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Ein Sammelband versucht die Taten des NSU und die gesellschaftliche Nichtaufarbeitung ganz ohne Ökonomiekritik zu untersuchen. Und scheitert.

Den Terrorakten des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) fielen vom Jahr 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen zum Opfer. Darunter hatten acht der Ermordeten eine türkische Familiengeschichte, einer einen griechischen Hintergrund und zusätzlich wurde eine nicht-migrantische Polizistin ermordet. Das Netzwerk von mordenden Neonazis konnte jahrelang unentdeckt bleiben, obwohl Angehörige der Ermordeten und politische Initiativen Rassismus als Tatmotiv lange vermuteten und dies immer wieder öffentlich durch Presseerklärungen, Interviews und Demonstrationen äußerten. Dies hängt sowohl mit dem sprichwörtlichen blinden rechten Auge der Verfassungsschutzbehörden zusammen, als auch mit einer Reihe äußerst unwahrscheinlicher Ungereimtheiten im Polizei- und Justizapparat.

Tina Dürr und Reiner Becker begeben sich in ihrem schmalen Sammelband Leerstelle Rassismus? Analysen und Handlungsmöglichkeiten nach dem NSU auf die Suche nach der Leerstelle Rassismus und fragen sich, welche gesellschaftlichen Mechanismen dazu beitragen, dass Rassismus und seine Wirkung auf die Betroffenen von der Mehrheitsgesellschaft nicht gesehen werden. Ihr vor allem diskurstheoretisches Buch zeichnet in zwölf Beiträgen die rassistische Alltags-Atmosphäre und den Staus Quo nach, die den Nährboden bilden, auf dem die rassistische Mordserie des sogenannten NSU vonstatten gehen konnte. Aussagen von Politiker:innen und Repräsentant:innen der Sicherheitsbehörden und Zeitungsartikel werden hierfür untersucht und in Kontrast zu dem Erleben und den politischen Interventionen der Hinterbliebenen gesetzt. Hierin liegt die Stärke des Bandes. Insgesamt kommen Wissenschaftler:innen genauso wie Praktiker:innen aus Beratungsstellen und der Arbeit innerhalb migrantischer Gemeinschaften zu Wort. Denn mit der Selbstenttarnung nach dem Suizid der beiden vermutlichen Haupttäter im November 2011 begann sich die Öffentlichkeit bestürzt zu fragen, wie mordende Neonazis so lange unentdeckt bleiben konnten.

Schwach ist dann die Antwort des Sammelbandes: weil Rassismus allgegenwärtig ist und Betroffenen von Rassismus zu wenig zugehört wird. Wer von staatlicher und politischer Seite an einer Vertuschung real ein Interesse haben könnte, wird kaum benannt. Auch eine Analyse der deutschen Wirtschaft im Imperialismusgeflecht und der damit verbundenen rechten Antworten auf diverse Krisen bleibt der Sammelband den Leser:innen schuldig. Hinzu kommen Beiträge mit problematischen und empirisch nicht haltbaren Verallgemeinerungen, wie die, dass es in migrantischen „communities“ Einigkeit darüber gäbe, „dass rechtsextreme Gewalt immer schon eine Kontinuität hat“. Woher diese angeblich repräsentativen Aussagen kommen, wird den Leser:innen aufgrund fehlender Quellen nicht erklärt.

Insgesamt bleibt sich die Argumentation des Sammelbands in einem liberalen Geflecht stecken, in dem diskursiven Rassismuserscheinungen einfach irrationale Vorurteile sind. Leider schafft der Band es nicht, trotz teilweisem guten Zusammentragen von Beispielen und öffentlichen Stimmen im Nachklang der NSU Mordserie, an die Wurzel des Problems rassistischen Terrors zu gehen. Hierfür müsste eine saubere Ökonomieanalyse mit den konkreten Erscheinungen rassistischen Terrors in Beziehung gesetzt werden.

