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Belarus/Weißrussland gilt in hiesigen Medien vor allem als eine Diktatur. Für viele Linke in den postsowjetischen Ländern galt das Land als Hoffnungsträger und es wurden lange Debatten darüber geführt, ob die dortige Gesellschaft als sozialistisch zu betrachten sei.

Was macht die Republik Belarus so besonderes?

Tatsächlich unterscheidet sich die Entwicklung des Landes nach dem Zerfall der Sowjetunion stark von denen der Nachbarländer. Nachdem 1994 Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen gewann, wurde der Kurs auf Privatisierungen und Stärkung des antisowjetisch-antirussischen Nationalbewusstseins ad acta gelegt. Der neue Präsident appellierte an die durch die ersten Reformen schnell entstandene Sowjetnostalgie und sah die Rettung der marktwirtschaftlich unrentablen aber weiterhin funktionierenden Industrie als nationale Priorität an.

Mit massiven Subventionen laufen in Belarus weiterhin die zur Sowjetzeit gebauten Werke. Die „harten aber notwendigen Maßnahmen“, von denen die Reformer*innen in Polen, in den baltischen Ländern und Russland sprachen, blieben der Republik erspart. Das sowjetische Sozialsystem wurde zwar runtergefahren aber nicht komplett vernichtet. Im Unterscheid zu den Nachbarländern gibt es in Belarus kaum absolute Armut, keine organisierte Kriminalität und keine unter sich konkurrierende Oligarchenklasse, die die Politik kräftig mitgestaltet.

Unter den positiven Eigenschaften des untergegangenen Realsozialismus, die er in seinem Staat nicht missen möchte, zählen für Lukaschenko neben der funktionierenden Industrie und der russischen Sprache auch die ominöse Einheit zwischen dem konsolidierten Volk und der Staatsführung. Weswegen es in Belarus auch keine ernsthafte Konkurrenz bei den Wahlen, keine unabhängigen Gewerkschaften, nur eingeschränkt oppositionelle Medien und kaum legale Protestmöglichkeiten gibt.

An die Macht gekommen löste Lukaschenko das Parlament auf, änderte kurzerhand die Verfassung und regierte von nun an ohne Gewaltenteilung weiter. Es gibt in Belarus keine herrschende Partei, Staatsideologie oder Massenbewegung, auf die sich die Herrschaft stürzt. Die zentrale Institution von Lukaschenkos Modell ist der Präsident selbst. Sein Verdienst, dem Land die Massenschließung der Betriebe zu ersparen, schaffte ihm reale Unterstützung in der Bevölkerung. Der durch die staatlichen Medien geschaffene Kult und die Zensur gegen die Opposition leisteten ebenfalls einen Beitrag zu seinen wiederholten Wahlerfolgen.

Trotz der omnipräsenten sowjetischen Symbolik gibt es in Belarus selbstverständlich Privateigentum an den Produktionsmitteln und eine Marktwirtschaft. Bis 1998 wurden etliche Betriebe privatisiert. Jedoch verhindert der Staat durch seine Eingriffe die Pleite und darauffolgend Schließung von strategisch wichtigen Betrieben – was bei westlichen Experten für entsetztes Kopfschütteln sorgt. Der Staat drängt die Banken dazu, Kredite an die minusmachenden Betriebe zu vergeben. Aus Sicht der belarussischen Staatsführung ein Erfolg, werden doch dadurch Infrastruktur und Arbeitsplätze erhalten. Aus Sicht der „wohlmeinenden“ westlichen Beobachter eine grobe Verletzung der Regeln, die den längst überfälligen Marktabgang der Konkurrenzverlierer verhindert.

In der Landwirtschaft wurden die sowjetischen Kolchosen in Aktiengesellschaften umgewandelt. Auch hier kommen die staatlichen Subventionen massiv zum Einsatz, was die „Ernährungssouveränität“ der Republik gewährleisten soll. Die Lebensmittelpreise reguliert der Staat ebenso wie den Zugang der ausländischen Investoren (die es ja durchaus gibt) zum eigenen Markt.

Was hat das alles mit Russland und der EU zu tun?

