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für Ferhat, Gökhan, Hamza, Said Nesar, 

Mercedes, Sedat, Kalojan, Vili und Fatih 

– für das Erinnern, um zu verändern.

Osman Oğuz

Es ist fünf Jahre her: Am 19. Februar 2020 erschoss ein Deutscher in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen. Auch wenn der Anschlag nicht aus heiterem Himmel kam und sich aus bereits bestehenden Widersprüchen speiste, war er für viele migrantische oder migrantisierte, allesamt rassifizierte Menschen in Deutschland eine Zäsur. Anknüpfend an die “Black Lives Matter”-Demonstrationen kam es zu einer kollektiven Empörung, die für viele junge Menschen der Beginn ihrer Politisierung war. Zehntausende gingen auf die Straße und es gab eine große politische und mediale Aufmerksamkeit, die heute kaum noch vorstellbar erscheint.

Zum Gedenken an Hanau gehört auch die Auseinandersetzung mit den Folgen: Was ist aus der großen Politisierung gegen Rassismus geworden? Was hat die unglaubliche, aber auch teilweise von Empörung getriebene Mobilisierung von Zehntausenden gebracht? Was haben die vielen Debatten über Rassismus bewirkt? Das sind die Fragen, um die sich dieser Text dreht.


Kritik des (links-)liberalen Antirassismus

Als Hanau geschah, lebten wir noch nicht in Deutschland der “Zeitenwende” – dafür waren Debatten um die Migrationsgesellschaft in vollem Gange, die Diversity-Konzepten erlebten eine Blütezeit: Die Zahl der neuen Projekte überstieg gefühlt die Zahl der neuen Start-ups. Trotz der Skepsis, die von Anfang an mitschwang, bot diese Entwicklung durchaus Chancen – zumindest in dem Sinne, dass Ungleichheiten zum Thema wurden, wenn auch oft auf falscher Grundlage: Die Hoffnung vieler bestand darin, dass diese etwas aufgeregte Debatte früher oder später doch zu grundlegenderen Fragen führen würde.

Eine Kritik an gängigen (links-)liberalen Antirassismusansätzen war, dass Rassismus nicht als Ergebnis individueller Vorurteile, fehlender Begegnungsräume oder “extremer” Radikalisierung am “Rand” der Gesellschaft verklärt werden dürfe, sondern als wichtiges Strukturmerkmal der gegebenen Gesellschaft(-sordnung) analysiert und an der Wurzel gepackt werden müsse. Kurzum, nach dieser Kritik, die zu jener Zeit von einer Handvoll antikapitalistischer Migrant:innen getragen wurde, dürfte Rassismus nicht auf Erfahrung reduziert werden. Der Antirassismus der liberalen Mitte, der dies tat, war zahnlos, weil er letztlich auf die (“buntere”) Aufrechterhaltung des Bestehenden zielte: des Bestehenden, das die desaströsen Zustände in den ausgebeuteten Peripherien, die Klimakatastrophe, die Stellvertreterkriege und letztlich Flucht verursacht. Rassistische Segregation diente dabei als ideologische Rechtfertigung dieser strukturellen Ungleichheiten, erfolgte also nicht zufällig, sondern systematisch. Nach der ersten, ambitionierten Offensive des Antirassismus war dies auch der entscheidende Riss in der Bewegung – ein Riss, dessen Folgen bis heute sichtbar sind.

Heute, fünf Jahre nach Hanau, ist für mich das größte Verdienst der jahrelangen Debatten: Immer mehr migrantische Bewegungen setzen nicht auf moralische Appelle, sondern auf antikapitalistische und verbindende Analysen. Sie begegnen rassistischer Segregation mit konkretem Wissen über Lebensrealitäten, statt sich in didaktischen “Diskursen” zu verlieren. Ihre Kritik zeigt: Rassismus ist eng verknüpft mit einer (neo-)liberalen, imperialen Lebensweise, die auch einen “Konkurrenzrassismus von unten” befördert.

(Neo-)Liberale aller Couleur scheuen sich (bei ihrer ganzen Sachlichkeit!) wirtschaftspolitische Ursachen von Reallohnverlusten oder Zukunftsängsten zu benennen – damit würden sie sich ja ins eigene Knie schießen. In der Folge verfestigen sich Feindbilder als Erklärungsmuster. Sie sind damit Teil eines Klassenkampfes von oben: Sie lenken berechtigte Proteste der Verarmten in rassistische Bahnen und halten migrantische Arbeitskräfte (“die guten Migranten”) in prekären Abhängigkeiten unter Kontrolle. Diese Dichotomie der Nützlichkeit des Rassismus durchzieht alle aktuellen migrationspolitischen Debatten und Maßnahmen, insbesondere die flüchtlingsfeindlichen.

Die Formulierungen des heutigen Rassismus, wie z.B. der AfD oder der CDU, zeigen auch, mit wem die Mehrheit der Migrant:innen, die arbeitenden oder auf der Suche nach Recht umherirrenden Massen, ihre Interessen wirklich teilt. Da dieses Land auf migrantische Arbeit nicht verzichten kann, können selbst Alice Weidel oder Friedrich Merz keine totale Feindschaft gegen migrantische/ausländische Mitbürger:innen betreiben. Stattdessen wird oft mit dem Begriff der Qualifizierung differenziert. Ihre Frage ist: Wer ist qualifiziert, in Deutschland zu leben? Aber was ist mit den Einheimischen, die ebenfalls durch dieses Raster fallen, die sich (meist aufgrund ihrer eigenen ungünstigen Lebensumstände) irgendwelchen bürgerlichen Butzemännern wie “parasitärer” Kriminalität oder totalem Versagen zugewandt haben, den Dämonen des heilen Lebens? Sind sie qualifiziert, in einem solchen Deutschland zu leben? War es nicht gerade ein Zeichen dieser mitschwingenden Frage, was in der Debatte um die Bezahlkarte für Asylsuchende geschah, als schnell vorgeschlagen wurde, diese (geniale!) Maßnahme auch für Langzeitarbeitslose oder gar alle Bürgergeldempfänger:innen einzuführen? 

Der heute aufblühende radikale Antirassismus steht vor der Aufgabe, genau dies aufzudecken: Wenn Antirassismus Aufklärung braucht, dann sollte das der Inhalt dieser Aufklärung sein, statt unablässig “individuelle” Schuldzuweisungen zu erteilen. Eine organisierbare, gemeinsame Einsicht in die strukturellen Zusammenhänge ist längst überfällig, muss aber angestoßen werden, wie es derzeit viele Menschen vor den Haustüren tun: Mit anderen kann man sich solidarisieren oder sie kritisieren, aber mit sich selbst fängt man an.

Welche Migrationsgesellschaft?

Der Begriff Migrationsgesellschaft gehört zum Standardvokabular der Politisierung nach Hanau. Er ist aber (noch) kein feststehender Begriff, sondern eine Projektionsfläche für unterschiedliche Visionen und Interessen.

Für die einen bedeutet Migrationsgesellschaft das (“endlich”) Deutschwerden gut integrierter oder wirtschaftlich nützlicher Migrant:innen – eine Vision, die auch in Teilen migrantischer Communities reproduziert wird, wenn Anerkennung primär über Anpassung gesucht wird und sich auf den Anspruch konzentriert, als Deutsche akzeptiert zu werden. Andere verstehen darunter eine utopische Offenheit: Migration, insbesondere Fluchtmigration, gilt ihnen als unvermeidliche Realität einer nicht mehr strukturell veränderbaren Welt, die nicht verhindert, sondern als Bewegung in Richtung globaler Gerechtigkeit anerkannt werden sollte. Wieder andere bekennen sich gegen Rassismus und für eine vielfältige Migrationsgesellschaft, während sie jenseits nationaler Grenzen jeden schmutzigen Deal eingehen, um Geflüchtete auf Gedeih und Verderb abzuwehren. Die einen entpolitisieren (Flucht-)Migration, indem sie sie nicht als Folge eines zu behebenden Zustandes, sondern als Zustand an sich begreifen, den es schnell an bestehende Verhältnisse anzupassen gilt. Andere hingegen sehen in der Idee der Migrationsgesellschaft einen Ausgangspunkt für eine kollektive Identität der gemeinsamen Kämpfe von/um morgen zur Überwindung von bestehenden Verhältnissen.

Als Hanau geschah, war die Hoffnung noch viel stärker, dass sich die deutsche Identität auf der Grundlage neuer gesellschaftlicher Realitäten und Bedürfnisse und ohne einen grundsätzlichen Wandel schnell demokratisieren ließe. Diese Annahme beruhte auf der Tatsache, dass Deutschland inzwischen (ob man will oder nicht) eine Migrationsgesellschaft ist und dass Migration auch ökonomisch eine unverzichtbare Ressource für den Erhalt und Ausbau des Wohlstands darstellt. Zudem versprach die “Diversity-Welle” auch in anderen Zentren eine gesellschaftliche Erneuerung im Sinne der neoliberalen Globalisierung: Eine fortgeschrittene Gesellschaft sollte aussehen wie ein transnationales Unternehmen. Es war erkennbar, dass auch der Staat bestrebt war, mehr Migrant:innen einzubürgern und mehr migrantische Menschen, wenn auch eher in untergeordneten Positionen, in staatliche Institutionen zu integrieren.

Die Annahmen waren nicht falsch und der Prozess bot, wie gesagt, tatsächlich eine wertvolle Akkumulation, aber der falsche Optimismus war damals noch ein großes Problem: Der größte Trugschluss vieler Gutmeinender war vielleicht, dass sie sich die Migrationsgesellschaft als notwendigerweise demokratischer und egalitärer vorstellten und dies zu einem wichtigen Aspekt ihres bestehenden Bündnisses mit dem (Wirtschafts-)Liberalismus machten. Diese Haltung führte dazu, dass viele linke Bewegungen, die zwar programmatisch immer noch antikapitalistisch waren, dies aber im “Diskurs” nicht “repräsentierten”, noch mehr an Glaubwürdigkeit bei den breiten Massen verloren haben. Heute ist die liberale Mitte sehr schnell sehr viel rechter und sehr viel autoritärer geworden, während die Linke überall ihre Verbindungen zu den Ärmsten verloren hat. Dadurch wird immer deutlicher, dass auch das “antifaschistische Minimum” dieser “linksradikalen” Strömungen, das die Grundlagen des “Tanzes mit dem Teufel” definiert, in eine Sackgasse geführt hat.