Tina Dürr/Reiner Becker (Hg.): Leerstelle Rassismus? Analysen und Handlungsmöglichkeiten nach dem NSU, 2019, Wochenschauverlag, 172 Seiten, 22,90 EUR

#Foto: Wochenschau Verlag

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Begriffe sind Schlachtfelder. Und „Freiheit“ ist einer der Begriffe, die stets besonders umkämpft sind. Sie erregt die Gemüter, im Extremfall treibt sie auf die Barrikaden, ans Gewehr oder an die Börse. Aber der Freiheitsbegriff ist für sich genommen recht leer, erhält seinen Sinn erst im Rahmen eines weltanschaulichen Ganzen, das ihn bestimmt. „Freiheit“ kann im ungeordneten Chaos des Alltagssprachgebrauchs alles mögliche bezeichnen: Das ungezügelte Recht des Kapitals, der letzten Arbeitskraft im entferntesten Winkel der Erde Mehrwert abzuwürgen, genauso wie die Abwesenheit eben dieser Möglichkeit; die Umbildung des letzten Stückchens Natur zur Ware ebenso wie die Ausbalancierung des Mensch-Natur-Verhältnisses auf ein langfristiges Überleben der Menschheit hin; die kompromisslose Durchsetzung des Willens des starken Mannes genauso wie die solidarische gemeinsame Entwicklung der Vielen. Von welcher „Freiheit“ gesprochen wird, ist nicht von vornherein ausgemacht und so ist der Kampf um den Freiheitsbegriff immer ein Kampf zwischen Weltanschauungen.

Wer bestimmen kann, welche Deutung von „Freiheit“ hegemonial wird, hat seiner eigenen weltanschaulichen Überzeugung einen nicht kleinen Dienst erwiesen. Früher, als sich die Arbeiterbewegung noch als die Dampflok des historischen Fortschritts wähnen konnte, schien klar: Wer für Freiheit ist, wird Kommunist:in, Sozialist:in, Anarchist:in. „Freiheit“ hieß hier stets: Die Freiheit aller, des Kollektivs, in dem der Einzelne sich erst zu sich entwickeln konnte – und nicht die Freiheit der isolierten Monade auf Kosten des Rests, gegen den sie sich durchzusetzen hat. Das Projekt scheiterte, der Imperialismus siegte. Und über den Begriffen kreisen die Geier des siegreichen Armee.

Leere und Langeweile

Ulf Poschardt ist einer dieser Geier, und kein unbedeutender. Als Chefredakteur der Welt, dem Flaggschiff des deutschen Rechtsliberalismus, zählt er zu den einflussreichsten Meinungsmachern der Bundesrepublik. Und anders als seine Kollegen in verstaubteren Redaktionsstuben ähnlicher geistiger Provenienz versteht er es, den piefigen, murkeligen Liberalismus in Neonfarben angemalt für die Clubgänger, Start-up-Hipster und aufstrebende Youtube-Influencer aufzuhübschen. Was Poschardt in seinem Buch Mündig tut, ist erst mal nichts anderes als das, was die Trumpisten – auf ganz andere Art, wohlgemerkt – in den USA längst geschafft haben: Die hässliche Fratze Margaret Thatchers so lange mit Schminke anzupinseln, bis das geneigte Publikum glaubt, es mit Delacroix‘ Marianne zu tun zu haben.

Weil viel geschminkt und wenig gedacht wird, ist Poschardts Buch vor allem eins: schlechte Dichtung. Die Begriffe bleiben – wohl durchaus beabsichtigt, Poschardt verachtet systematisches Denken als eine Art Zwangskorsett – vage, aber werden durch Bilder, Metaphern, Parabeln umrissen. Der Gestus ist pathetisch: Es gehe um nichts weniger als die „schicksalhafte Entscheidung“ der Menschheit, sich entweder „von sich selbst zu verabschieden“ oder sich „upzudaten“. Die existenzielle Schwere der Freiheit wird beschworen und immer wieder wird betont: Das hier ist nichts für „Feiglinge“. Die Freiheit braucht den Mutigen und der Mutige muss gelegentlich auch den Tod riskieren, zumindest in seiner Gestalt als Rennfahrer, wenn schon nicht als Zeitungsredakteur. Gelegentlich fallen die zwei, drei Kant- und Descartes-Zitate, die sich der Bildungsbürger während der Porsche im Stau nicht vorankommt, locker auf dem Smartphone ergoogeln kann, und der Adorno wurde auch gelesen.