Da Belarus auf Exporte angewiesen ist, braucht es, wie schon davor die UdSSR, Devisen für die Betätigung auf dem Weltmarkt. Lukaschenko redet seit seinem Machtantritt von der „Unabhängigkeit“, hat aber real mit einer doppelten Abhängigkeit zu tun. Seine antiimperialistische Rhetorik und Verweigerungshaltung gegenüber der EU und der NATO prämierte der große Nachbar im Osten mit Lieferungen von Energie zu „politischen“ Preisen. Erdöl und Gas fließen jedoch nicht nur von Russland nach Weißrussland, sondern auch von dort weiter in den Westen. Die noch aus der Sowjetzeit stammenden Raffinerien verarbeiten die Rohstoffe und verkaufen sie weiter ins Ausland. Rohstoffe aus Russland unter dem Marktpreis beziehen, mit der erhaltenen Industrie verarbeiten und dann zu Marktpreisen weiterverkaufen, die Gewinne zur Subvention der eigenen Wirtschaft verwenden und deren Produkte dann zollfrei nach Russland absetzen – das ist die ökonomische Formel des belarussischen „Sonderweges“.

Auch wenn Lukaschenkos Reden sich bisweilen wie die Verlautbarungen von Antiglobalisierungsforen anhören, ist das Land sehr wohl Teil des Weltmarktes und zudem extrem von Öl- und Gaspreisen abhängig. Sollte also Russland sich dazu entscheiden, die Bedingungen zu ändern oder aus dem Westen neue Sanktionen wegen Nichteinhalten von demokratischen oder marktwirtschaftlichen Regeln kommen, sollten sich die Weltmarktpreise ändern, dann gerät Lukaschenkos Modell mächtig ins Wanken. Eine Lösung in der Vergangenheit war, sich neue Absatzmärkte unter den ähnlich verfemten Staaten (Venezuela, Iran, Sudan usw.) zu suchen – was neue Sanktionen aus dem Westen einbrachte. Seit über zehn Jahren versucht Belarus, sich auch Hilfe von der anderen Seite zu verschaffen. Für die Staaten, die akute Probleme mit Zahlungsfähigkeit haben, bittet die IWF Kredite an, um die sich Belarus immer wieder bemüht. Doch die Kredite gibt es nicht ohne Bedingungen, deren Erfüllung einer Demontage von Lukaschenkos Wirtschaftsmodell gleich kämme. Die belarussische Wirtschaft soll sich endlich unsubventioniert der internationalen Konkurrenz stellen.

Je mehr die Nachbarländer zu Mitgliedern oder Vertragspartner*innen der EU werden, umso wichtiger wird Russland als Absatzmarkt für die belarussischen Waren. Da Russland nun mal auch ein kapitalistischer Staat ist, gibt es regelmäßig Krach zwischen Käufer und Verkäufer, wobei Russland – große Überraschung – den „politischen“ Preis für Öl und Gas als einen politischen Hebel benutzt. Sobald die Preise erhöht werden, wachsen belarussische Schulden. Als Schuldner sitzt Belarus gegenüber dem Gläubiger am kürzeren Hebel.

In Folge solcher Interessenkonflikte fror Minsk das bis dahin forcierte Projekt der Schaffung eines russisch-weißrussischen Unionsstaates ein. Ein Projekt, von dem sich viele sowjetnostalgischen Linken eine Wiedergründung der neuen UdSSR auf freiwilliger Basis versprachen, existiert seit 15 Jahren nur noch auf dem Papier. Dafür gibt es seit 2014 die Eurasische Wirtschaftsunion mit einem Binnenmarkt, jedoch ohne Perspektive von weiterer Verschmelzung zu einem Staat.

2009 trat Belarus dem „Östliche Partnerschaft“-Programm der EU bei. 2016 wurden die EU-Sanktionen gegen die „letzte Diktatur“ Europas aufgehoben. Womöglich spielte dabei Lukaschenkos Haltung in Ukrainekonflikt eine entscheidende Rolle. Die von den russischen Gegensanktionen betroffenen EU-Agrarprodukte werden über Belarus und unter dem belarussischen „Label“ nach Russland eingeführt. Es ist also nicht so, dass Lukaschenko nicht kompromissbereit oder für seinen westlichen Verhandlungspartner nutzlos wäre. Nur in puncto Machtteilung wollte das Minsker „Väterchen“ keine Abstriche machen. Da aber die EU durchaus begründet der Meinung ist, die Opposition sei noch kompromissbereiter und nützlicher, unterstützt sie fröhlich jeden Protest gegen Lukaschenko und verlangt von ihm „Demokratisierung“. Weil er ja kein Demokrat sei, läuft es auf Abgang aus.

Warum Proteste und wer protestiert gegen was?