Diese jahrzehntelange Entwicklung hat im Falle des antirassistischen Kampfes dazu geführt, dass wir es heute mit einer Situation zu tun haben, in der der “Aktivismus” über die im Durchschnitt ärmste Gesellschaftsgruppe kaum Ansätze von Arbeitskämpfen enthält: Das Wort der Migrant:innen und Geflüchteten wird weitgehend von (klein-)bürgerlichen “Influencern” und staatlich geförderten “Antirassismus-Trainer:innen” in Anspruch genommen. Ob einige von ihnen sich ein Deutschland wünschen, für das auch sie zu den Waffen greifen können, oder ob sie den Status quo in Deutschland als Teil der Ursache von Rassismus angreifen wollen, bleibt bestenfalls unklar, da die strukturelle Verantwortung Deutschlands als globale ökonomische und politische Macht häufig ausgeblendet oder zum Nischenthema gemacht wird: Es geht dem (neo-)liberalen Antirassismus um die Verteilung von Repräsentation und zum Teil von Ressourcen hierzulande, egal auf welchen Wegen sie kommen und welches Leid sie verursachen. So bleibt die Basis des Rassismus unangetastet, während seine vermeintliche Bekämpfung durch die Gegend schwirrt.

Migrantifa Berlin als eine der treibenden Kräfte der Hanau-Mobilisierung meinte mit ihrem Slogan zum ersten Jahrestag wohl genau eine Absage an diese Verblendung: “Kein Stück vom Kuchen, Baklava für alle!” Hier liegt also einer der nächsten Risse in der Bewegung nach Hanau.

Aus Rissen lernen

Es gibt natürlich noch viele andere Risse in der Bewegung, die nach Hanau entstanden ist, und diese Risse werden durch die nach dem jüngsten Ausbruch der völkermörderischen Gewalt Israels in Palästina noch verstärkt. Aber das ist nicht unbedingt schlecht: In der heutigen Zeit des berechtigten Pessimismus angesichts globaler Krisen und politischer Verschiebungen nach rechts können gerade diese Risse Orientierung bieten. Sie zeigen, wo Bewegungen langfristig scheitern, aber auch, wo neue Potenziale entstehen. Die Kämpfe für ein erneuertes Wir auf der Grundlage einer Zukunftsvision als gerechte Migrationsgesellschaft können eine “Poesie von morgen” bieten – sie müssen allerdings erst von liberal-konservativen, fatalistisch-progressiven und populistischen Verklärungen befreit werden.

Die Hoffnung liegt in der unermüdlichen Arbeit vieler Menschen, unterstützt von migrantischen Kräften, die von Tür zu Tür gehen und eine Alternative in der Suche aufbauen. Sie gehen dorthin, wo die Diversität am größten ist und das Teilen gemeinsamer Bedingungen und Interessen mit einschließt. Gleichzeitig experimentieren sie suchend nach einer Antwort auf die Frage, ob es möglich ist, ein Bündnis zwischen Verarmten und Verdammten zu schmieden: Ist es überhaupt möglich, sie davon abzuhalten, sich in der Enge der Unmöglichkeit, in der Welt des schicksalhaft gewordenen Kapitalismus gegeneinander aufzuhetzen, auch weil dies die einzig realistische Konkurrenz zu sein scheint?

Wenn wir den Ermordeten von Hanau und aller rassistischen Gewalt etwas schuldig sind, dann ist es der Kampf gegen die Grundlagen, auf denen mörderischer Rassismus gedeiht. Hanau zeigt uns: Verlässliche Verbündete sind nicht die Minister:innen und ihresgleichen, die nach jedem Anschlag bloße Betroffenheit inszenieren und dann weiter abschieben, sondern diejenigen, mit denen migrantische Communities reale, geteilte Interessen verbinden. Diese Sichtweise impliziert eine Aufgabe für alle und in erster Linie für die migrantischen Bewegungen: Wenn die “objektiven” Verbündeten gegen Rassismus nicht durch die (Ko-)Arbeit der migrantischen Kräfte gewonnen werden, werden sie zunehmend von denen eingebunden, die sie als Ressource eines autoritären (Arbeits-)Regimes festhalten. 


Ist noch Zeit? Finden die Bemühungen um eine neue Einordnung der Krisen und Katastrophen, um eine demokratische Perspektive für ein gerechtes Morgen noch einen Weg unter dem gegenwärtigen Triumph von Autoritarismus und (zeitgenössischem) Faschismus? Haben sie eine Chance in Zeiten von Angstmanagement, verrohter Moral und unüberwindbar scheinender Individualisierung? Das wird sich heute wohl nicht zeigen und schon gar nicht (oder hoffentlich nicht?) von selbst. Der alte Grundsatz muss aber nicht neu bewiesen werden: „Ein Volk, das andere unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren.”

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Mordende und um sich schlagende Nazi-Skins in den 90ern – darüber wurde doch schon alles gesagt, höre ich Euch bei dieser Headline sagen, oder?

Es wurde viel gesagt, das stimmt. Aber so vieles schlummert noch in den Köpfen. In den Köpfen der Opfer, in den Köpfen der Angehörigen, in den Köpfen von uns Zeug*innen und hoffentlich auch in den Köpfen der Mörder*innen, die oft nur eine milde Haftstrafe bekamen oder einfach so davon kamen.

Mich bewegt diese Zeit auch noch 30 Jahre später. Deswegen möchte ich Euch meine Geschichte erzählen.

Mein Baseballschlägerjahr spielte sich eigentlich erst 1995 ab, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, als Mutti und ich an einem Sommertag 1992 mit unserem Ford Fiesta in unseren Schrebergarten nach Lichtenstein/Sachsen fuhren. Ich wuchs in Westsachsen auf – zwischen Chemnitz und Zwickau – dem Sumpf in dem der NSU entstand. Ich war damals 14 und mein kleiner Bruder war 5 und nahm an diesem Tag auf dem Rücksitz Platz. Papa war nicht dabei und ich durfte den Beifahrer mimen.

An der Eisenbahnunterführung in Sankt Egidien fuhr unser Auto direkt in einen wütenden Mob grüner Bomberjacken und Mutti ging hart auf die Eisen. Es waren bestimmt 50 Boneheads mit Baseballschlägern. Ich wusste zwar um die Existenz dieser Nazisubkultur, die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock Lichtenhagen waren präsent – aber in der Nähe unseres Dorfes? Mutti wurde sichtlich nervös, das merkte ich sofort. Wir bekamen Beachtung und ernteten böse Blicke, da Mutti, wie gesagt, beinahe in den Mob gebrettert war. Ich hatte Angst, checkte aber, dass deren tatsächliche Wut nicht uns galt, sondern wem anders. Ich löcherte Mutti den Rest des Tages mit Fragen. Sie antwortete, dass es in Sankt Egidien ein „Asylantenheim“ in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs gab und dass scheinbar Nazis aus dem Umland mit dem Zug kamen, um das Camp anzugreifen. Sankt Egidien nahm damals Bürgerkriegsflüchtende aus dem ehemaligen Jugoslawien auf. Es kann sein, dass die Lokalzeitung „Freie Presse“ am Montag darauf in einer Randnotiz über den Überfall berichtete.

Wenige Monate später entdeckte ich Punk als Subkultur und begann mich darin zu verlieben. Meine Anwesenheit im Leipziger „Conne Island“ lehrte mich, dass es auch RASH und SHARPS in der Skinhead-Bewegung gab. Ich kleidete mich der linken Subkultur entsprechend. Ich sog Hardcore-Musik und Deutschpunk auf. In unserer Dorfdisko in Falken bekamen Freunde regelmäßig von Zwickauer Nazihools auf die Fresse, lagen zusammengeschlagen im Dorfbach und entkamen nur knapp dem Tod. Ich bekam auf dem Limbacher Stadtparkfest von der „Legion88“ „lediglich“ ’ne Ohrfeige. Irgendwie hatte ich immer Glück.

Ich lernte das „Café Taktlos“ in Glauchau und die „Alte Schule“ in Kändler mit den Punx vom „Autonomen Brenn-Kommando“ kennen. Westsächsische „Antifa-Brutstätten“ – direkt neben HooNaRa-Chemnitz (Hooligans-Nazis-Rassisten, die in sämtlichen Großraumdiskotheken als Firma „Haller Security“ Bouncer stehen hatten, oder das Pressefest der „Freien Presse“ sicherten. In den späteren 90ern dann gewährten sie dem NSU-Trio Unterschlupf) und der „Glatzenhochburg“ Meerane. Dieses Wort stand da jahrelang über dem Ortseingangsschild. Es gab Gerüchte, dass die Meeraner Faschos einen verrückten Blood & Honour Typen namens Billy aus UK bei sich hatten, der in der Nazidisco Remse immer mit Machete bewaffnet war.

Ich bewunderte den Mut von meinen Antifakumpels „Abbas“, „Fanta“ und „Van Gogh“ aus diesen Brutstätten. Ich ziehe noch heute meinen Hut vor ihnen, denn sie retteten Leben. Was Nazigewalt in dieser Zeit betrifft war man auf sich gestellt. Es gab keine Cops -vor allem nicht im sächsischen Hinterland. In der Übergangszeit 1990 bis 1992 gab es zwar noch den ein oder anderen ex-Abschnittsbevollmächtigten (ABV), der mit neuer Cop-Uniform auf altem Schwalben-Moped tagsüber für Sicherheit sorgte, aber sonst gab es nix.

In Städten wie Penig oder Chemnitz wurden bei RAC-Konzerten („Rock against Communism“) schon damals Gelder für den „Nationalsozialistischen Untergrund“ generiert, so wissen wir jetzt. Im beschaulichen Waldenburg fanden in den Wäldern Wehrsport-Übungen für Nazis statt. „Manole“ (Ralf Marschner) aus Zwickau spitzelte für den Verfassungsschutz und war Arbeitgeber für Mundlos und Zschäpe. Bandmitglieder von Nazibands wie Bomber tauchten auf unseren Konzerten auf. Es gab Diskussionen, Handgemenge und immer wieder auf die Fresse. Irgendwie ertrugen wir das alles. Wer Arsch in der Hose hatte, teilte aus.

