Ein Versuch, die „multipolare“ imperialistische Dynamik rund um den Konflikt in Syrien zu beleuchten und theoretisch zu erfassen.
Tomasz Konicz
Das,
was sich im Februar 2020 in Syrien zwischen der Türkei und Russland
vollzieht, ist selbst für kapitalistische Verhältnisse
außergewöhnlich. Während türkische und russische Truppen an der
Grenze zwischen der Türkei und der nordsyrischen Autonomieregion
Rojava gemeinsame, von wütenden Kurden immer wieder mit Steinen
angegriffene Patrouillen durchführen, bombardieren russische
Kampfflugzeuge wenige Kilometer weiter südlich in der westsyrischen
Provinz Idlib von der Türkei unterstützte Dschihadisten und
türkische Truppen, die bereits erhebliche Verluste hinnehmen
mussten.
Die
spätkapitalistischen Staatssubjekte sind keine Menschen, keine
bürgerlichen Marktsubjekte, die in ihrem Konkurrenzgebaren zumeist
sehr eindimensional sind. Die imperialistischen Staatsmonster können
miteinander kooperieren, Bündnisse oder Allianzen bilden und
zugleich in anderen Politikbereichen oder Einflusssphären heftige
Konflikte austragen. Pack schlägt sich, Pack verträgt – dies ist
die jahrhundertealte blutige Normalität imperialistischer
Auseinandersetzungen, bei denen Millionen von Menschen verheizt
wurden und werden.
Die
vertrackte Lage in Syrien, wo Kooperation und Konfrontation zweier
imperialistischer Mächte bei ihrem mörderischen „Great Game“
eng beieinander liegen, ist Ausdruck der auf die Spitze getriebenen
Widersprüche im russisch-türkischen Verhältnis. Während Moskau
und Ankara sich einerseits bekriegen, wollen sie andererseits
Kooperieren und ziehen enorme
Vorteile aus dieser Kooperation. So konnten in den vergangenen
Monaten und Jahren einige wichtige wirtschaftspolitische
Projekte initiiert oder realisiert werden, die für beide Seiten
von Vorteil sind.
Einseitige
Abhängigkeit –Russisch-türkische Kooperation
Die
Anfang 2020 in Dienst gestellte Turkstream-Pipeline,
die russisches Erdgas über das Schwarze Meer bis in die Türkei
befördert, bring sowohl für den Kreml wie für Ankara enorme
strategische Vorteile, da sie – gemeinsam mit der Ostseepipeline –
Russland dabei hilft, die Transitwege russischen Erdgases nach
Westeuropa zu diversifizieren, sowie Ankara der ersehnten Rolle einer
energiepolitischen Drehscheibe an der südöstlichen Flanke der EU
näherbringt. Zudem haben beide Seiten den Bau eines russischen
Atomkraftwerks in der Türkei vereinbart, der Russlands Atomindustrie
einen Auslandsauftrag einbringt und Ankara dabei hilft, seine
Abhängigkeit von Energieimporten zu reduzieren und die Option einer
türkischen Atombombe eröffnet.
Diese
handelspolitischen Bezeigungen sind aber von einer einseitigen
Abhängigkeit geprägt, da die Türkei in sehr viel größeren
Ausmaß von Russland abhängig ist als umgekehrt – dies vor allem
bei dem Import fossiler Energieträger. Hier verfügt der Kreml, der
beim Export zur Not Turkstream schließen und auf andere Pipelines
ausweichen kann, eindeutig über den längeren Machthebel.
Weitere
Interessenüberschneidungen zwischen Ankara und Moskau existierten
bei der Geopolitik, wie es der strategische Kauf des russischen
Luftabwehrsystems S-400 durch die Türkei zeigte, der in Washington
für Empörung sorgte und der das türkisch-amerikanische Verhältnis
stark belastet. Ankara und Moskau haben – gemeinsam mit dem Iran –
ein Interesse daran, den Einfluss des Westens – hier vor allem der
USA – in der Region zurückzudrängen. Zusätzlich motiviert wurde
diese kurzfristige
Allianz zwischen Ankara, Teheran und Moskau durch das gemeinsame
Interesse an der Zerschlagung des basisdemokratischen Experiments in
Rojava, das alle autoritären, islamistischen Regimes und Rackets in
der Region als eine existenzielle Bedrohung ansahen, wobei die
klerikalfaschistische Türkei und das theokratische Regime im Iran
aufgrund ihrer substanziellen kurdischen Minderheiten hier besonders
schnell zur einer punktuellen Kooperation bereit waren.