Bei jeder Wiederwahl von Lukaschenko gab es Proteste, mal größere, mal kleinere. Jedes Mal wurde der Präsident mit Hilfe polizeilicher Mitteln damit fertig und verwies dabei auf die Unterstützung der „einfachen Leute“, die hinter ihm stehen. Ausgerechnet 2020, im Jahr der Präsidentenwahl kam die Corona-Krise. Lukaschenko zog konsequent die „pandemieskeptische“ Linie durch, was zur Folge hatte, dass es im Unterscheid zu Russland und den EU-Ländern keine staatlichen Hilfen und Entschädigungen für niemanden gab. Die innige Liebe der „einfachen Leute“ auf die das „Väterchen“ bisher stets verwies, dürfte infolge der Maßnahmen, die in Belarus in den letzten Jahren zwecks Wirtschaftsstabilisierung ergriffen wurden, Schaden erlitten haben. Noch vor Russland wurde in Belarus 2017 das Rentenalter erhöht, Streiks sind de facto verboten, Kündigungsschutz existiert nicht, die meisten Arbeiter*innen werden mit den einjährigen Kontrakten beschäftigt. Besonders originelle Maßnahme war die Einführung von „Steuer auf Arbeitslosigkeit“ die „Sozialschmarotzer“ zu Kasse bieten sollte 2017.

Da keine zuverlässigen soziologischen Umfragen zugelassen wurden, rankten sich schon im Vorfeld der Wahlen wilde Spekulationen, wie es um die Zustimmung zum Präsidenten real bestellt sei. Die Logik einer „konsolidierten“ Demokratie verlangt aber, dass die Wahlergebnisse auf gar kein Fall schlechter ausfallen als die bisherigen, denn ansonsten würden die Maßnahmen wie die bisherigen Verfassungsänderungen fragwürdig erscheinen. Da die Wahlergebnisse sehr schnell und einfach als Ergebnis von „Eingriffen“ zu überführen waren – und dass, nachdem die aussichtsreichsten Kandidaten bereits im Vorfeld aus dem Verkehr gezogen wurden. Damit schuf Lukaschenko den unmittelbaren Anlass für die Proteste, bei denen sich alle Motive für Unzufriedenheit mit seiner Herrschaft nebeneinander artikulieren.

Oppositionelle Parteien und Organisationen wurden ohne Rücksicht auf politische Ausrichtung aus der Öffentlichkeit gedrängt. Es stimmt zwar, dass bisher die größten oppositionellen Gruppen mit einem national-liberalen Programm auftraten, aber auch einige sozialdemokratische, kommunistische und anarchistische Gruppen wurden mit Repression überzogen. Bei den gegenwärtigen Protesten spielen die alten „nationalen“ Oppositionsparteien (Christdemokraten, Belarussische Volksfront, Vereinigte Bürgerpartei) eine auffällig kleine Rolle. Bezeichnenderweise spricht einer der führenden Köpfe der Proteste, der Manager einer dem russischen „Gazprom“ zugehörigen Bank Wiktor Babariko besser russisch als belarussisch und akzentfreier als Lukaschenko. Dass der Minimalkonsens der Protestierenden die Forderung nach faireren Wahlen bildet, ist schon vielsagend und keineswegs so neutral, wie es unbedarften Beobachter*innen vorkommt. Von der Forderung der Herrschaftsermächtigung nach Regeln versprechen sich diejenigen am meisten, die Lukaschenkos System zugunsten von „normalem“ Kapitalismus, den es allerdings in Belarus noch aufzubauen gilt, verwerfen wollen. Als Rettung der infolge der Ölpreisflaute erschütterten Wirtschaft fallen denen zuallererst die Kredite des IWF ein. Der Blogger Sergei Tichanowski berichtet gern über die heldenhaften Farmer*innen und Kleinunternehmer*innen, die unter der staatlichen Bürokratie leiden. Seine Ehefrau und Ersatzkandidatin Swetlana spricht in ihrem Wahlprogramm davon, dass die „Menschen sich selber Arbeitsplätze schaffen sollen“. Dafür sollen für „kleine und mittelständische Unternehmen Barrieren abgebaut werden“. Weitere neue Arbeitsplätze sollen durch ausländische Investitionen geschaffen werden. Die rentablen Staatsbetriebe sollen weiterlaufen, über alle anderen dürfen „die Spezialisten entscheiden“. Babariko verlangt eine Liberalisierung der Wirtschaft und den Austritt des Landes aus dem Militärbündnis mit Russland. Der langjährige Mitstreiter Lukaschenkos Waleri Zepkalo verspricht jedem Bürger drei Hektar Land als staatlich geschenktes Privateigentum. Die stolzen Belarussen sollen nicht länger ihr Dasein als Lohnarbeiter*innen in Kolchosen und Sowchosen fristen, sondern „Herren ihres Landes werden“. Das bedeutet aber nicht, dass alle Protestierenden Anhänger*innen solcher Forderungen seien. Die Zusammensetzung des am 18. August gebildeten Koordinationsrates der Opposition lässt jedoch kaum daran zweifeln, dass in Falle der Abganges Lukaschenkos „schmerzhafte, aber notwendige“ Marktreformen anstehen. Der einzige Vertreter der streikenden Arbeiter*innen, Sergei Dylewski, trägt zwar ein Anarchie-Zeichen-Tattoo, sagt aber von sich, keine politische Ansichten zu haben. Nach den eigenen Angaben hat er früher für den Oppositionellen Schriftsteller Wladimir Nekljajew gestimmt. Jetzt unterstützt er Swetlana Tichanowskaja.