Der 25. Mai 1995 aber war härter, traumatisierender und prägender. Es war einer „dieser 90er-Jahre-Männertage“ (Christi Himmelfahrt). Eigentlich wussten „wir“, dass wir bspw. Badestätten an diesem Sauf- und Rüpeltag mit garantierter Faschoglatzen-Präsenz meiden sollten. Aber das Wetter an dem Tag war so schön, dass auch ich mit meinen Hiphop-Kumpels auf einer Decke am Strand des Stausee Oberwald saß. Aus den Boxen lief leise 2Pac, die Birken blühten, ein warmer Wind wehte, die Sonne schien. Um uns herum waren Dutzend weitere Decken und glückliche Gesichter so weit das Auge reichte. Einige gingen baden. Wir alle kannten irgendwie einander. Fast unsere gesamte Schulklasse war auf diversen Decken verstreut. Es wurde laut gelacht.

Dann gegen Mittag gab es diesen Moment, den ich heute noch glasklar vor Augen habe. Wir saßen nicht weit von der Promenade entfernt und auf selbiger erblickte ich circa 30 Meter entfernt einen Typen mit Ganzkörper-Badeanzug in schwarz-weiß-rot und 20-Loch Doc Martens. Die Glatze spiegelglatt, eher muskelbepackt. Einen Baseballschläger in der Rechten. Er hatte locker ein Dutzend weitere Typen mit Baseballschlägern um sich herum. Sie schlenderten nicht, sondern gingen eher straight. Irgendwie schienen sie ein Ziel vor Augen zu haben. Um uns war es binnen zwei Sekunden totenstill. Wir vernahmen kein Windwehen mehr, 2Pac hörte auf mit Rappen. Das Lachen aller verstummte. Die Blicke aller auf den Decken Anwesenden wandten sich in Richtung Schlägertrupp. Alle ahnten, was uns blühen könnte.

Vorne an der Spitze ging ein weitaus jüngerer Typ und aus ihm schoss es auf sächsisch raus „Der wor’s!“. Er deutete mit seinem Zeigefinger auf eine Clique von circa drei Typen, die unweit von uns auf einer Decke saßen. Dann ging alles ganz schnell und das Dutzend rannte die verbliebenen 10 Meter auf selbige Clique zu.

Die Baseballschläger zeigten in Richtung Himmel. Ich erinnere mich nur noch, dass einer aus dem Dutzend in unsere Richtung rannte und uns wegscheuchte mit den Worten „Haut ab – hier gibt’s nüscht zu sehn!“. Im Nachhinein fiel mir auf, dass er so verdammt souverän war. Er lachte sogar irgendwie verschmitzt. Er hatte Null Panik. Er sah die Angst in unseren Augen -da bin ich mir sicher. Er machte dies auf alle Fälle nicht zum ersten Mal.

Meine Freund*innen und ich rannten in verschiedene Richtungen und von dem Zeitpunkt an erinnere ich mich an gar nichts mehr. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin oder was ich in den nächsten Tagen erlebt habe.

Aus der angegriffenen Clique überlebte Peter T. diese Attacke nicht. Er wurde 24 Jahre alt, starb wenig später im Krankenhaus und hinterließ eine Partnerin und das gemeinsame Baby.

Peter wurde ermordet.

Wie wir später erfuhren, war er ein eher unpolitischer Typ und hatte wohl am Morgen „lediglich“ Zivilcourage gezeigt, als dieser erwähnte jüngere Typ Teppichhändler*innen mit Migrationsgeschichte auf der Promenade beschimpfte. Diese Widerworte wollte sich die Jungglatze wohl nicht gefallen lassen und holte wenige Stunden später Verstärkung.

Ich fahre heute noch an diesen Tatort und ich gedenke Peter. Es gibt keine Gedenktafel, aber viele Jahre später wurde der Mord von der Bundesregierung als „Todesopfer rechtsextremer Gewalt“ anerkannt.

Die Zeug*innen-Vernehmung in der Bullenwache Hohenstein-Ernstthal dauerte viele Monate. Wir waren locker über 150. Ich erinnere mich daran, dass ich mich durch eine Fotomappe von circa 100 Glatzen wälzte. Ich meinte, mich an die Schlägervisage des Badeanzug-Skins zu erinnern und so wurde ich dann als Zeuge zur Verhandlung geladen. Diese fand erst ein knappes Jahr später statt. Da es so viele Angeklagte mit Pflichtverteidiger*innen gab, fand die Verhandlung im Polizeikino Chemnitz statt. Unter den Angeklagte waren viele, die ich aus Antifarecherche kannte. Viele davon aus der „Glatzenhochburg“ Meerane. Viele meiner Freund*innen sagten auch aus. Keine*r von uns hatte gesehen, wer den letztendlich tödlichen Baseballkeulenschlag ausübte. Wir wurden trotzdem geladen.

Die Gerichtsdienerin bat mich bei Betreten des Gerichtssaals mein Basecap abzunehmen. Ich wollte meine Dreadlocks verstecken, um nicht als Zecke wahrgenommen werden. Ich hatte Angst. Unmittelbar neben mir saß UK Billy auf der Anklagebank. Er musste es sein. Er hatte diese Tattoos, die damals keine Kartoffel haben konnte.

Meine Anschrift wurde vom Richter verlesen. Sämtliche Anwält*innen schrieben mit. Ich hatte noch mehr Angst. Ich musste frontal auf der Kinobühne Patz nehmen, da ich bei meiner früheren Aussage ja zu Protokoll gegeben hatte, einen erkannt zu haben. Vor mir bauten sich nach und nach alle Angeklagten auf. Ich traute mich nicht, ihnen in die Augen zu schauen. Ich hatte unbeschreibliche Angst. Es zog sich über 15 Minuten. Ich erkannte niemanden, auch nicht den Badeanzug-Fascho. Der Richter entließ mich aus dem Zeug*innenstand. Mir zitterten die Knie. Da ich der letzte Zeuge vor der Mittagspause war, gab er noch durch das Mikro bekannt, dass jetzt 30 Minuten Mittagspause anstehe und die Verhandlung unterbrochen sei.

Alle standen zeitgleich auf und steuerten die einzige Ausgangstür an. Sie schienen Hunger zu haben. Ich suchte nach der Gerichtsdienerin. Ich bildete mir wahrscheinlich ein, dass sie in dem Moment meine Bezugsperson sei. Ich wusste nicht, was ich jetzt machen soll. Ich war wie gelähmt. Ich fragte eine random sächsisch-Person im Raum, was ich machen soll: „Nu mir ham jetze Mittogspause. Gehn könn se. Uff wiedorsehn“. Dann ging ich durch diese Ausgangstür und direkt davor fand ich mich inmitten des Mobs wieder. Sie umringten einen Bauchladen-Bockwurstmann. Kein Scheiß! Einer der Boneheads klopfte mir auf die Schulter und flüsterte leise „Gut gemocht Kleenor!“ in meine Richtung. Ich ging zu meinem Auto und weinte.

Billy musste drei Jahre und 10 Monate ins Gefängnis. Er hatte scheinbar Vorstrafen. Alle anderen wurden freigesprochen. Es wurde natürlich nicht ermittelt, wer den tödlichen Schlag verpasste. Eine damals angeklagte Person ist heute in der „Glatzenhochburg“ ein angesehener Mensch in der Zivilgesellschaft, so wurde mir zugetragen. Viele wissen um seine Vergangenheit. Er sei ein guter Arbeitgeber. Ich hoffe, dass auch er sich an den „Männertag 1995“ so glasklar erinnert wie meine Freund*innen und ich.

Auf einem Klassentreffen 2022 erzählten wir Zeug*innen einander unsere Wahrnehmung 30 Jahre nach dem Vorfall und es tat so gut zu reden. Eine Freundin sagte mir, dass sie jedes Mal, wenn sie das Kind von Peter sieht, an diesen Tag erinnert wird. Ich hoffe, dass Ihr Eure Wahrnehmung auch ein bisschen in meinen Zeilen wiederfindet? Denn ich habe diese Zeilen auch für Euch geschrieben.

Ruhe in Frieden Peter!

Hupe (Februar 2023)

# Titelbild: Del Zomber

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Seit knapp zwei Monaten greift der faschistische türkische Staat wieder großflächig Gebiete in Rojava an. Diese erneute militärische Operation mit dem Namen „Klauenschwert“ zeichnet sich dabei vor allem durch wahllose Angriffe auf zivile Infrastruktur aus, der revolutionäre Geist Rojavas soll mit allen Mitteln des Spezialkrieges gebrochen werden. Drohnen-Attentate, Flugzeugangriffe und Großflächenbombardements sind in Rojava unlängst wieder zum Alltag geworden. Überdies hat Erdoğan mehrmals mit einer Bodenoffensive bis tief in die Gebiete der Autonomen Selbstverwaltung gedroht. Wir haben mit Kämpferinnen von YPJ-International über ihre Einschätzung der Lage, ihre Gründe vor Ort zu sein und ihren Appell an uns Linke in Deutschland gesprochen. YPJ-International ist eine Einheit aus Frauen und umfasst internationalistische Freiwillige aus verschiedenen Ländern der Welt und ist strukturell an die vielfältigen Verteidigungseinheiten Rojavas angebunden. Das Interview entstand im Dezember 2022.

Warum habt ihr euch entschieden, Teil von YPJ-International zu werden? Werdet ihr auch in Zukunft dort bleiben?

