorganisierung macht die Bevölkerung gerade in Ecuador und in anderen Epizentren des Protestes?

Man muss verstehen, dass es sich um einen ausgedehnten Aufstand des Volkes handelt. In allen Regionen des Landes finden Straßenblockaden, sowie offene Protestversammlungen statt. In einigen Regionen mehr und in anderen weniger. Dabei herrscht in einigen Versammlungen und politischen Aktionen ein hoher Politisierungsgrad. Es ist kein perfekter Prozess, jedoch ist kein revolutionärer Prozess perfekt. Es gibt unterschiedliche Formen in denen die politische Organisierung der Menschen und der Protest auf der Straße zu Tage tritt. Was wir in Quito erleben, ist besonders spannend, denn hier gibt es besonders viele Versammlungen in den verschiedenen Bezirken. Sogar in Bezirken mit einer gemischten Klassenbasis. Wir erleben das im Süden der Stadt, sowie im Norden; wobei im Süden die traditionellen Arbeiterviertel zu finden sind, und im Norden die traditionellen Viertel des Klein- und Großbürgertums. Dies ist ein durch und durch spontaner Prozess. Es ist ein Prozess der spontanen Solidarität, welcher wirklich beeindruckend ist. Es gibt wirklich keine Worte um das zu beschreiben, was sich in diesen Tagen hier zuträgt. Die Kommune-Erfahrungen ergeben sich in dem Moment, in dem normale Menschen politische Macht ausüben und ein Territorium verteidigen können. Auf der Straße zeigt sich dies, wenn die Menschen der Staatsgewalt trotzem und nicht zurückschrecken. Und hier werden unterschiedliche Formen des Kampfes erprobt, die von der Bevölkerung selber legitimiert werden. Wir sehen in einem Arbeiterviertel Männer, Frauen, Kinder und Alte gemeinsam Barrikaden bauen. Die Menschen verteidigen sich mit dem was sie finden: Stöcker, Äste, Steine. Menschen machen Kaffee und Zimt-Tee, damit die Protestierenden nicht ermüden. Es wird Natronwasser zusammen gemischt, damit man sich die Augen auswaschen kann, wenn man Tränengas abbekommen hat. Alls dies geschieht hier.

Wie wird es deiner Meinung nach weiter gehen?

Offensichtlich muss die Regierung in einen Dialog treten, was sie ja auch bereits angekündigt hat. Die Situation auf der Straße hat ihnen keine andere Option gegeben. Die Armee und die Polizei hat Reibungen zwischen den Mittleren und Höheren Rängen und den Fußsoldaten. In diesem möglichem Dialog gibt es gute Chancen, weitere Forderungen wie der Aufhebung des Notstandes. Die Genoss*innen der CONAIE werden Straferlass für alle inhaftierten Protestierenden fordern. Der Erfolg dieses Dialogs wird sich zeigen, solange der Druck auf der Straße aufrecht erhalten werden kann. Daher muss die aktuelle soziale Bewegung dazu über gehen kohärentere und organisiertere Schritte zu machen, um den Staat selber in die Enge zu treiben und im bestmöglichen Fall weiter zu destabilisieren. Und hier ist die Rolle der alternativen Medien besonders von Relevanz. In den letzten Tagen gab es eine riesige Rauchwolke in den traditionellen ecuatorianischen Medien, die nicht wirklich über das berichten, was gerade passiert. Sie versuchen den Generalstreik zu einem Ausdruck von willkürlicher Gewalt und Diebstahl zu verklären. Aber die Menschen erkennen nun, dass die bürgerlichen Medien Lügen – sie sehen die Wahrheit.

Wie können wir euch aus dem Ausland unterstützen?

Ich denke aus dem Ausland kann man an die unabhängigen Organisationen spenden, denn egal ob der Generalstreik bald aufhört oder nicht, brauchen die Genoss*innen Geld, um die Menschen alle zu transportieren, Anwält*innen sowie Essen und Unterkunft zu bezahlen. Wenn dieser Generalstreik weiter gehen sollte, müssen wir auch die Provinzen mit versorgen. Des weiteren könnt ihr im Ausland Teil davon sein diesen mediatischen Boykott zu durchbrechen und der Welt zu zeigen was wirklich in Ecuador geschieht.

#Titelbild: Generalstreik am 8.Oktober, Iván Castaneira, revista crisis

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Der Friedensprozess in Kolumbien ist weit davon entfernt Frieden zu bringen. Oft tödliche staatliche und parastaatliche Gewalt sind an der Tagesordnung. Unsere Autorin war im Rahmen einer Menschenrechtsbegleitung im Norden Kolumbiens und plädiert dafür, sich auch an solchen Aktionen zu beteiligen.