Die Arbeitsniederlegung der Arbeiter*innen in den Staatsbetrieben versetzte zwar dem offiziellen Bild Lukaschenkos als Beschützer der „einfachen Menschen“ einen schweren Schlag, jedoch weitete es sich nicht zur einem Generalstreik aus. Bestreikt wurden eben nur staatlichen Betriebe, während die Opposition gerade Polizist*innen dazu aufruft zu kündigen und ihnen neue Jobs bei oppositionellen Arbeitgeber*innen verspricht. Gerade fungieren die Streikkomitees nicht als proletarisches Korrektiv oder gar Gegengewicht zum bürgerlich-liberalen Koordinationsrat der Opposition.

Die oppositionellen linken Organisationen nehmen aktiv am Protest teil, haben sich aber bisher wenig mit einem eigenem Programm profiliert. Die belarussische vereinigte Linkspartei „Gerechte Welt“, gegründet von den oppositionellen Mitgliedern der Kommunistischen Partei ist inzwischen eher eine gemäßigte Kraft, die ihre Zukunft als ein Teil des pluralistischen Parteispektrums nach Lukaschenko sieht. Die Belarussische Partei der Werktätigen (BPT) mit etwas mehr als 1.000 Mitgliedern hat keine offizielle Registrierung. Sie orientierte sich lange Zeit an der Gewerkschaftsbewegung, arbeitete aber auch mit der liberalen Opposition zusammen. Der marxistische Zirkel „KrasnoBy“ interveniert in die Proteste mit den Aufrufen, Streikstrukturen auszubauen und sich dabei von dem Koordinationsrat unabhängig zu machen.

Im anarchistischen Spektrum läuft seit längerem eine Auseinandersetzung zwischen linksnationalistischen Gruppen wie „Poschug“, die belarussische Identität stark machen und dem gegenüber allen Nationalismen kritisch eingestellten Kollektiv „Pramen“. Daneben machte die militant-plattformistische „Revolutionäre Aktion“ von sich reden. Die betonte Gewaltlosigkeit der aktuellen Proteste steht aber in starken Kontrast zu deren bisherigen Aktionismus.

Es gibt auch die linken Verteidiger des Präsidenten, vor allem die Kommunistische Partei von Belarus (KPB), die zur Pro-Lukaschenko-Kundgebungen mobilisiert. In einer gemeinsamen Erklärung mit den kommunistischen Parteien Russlands und Ukraine gibt sie ihre Gründe zur Protokoll: „Es ist notwendig, das zu bewahren, was im Laufe vieler Jahre geschaffen wurde“. Zur Seite springt auch der Führer der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) Gennadi Sjuganow, der sich vor allem um die russischen Nationalstaatsinteressen seinen Kopf zerbricht: „Schließlich werden in Belarus sogar Fahrgestelle für ›Jars‹- und ›Topol- M‹-Raketen hergestellt. Wir selbst sind nicht in der Lage, sie zu produzieren. Sogar unser U-Boot-Flotten-Managementsystem befindet sich größtenteils auf dem Territorium von Belarus. Alle unsere Öl- und Gaspipelines, alle unsere direkten Verbindungen nach Europa führen durch Belarus. Daher ist die Frage für uns absolut prinzipiell.“

#Titelbild: Marco Fieber, CC BY-ND 2.0, Proteste gegen Lukaschenko 2015

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Ein Versuch, die „multipolare“ imperialistische Dynamik rund um den Konflikt in Syrien zu beleuchten und theoretisch zu erfassen.