Was „Mündigkeit“ und „Freiheit“ nun eigentlich sind, bestimmt sich einerseits aus ihrem Gegenteil: Nicht das „falsche Wir“, das „Kollektiv“, das „Verwöhnfell des Staates“. Und es bestimmt sich aus der Vermittlung der ungezügelten Freiheit mit den Grenzen, die sich der Freie selbst setzt: dem „Drift“, wie Poschardt mit einer Metapher aus dem Motorsport sagt. Das Wagnis ist, die Kurve gerade noch so zu nehmen – eine Kunst, die Poschardt als passionierter Twitter-User beherrscht.

Der Vermittlung zwischen Freiheit und ihrer zwar selbst gesetzten, aber doch äußerlichen Beschränkung bedarf es, weil Poschardts Freiheit von ihr selbst her ausufert: Sie ist nicht mehr als die unhintergehbare Aufforderung an die Starken und Mutigen, sich im Spiel mit den Möglichkeiten auszuleben. Die Freiheit ist der existenzielle Exzess, dem keine Moral und kein Kollektiv Einhalt gebieten, aber sie wird selbstzerstörerisch, wenn sie sich nicht frei beschränkt und zur „Mündigkeit“ wird. Die Grenzen, an denen entlang der nun mündige Freie driftet sind dabei zufällig genau die, die eben ohnehin schon in der ganz real existierenden Einfallslosigkeit Deutschlands vorfindbar sind: „Der mündige Intellektuelle ist neugierig und scheut sich vor Wiederholungen, außer wenn es um den Kern der Dinge geht: Freiheit, Demokratie, Fortschritt, Nachhaltigkeit, Tempo.“

Der „Drift am Rande des Beherrschbaren“ ist bei Poschardt stets einer, der sich irgendwo zwischen ganz stinknormaler Verklärung der Werte des demokratischen Westens und zu krassen Abenteuern hochjubilierten Kleinbürgerfreuden einpendelt. Man kann sich den „Mündigen“ bei Poschardt als Poschardt selbst vorstellen: Einer, der als aufgeklärter General morgens im Sturmgeschütz der Demokratie die Don Alphonsos und Deniz Yücels an die Front zur Verteidigung der Bundesrepublik abkommandiert, am Nachmittag in das, was er für den Diskurs hält, mit ein paar steilen Elfenbeiturm-Tweets reingrätscht und sich am Abend die „Libertinage“ des Berliner Clublebens zum Ausbruch aus dem bürgerlichen Ennui zurechtfickt.

Freiheit für die Wenigen: Ulf Poschardts „mündig“, Klett-Cotta 2020

Diejenigen, die sich noch erinnern können, was „Freiheit“ einmal bedeutete, müssen sich Ulf Poschardts Mündigen als eine traurige Figur vorstellen. Das wirkliche Wagnis, Freiheit im Fortschritt der Menschheit als ganzer, als dialektische Beziehung von Kollektiv und Einzelnem zu begründen, als einen Kampf um die Aneignung der ganz materiellen Vorbedingungen des Möglichkeitsraums, in dem Freiheit stattfinden kann, kennt er nicht und will er nicht kennen.

Der „Mündige“ will kein „Wir als Ausgangspunkt und auch nicht als Endpunkt, sondern sieht den Einzelnen radikal in der Verantwortung, sich selbst mit größtmöglicher Offenheit den Zumutungen des Komplexen und Kontingenten auszusetzen“. Der Andere ist nicht Gegenüber in dem sich das Ich erst entwickeln kann, sondern Objekt, an dem sich der immer schon fertige Einzelne höchstens zu reiben hat: „Am Ende erzieht sich jeder selbst. Mündig wird man in anderen und durch andere, aber nur ganz allein. Jeder muss sich selbst mündig machen.“

Der Freiheitsbegriff ähnelt in vielem dem Sartres. Der absolute Aufruf zur Freiheit hallt in ein leeres Nichts des als Monade gedachten Individuums und es bleibt kontingent, womit man es füllt. Sartre entschied sich dafür, dass zu hassen, was die Menschheit unterdrückt und wandte sich revolutionären Kämpfen zu. Und Poschardt beantwortet denselben Ruf der Freiheit damit, gelegentlich und ganz kontrolliert aus der Tristesse des Bürolebens in einen Nachtclub oder zum Autohändler des Vertrauens zu driften. Der Versuch, den Liberalen zu einer Art rebellischen, aufregenden Gestalt zu stilisieren, zerschellt dann auch an der bemitleidenswerten Banalität der Beispiele, die gerade noch so in den Horizont jedes Großstadtyuppies passen. Der „saftige Burger“, das „fauchende Motorrad“, die „neue Star-Wars-Episode“, weiter reichen die Träume dann kaum noch.