Über
die Leiche Rojavas – der Verrat der USA
Gerade
die zeitweilige Zusammenarbeit der USA mit den kurdischen SDF zwecks
Bekämpfung des Islamischen Staates hat maßgeblich zum Zerwürfnis
zwischen Ankara und Washington beigetragen, das Moskau durch
Zugeständnisse gegenüber Erdogan, die in der Invasion Afrins
gipfelten, möglichst weit forcieren wollte. Es ließe sich gar
argumentieren, dass die Annäherung zwischen Moskau, Teheran und
Ankara gerade über die
Leiche des selbstverwalteten nordsyrischen Kantons Afrin
erfolgte, das sich in Russlands Einflusssphäre befand – und das
Putin der türkischen Soldateska zum Fraß vorwarf, um die Türkei
zusätzlich aus der westlichen Einflusssphäre zu lösen.
Mit
dem Verrat
der USA an den Kurden Nordsyriens im vergangenen Oktober wurde
dieser reaktionären, gegen die USA wie auch den emanzipatorischen
Aufbruch in Nordsyrien gerichteten unheiligen Allianz der wichtigste
gemeinsame Nenner entzogen. So wie Putin sich bemühte, durch die
Opferung Afrins an den türkischen Kelrikalfaschismus die Türkei aus
dem Westen zu lösen, so hat Trump durch den Verrat an den östlichen
Kantonen Rojavas die Türken dazu motivieren wollen, die Annäherung
an Moskau zu revidieren. Die USA benutzten somit die Kurden im Kampf
gegen den Islamischen Staat, um sie hiernach der islamistischen
Regionalmacht auszuliefern, die zu den wichtigsten Unterstützern des
Islamischen Staates gehörte, da die kurdische Selbstverwaltung in
Nordsyrien den wichtigsten Streitpunkt bei der Entfremdung
zwischen Ankara und Trump bildete.
Tatsächlich
könnte dieses brutale imperialistische Kalkül Washingtons, wo man
trotz des Verlusts der Hegemonie noch maßgeblich Einfluss auf die
Gestaltung der Region nehmen will, aufzugehen. Die USA haben Rojava
verraten und sich weitgehend zurückgezogen aus Syrien, sie
okkupieren nur noch die – regional unbedeutenden – Ölquellen in
Ostsyrien. Dies tun sie nicht etwa, um dieses Öl in Eigenregie zu
verkaufen, wie wohl nur Trump glaubt, sondern um die Kosten der
Intervention Russlands und der eventuellen Wiederaufbaubemühungen in
Syrien in die Höhe zu treiben, sowie einen Keil in die Achse
Damaskus–Teheran zu treiben.
Doch,
und dies ist entscheidend, überwiegen seit dem partiellen Rückzug
Washingtons die Differenzen der Regionalmächte das vormalige
Interesse an der Verdrängung der USA. Nun steht Russland unter Druck
in Syrien, es muss sich mit Ankara auseinandersetzen und das komplexe
Interessengewirr in der Region managen. Washington spekuliert
schlicht darauf, dass Moskau damit überfordert sein wird.
Die
Hegemonialmacht tritt ab
Was
sich nun in der Region entfaltet, ist somit schlicht jene Realität
einer „multipolaren Weltordnung“, die von allen
Herausforderern der US-Hegemonie in den vergangenen Dekaden gefordert
wurde. Die USA, seit Langem im hegemonialen Abstieg begriffen, haben
ihre seit dem Zerfall des Ostblocks etablierte Rolle als globale
militärische „Ordnungsmacht“ – die Interventionen,
Strafexpeditionen und Invasionen in der Peripherie des Weltsystems
über gut drei Dekaden weitgehend monopolisieren konnte – zumindest
im Nahen und Mittleren Osten – endgültig verloren. In dieses
Vakuum drängen nun viele kleine Nachwuchs-USA, die dem großen,
abgetakelten Vorbild jenseits des Atlantiks nacheifern und ihr
eigenen geopolitisches und imperialistisches Kalkül verfolgen.
Die Hegemonialmacht tritt ab – doch der Imperialismus bleibt bestehen, da dessen ökonomisches Fundament, die krisengebeutelte und widerspruchszerfressene kapitalistische Produktionsweise, weiterhin bestehen bleibt. Mehr noch: Der Abstieg der ökonomisch durch die Krise verwüsteten und weitgehend deindustrialisierten Vereinigten Staaten wird nicht mehr durch den Aufstieg eines neuen globalen Hegemons begleitet, der es wiederum schaffen würde, die Anwendung militärischer Gewalt weitgehend zu monopolisieren. Keine Großmacht – auch nicht China – ist dazu in der Lage; aufgrund zunehmender Krisentendenzen, wie einer ausartenden Verschuldung. Die Folge: Der partielle Rückzug der USA geht nicht mit einem Ende der Spannungen einher, sondern mit deren „multipolarer“ Vervielfältigung.