Zunächst wollen wir euch erst einmal für euer Interesse und eure Fragen danken. Es ist wichtig, insbesondere in Zeiten des intensivierten Angriffs miteinander im Austausch zu bleiben und internationalistische Perspektiven aufzubauen.
Die Gründe, sich den Frauenverteidigungseinheiten YPJ anzuschließen, sind vielfältig und oft auch mit persönlichen Erfahrungen verknüpft. Dennoch lässt sich feststellen, dass viele von uns mit dem Leben innerhalb der durch Kapitalismus, Patriarchat und Staat zersetzten Gesellschaft nicht mehr einverstanden waren. In unserer Suche nach Alternativen schien uns die Revolution in Rojava Antworten zu bieten. Viele von uns haben bereits vorher die Analysen von Abdullah Öcalan gelesen und wollten an den Ort, wo nach seinen Ideen eine Revolution entsteht. Insbesondere als Frau liegt es oft nicht nahe sich einer bewaffneten Einheit anzuschließen. Zu groß die Zweifel am eigenen Können, zu fremd das Bild der kämpfenden Frau – auch wenn wir es mit Bewunderung auf Fotos wahrnehmen. Doch wir haben den Schritt gewagt und keine von uns hat ihn bisher bereut. Im Gegenteil, wir lernen uns selbst, die Revolution und den Befreiungskampf der Frauen täglich besser kennen und sind ein Teil davon geworden. Es ist wichtig zu verstehen, dass wir nicht in erster Linie hier sind, weil die Verteidigungseinheiten auf unsere Unterstützung angewiesen wären. Wir sind hier, weil wir ein Teil der Revolution, ein Teil der Antwort auf den faschistischen Angriff und ein Teil der Hoffnung auf eine freie Welt sein wollen. Einige von uns werden irgendwann in ihre Heimat zurückkehren und dort weiter für die Revolution kämpfen, doch aktuell sehen wir uns einer Offensive entgegen, die keine von uns ans Zurückkehren denken lässt. Wir haben dafür trainiert und uns vorbereitet, an der Seite der Freund*innen, Genoss*innen und der Menschen Nord- und Ostsyriens gegen den türkischen Faschismus Widerstand zu leisten.

Wie bewältigt ihr euren Alltag, euer Leben in der Gemeinschaft in der aktuellen Situation? Hat sich etwas grundlegend verändert? Wie ist eure Stimmung?

Der türkische Staat greift insbesondere die Infrastruktur, also Gas-, Strom-, Wasser- und Kraftstoffanlagen an. Das wirkt sich auf alle, die hier in Nord- und Ostsyrien leben, aus. Als militärische Einheit sind wir auf eine mögliche Bodeninvasion vorbereitet. Es war seit langer Zeit davon auszugehen, dass wir uns eines Tages erneuten Invasionsbestrebungen gegenüber sehen werden und die Revolution verteidigen müssen. Wir müssen jedoch feststellen, dass Rojava auch vor dem 19. November im Kriegszustand war, wenn auch in einem Krieg niederer Intensität. Einige Freundinnen sind nun an die Front gegangen, andere konzentrieren sich auf medizinische Notversorgung oder Pressearbeiten. In einer Situation wie dieser steigt natürlich das Arbeitslevel nochmal an und es entsteht auch mal Stress. Aber durch unsere Prinzipien und eine gemeinsame Planung und Bewältigung des Alltags können wir uns immer gegenseitig unterstützen und aufeinander achten. Die Stimmung ist kämpferisch.


Was bereitet euch am meisten Sorge und was sind eure Ängste? Was gibt euch Hoffnung und Moral?

Niemand von uns will Krieg, denn Krieg bedeutet immer Leiden, insbesondere für die Bevölkerung. Doch im Falle eines Angriffes, wie diesem, sind wir bereit die Revolution und die befreiten Gebiete zu verteidigen – bis zum letzten Blutstropfen. Wir können auf unsere eigene Stärke und ebenso auf die Freundinnen neben uns vertrauen. Das gibt uns Mut. Hoffnung ist kein sich ohne dein Zutun einstellender Zustand. Hoffnung ist immer eine Entscheidung. Solange wir also hoffen, solange kämpfen wir und solange lassen wir nicht zu, dass das faschistische System Angst in unseren Herzen sät. Das System des Nationalstaats hat uns gelehrt, dass es keine Alternative gäbe und dass wir nichts an all dem Leid, der Gewalt und Unterdrückung ändern könnten. Also ist Hoffnung auch Widerstand gegen eine Lüge, die dir Fesseln anlegt und dich zum Stillstand bringt.

Wie schätzt ihr die aktuelle Lage vor Ort ein und die Androhung des türkisch-faschistischen Staates von einem erneuten Einsatz von Bodentruppen? Denkt ihr, dass es dieses Mal um den Fortbestand oder die Zerschlagung der Revolution geht?

Wir nehmen die Androhung einer erneuten Invasion durchaus ernst und bereiten uns darauf vor. Die Angriffe des türkischen Staates sind nicht als bloße Landbesetzungsversuche zu werten. Es geht um einen Genozid, um die Vernichtung des kurdischen Volkes sowie all der Menschen, die hier in Frieden und Freiheit nach dem Paradigma des demokratischen Konföderalismus leben wollen. Wir befinden uns in einer Phase des Kampfes um das Sein oder Nicht-Sein. Nachdem Erdoğan in den Bergen Kurdistans empfindliche Rückschläge erlitt, scheint er es nun erneut in Rojava probieren zu wollen. Es gibt für ihn nur die Möglichkeit des Krieges, eine andere Lösung käme ebenso seiner Vernichtung gleich wie eine militärische Niederlage. Der heldenhafte Widerstand der Freundinnen und Freunde in den Bergen Kurdistans hat ihn noch mehr in die Enge getrieben. Die vielfältigen grausamen und völkerrechtswidrigen Mittel, zu denen er vergeblich greift, um den Widerstand zu brechen, zeigen wozu er bereit ist. In Nord- und Ostsyrien greift der türkische Staat insbesondere auf islamistische Schläferzellen und Söldnertruppen zurück. Damit verfolgt er die Strategie, die Revolution an möglichst vielen Fronten anzugreifen und zu schwächen. Es wurden in den letzten Wochen sowohl gezielt Sicherheitskräfte, die für die Bewachung IS-Gefangener zuständig waren, bombardiert als auch sogenannte IS-Schläferzellen aktiviert.

Wie schätzt ihr die Drohnenangriffe auf Vertreter*innen der Internationalen Anti-IS Koalition und die ausbleibenden Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft ein?

Es ist nicht möglich für den türkischen Staat in den syrischen Luftraum einzudringen, ohne dass die Koalitionsmächte und Russland davon erfahren. Die Angriffe waren abgesprochen und zielten darauf, unsere Kräfte vor Ort zu treffen. Gerade hier zeigt sich das Gesicht unseres wahren Feindes – des Systems des kapitalistischen, imperialistischen Nationalstaats. Die Türkei ist ein wichtiger Teil dieses Systems, wohingegen die Revolution eine Bedrohung für dieses darstellt. Dementsprechend wollen wir nicht auf direkte Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft bauen. Doch sollte der Welt bewusst sein, dass mit den Angriffen des türkischen Staates auch der weltweit gefürchtete Islamische Staat, der durch unsere Verteidigungseinheiten besiegt wurde, wieder erstarkt. Immer noch sind zehntausende IS-Terroristen und Terroristinnen in unseren Händen, unter ihnen auch Tausende aus Europa und den USA. Eine unserer Missionen gegen Untergrundbewegungen des IS mussten wir bereits auf Grund der Angriffe stoppen. Sollte die Situation sich zuspitzen, wird es immer schwerer werden all die Gefangenen sicher zu verwahren.

Wie bewertet ihr die Aussage der deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD), fest an der Seite der Türkei im „Kampf gegen Terrorismus“ zu stehen und die Rolle Deutschlands im Krieg gegen die Revolution von Rojava generell?

Der deutsche Staat und der türkische Staat sind historisch eng miteinander verbunden. Die beiden Staaten verfügten immer über weitgehende diplomatische, wirtschaftliche, militärische aber auch ideelle Verbindungen. Das türkische Militär wurde maßgeblich durch deutsche Soldaten ausgebildet und die Waffenindustrie mit deutscher Unterstützung aufgebaut. Mustafa Kemal Atatürk galt Hitler als großes Vorbild. Der Aufstand von Dersim 1937 wurde durch deutsches Giftgas niedergeschlagen. Heute wird Cyanwasserstoff (Blausäure, Anmerk. d. R.) gegen die Guerilla eingesetzt. In Deutschland ist diese Chemikalie besser bekannt unter dem Namen Zyklon B. Auch in dem Kampf gegen das kurdische Volk und die Befreiungsphilosophie Öcalans stand die BRD immer an der Seite des türkischen Staates. Als Innenministerin erhält die Sozialdemokratin Nancy Faeser eine Politik der Verfolgung und Kriminalisierung kurdischer und internationalistischer Kämpfe aufrecht. Die Arbeiterpartei PKK und ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan werden als terroristisch eingestuft. Die Solidaritätsbewegung Rojavas als auch Gruppen, die das System des demokratischen Konföderalismus als ihre Grundlage betrachten, werden Repressalien ausgesetzt. Der erste Bericht der Tagesschau zu den türkischen Angriffen war mit Aufnahmen aus dem türkischen Verteidigungsministerium gespickt. Dabei wurde gezeigt, wie Drohnen 12 Zivilist*innen ermordeten. Kurzum: Machen wir uns nichts vor, der türkische und der deutsche Staat bilden eine Einheit und sind Feinde unserer Befreiungskämpfe. Doch umso mehr müssen wir uns bewusst werden, dass auch die revolutionären und widerständigen Kämpfe der kurdischen und türkischen Menschen mit denen in Deutschland verbunden sind. Nur wenn wir unsere Bewegung als eine gemeinsame internationalistische Revolution begreifen, können wir uns erfolgreich wehren.

Wie beurteilt ihr die aktuelle Kriegssituation hinsichtlich der Angriffe und des Widerstands in Rojhlat (Ostkurdistan) und dem Iran?

Der Widerstand in Rojhilat und dem Iran zeigt uns, dass die Revolution der Frauen im 21. Jahrhundert nicht mehr aufzuhalten ist. Dass der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ dabei weltweit an Stärke gewann und Frauen dazu ermutigte gegen ihre Fesseln anzukämpfen, zeigt erneut, dass die Revolution in Kurdistan nicht nur für das kurdische Volk oder den Mittleren Osten eine entscheidende Rolle einnimmt. Diese Revolution ist eine Internationalistische, was bedeutet, dass ihre Philosophie auf der gesamten Welt Perspektiven auf eine Befreiung von Unterdrückung ermöglicht.