Eine recht durchschnittliche Melange

Ulf Poschardt gehört zu jenen bürgerlichen Intellektuellen, die irgendwann den wirklich wirksamen Move entdeckt haben, so zu tun, als bestimme der „links-grüne“ Teil der Elite die Geschicke des Landes. Man selber sei eine Art „Korrektiv“ zu diesem „Elfenbeinturm“, der stets den kleine Mann zu irgendetwas zwingen wolle. Die Trumpisten in den USA haben diese Erzählung perfektioniert und die Wucht ihrer Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Große Teile der weißen Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten ließen sich diese Mythologie so tief einpflanzen, dass sie der republikanischen Kapitalfraktion bis heute aus der Hand fressen.

Poschardt ist weltoffener als Trump, er liebäugelt nicht mit Faschisten (jedenfalls solange sie nicht bei der eigenen Zeitung angestellt sind). Er will der unmündigen Masse eine andere Story verkaufen, die des Aufsteigers, der sich selbst gegen alle Hindernisse zum mündigen Bürger und mündigen Konsumenten erziehen kann. Hindern tun den Aspiranten auf die Eintrittskarte in den Louis-Vitton-Shop eigentlich nur kollektivistische links-grüne Eliten aus dem Elfenbeinturm. Die neoliberale Elendsgestalt Guido Westerwelle mit seinem fast pathologischen Hass auf Arme mutiert dementsprechend zu einer Art Heilsbringer, der nur deshalb zum „Ketzer“ wurde, weil er „das Gemütlichkeitsbedürfnis der Konsensetatisten radikal in Frage stellte“. Die linksliberalen Sozialdemokraten mit ihrem Festhalten am „Wohlfahrtsstaat“ versagen den armen Schwachen die Mündigkeit, die ihnen der Liberale zugesteht: Selbst Schmied des eigenen Schicksals zu sein (oder halt zu verhungern, das Leben ist ein Wagnis). Mehr als diese zwei Optionen kommen im Horizont der Poschardts dieser Welt nicht vor und vielleicht in einer Zeit, in der die Linke über „Umverteilung“ nicht hinauskommt, auch sonst nirgendwo mehr.

Das Leitbild, an dem sich die verschiedenen Mündigkeitsfiguren orientieren, ist der „Unternehmer“. Der „trägt die größte Verantwortung und hat damit die umfassendsten Mündigkeitsanforderungen. Deswegen darf er auch am meisten verdienen.“ Ausbeutung gibt es in diesem Weltbild keine. Der Kapitalist als „Unternehmer“ schafft den Mehrwert aus dem ihn eigenen Trieb zur Innovation wie Gott die Welt aus dem Nichts. Das Buch kennt konsequenterweise keinen „mündigen Arbeiter“. Die Einsicht, dass Freiheit und Mündigkeit möglicherweise dadurch limitiert sein könnten, dass die Masse der Menschheit immer noch in jenem Sinne „frei“ von den zur Schaffung ihrer eigenen Lebensgrundlage nötigen Produktionsmitteln und daher genötigt ist, ihre Haut zu Markte zu tragen, hat hier keinen Platz. Höchstens da, wo Poschardt den „Genossen der Bosse“, Gerhard Schröder, für dessen Hartz-Reformen abfeiert, die „die bundesrepublikanische Sozialgemütlichkeit (…) vom Thron gestoßen“ haben, scheint durch, dass es da Leute gibt, die man irgendwie im Dienst des Unternehmers zu „optimieren“ hat.