Tomasz Konicz

Das, was sich im Februar 2020 in Syrien zwischen der Türkei und Russland vollzieht, ist selbst für kapitalistische Verhältnisse außergewöhnlich. Während türkische und russische Truppen an der Grenze zwischen der Türkei und der nordsyrischen Autonomieregion Rojava gemeinsame, von wütenden Kurden immer wieder mit Steinen angegriffene Patrouillen durchführen, bombardieren russische Kampfflugzeuge wenige Kilometer weiter südlich in der westsyrischen Provinz Idlib von der Türkei unterstützte Dschihadisten und türkische Truppen, die bereits erhebliche Verluste hinnehmen mussten.

Die spätkapitalistischen Staatssubjekte sind keine Menschen, keine bürgerlichen Marktsubjekte, die in ihrem Konkurrenzgebaren zumeist sehr eindimensional sind. Die imperialistischen Staatsmonster können miteinander kooperieren, Bündnisse oder Allianzen bilden und zugleich in anderen Politikbereichen oder Einflusssphären heftige Konflikte austragen. Pack schlägt sich, Pack verträgt – dies ist die jahrhundertealte blutige Normalität imperialistischer Auseinandersetzungen, bei denen Millionen von Menschen verheizt wurden und werden.

Die vertrackte Lage in Syrien, wo Kooperation und Konfrontation zweier imperialistischer Mächte bei ihrem mörderischen „Great Game“ eng beieinander liegen, ist Ausdruck der auf die Spitze getriebenen Widersprüche im russisch-türkischen Verhältnis. Während Moskau und Ankara sich einerseits bekriegen, wollen sie andererseits Kooperieren und ziehen enorme Vorteile aus dieser Kooperation. So konnten in den vergangenen Monaten und Jahren einige wichtige wirtschaftspolitische Projekte initiiert oder realisiert werden, die für beide Seiten von Vorteil sind.

Einseitige Abhängigkeit –Russisch-türkische Kooperation

Die Anfang 2020 in Dienst gestellte Turkstream-Pipeline, die russisches Erdgas über das Schwarze Meer bis in die Türkei befördert, bring sowohl für den Kreml wie für Ankara enorme strategische Vorteile, da sie – gemeinsam mit der Ostseepipeline – Russland dabei hilft, die Transitwege russischen Erdgases nach Westeuropa zu diversifizieren, sowie Ankara der ersehnten Rolle einer energiepolitischen Drehscheibe an der südöstlichen Flanke der EU näherbringt. Zudem haben beide Seiten den Bau eines russischen Atomkraftwerks in der Türkei vereinbart, der Russlands Atomindustrie einen Auslandsauftrag einbringt und Ankara dabei hilft, seine Abhängigkeit von Energieimporten zu reduzieren und die Option einer türkischen Atombombe eröffnet.

Diese handelspolitischen Bezeigungen sind aber von einer einseitigen Abhängigkeit geprägt, da die Türkei in sehr viel größeren Ausmaß von Russland abhängig ist als umgekehrt – dies vor allem bei dem Import fossiler Energieträger. Hier verfügt der Kreml, der beim Export zur Not Turkstream schließen und auf andere Pipelines ausweichen kann, eindeutig über den längeren Machthebel.

Weitere Interessenüberschneidungen zwischen Ankara und Moskau existierten bei der Geopolitik, wie es der strategische Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 durch die Türkei zeigte, der in Washington für Empörung sorgte und der das türkisch-amerikanische Verhältnis stark belastet. Ankara und Moskau haben – gemeinsam mit dem Iran – ein Interesse daran, den Einfluss des Westens – hier vor allem der USA – in der Region zurückzudrängen. Zusätzlich motiviert wurde diese kurzfristige Allianz zwischen Ankara, Teheran und Moskau durch das gemeinsame Interesse an der Zerschlagung des basisdemokratischen Experiments in Rojava, das alle autoritären, islamistischen Regimes und Rackets in der Region als eine existenzielle Bedrohung ansahen, wobei die klerikalfaschistische Türkei und das theokratische Regime im Iran aufgrund ihrer substanziellen kurdischen Minderheiten hier besonders schnell zur einer punktuellen Kooperation bereit waren.

Über die Leiche Rojavas – der Verrat der USA

Gerade die zeitweilige Zusammenarbeit der USA mit den kurdischen SDF zwecks Bekämpfung des Islamischen Staates hat maßgeblich zum Zerwürfnis zwischen Ankara und Washington beigetragen, das Moskau durch Zugeständnisse gegenüber Erdogan, die in der Invasion Afrins gipfelten, möglichst weit forcieren wollte. Es ließe sich gar argumentieren, dass die Annäherung zwischen Moskau, Teheran und Ankara gerade über die Leiche des selbstverwalteten nordsyrischen Kantons Afrin erfolgte, das sich in Russlands Einflusssphäre befand – und das Putin der türkischen Soldateska zum Fraß vorwarf, um die Türkei zusätzlich aus der westlichen Einflusssphäre zu lösen.