In
der Region entfalten folglich der schiitische Iran und das
sunnitische Saudi-Arabien bei ihrem jeweiligen Hegemonialstreben eine
zunehmende geopolitische Konkurrenzdynamik, in deren Folge etwa der
Jemen von einem blutigen Stellvertreterkrieg erfasst wurde, bei dem
die USA nur noch eine Nebenrolle spielen. Diese Inflationierung des
Konfliktpotenzials in einem in Auflösung übergehenden
spätkapitalistischen Weltsystem kann somit gerade an den konkreten
Konfliktlinien in der Region nachvollzogen werden – dies vor allem
hinsichtlich der klerikalfaschistischen, von neo-osmanischen Wahn
beseelten Türkei. Erdogan muss Expandieren, da ihm die schwere
ökonomische Krise in der Türkei dazu nötigt, mittels äußerer
Expansion die zunehmenden sozioökonomischen Verwerfungen im Land zu
überbrücken. Es geht hierbei nicht nur um das klassische Schüren
chauvinistischer Stimmungen, um so vom permanenten
Grütel-enger-schnallen breiter Bevölkerungsschichten in der Türkei
abzulenken, sondern um ganz konkrete Strategien oder Kontrolle der
Beseitigung der Massen ökonomisch „überflüssiger“
Menschen, die die Systemkrise in der Region produzierte.
Idlib
– geopolitische Sackgasse
Idlib
soll als informelles türkisches Protektorat vor allem dazu dienen,
die Flüchtlingsmassen, die der syrische Bürgerkrieg produzierte,
dort zu konzentrieren, da sie aufgrund der Krise in der Türkei nicht
mehr als Billiglohnsklaven verwertet werden können. Ähnliche
Planungen zur Errichtung einer Art gigantischen Flüchtlingsghettos
gibt es in den von der Türkei okkupierten Region Rojavas, wo die
ethnische „Säuberung“ der kurdischen Bevölkerung durch
die türkische Soldateska mit der Ansiedlung von Islamisten und der
Deportation von Flüchtlingen abgeschlossen werden soll. Dieses
Vorgehen Erdogans, der Flüchtlinge längst als politische Waffe
gegenüber der EU einsetzt, brachte ihm die taktische und
finanzkräftige Unterstützung Berlins ein, wo man aufgrund des
Aufstiegs der Neuen Rechten panische Angst vor weiteren
„Flüchtlingswellen“ hat. Merkel hat sich bei ihrer letzten
Türkeivisite dazu entschlossen, im Endeffekt ethnische
Säuberungen in Rojava zu finanzieren. Flüchtlinge und
Abschottungstendenzen bilden somit – neben dem Kampf um Ressourcen
und Energieträger – inzwischen einen neuartigen, zentralen Faktor
beim „multipolaren“ neoimperialistischen Hauen und Stechen
in der Region, das Phasenweise an die Hochzeit des Imperialismus in
der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert erinnert. Es ist
gewissermaßen eine alte,
neue Weltunordnung, die sich nun etabliert.
Die
Dramatik und Gefährlichkeit der Lage in Idlib, die jederzeit
eskalieren kann, resultiert andrerseits aus dem simplen Umstand, dass
beide Seiten – sowohl die Türkei wie auch Russland – aller
geschilderten Kooperation zum Trotz ihre zunehmenden geopolitischen
Interessenskonflikte nicht mehr weiter verdecken oder überbrücken
können. Erdogan kann sich einen Verlust von Idlib samt zu
erwartender Massenflucht in der ökonomisch zerrütteten Türkei
kaum politisch erlauben, da dies seine Herrschaft – und
buchstäblich seine physische Existenz – bedroht. Der Kreml kann
wiederum letzten Endes kaum dazu übergehen, Teile von Syrien
langfristig an die Türkei in geopolitischen Deals zu verscherbeln,
will Putin tatsächlich Russland als einen verlässlichen regionalen
Machtfaktor im Nahen- und Mittleren Osten etablieren. Beide Seiten
befinden in einer geopolitischen Sackgasse, aus der der Verlierer nur
unter einem massiven Verlust an Prestige oder Einfluss ausbrechen
kann.