Poschardt schreibt, und da kann er noch so oft zu neoliberalen Witzfiguren verkommene Rapper wie UFO361 zitieren, für die Eliten. Mündigkeit ist ein Projekt für die „wenigen“, die Starken, die, die sich durchsetzen. Poschardt ist nicht dämlich, er weiß selber genau, dass die Figur des „Aufsteigers“ keine Antithese zum kapitalistischen Hauen und Stechen ist, keine besonders abwegige, rebellische Idee, sondern stinknormale Ideologie. Du sollst den anderen deine Ellenbogen in den Magen rammen, bis du oben angekommen bist. Dass es oben und unten gibt, bleibt davon unberührt, denn: Zumindest der ideologischen Verklärung nach kann zwar jeder aufsteigen, aber nicht alle zugleich. Das Kapital (der Unternehmer) existiert nicht ohne die Arbeiter (die Entmündigten) und bringt sie stets auf erweiterter Stufenleiter hervor. Der Einzelne kann sich aber nach oben durchbeißen, das ist das Versprechen. Mündigkeit ist ein Stahlbad.

Der Rest ist einfach irgendwelcher Kram zwischen FDP-Parteiprogramm und libertären Twitterpointen. Die Umweltkrise regelt der mündige Konsument. Poschardt betont standesgemäß: „Auch Champagner trinken konnte praktizierter Naturschutz sein“, denn würde die Nachfrage nach Kork sinken, würde ja jemand Eukalyptus- und Pinienplantagen anlegen, wo heute noch der iberische Luchs durch die Korkeichenwälder streift. Die Natur „wird im Kapitalismus“ – und was anderes wollen wir ja nicht – „nur überleben, wenn sie – nachhaltig genutzt – als Profitcenter funktioniert“. Die Idee ist von so viel Ahnungslosigkeit darüber, wie Kapitalismus funktioniert, getragen, man muss nichts dazu schreiben.

Die Bundeswehr ist mündig, die israelischen Streitkräfte noch einen Löffel mündiger, China ist außerordentlich unmündig, Sozialist:innen (oder was Poschardt dafür hält) auch, außer der „radikal elitäre“ Linke, der Filme macht und sich „uninteressiert am trivialen Sentiment und populären Pointen“ zeigt, der ist dann wiederum sehr mündig. Skateboardfahrer sind „rollende Freiheitsstatuen“, Intellektuelle müssen „sich im plebejischen Vulgäridiom so wohl fühlen wie in der philosophischen Endpirouette“, Ideologien „sedieren“, außer die eigene natürlich, und aufwecken tut die Mischung aus „Balz, Bourdeaux und Petting“ in den Clubs, in denen, dem Türsteher sei dank, nur „die Schönen, Reichen und Skurrilen Einlass finden“. Poschardt steckt den Leser:innen etwas über 200 Seiten lang den Finger in den Hals und wer bis dahin noch etwas im Magen hat, darf sich danach die Selbstentmündigung des Peter Unfried in Gestalt eines Nachworts nachschieben. Wohl bekomm‘s.

Die offene Wunde

Ein Punkt aber bleibt. Wenn das die in jeder Hinsicht dürren Angebote der Gegenseite sind, warum tut sich die Linke dann so schwer, gesellschaftlichen Einfluss zu erringen. Wenn Poschardt schreibt, Meinungsführer der Linken seien „Wohlbegüterte, die sich ihr Linkssein leisten können und die moralische Distinktion pflegen“, trifft das genauso wie: „Der Blick auf die Arbeiterklasse, die Abgehängten und Verstörten fällt denkbar ungnädig aus. Oder noch schlimmer: Paternalisierend wie in einem Streichelzoo.“ Und: „Die Linke ist Organ und Propagandist der Umverteilung geworden, oder „Umfairteilung“, wie das die hippen Bürgerkinder Instagram-tauglich zum sozialistischen Karneval in die Propagandaquellen einspeisen. Wer in der Gesellschaft unten ist, soll da bleiben, aber er soll weniger leiden, so könnte man diese angestrebte sozial stabile Seitenlage nennen.“

Das trifft. Zwar hat Poschardt selber nichts anzubieten, außer eben die Abgehängten zu motivieren, sich den Aufstieg zum Wolf of the Wall Street messerstechend zu erkämpfen, aber richtig bleibt: auf der Linken sieht es auch zappenduster aus.