Nehmt ihr einen Unterschied in der Motivation/ Kraft/ Moral der Bewegung wahr im Vergleich zu 20152018 oder 2019?

Nach dem Besatzungsangriff gegen Serêkaniyê und Gire Spî intensivierte der türkische Staat Drohnenangriffe, die gezielt führende Personen der Revolution töteten. Allein in diesem Jahr sind mindestens acht YPJ-Kämpferinnen, darunter erfahrende Kommandantinnen, im Kampf gegen den IS durch Drohnenangriffe getötet worden. Außerdem wurden wichtige Vertrauenspersonen, Politiker*innen und Menschen mit gesellschaftlichen Aufgaben aus den zivilen Gebieten gezielt exekutiert. Erdoğan will der Gesellschaft dadurch gezielt ihre Vorreiter*innen nehmen. Die Ausweitung der angewandten Kriegsmethoden macht sich bemerkbar. Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren mussten wir uns auf die neue Art der Angriffe einstellen und dementsprechend andere Vorkehrungen treffen. Was dem türkischen Staat jedoch bis heute nicht gelungen ist, ist mit diesen Methoden die Bevölkerung von der Revolution zu entfernen. Im Gegenteil, als die Angriffe seit dem 19. November intensiviert wurden, sind viele ehemalige YPG- und YPJ-Kämpferinnen, die aus unterschiedlichen Gründen die militärischen Einheiten verlassen hatten, wieder zurückgekommen. Das politische Verständnis innerhalb der Bevölkerung über das Ziel dieser Methoden, ist sehr hoch und noch höher ist die Entschlossenheit, sie ins Leere laufen zu lassen. Der Fortschritt in der Organisierung der Zivilgesellschaft, im Vergleich zu den Jahren zuvor, ist spürbar. Kommunen, Räte, Initiativen und Vereine geben täglich Erklärungen ab, die ihre Verbundenheit mit den YPJ/YPG und SDF (Syrian Democratic Forces, Anmerk. d. R.) ausdrücken. 
Gerade dadurch, dass die Angriffe so stark gegen die Bevölkerung gerichtet werden, entwickelt sich dort ein ungemeiner Kampfgeist und Wille. Über die Jahre haben wir an Erfahrung gewonnen, die wir teils schmerzlich bezahlen mussten, etwa mit dem Verlust Efrîns und Serêkaniyês. Insbesondere im Kampf innerhalb der Städte gegen eine gut ausgestattete NATO-Armee mit dschihadistischer Unterstützung am Boden haben wir uns weiterentwickelt. Es wurde aus Fehlern und Kritiken gelernt, so dass sich nun besser auf die aktuelle Lage angepasst werden kann.

Nehmt ihr die Proteste in Deutschland gegen die Angriffe auf Kurdistan wahr?

Auf jeden Fall. Die weltweiten Proteste werden in den Abendnachrichten im kurdischen Fernsehen gezeigt. Es gibt uns sehr viel Hoffnung und Stärke unsere Freund*innen und Genoss*innen Zuhause zu sehen. Manchmal erschreckt es uns aber auch, wenn z.B. in Berlin nur etwa 20 Personen an einer Kundgebung teilnehmen. Dennoch, jede Aktion ist ein Ausdruck der Solidarität und ebenso ein Teil des Kampfes, wie unsere Arbeiten hier vor Ort.

Was wollt ihr den linken, feministischen Kräften in Deutschland sagen? Was kann aus eurer Sicht hier in den Zentren der Rüstung gegen den Krieg getan werden?

Wie bereits oben erwähnt, freuen wir uns über jegliche Form von solidarischen Aktionen. Doch Internationalismus bedeutet nicht fremde Kämpfe zu unterstützen, sondern vielmehr sich als Teil des Kampfes, als Teil eines revolutionären Prozesses zu begreifen, unabhängig davon, wo man sich gerade befindet. Deswegen ist es wichtig, sich mit der Idee, der Philosophie dieser Revolution auseinander zu setzen, eine eigene militante Persönlichkeit aufzubauen und sich, insbesondere als Frauen gemeinsam zu organisieren. Statt uns zu spalten, Hoffnungslosigkeit zu verbreiten und im Individualismus zu versinken, müssen wir insbesondere in Deutschland wieder eine kämpferische Bewegung werden, die um ihre Geschichte weiß und Antworten auf die Probleme der Gesellschaft geben kann. Wie Şehîd Bager Nûjiyan sagte: „Den härtesten Kampf führst du immer gegen dich selbst.“

Auch wollen wir dazu aufrufen, nach Rojava zu kommen und sich uns hier anzuschließen, um zu lernen und gemeinsam zu wachsen. Neben den Verteidigungseinheiten könnt ihr euch auch an Arbeiten in der Jugend, Gesellschaft, Jineolojî sowie an Frauen-, Kultur-, Presse- und Gesundheitsarbeiten beteiligen. Gerade wegen der engen Verbundenheit zwischen dem deutschen und den türkischen Staat ist es notwendig, dass die Komplizenschaft mit dem faschistischen AKP-MHP Regime der Türkei aufgedeckt wird. Wir glauben, dass es viele verschiedene Formen gibt dies zu tun und appellieren an euch, jetzt den Druck von unten und auf der Straße zu verstärken. Wir wissen, dass der türkische Staat den Zeitpunkt für die aktuelle Operation gegen Rojava nicht zufällig gewählt hat. Fussball-WM und der Krieg in der Ukraine sind für Erdoğan gute Ablenkungsmöglichkeiten. Auch haben wir beobachtet, dass den Angriffen hier nicht die nötige Aufmerksamkeit in der BRD zukommt. Wir glauben, dass es die dringende Aufgabe einer sich als internationalistisch verstehenden Linken in Deutschland sein muss, der Bevölkerung ins Gedächtnis zu rufen, was hier gerade passiert und entsprechende Personen in Wirtschaft und Politik dafür zur Verantwortung zu ziehen. Genauso wie die Verteidigungseinheiten der YPJ/YPG alles geben, um das historisch einmalige revolutionäre Projekt staatenloser Radikaldemokratie als Wert der ganzen Menschheit zu verteidigen, müssen Linke in Deutschland ihrer Verantwortung nachkommen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Krieg zu stoppen. Wir glauben, dass die Möglichkeiten hierfür noch lange nicht ausgeschöpft sind. Zudem kommt es aktuell wieder zu einer verstärkten Reorganisierung des Islamischen Staats. Leider beobachten wir, dass in Europa islamistische Gruppen nach wie vor kaum als Gegner im antifaschistischen Kampf verstanden werden und es immense Schwachstellen in Bezug auf Recherche, Aufklärung und Aktionen gibt. Es muss uns bewusst sein, dass der IS in Europa sowohl massenhaft Ressourcen sammelt, als auch Kämpfer rekrutiert. Die Menschen hier vor Ort sind bereit, ihr Leben für die Verteidigung der Frauenrevolution aufs Spiel zu setzen. Wir erwarten daher, dass unsere Genoss*innen in der BRD die Wichtigkeit von Rojava verstehen und ihr Handeln als eine historische Verantwortung begreifen, vor allem all denjenigen gegenüber, die ihr Leben für den Traum einer freien Gesellschaft gegeben haben.

Şehîd namirin

#Gastbeitrag AK36

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Fast genau zehn Jahre nach dem Attentat auf drei Genoss:innen der kurdischen Freiheitsbewegung 2013 in Paris kam es am 23. Dezember zu einem erneuten Mordangriff auf Kurd:innen.

Hubert Maulhofer sprach mit Konstantin von der internationalen Kampagne „Defend Kurdistan“ über das Geschehene und die Hintergründe.

Kannst du uns kurz etwas zur aktuellen Situation und dem Attentat des 23. Dezember geben?

Am 23. Dezember kam es mitten am Tag im Stadtzentrum von Paris, dort wo sich das kurdische Kulturzentrum „Ahmet Kaya“ befindet, zu einem blutigen Attentat. Der Täter schoss auf mehrere Menschen, die sich vor dem Kulturzentrum und in einem anliegenden Restaurant und Friseursalon befanden.

Drei Menschen sind dabei getötet worden, weitere teilweise schwer verletzt. Der Angreifer konnte durch den Mut einiger Menschen schließlich überwältigt werden, noch bevor die Polizei eintraf. Im Zuge dieses Anschlags kam es zu wütenden Protesten in ganz Europa, die dieses Attentat als eine Folge der anti-kurdischen Politik anprangern, welche sich immer weiter zuspitzt. Am 24. Dezember fand eine Großdemonstration in Paris statt. Die Demonstrationen wurden mehrfach von der französischen Polizei angegriffen und es kam zu Straßenschlachten.

In der kurdischen Community und in internationalistischen Zusammenhängen wird aktuell über eine Verbindung des Täters zum türkischen Staat bzw. dessen Geheimdienst MIT diskutiert und eine Parallele zu den Mordanschlägen von 2013 auf drei Genoss:innen in Paris gezogen. Was kannst du uns dazu sagen?

Wir sehen, dass dieses Attentat sich einreiht in eine anti-kurdische Politik. Von der Türkei und Nordkurdistan, wo tausende Menschen der Oppositionspartei HDP verhaftet werden, über die Giftgas-Angriffe der türkischen Armee in Südkurdistan bis zu den Angriffen auf Nord-Ost-Syrien, Rojava und die autonome Selbstverwaltung, bei denen gezielt zivile und lebensnotwendige Infrastruktur zerbombt wurde.

Auch in Europa existiert eine anti-kurdische Politik in Form der Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrer Unterstützer:innen. Die Repression durch europäische Staaten wie die BRD und Frankreich nimmt immer weiter zu. Einen Tag vor dem Attentat in Paris wurde beispielsweise in Nürnberg ein Genosse inhaftiert, das dortige kurdische Kulturzentrum durchsucht. Diese Politik ermöglicht ein Klima, in welchem Anschläge, wie der von Paris, stattfinden können. Gleichzeitig sehen wir aber auch eine Kontinuität in diesem Attentat zu der Ermordung der Genossinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez die im gleichen Stadtteil 2013 durch einen Agenten des türkischen Geheimdienstes ermordet wurden. Das Attentat jetzt fand zudem zu einem Zeitpunkt statt, in dem das jährliche Gedenken für die 2013 ermordeten Genossinnen im Pariser Kulturzentrum stattfanden. Wir werten den Angriff daher als einen gezielten Anschlag.