Am Donnerstag den 7. März war der 18-jährige Landarbeiter Coco mit seinen Nachbarn und Kollegen nach Feierabend zum Fußballspielen in der Nähe der Gemeinde Micoahumado, im Norden Kolumbiens, verabredet. Noch vor dem Anpfiff wurde von einem nahe gelegenen Hügel das Feuer eröffnet. Als er wegrennen wollte, traf Coco ein Schuss in die Seite. Er starb noch am gleichen Ort. Eine weitere Kugel verletzte den 27-jährige Henry Sarabina so schwer am Arm, dass er seine Hand wohl nie wieder bewegen können wird.

Die Angreifer waren Soldaten des kolumbianischen Militärs, die unter den Fußballern zwei Guerilleros des marxistischen Nationalen Befreiungsheers ELN erkannt haben wollen. Doch obwohl alle auf dem Sportplatz Versammelten unbewaffnet und sogar mehrere Kinder anwesend waren, griff das Militär die Gruppe mit drei Helikoptern und einem Dutzend vermummter Soldaten mit Maschinengewehren an. Die beiden vermutlichen ELN-Kämpfer konnten fliehen, doch die Soldaten zwangen mit gezogenen Waffen die Arbeiter über Stunden auf dem Boden zu liegen, verhörten Einzelpersonen und drangen in die Wohnhäuser ein, wo sie Handys und Bargeld klauten.

Mit dem Militär ist kein Staat zu machen

Der Mord an Coco und die massive Repression der Anwohner*innen sind kein Einzelfall, sondern reihen sich ein in den seit Jahrzehnten andauernden bewaffneten Konflikt in der Region. Der Süden des Bundesstaates Bolívar gilt seit den 1970er Jahren als Stammgebiet des ELN. Die Guerilla profitierte lange vom Rückhalt in der Bevölkerung und den bewaldeten Bergen als Rückzuggebiet. Der Staat ist hier vor allem in Form des Militärs präsent, paramilitärische Gruppen können von diesem unbehelligt agieren. Bisher scheiterten allerdings alle Versuche die Region gewaltsam einzunehmen. 2001 besetzten Paramilitärs das Dorf Micoahumado und vertrieben die Menschen. Erst als es nach dreimonatigen Kämpfen dem ELN gelang das Dorf zu befreien, konnten die geflüchteten Familien aus den umliegenden Bergen in ihre von den Paras geplünderten Häuser zurückkehren. Die Menschen in Micoahumado wissen: Auf den Staat ist kein Verlass. Es ist daher die Bevölkerung selbst, die in Selbstverwaltung die soziale Infrastruktur wie Bildung und Gesundheitsversorgung aber auch den Straßenbau umsetzt und sich dadurch eine beachtliche Unabhängigkeit geschaffen hat.

Allerdings ist die Region reich an Bodenschätzen und das Gold unter den Bergen ruft internationale Konzerne auf den Plan. Zuletzt versuchte 2001 der kanadische Bergbaukonzern Braeval Mining Corporation mit staatlicher Unterstützung die Kleinbauern und den traditionellen Bergbau zu verdrängen. Doch die Bevölkerung wehrte sich erfolgreich. Auch die Anwesenheit des ELN hat dazu sicher ihren Teil beigetragen: Nachdem der Staat dem Braeval-Konzern bereitwillig die notwendigen Bergbaulizenzen ausgestellt hatte, entführte der ELN kurzerhand den für die Grabungen verantwortlichen Vizepräsidenten des Unternehmens. Erst als das Braeval-Management zusagte, alle geplanten Aktivitäten abzusagen und die Region zu verlassen, kam der Verantwortliche wieder frei. Der Konzern zog sich 2003 aus der Region zurück.

Friedensprozess? Militarisierung des Alltags!

Nach Jahrzehnten im bewaffneten Konflikt sind die Menschen müde von der alltäglichen Gewalt. Es gibt immer wieder Schießereien im Dorf, die Militarisierung betrifft den Alltag der Bewohner*innen massiv. Zudem leiden sie wirtschaftlich unter den steigenden Abgaben an den ELN und sorgen sich um ihre Jugendlichen, die mangels beruflicher Perspektiven nicht nur vom Militär, sondern auch vom ELN leicht rekrutiert werden.

Gleichzeitig hält die staatliche Repression an: Militär und Polizei stellen die lokale Bevölkerung unter den Generalverdacht, mit dem ELN zu kooperieren. Schon wer Gummistiefel oder dunkle Kleidung trägt, gilt als Terrorist. Die Schikane reicht von Einschüchterungsversuchen durch das plötzliche Auftauchen bewaffneter Einheiten, willkürlichen Anzeigen, ungerechtfertigten Haftstrafen bis hin zum Mord von sozialen Aktivist*innen oder sogar Unbeteiligten wie Coco. Das alles geschieht weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Und der viel beredete Friedensprozess? Von einem Ende des Konflikts kann man nicht reden. Stattdessen schützt ein Deckmantel des Schweigens die Machenschaften des Militärs. Und genau deswegen sind wir hier.