Die
Grenzen des türkischen Dominazstrebens
Zudem
ist das geopolitische
Vabanque Spiel Erdogans, bei dem Ankara im Gefolge des regionalen
Dominanzstrebens erfolgreich zwischen Ost und West pendelte, um immer
neue Zugeständnisse von Moskau (Afrin), Washington (östliches
Rojava) und Berlin (Geld und Investitionen) zu erpressen, an seine
Grenzen gelangt. Auch diesmal ging die türkische
Konfrontationshaltung gegenüber Russland mit einer raschen
Annäherung an den Westen, vor allem an die USA, einher, doch konnte
Erdogan keine handfeste militärische Unterstützung seitens der
Trump-Administration erwirken. Die brandgefährlichen Forderungen
Ankaras nach amerikanischen Luftabwehrsystemen oder einer
Flugverbotszone über Idlib sind im Sande verlaufen, da das Pentagon
nicht den 3. Weltkrieg riskieren will. Die USA sind zwar im Abstieg
begriffen, aber sie bilden weiterhin einen wichtigen Machtfaktor in
der Region – ähnlich dem Großbritannien der Nachkriegszeit, dass
ja sogar in der Suez-Krise 1956 einen erfolgloses imperialistisches
Comeback versuchte.
Washington
ist derzeit schlicht bemüht, dafür sorge zu tragen, dass der
vergangenen Oktober begangene Verrat an der Kurden sich nun
geopolitisch rentiert. Der Imageverlust vom Herbst 2019 – der den
USA die Bündnisbildung in der Region ungemein erschweren wird –
soll im Frühjahr geopolitische Rendite einbringen, indem der
Konflikt zwischen Ankara und Moskau möglichst weit angeheizt wird,
um so die Türkei zurück in die westliche Einflusssphäre zu
bugsieren. Auch dies ist ein Balanceakt, den Washington vollführen
muss: Es gilt, die Konfrontation durch rhetorische und öffentliche
Solidaritätsbekundungen an das Erdogan-Regime anzuheizen, ohne je
konkret zu werden. Die Trump-Administration muss im Wahljahr 2020
eine militärische Eskalation in Syrien um nahezu jeden Preis
vermeiden – vor allem bei einem eventuellen Duell zwischen Trump
und dem Antikriegskandidaten Sanders.
Dabei wählte Putin einen guten Moment, um die letztendlich unausweichliche Konfrontation mit Erdogan zu suchen, da dieser sich in seinem – durch innertürkische Widersprüche angetriebenen – Expansionsdrang regional weitgehend isoliert hat. Die arabischen Länder, wie etwa Jordanien und Ägypten, bilden aufgrund der neo-osmantische Ambitionen Erdogans eine nahezu geschlossene antitürkische Front, währnend weite Teile der EU, angeführt von Frankreich, sich wegen der Auseinandersetzungen um die Energieträger vor der Küste Zyperns im Streit mit der Türkei befinden. Koordiniert von Paris, bemühen sich Teile der EU somit, den türkischen Hegemonialstreben eindeutige Grenzen zu setzen. Die USA wiederum werden Erdogan nur verbal zur Auseinandersetzung mit Putin ermuntern, da man Ihm in Washington den Kauf der russischen S-400 so schnell, und vor allem so billig, nicht verziehen wird. Mal ganz abgesehen davon, dass man es sich in Ankara ganz genau überlegen wird, ob man sich wieder einer Großmacht in die Arme wirft, die laut türkischer Überzeugung den gescheiterten Putsch gegen Erdogan unterstützt haben soll.
Die evidente, nahezu vollständige Erosion der US-Hegemonie führte somit dazu, dass etliche kapitalistische Staaten in der Region (Türkei, Russland, Teile der EU, Saudi-Arabien, Iran) ihre Interessen stärker geopolitisch zur Geltung bringen können; es entsteht eine multipolare Dynamik vielfältiger regionaler imperialistischer Interessen, die sehr viel stärker und deutlicher in Erscheinung treten können, nachdem der hegemoniale Druck der US-Militärmaschine schwindet. Diese prekäre Rückkehr zu einem instabilen Imperialismus ohne Hegemon sorgt bei vielen Beobachtern, die es gewohnt sich, in den Frontstellungen des Zeitalters der US-Hegemonie zu denken, für Verwirrung und Desorientierung. Die USA, oftmals in verkürzter Kapitalismuskritik als Urquell allen Übels wahrgenommen, steigen ab, aber die mörderischen imperialistischen Kriege, letztendlich angefacht durch den widersprüchlichen Verwertungszwang des Kapitals, blieben bestehen. Die drohende Eskalation in Idlib stellt letztendlich auch eine Blamage des dummdeutschen Antiamerikanismus dar, der sich schon immer nicht primär aus einer fehlgeleiteten antiimperialistischen Motivation, sondern aus blankem imperialistischen Neid speiste.
#Titelbild: türkische und US-Soldaten in Syrien, wikipedia