Was wissen wir über den Täter?

Es handelt sich um einen 69-jährigen Mann. Er hat bereits in der Vergangenheit Geflüchtete in einem Camp mit einem Schwert angegriffen und saß deshalb im Gefängnis. Er wurde aber vor elf Tagen aus dem Gefängnis entlassen. Die Tatsache, dass das Attentat in Paris in dem von mir oben angeführten Kontext stattfindet, und auch die Tatsache, dass er diese Tat mitten am Tag in einer Stadt wie Paris durchführen konnte, zeigt entgegen den Aussagen vieler bürgerlicher Medien, dass es sich hierbei nicht um eine Einzeltat handelt. Es geht um einen rassistischen, anti-kurdischen Mord. Das war ein gezielter Angriff auf die Aktivitäten der kurdischen Freiheitsbewegung in Europa. Wir sehen den türkischen Staat in der Verantwortung für diesen Mord.

Wir glauben, dass der französische Staat erneut „ein Auge zugedrückt“ hat, so ein Anschlag findet nicht einfach so statt. Der französische Staat hat kein Interesse daran, gegen die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes in Frankreich vorzugehen. Die mangelnde Aufklärung im Rahmen der Ermordung der drei Genossinnen 2013 bekräftigt dies und unsere Annahme, dass der 23. Dezember 2022 die Fortführung des Jahres 2013 ist.

Was wissen wir über die ermordeten Genoss:innen?

Bei den Gefallenen handelt es sich um Emine Kara, M. Şirin Aydın und Abdurrahman Kızıl.

Emine Kara war eine Genossin die aktiv in der kurdischen Frauenbewegung war und sich bereits seit 1989 in der Bewegung engagierte. In den Bergen und an vielen Orten in Kurdistan war sie aktiv und hat vor allem auch in Rojava eine große Rolle beim Aufbau der dortigen Selbstverwaltung gespielt. Sie half aktiv mit bei der Unterstützung der Jesid:innen nach den Massakern des sogenannten Islamischen Staats im Schengal. 2019 ist sie nach Europa gegangen, hat vor allem in Frankreich gewirkt und war aktiver teil des Vorbereitungskomitees für die Gedenkdemonstration an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris.

Abdurrahman Kızıl war ein heimatverbundener Kurde, der sich in der Diaspora aktiv für die Rechte des kurdischen Volkes eingesetzt und an der demokratischen Gesellschaftsföderation in Frankreich beteiligt hat.

M. Şirin Aydın war ein kurdischer Musiker. Er war in der Diaspora bekannt für seine Lieder und ein Symbol der Vielfalt des Widerstands und der kurdischen Kultur.

Wie geht es jetzt weiter?

Der kurdische Dachverband in Europa „KCDK-E“ hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Am 24. Dezember fand daraufhin in Paris eine erste Großdemonstration statt, auch Busse aus Deutschland sind angereist.

Gleichzeitig wird es in den kommenden Tagen überall in Europa zu Aktionen kommen. Die Hauptproteste werden jedoch vorerst in Frankreich und Paris stattfinden, um eine Verschleppung des Falls durch den französischen Staat zu verhindern.

Auch viele internationalistische Kräfte haben sich bereits solidarisiert und ihre Unterstützung ausgedrückt. Es ist an der Zeit, dass all diejenigen die hinter dem kurdischen Volk, der kurdischen Freiheitsbewegung und der Revolution stehen, für all diejenigen, die den türkischen Faschismus, seine europäischen Unterstützer und den Imperialismus bekämpfen, auf die Straße gehen und zur Aktion schreiten. Gerade jetzt in der Weihnachtszeit ist es wichtig, diese Geschehnisse nicht aus den Augen zu verlieren.

Update: Alle sind eingeladen nach Paris zu kommen und ihre Solidarität auszudrücken. Es gibt eine ständige Mahnwache vor dem Ahmet Kaya Kulturzentrum. Es wird aufgerufen überall dezentral Aktionen zu organisieren, um die Trauer und Wut zum Ausdruck zu bringen. Es wird eine große Beerdigung und Verabschiedung der Leichname in Paris geben. Alle sind aufgerufen und eingeladen daran teilzunehmen, allerdings ist noch unklar, wann die Leichname freigegeben werden. Sollte das vor dem 07.01.2023 passieren, wird für den 07.01. zu dezentralen Aktionen aufgerufen. Ansonsten wird am 07.01.2023 in Paris die alljährliche Gedenkdemonstration für Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez stattfinden. Wir rufen alle jetzt dazu auf an dieser Demonstration teilzunehmen und den nun sechs in Paris ermordeten Genoss:innen zu Gedenken.

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Noch bevor die Fußball-WM der Herren in Katar losgegangen war, wurde die Vergabepraxis an das Emirat scharf kritisiert. Während der Spiele riefen die tausenden toten Arbeiter:innen und die Situation von FLINTA*s allerlei symbolischen Protest von Innenministerin Nancy Faeser, über die deutsche Nationalmannschaft, bis hin zum Einzelhändler REWE hervor; aber auch die Ultras in deutschen Stadien machten Boykottaufrufe. Was der Gegenstand der Kritik, also die WM, die Fifa und der DFB mit dem Kapitalismus zu tun haben, analysiert Raphael Molter hier. Teil 2 folgt.

Die Zeit der Zeichen

Das Turnier ist kaum gestartet, und das letzte bisschen moralische Stabilität wich im Rekordtempo. Bierausschank? Trotz Premiumsponsor Budweiser knickte die FIFA ein, der katarische Staat wollte es so. Und was war nochmal mit der peinlichen OneLove-Kapitänsbinde? Ah ja, für deren Abschaffung machte sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) im vorauseilenden Gehorsam gerade. Die Weltmeisterschaft in Katar sorgt für unangenehmes Kopfschütteln, Unverständnis und stetig steigende Ablehnung in der deutschen Gesellschaft. Die Voting-Plattform FanQ belegte, dass nur jeder zehnte Fußballfan alle oder die meisten Spiele anschauen möchte. Nicht mal durch Spiele der deutschen Nationalmannschaft lassen sich typische Party-Patriot:innen begeistern.

Stattdessen ist die Zeit der Zeichen gekommen. Während Robert Habeck und die gesamte Energiebranche lechzend nach Katar blickt und auf frisches Erdgas hofft, zeigen sich Journalist:innen und Kommentator:innen von RTL bis ZDF mit regenbogenfarbenen Binden und solidarisch gelesenen T-Shirts. Dabei verläuft die Kritik im Sande, denn die Zeichen sind zwar Protest, aber kein Ausweg. Auf der Suche nach moralisch vertretbaren Standpunkten bei einer WM, die von Menschen geschaffen wurde, die als Arbeitsmigrant:innen weder vor zwölf Jahren noch heute auf akzeptable Bedingungen bei der Lohnarbeit treffen. Doch die Suche verharrt im Protest, ohne Konsequenzen zu ziehen. Und weil alles so aussichtslos erscheint, wirkt dann selbst ein Lebensmittelkapitalist wie REWE stabil, weil man die Farce des DFB nicht mehr mittragen will.

Doof nur, dass die WM in Katar eine wunderbare Möglichkeit für europäische Unternehmen ist, um sich kurz mit ein bisschen moralischer Kritik an Katar reinzuwaschen. Erst das Fressen, dann die Moral: International agierende Unternehmen waren schon immer gut darin, erst zu verdienen und im Notfall danach zu verurteilen. Um aber aus dem „endlosen Prozess der Proteste ohne Revolte“ (Agnoli) zu entkommen, müssen kämpferische Perspektiven aufgedeckt werden. Ein Fußball, der den kapitalistischen Imperativ der Profitmaximierung so sehr auslebt, dass selbst all die Umstände rund um die WM nur wie der nächste Anlass für Gossip wirken: Ist das dieser Sport, dem wir natürliche Kräfte wie Toleranz, soziale Freude und Kommunikation über alle Grenzen hinweg zusprechen?

»Wer einschaltet, macht sich mitschuldig«

Überraschenderweise erhält sich das unparteiische, fast schon marienhafte Bild eines Sports, der von Schurkenstaaten wie Katar für böses Sportswashing missbraucht wird, bis in die Fanszenen. Viele der Boycott Qatar-Proteste in den Stadien der letzten Wochen griffen den konsumkritischen Ansatz auf und forderten von Fußballfans vor allem eines: Abschalten! Aber hier zeigt sich die genannte Kritik eines Protestes, der keinerlei Licht am Ende des Tunnels sieht und auch viele vermeintlich kritische Fußballexpert:innen schließen sich dem fast widerspruchlos an.

Das Produkt Profifußball wirkt so übermächtig, dass sich in der Boykott-Forderung ein angeblich günstiger und leicht zu vermittelnder Minimalkonsens findet, der die Leute noch mobilisieren kann. Doch Systemkritik, die am Individuum ansetzt, verkennt zwangsläufig Ursache und Symptom.

So sollten wir nicht zum fast schon stereotypen Fazit kommen, dass wir Linke es besser wissen und der Fußball tatsächlich aufgegeben werden sollte. Die Boykottbewegung hat nichtsdestotrotz tausende und abertausende Fußballfans mobilisiert, fast jede Fanszene im deutschen Profifußball hat sich durch Choreographien und Spruchbänder gegen die WM in Katar ausgesprochen. Die bisweilen sehr brüchigen Bündnisse in den Fußballstadien dieser Republik scheinen sich mit der Weltmeisterschaft und der FIFA als Feindbild gefestigt zu haben. Nur schafft der reine Boykott-Aufruf keine kämpferische Perspektive für die Zeit nach dem WM-Finale am 18. Dezember. Soll diese Bewegung absichtlich im Sande verlaufen, wenn doch die nächste Europameisterschaft in Deutschland stattfindet?