Mit dem Verrat der USA an den Kurden Nordsyriens im vergangenen Oktober wurde dieser reaktionären, gegen die USA wie auch den emanzipatorischen Aufbruch in Nordsyrien gerichteten unheiligen Allianz der wichtigste gemeinsame Nenner entzogen. So wie Putin sich bemühte, durch die Opferung Afrins an den türkischen Kelrikalfaschismus die Türkei aus dem Westen zu lösen, so hat Trump durch den Verrat an den östlichen Kantonen Rojavas die Türken dazu motivieren wollen, die Annäherung an Moskau zu revidieren. Die USA benutzten somit die Kurden im Kampf gegen den Islamischen Staat, um sie hiernach der islamistischen Regionalmacht auszuliefern, die zu den wichtigsten Unterstützern des Islamischen Staates gehörte, da die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien den wichtigsten Streitpunkt bei der Entfremdung zwischen Ankara und Trump bildete.

Tatsächlich könnte dieses brutale imperialistische Kalkül Washingtons, wo man trotz des Verlusts der Hegemonie noch maßgeblich Einfluss auf die Gestaltung der Region nehmen will, aufzugehen. Die USA haben Rojava verraten und sich weitgehend zurückgezogen aus Syrien, sie okkupieren nur noch die – regional unbedeutenden – Ölquellen in Ostsyrien. Dies tun sie nicht etwa, um dieses Öl in Eigenregie zu verkaufen, wie wohl nur Trump glaubt, sondern um die Kosten der Intervention Russlands und der eventuellen Wiederaufbaubemühungen in Syrien in die Höhe zu treiben, sowie einen Keil in die Achse Damaskus–Teheran zu treiben.

Doch, und dies ist entscheidend, überwiegen seit dem partiellen Rückzug Washingtons die Differenzen der Regionalmächte das vormalige Interesse an der Verdrängung der USA. Nun steht Russland unter Druck in Syrien, es muss sich mit Ankara auseinandersetzen und das komplexe Interessengewirr in der Region managen. Washington spekuliert schlicht darauf, dass Moskau damit überfordert sein wird.

Die Hegemonialmacht tritt ab

Was sich nun in der Region entfaltet, ist somit schlicht jene Realität einer „multipolaren Weltordnung“, die von allen Herausforderern der US-Hegemonie in den vergangenen Dekaden gefordert wurde. Die USA, seit Langem im hegemonialen Abstieg begriffen, haben ihre seit dem Zerfall des Ostblocks etablierte Rolle als globale militärische „Ordnungsmacht“ – die Interventionen, Strafexpeditionen und Invasionen in der Peripherie des Weltsystems über gut drei Dekaden weitgehend monopolisieren konnte – zumindest im Nahen und Mittleren Osten – endgültig verloren. In dieses Vakuum drängen nun viele kleine Nachwuchs-USA, die dem großen, abgetakelten Vorbild jenseits des Atlantiks nacheifern und ihr eigenen geopolitisches und imperialistisches Kalkül verfolgen.

Die Hegemonialmacht tritt ab – doch der Imperialismus bleibt bestehen, da dessen ökonomisches Fundament, die krisengebeutelte und widerspruchszerfressene kapitalistische Produktionsweise, weiterhin bestehen bleibt. Mehr noch: Der Abstieg der ökonomisch durch die Krise verwüsteten und weitgehend deindustrialisierten Vereinigten Staaten wird nicht mehr durch den Aufstieg eines neuen globalen Hegemons begleitet, der es wiederum schaffen würde, die Anwendung militärischer Gewalt weitgehend zu monopolisieren. Keine Großmacht – auch nicht China – ist dazu in der Lage; aufgrund zunehmender Krisentendenzen, wie einer ausartenden Verschuldung. Die Folge: Der partielle Rückzug der USA geht nicht mit einem Ende der Spannungen einher, sondern mit deren „multipolarer“ Vervielfältigung.