Denn die befreiende Kraft linker Weltentwürfe war stets an die Verankerung in der Masse gekoppelt. Wladimir Majakowski und Alexej Tolstoi haben Weltliteratur von zeitlos gültigem Rang hervorgebracht, weil sie die gerade alphabetisierten namenlosen Held:innen, die eben noch auf dem Feld oder in den Fabriken stumpf dahinvegetierten und jetzt ihr Schicksal in die Hand nahmen, zu Gegenstand und Publikum ihrer Kunst machten. Den „Mündigkeitsgrad“ des Proleten, der sein Gewehr umdrehte und gegen die eigene Generalität richtete, konnte der bürgerliche Intellektuelle so wenig verstehen, wie den des Theologen, der viele Jahrzehnte später in die Berge Kolumbiens ging, um in der Guerilla zu fallen, oder den des kurdischen Studenten aus armer Familie der seit über zwei Jahrzehnten auf einer Gefängnisinsel in Isolationshaft sitzt.

Die Schönheit der kommunistischen Bewegung lag immer in der „Mündigmachung“ der Massen, die größten Intellektuellen der Arbeiterbewegung wären nichts gewesen ohne die Bewegungen, aus denen sie als „organische“ hervorwuchsen. Lenin ohne das russische Proletariat ergibt auch nur einen Dietmar Dath. Klug, lesenswert, aber man wird dafür nicht sein Leben in die Wagschale werfen. Diese „Mündigmachung“ hieß nicht weniger, als die Selbstaufhebung der Proleten als geschundener Klasse, alle oder keiner, Hand in Hand, Seite an Seite. Um wie viel größer aber ist diese Idee als die des „Aufstiegs“ des Einzelnen auf der Karriereleiter aus Schädeln derer, die den Aufstieg nicht hinlegen konnten?

Die Kommunist:innen vergangener Tage wollten das ganz Große, den Aufbruch der Menschheit durch ihre organisierte, bewusste Selbstveränderung hin zum gelingenden Leben. Und davon ist – zumindest hierzulande – wenig übrig. Nur weil „Linkssein“ in diesem Land zu einer Karikatur verkommen ist, können sich die Ideologen des Bestehenden so treffend darüber lustig machen. Und nur auf dieser Leerstelle können Bücher wie Poschardts Mündig überhaupt gedeihen.

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Der frühere Direktor des Institute of Working Class History in Chicago, William A. Pelz, hat kurz vor seinem Tod ein englischsprachiges Manuskript zur Analyse der oft fast vergessenen Deutschen Revolution von 1918/1919 verfasst, welches 2018 bei Pluto Press unter dem Titel A People‘s History of the German Revolution herausgegeben wurde. Der Historiker untersucht die bewegenden Kriegsjahre 1914 bis 1918, die kleineren und größeren Aufstände und Streiks von gewöhnlichen Arbeiter_innen an der Front und zuhause, die zur Beendigung des Ersten Weltkrieges signifikant beitrugen, sowie die Ergebnisse des Jahres 1918, welche die Novemberrevolution in Teilen der deutschsprachigen Gebiete einläutete.

William A. Pelz, (1951-2017) war Geschichtsprofessor am Elgin Community College. In anschaulicher Weise erzählt Pelz auf knappen 180 Seiten anhand von Stimmen von Zeitzeug_innen, primär aus der Arbeiterklasse, wie sich die Ereignisse zutrugen und wer die treibenden Kräfte der Kämpfe zur Beedigung des Krieges und zum Aufbau von Sowjet-Gegenmacht waren.

Er beleuchtet dabei die weit verbreitete Arbeiterkultur, welche von der damaligen Sozialdemokratischen Partei (SPD) um die Jahrhundertwende offensiv aufgebaut worden war. In der SPD waren damals alle Sozialist_innen organsiert – reformorientierte sowie revolutionäre. Erst im Gefolge der 1914 bewilligten Kriegkredite und damit der Unterstützung des imperialistischen Krieges, kommt es um die Fraktion von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zur Spaltung. Zu dieser Zeit konnten Arbeiterfamilien ihre Einkäufe in einer sozialistischen Kooperative tätigen, sich Bücher aus der sozialdemokratischen Bücherei ausleihen, sich in einem Arbeitersportverein körperlich betätigen, in einem Arbeiterchor mit anderen Genoss:innen singen und vieles mehr. Diese Arbeiter-Gegenkultur entpuppte sich im Laufe der Kriegsjahre als zentral für die Verbreitung subversiver Pamphlete und der breiteren Organisierung gegen den Krieg und für eine deutsche Sowjetrepublik.