Der katarische Staat funktioniert nur durch die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen, doch die systemischen Ursachen dahinter kennen wir auch aus Deutschland. Allein der jährliche Aufruhr um rumänische Arbeitsmigrant:innen als Retter:innen unseres Spargels sollten uns lehren, dass die Probleme nicht nur am Persischen Golf existieren. Wenn wir die grundlegenden, systemischen Verhältnisse hinter der Arbeitsmigration nach Katar kritisieren und uns mit den lohnarbeitenden Menschen dort solidarisieren, sollten wir das auch in unsere Praxis hier vor Ort aufnehmen. Nach Katar fahren und sich dort ein Bild machen, kann und sollte nicht Ziel der moralischen Kritik sein: Guckt um euch herum, macht euch für die Arbeitsmigrant:innen stark, auf die sich das deutsche Kapital auch hier in Deutschland stützt. Solidarität mit den arbeitenden Menschen in Katar hieße dann auch Solidarität mit den »Wanderarbeiter*innen« in der EU-Zone.

Soll die Boykott-Bewegung auch auf der Fußballebene bestehen bleiben, gilt es aber allen voran in den Blick zu nehmen, wie der Fußball zu dem wurde, was heute unter Kommerz oder reiner Geldgier beschrieben wird. Fußball mobilisiert Massen, Fußball politisiert aktive Fans auch in Deutschland: Polizeigewalt und staatliche Repressionen sind immanenter Bestandteil des Lebens für Ultras. Verstehen wir den Fußball als eine Subsphäre der kapitalistischen Gesellschaft, als den vielbeschworenen »Spiegel der Gesellschaft«, dann lohnt sich auch im Spiel um das runde Leder der Kampf für ein besseres Leben für alle. Das bedeutet aber nach Gabriel Kuhn nicht: »den Sport mit einer politischen und moralischen Aufgabe zu belasten, die den Spaß am Sporterlebnis gefährdet. Es geht einzig darum, den Sport nicht vom Kampf um eine bessere Gesellschaft zu trennen. Tatsächlich macht dann alles doppelt so viel Spaß«. Lassen wir die aktuelle Moralkritik hinter uns und blicken auf die Möglichkeiten, kämpferische Perspektiven im Fußball zu entwickeln.

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Ein Sammelband versucht die Taten des NSU und die gesellschaftliche Nichtaufarbeitung ganz ohne Ökonomiekritik zu untersuchen. Und scheitert.

Den Terrorakten des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) fielen vom Jahr 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen zum Opfer. Darunter hatten acht der Ermordeten eine türkische Familiengeschichte, einer einen griechischen Hintergrund und zusätzlich wurde eine nicht-migrantische Polizistin ermordet. Das Netzwerk von mordenden Neonazis konnte jahrelang unentdeckt bleiben, obwohl Angehörige der Ermordeten und politische Initiativen Rassismus als Tatmotiv lange vermuteten und dies immer wieder öffentlich durch Presseerklärungen, Interviews und Demonstrationen äußerten. Dies hängt sowohl mit dem sprichwörtlichen blinden rechten Auge der Verfassungsschutzbehörden zusammen, als auch mit einer Reihe äußerst unwahrscheinlicher Ungereimtheiten im Polizei- und Justizapparat.

Tina Dürr und Reiner Becker begeben sich in ihrem schmalen Sammelband Leerstelle Rassismus? Analysen und Handlungsmöglichkeiten nach dem NSU auf die Suche nach der Leerstelle Rassismus und fragen sich, welche gesellschaftlichen Mechanismen dazu beitragen, dass Rassismus und seine Wirkung auf die Betroffenen von der Mehrheitsgesellschaft nicht gesehen werden. Ihr vor allem diskurstheoretisches Buch zeichnet in zwölf Beiträgen die rassistische Alltags-Atmosphäre und den Staus Quo nach, die den Nährboden bilden, auf dem die rassistische Mordserie des sogenannten NSU vonstatten gehen konnte. Aussagen von Politiker:innen und Repräsentant:innen der Sicherheitsbehörden und Zeitungsartikel werden hierfür untersucht und in Kontrast zu dem Erleben und den politischen Interventionen der Hinterbliebenen gesetzt. Hierin liegt die Stärke des Bandes. Insgesamt kommen Wissenschaftler:innen genauso wie Praktiker:innen aus Beratungsstellen und der Arbeit innerhalb migrantischer Gemeinschaften zu Wort. Denn mit der Selbstenttarnung nach dem Suizid der beiden vermutlichen Haupttäter im November 2011 begann sich die Öffentlichkeit bestürzt zu fragen, wie mordende Neonazis so lange unentdeckt bleiben konnten.

Schwach ist dann die Antwort des Sammelbandes: weil Rassismus allgegenwärtig ist und Betroffenen von Rassismus zu wenig zugehört wird. Wer von staatlicher und politischer Seite an einer Vertuschung real ein Interesse haben könnte, wird kaum benannt. Auch eine Analyse der deutschen Wirtschaft im Imperialismusgeflecht und der damit verbundenen rechten Antworten auf diverse Krisen bleibt der Sammelband den Leser:innen schuldig. Hinzu kommen Beiträge mit problematischen und empirisch nicht haltbaren Verallgemeinerungen, wie die, dass es in migrantischen „communities“ Einigkeit darüber gäbe, „dass rechtsextreme Gewalt immer schon eine Kontinuität hat“. Woher diese angeblich repräsentativen Aussagen kommen, wird den Leser:innen aufgrund fehlender Quellen nicht erklärt.

Insgesamt bleibt sich die Argumentation des Sammelbands in einem liberalen Geflecht stecken, in dem diskursiven Rassismuserscheinungen einfach irrationale Vorurteile sind. Leider schafft der Band es nicht, trotz teilweisem guten Zusammentragen von Beispielen und öffentlichen Stimmen im Nachklang der NSU Mordserie, an die Wurzel des Problems rassistischen Terrors zu gehen. Hierfür müsste eine saubere Ökonomieanalyse mit den konkreten Erscheinungen rassistischen Terrors in Beziehung gesetzt werden.

Tina Dürr/Reiner Becker (Hg.): Leerstelle Rassismus? Analysen und Handlungsmöglichkeiten nach dem NSU, 2019, Wochenschauverlag, 172 Seiten, 22,90 EUR

#Foto: Wochenschau Verlag

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„Bis heute scheint die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik im kollektiven Gedächtnis weitestgehend frei von widerständigem Handeln“ heißt es in der Einleitung von Simon Goekes knapp 400 Seiten umfassende Studie zur Beziehung von Gewerkschaften und migrantischen Kämpfen in der Bundesrepublik. Goekes Ziel ist es für den Zeitraum von 1960 bis 1980, eine Zeit in der betriebliche sowie außerbetriebliche Kämpfe nicht selten von immigrierten Arbeiter:innen in der BRD geführt wurden, unser kollektive Gedächtnis zu erweitern. In fünf Kapiteln legt Goeke eine recht umfassende Recherche zu einem Thema vor, welches sowohl bei Historiker:innen der Arbeiterbewegung, als auch bei Migrationsforscher:innen meist nur eine Randnotiz wert ist. Eine wichtige Ausnahme stellt Manuela Bojadžijevs Die windige Internationale: Rassismus und Kämpfe der Migration von 2007 dar.

„Nicht die streikenden Türken vor dem Tor 3 der Ford-Werke, sondern der schüchtern in die Kamera blickende Portugiese Rodrigues de Sá brannte sich in das kollektive Gedächtnis ein, als er zum millionsten ›Gastarbeiter‹ ernannt, feierlich empfangen wurde und als Geschenk ein Moped erhielt.“

Auf Basis dieser Schieflage untersucht Goeke die „gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen migrantischen Protesten, Gewerkschaften und Studentenbewegung“. Durch die Recherche in Archiven von Gewerkschaften und linken Gruppen, sowie dem Zusammentragen von Zeitzeug:inneninterviews gibt Goeke einen tiefen Einblick in die Lebenswelten sogenannter Gastarbeiter:innen ein. Analytisch bewegt sich Goekes Studie zwischen Geschichtswissenschaften, Arbeitssoziologie, Migrations- und Geschlechterstudien. Die Frauenfrage behandelt Goeke nicht losgelöst sondern als Querschnittsthema in allen Kapiteln. Hierbei versäumt er es nicht eine politisch-ökonomische Einbettung in die Dynamiken der Wirtschaftsentwicklung in Deutschland, sowie den Herkunftsländern der migrantischen Arbeiter:innen anzubieten. So erfahren wir im zweiten Kapitel, dass Migrant:innen, die von Unternehmen als Streikbrecher:innen eingesetzt werden sollten nicht selten selber mitstreikten. So zeigten laut Joachim Hoffmann im Frühjahr 1963 bei den Metallarbeiterstreiks in Baden-Württemberg besonders die italienischen und spanischen Arbeiter eine hohe Kampfbereitschaft und „erwiesen sich als erfahrene und entschlossene Kämpfer für die Arbeiterinteressen.“ Nationalistische Vorbehalte und Vorurteile der deutschen Kollegen wurden so im praktischen Kampf überwunden.

Goeke erzählt zwar von den klassischen Wilden Streiks wie der der migrantischen Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss 1973, jedoch auch von den alltäglichen Kämpfen migrantischer Arbeiter:innen und einiger deutscher Kolleg:innen für die allumfassende Eingliederung der sogenannten Gastarbeiter:innen in ihre Branchengewerkschaften. Die Wahl migrantischer Kolleg:innen in Betriebsräte und später auch als hauptamtliche Gewerkschaftssekräter:innen mit der spezifischen Aufgabe migrantische Arbeiter:innen als Gewerkschaftsmitglieder zu organisieren war zwar eine Errungenschaft in Fragen migrantischer Arbeiterorganisierung, jedoch zeigt Goeke auch auf, wie die gewählten Kollegen nicht unbedingt die radikalsten Verbesserungen für die migrantischen Arbeiter:innen forderten, sondern oft schlussendlich in der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsdynamik verharrten. Die Aktivitäten verschiedenster sozialistischer Gruppen sind in diesem Lichte besonders interessant, denn sowohl sozialistische Parteien, Organisationen und Gruppen aus dem In- und Ausland unterhielten in der Zeit eine aktive politische Betriebsarbeit und agitierten gezielt auf den Muttersprachen der migrantischen Arbeiter:innen in den Betrieben – teilweise mit wöchentlichen oder monatlichen Publikationen auf verschiedenen Sprachen.