In der Region entfalten folglich der schiitische Iran und das sunnitische Saudi-Arabien bei ihrem jeweiligen Hegemonialstreben eine zunehmende geopolitische Konkurrenzdynamik, in deren Folge etwa der Jemen von einem blutigen Stellvertreterkrieg erfasst wurde, bei dem die USA nur noch eine Nebenrolle spielen. Diese Inflationierung des Konfliktpotenzials in einem in Auflösung übergehenden spätkapitalistischen Weltsystem kann somit gerade an den konkreten Konfliktlinien in der Region nachvollzogen werden – dies vor allem hinsichtlich der klerikalfaschistischen, von neo-osmanischen Wahn beseelten Türkei. Erdogan muss Expandieren, da ihm die schwere ökonomische Krise in der Türkei dazu nötigt, mittels äußerer Expansion die zunehmenden sozioökonomischen Verwerfungen im Land zu überbrücken. Es geht hierbei nicht nur um das klassische Schüren chauvinistischer Stimmungen, um so vom permanenten Grütel-enger-schnallen breiter Bevölkerungsschichten in der Türkei abzulenken, sondern um ganz konkrete Strategien oder Kontrolle der Beseitigung der Massen ökonomisch „überflüssiger“ Menschen, die die Systemkrise in der Region produzierte.

Idlib – geopolitische Sackgasse

Idlib soll als informelles türkisches Protektorat vor allem dazu dienen, die Flüchtlingsmassen, die der syrische Bürgerkrieg produzierte, dort zu konzentrieren, da sie aufgrund der Krise in der Türkei nicht mehr als Billiglohnsklaven verwertet werden können. Ähnliche Planungen zur Errichtung einer Art gigantischen Flüchtlingsghettos gibt es in den von der Türkei okkupierten Region Rojavas, wo die ethnische „Säuberung“ der kurdischen Bevölkerung durch die türkische Soldateska mit der Ansiedlung von Islamisten und der Deportation von Flüchtlingen abgeschlossen werden soll. Dieses Vorgehen Erdogans, der Flüchtlinge längst als politische Waffe gegenüber der EU einsetzt, brachte ihm die taktische und finanzkräftige Unterstützung Berlins ein, wo man aufgrund des Aufstiegs der Neuen Rechten panische Angst vor weiteren „Flüchtlingswellen“ hat. Merkel hat sich bei ihrer letzten Türkeivisite dazu entschlossen, im Endeffekt ethnische Säuberungen in Rojava zu finanzieren. Flüchtlinge und Abschottungstendenzen bilden somit – neben dem Kampf um Ressourcen und Energieträger – inzwischen einen neuartigen, zentralen Faktor beim „multipolaren“ neoimperialistischen Hauen und Stechen in der Region, das Phasenweise an die Hochzeit des Imperialismus in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert erinnert. Es ist gewissermaßen eine alte, neue Weltunordnung, die sich nun etabliert.

Die Dramatik und Gefährlichkeit der Lage in Idlib, die jederzeit eskalieren kann, resultiert andrerseits aus dem simplen Umstand, dass beide Seiten – sowohl die Türkei wie auch Russland – aller geschilderten Kooperation zum Trotz ihre zunehmenden geopolitischen Interessenskonflikte nicht mehr weiter verdecken oder überbrücken können. Erdogan kann sich einen Verlust von Idlib samt zu erwartender Massenflucht in der ökonomisch zerrütteten Türkei kaum politisch erlauben, da dies seine Herrschaft – und buchstäblich seine physische Existenz – bedroht. Der Kreml kann wiederum letzten Endes kaum dazu übergehen, Teile von Syrien langfristig an die Türkei in geopolitischen Deals zu verscherbeln, will Putin tatsächlich Russland als einen verlässlichen regionalen Machtfaktor im Nahen- und Mittleren Osten etablieren. Beide Seiten befinden in einer geopolitischen Sackgasse, aus der der Verlierer nur unter einem massiven Verlust an Prestige oder Einfluss ausbrechen kann.

Die Grenzen des türkischen Dominazstrebens

Zudem ist das geopolitische Vabanque Spiel Erdogans, bei dem Ankara im Gefolge des regionalen Dominanzstrebens erfolgreich zwischen Ost und West pendelte, um immer neue Zugeständnisse von Moskau (Afrin), Washington (östliches Rojava) und Berlin (Geld und Investitionen) zu erpressen, an seine Grenzen gelangt. Auch diesmal ging die türkische Konfrontationshaltung gegenüber Russland mit einer raschen Annäherung an den Westen, vor allem an die USA, einher, doch konnte Erdogan keine handfeste militärische Unterstützung seitens der Trump-Administration erwirken. Die brandgefährlichen Forderungen Ankaras nach amerikanischen Luftabwehrsystemen oder einer Flugverbotszone über Idlib sind im Sande verlaufen, da das Pentagon nicht den 3. Weltkrieg riskieren will. Die USA sind zwar im Abstieg begriffen, aber sie bilden weiterhin einen wichtigen Machtfaktor in der Region – ähnlich dem Großbritannien der Nachkriegszeit, dass ja sogar in der Suez-Krise 1956 einen erfolgloses imperialistisches Comeback versuchte.