Was wir tun können

Eine Woche nach dem Mord an Coco durch das Militär besuchen wir den Tatort, treffen die Anwohner*innen, dokumentieren ihre Berichte, machen Fotos. Wir kommen zu zweit aus Deutschland und begleiten die kolumbianische Menschenrechtsorganisation Corporación Sembrar. Möglich ist unser Einsatz dank des internationalistischen Netzwerks Red der Hermandad y Solidaridad, kurz RedHer. „Internationale Begleitung“ und „Menschenrechtsbeobachtung“ heißt unsere Arbeit – eine unangenehme Bezeichnung. Wie begleitet man einen bereits geschehenen Mord? Was bringt es, nur daneben zu stehen und das Unrecht zu beobachten? Klimaproteste, Mietendemos, AfD-Blockaden – unsere Erfahrungen der politischen Kämpfe in Deutschland scheinen plötzlich sehr weit weg. Es fühlt sich an, als wären wir hier fehl am Platz – mindestens nutzlos, wenn nicht gar eine zusätzliche Last für unsere Genoss*innen.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Für die Aktivist*innen vor Ort ist unser Besuch nicht nur eine menschliche Wertschätzung und eine politische Anerkennung ihrer Situation, sondern auch ein ganz konkreter Schutz: Gleich an unserem ersten Tag in Micoahumado kommen Soldaten ins Dorf und führen einen der sozialen Aktivisten ab. Sofort bilden die Dorfbewohner*innen eine Traube um die Militärs. Als wir dazu stoßen, fühlt sich deren Kommandant gezwungen, sich namentlich vorzustellen und schüttelt uns die Hand, lächelt, sagt: „reine Routinekontrolle“. Seine Rolle als good cop kostet ihn eine Dreiviertelstunde Diskussion mit den empörten Dorfbewohner*innen. Als er mit seiner Einheit schließlich unverrichteter Dinge wieder gehen muss, sagt uns einer der Aktivisten: Wenn ihr nicht gewesen wärt, hätten sie den Genossen einfach ohne Haftbefehl festgenommen. Aber unter den Augen der Gringos trauen sie sich solche schmutzigen Spielchen nicht.

Auch wenn es sich komisch anfühlt, sich als Antirassistin solcher postkolonialen Machtstrukturen

als strategisches Mittel zu bedienen – es funktioniert. Und es ist vielleicht die beste, wenn nicht gar die einzige Möglichkeit, wie wir uns solidarisch und auf Augenhöhe für emanzipatorische Kämpfe weltweit einsetzen können. Für uns, ausgestattet mit einem deutschen Pass und einem europäischen Aussehen, ist es nicht schwer, diese Privilegien strategisch einzusetzen. Mit nur einem kleinen Schritt raus aus der Komfortzone der imperialistischen Zentren bekämpfen wir die rassistischen und imperialistischen Machtstrukturen dieser Welt mit ihren eigenen Mitteln. Unsere Anwesenheit zeigt den staatlichen Autoritäten: Was ihr hier tut geschieht unter den Augen einer internationalen Öffentlichkeit. Und unseren Verbündeten zeigen wir: Ihr seid nicht allein, wir stärken euch den Rücken. Im Gegenzug dafür haben uns die Menschen in Micoahumado und anderswo viel zu geben: Von ihrer Unabhängigkeit gegenüber allen bewaffneten Gruppen, von ihrer Widerständigkeit und ihrem Willen, dem Militär nicht das Feld zu überlassen und ihrer Beharrlichkeit, sich auch unter den widrigsten Bedingungen selbst zu organisieren – davon können wir noch viel lernen.

Sophie ist aktiv bei der Interventionistischen Linken (iL) und war mit dem Red de Hermanidad y Solidaridad (RedHer) und dem Congreso de los Pueblos in Kolumbien. Sie hat mit RedHer vom 11.-14. März 2019 an einer Menschenrechtsbegleitung im kolumbianischen Bundesstaat Bolívar teilgenommen.

Kontakt zu Internationalist*innen in Kolumbien und mehr Informationen über menschenrechtliche Begleitung gibt es hier https://www.redcolombia.org/ und bei der kolumbianischen Menschenrechtsorganisation http://corporacionsembrar.org/. Im August findet eine vom RedHer organisierte Caravana statt, bei Interesse kann Kontakt über die Homepage aufgenommen werden.

# Bild: Policía Nacional de los colombianos CC BY-SA 4.0

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