Mit viel Liebe zum Detail schildert Pelz, wie zum Beispiel eine junge Näherin ihrem Vater beim Schmuggeln von verbotener Literatur half und dann ein ganzes Jahr lang die gesamte Familie Marx‘ „Kapital“ laut las und bei der Heimarbeit diskutierte. Auch zeichnet Pelz eine kritische Geschichte der Massen in Deutschland bei Kriegsausbruch: Die in den Geschichtsbüchern viel zitierte Kriegsdemonstration von 50.000 in Berlin am 1. August 1914 stellt er den wenige Tage zuvor stattfindenden Anti-Kriegs-Demonstrationen mit bis zu 200.000 Teilnehmenden gegenüber. Im July 1914 sollen nach seriösen Quellen bis zu 1 000 000 in ganz Deutschland gegen den Krieg protestiert haben.

Pelz wird nicht müde, die elementare Führung der Frauen und der Jugend darzulegen: während der Großteil der Männer an die Front bestellt wurde, waren es die Frauen die Heim und Arbeit schmissen – sie waren diejenigen, die die Kinder groß zogen, draußen, in oft vor dem Krieg als rein ‚männlich‘ besetzten Industrien wie der Metallindustrie, Geld verdienen gingen, zu Hause gleichzeitig den Haushalt bewältigten und durch die ganze Stadt jagten, um etwas Essbares zu finden. Frauen waren die ersten, die bei Hungerprotesten Läden einrannten und alles Essbare einpackten. Frauen waren auch oft die Vorreiterinnen, die streikend die Beendigung des Krieges forderten. Diese Dynamiken beschreibt auch Dania Alasti fesselnd in Frauen der Novemberrevolution. Kontinuitäten des Vergessens, welches ebenfalls 2018 erschienen ist.

Pelz ermöglicht der Leserin verschiedene Einblicke in den Alltag und die alltäglichen Kämpfe der Arbeiterklasse während der Kriegsjahre – und weist auf die Radikalisierung der Frauen und der Jugend 1918 hin. Er begnügt sich aber nicht nur mit den Geschehnissen an der Heimatfront, sondern beleuchtet auch die Desillusionierung der deutschen Soldaten an der Kriegsfront. Aus Memoiren und Briefen rekonstruiert er ein Bild von teils sehr früh schon Befehle verweigernden Soldaten und glühenden Nationalisten, die im Zuge der Kämpfe mehr und mehr verstehen, dass dies nicht ihr Krieg, sondern lediglich der Krieg der Herrschenden ist. Diverse komisch anmutende Anekdoten über Fraternisierung von deutschen, französisch-algerischen und britischen Soldaten im Grabenkampf, zeigen ein komplexeres Bild der Alltäglichkeit im Krieg, wo sich Arbeiter und Arbeiter gegenüberstehen.

Die Monate und Tage der Novemberrevolution selbst lesen sich wie ein Krimi – die Euphorie der Massen, der Aufbau demokratischer Sowjetstrukturen, der Räte in Städten wie Kiel, Bremen, Hamburg, Berlin und München, die taktischen und strategischen Fehler der sich von der SPD abgespaltenen USPD und der neu gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands, sowie der letzendliche Verrat der SPD lassen mitfiebern und mitzittern, obwohl man das Ende der Geschichte bereits kennt.

Es sind vor allem die vielen Zitate einfacher Arbeiter:innen, die diese Erzählung so spannend und auch so emotional machen. Eine schöne, klassenkämpferische Einführung über ein, auch in Deutschland, wenig diskutiertes Kapitel unserer Widerstandsgeschichte.

Pelz, William A. (2018): A People‘s History of the German Revolution. Pluto Press- London, 180 Seiten, £16.99.

#Titelbild: wikimedia.commons

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Alles hat ein Ende, nur die Wursttheke hat zwei: Simon Loidl gelingt mit seinem Debütroman nicht nur der lustigste Ein- und Ausstieg eines Buchs seit langem. Es ist auch einfach gut und beleuchtet Zwang und Langeweile unserer Arbeitswelt. (mehr …)

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