Washington ist derzeit schlicht bemüht, dafür sorge zu tragen, dass der vergangenen Oktober begangene Verrat an der Kurden sich nun geopolitisch rentiert. Der Imageverlust vom Herbst 2019 – der den USA die Bündnisbildung in der Region ungemein erschweren wird – soll im Frühjahr geopolitische Rendite einbringen, indem der Konflikt zwischen Ankara und Moskau möglichst weit angeheizt wird, um so die Türkei zurück in die westliche Einflusssphäre zu bugsieren. Auch dies ist ein Balanceakt, den Washington vollführen muss: Es gilt, die Konfrontation durch rhetorische und öffentliche Solidaritätsbekundungen an das Erdogan-Regime anzuheizen, ohne je konkret zu werden. Die Trump-Administration muss im Wahljahr 2020 eine militärische Eskalation in Syrien um nahezu jeden Preis vermeiden – vor allem bei einem eventuellen Duell zwischen Trump und dem Antikriegskandidaten Sanders.

Dabei wählte Putin einen guten Moment, um die letztendlich unausweichliche Konfrontation mit Erdogan zu suchen, da dieser sich in seinem – durch innertürkische Widersprüche angetriebenen – Expansionsdrang regional weitgehend isoliert hat. Die arabischen Länder, wie etwa Jordanien und Ägypten, bilden aufgrund der neo-osmantische Ambitionen Erdogans eine nahezu geschlossene antitürkische Front, währnend weite Teile der EU, angeführt von Frankreich, sich wegen der Auseinandersetzungen um die Energieträger vor der Küste Zyperns im Streit mit der Türkei befinden. Koordiniert von Paris, bemühen sich Teile der EU somit, den türkischen Hegemonialstreben eindeutige Grenzen zu setzen. Die USA wiederum werden Erdogan nur verbal zur Auseinandersetzung mit Putin ermuntern, da man Ihm in Washington den Kauf der russischen S-400 so schnell, und vor allem so billig, nicht verziehen wird. Mal ganz abgesehen davon, dass man es sich in Ankara ganz genau überlegen wird, ob man sich wieder einer Großmacht in die Arme wirft, die laut türkischer Überzeugung den gescheiterten Putsch gegen Erdogan unterstützt haben soll.

Die evidente, nahezu vollständige Erosion der US-Hegemonie führte somit dazu, dass etliche kapitalistische Staaten in der Region (Türkei, Russland, Teile der EU, Saudi-Arabien, Iran) ihre Interessen stärker geopolitisch zur Geltung bringen können; es entsteht eine multipolare Dynamik vielfältiger regionaler imperialistischer Interessen, die sehr viel stärker und deutlicher in Erscheinung treten können, nachdem der hegemoniale Druck der US-Militärmaschine schwindet. Diese prekäre Rückkehr zu einem instabilen Imperialismus ohne Hegemon sorgt bei vielen Beobachtern, die es gewohnt sich, in den Frontstellungen des Zeitalters der US-Hegemonie zu denken, für Verwirrung und Desorientierung. Die USA, oftmals in verkürzter Kapitalismuskritik als Urquell allen Übels wahrgenommen, steigen ab, aber die mörderischen imperialistischen Kriege, letztendlich angefacht durch den widersprüchlichen Verwertungszwang des Kapitals, blieben bestehen. Die drohende Eskalation in Idlib stellt letztendlich auch eine Blamage des dummdeutschen Antiamerikanismus dar, der sich schon immer nicht primär aus einer fehlgeleiteten antiimperialistischen Motivation, sondern aus blankem imperialistischen Neid speiste.

#Titelbild: türkische und US-Soldaten in Syrien, wikipedia

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Cemil Bayik ist Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Co-Vorsitzender des Exekutivrats der Koma Civakên Kurdistan (KCK). Im zweiten Teil des Interviews spricht er über die drohende Invasion Rojavas durch die Türkei, den Stand der Verhandlungen zwischen der Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyriens und der syrischen Regierung und die Transformation der HPG und YJA-Star zur „Siegesguerilla“.
Teil 1 des Interviews kann hier nachgelesen werden. (mehr …)

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