Schlussendlich zeigt Goekes Band wie das Nachkriegsdeutschland des Westens spätestens ab den 1960er Jahren zum „Einwanderungsland wider Willen“ wurde – denn trotz restriktiver Arbeits- und Aufenthaltsbestimmungen und Abschiebungen von Anführer:innen von Streikaktionen blieben viele Tausende der arbeitenden Gäste aus der Türkei, aus Jugoslawien, Spanien, Italien oder Griechenland und machten Deutschland zu ihrer neuen Heimat. Goeke zeigt die „multinationale Arbeiterklasse“ Deutschlands lebendig auf und schließt mit Mietstreikskämpfen und den Kindergeldkomitees der 1980er Jahre ab – ein Jahrzehnt in dem sich viele der migrantischen Kämpfe von den Betrieben auf die Sphäre der Reproduktion ausweiteten.

Eine gelungene Studie für alle, die keine Scheu vor wissenschaftlichen Aushandlungen haben und die Geschichte der westdeutschen Gastarbeit mit all ihren Widersprüchen besser verstehen wollen.

Simon Goeke: »Wir sind alle Fremdarbeiter!« Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960-1980, 2020, Verlag Ferdinand Schöningh, 386 Seiten, 62 Euro

# Titelbild: Pierburg-Streik 1970

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„Maskierte Männer und Grenzbeamte treten auf Geflüchtete ein, setzen Schlagstöcke und Elektroschocks ein.“ Vor gut drei Monaten hat die freie, auf der griechischen Insel Lesbos lebende Journalistin Franziska Grillmeier in einem Beitrag für das medico-Rundschreiben, Zeitschrift der Organisation medico international, mit diesen Worten beschrieben, wie die rechtswidrigen „Pushbacks“ an der bosnischen-kroatischen Grenze meist verlaufen. Es lohnt sich, ihren Text heute noch mal gründlich zu lesen, denn es hat sich nichts geändert.

Bei der Lektüre wird vor allem ein grotesker Kontrast deutlich: Hier eine EU, die ihre Abschottung immer mehr perfektioniert, Geflüchtete aus Afghanistan, Syrien, dem Irak oder afrikanischen Ländern im Mittelmeer verrecken lässt oder an Außengrenzen in Polen, Kroatien oder Griechenland zurückprügelt — dort eine EU, deren Mitgliedsstaaten plötzlich, angesichts von mehr als 3,5 Millionen Geflüchteten aus der Ukraine, eine „Willkommenskultur“ ausrufen und sich als Leuchttürme von Freiheit, Demokratie und Humanismus aufspielen.

Menschen, die vor Krieg und Armut flüchten, sind in dieser Union nur dann willkommen, wenn sie in die geostrategischen und propagandistischen Absichten der Mitgliedsstaaten passen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Jede Solidarität gegenüber Geflüchteten ist zu begrüßen, und das gilt natürlich auch für die Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten. Aber die Reaktionen auf die Flucht von Millionen von Ukrainer*innen haben die widerliche Doppelmoral und Verlogenheit der EU deutlich gemacht. Menschen, die vor Krieg und Armut flüchten, sind in dieser Union nur dann willkommen, wenn sie in die geostrategischen und propagandistischen Absichten der Mitgliedsstaaten passen. Für den großen Rest der Geflüchteten heißt es wie bisher: „Wir müssen draußen bleiben!“

Besonders deutlich wird die Verlogenheit der EU in Polen. In ihrem Beitrag für das medico-Rundschreiben schilderte Franziska Grillmeier ihre Eindrücke von einer Fahrt an die polnisch-belarussische Grenze Ende 2021. Sie berichtete, dass auf einem über 400 Kilometer langen Grenzstreifen, in den sumpfigen Wäldern des Bialowieza-Nationalparks, seit Monaten hunderte Geflüchtete ohne medizinische Versorgung, ausreichend Wasser oder Essen festsitzen, eingekesselt zwischen belarussischen und polnischen Grenzschützer*innen. Die Journalistin zitierte den polnischen Innenminister Mariusz Kaminski, der Anfang September erklärt hatte: „Wir werden nicht zulassen, dass Polen zu einer weiteren Route für den Massenschmuggel von illegalen Migranten in die Europäische Union wird.“

Grillmeiers Bericht entspricht den Schilderungen anderer deutscher Aktivist*innen und Politiker*innen, die an der polnisch-belarussischen Grenze gewesen sind. So Henriette Quade, Landtagsabgeordnete der Partei Die Linke in Sachsen-Anhalt, die Mitte Januar mit einer Delegation in die dortige Sperrzone gereist war. Im Februar berichtete sie gegenüber junge Welt: „Es gibt dort für die Geflüchteten zwei wesentliche Bedrohungen. Das sind einmal aufgrund der Witterungslage die Kälte, die Nässe und der Hunger. Und es sind Grenzschützer, Polizisten und rechte paramilitärische Gruppen, die, mit Maschinenpistolen und Knüppeln bewaffnet, Jagd auf Menschen machen.“

Wie anders sind die Bilder und Berichte, die nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine aus Polen zu sehen sind. „Ukrainer werden in Polen mit offenen Armen empfangen“, titelte die Deutsche Welle am 19. März auf ihrer Homepage. Polens Regierung habe allen Kriegsflüchtlingen aus dem Nachbarland den Aufenthalt bis zu 180 Tagen und den Zugang zu Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem und Sozialleistungen versprochen, heißt es da. Natürlich kann man solche Maßnahmen, soweit sie nicht nur heiße Luft sind, nur begrüßen, ebenso wie das große Engagement der Zivilgesellschaft in Polen. Aber die Haltung des polnischen Staates ist heuchlerisch.

Denn an der polnisch-belarussischen Grenze hat sich gar nichts geändert. Weiterhin werden die Geflüchteten, die dort in den sumpfigen Wäldern vegetieren, am Grenzübertritt gehindert. Kerem Schamberger, seit kurzem Referent für Migration und Flucht in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international, war Mitte März mit einer Kollegin in Polen und berichtete ebenfalls in der jungen Welt von seinen Eindrücken. An der polnisch-belarussischen Grenze werde die Lage immer schwieriger, vor allem weil auch auf der belarussischen Seite kaum noch Lebensmittel zur Verfügung gestellt würden. Zudem gebe es nach wie vor Berichte über Gewalt von Seiten des Grenzschutzes auf beiden Seiten.

Schamberger wies auf das „Paradoxe der Situation“ hin, das man begreife, wenn man sich den Twitter-Account des polnischen Grenzschutzes ansehe. „Die veröffentlichen täglich, wie viele Menschen sie aus der Ukraine reingelassen haben, verbreiten Fotos von Soldaten, die das Gepäck der Flüchtlinge tragen“, sagte der Aktivist. „Im nächsten Tweet heißt es dann: Wir haben wieder 50 illegale Einwanderer daran gehindert, über die polnisch-belarussische Grenze vorzudringen.“

„Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge.“

Schamberger lieferte auch eine Interpretation des geschilderten Paradoxons. Man könne „von einer Repolitisierung und Nutzbarmachung des Flüchtlingsbegriffs“ sprechen. Diejenigen, die momentan aus der Ukraine kämen, seien die „Flüchtlinge des Westens“ und würden willkommen geheißen, „weil sie ins geostrategische Konzept passen“. Schutzsuchende etwa aus Kurdistan oder afrikanischen Ländern gehörten allerdings nicht dazu und würden nach wie vor nicht in die EU gelassen.

Wie nicht anders zu erwarten war, meldeten sich in den Medien recht schnell Journalist*innen zu Wort, die die Unterschiede bei der Behandlung von Geflüchteten rechtfertigten. Der Grundtenor dieser Erklärungen war mal mehr, mal weniger rassistisch. Der Medienunternehmer und frühere Handelsblatt-Chefredakteur Gabor Steingard äußerte im ARD-Talk Hart aber fair, Ukrainer*innen gehörten zu unserem Kulturkreis, sie seien Christ*innen – das sei schon etwas anderes als die Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan oder Somalia.

Noch deutlicher wurde Anfang März Marc Felix Serrao von der reaktionären Neuen Zürcher Zeitung. In seinem Newsletter erklärte er zuerst, es gebe Zeiten, in denen Willkommenskultur „das einzig Richtige“ sei und das sei jetzt der Fall. Das „ukrainische Volk“ habe „jede Hilfe verdient“. Europas Regierungen müssten ihm „alles an Unterstützung zukommen lassen, was unterhalb der Schwelle einer direkten Kriegsbeteiligung möglich ist“. Vor allem gelte dies „für die Frauen, Kinder und Alten, die ihr Land als Flüchtlinge verlassen“. Dann hebt Serrao zu einer Suada an, die in ihrer Widerlichkeit kaum zu übertreffen ist.

Die Ukraine sei „nicht irgendein Land“, vielmehr „ein europäisches Land“, schreibt der Journalist und betont: „Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge.“ Niemand könne „die Gefahr leugnen, in der sie stecken“. Das sei bei vielen Migranten, „die in der Vergangenheit als vermeintliche Flüchtlinge nach Europa gekommen sind“, aber anders. Serrao: „Während die Männer in Charkiw und Kiew für ihre Heimat kämpfen und dafür sorgen, dass ihre Frauen und Kinder in Sicherheit kommen, waren es in früheren Jahren auffallend oft junge Männer, die von anderen Kontinenten nach Europa kamen. Ihre Familien ließen sie zurück.“ Menschenverachtender geht es kaum noch. Es ist aber zu befürchten, dass solche Positionen bis weit ins Bürgertum hinein Konsens sind.

Die Doppelmoral der EU fällt vielen hierzulande daher wohl auch kaum auf, entspricht diese doch der Lebenshaltung, die ihnen selbst nur allzu vertraut ist. Darum wird dieses Thema in den bürgerlichen Medien auch nur wenig thematisiert. Immerhin sind immer wieder mal kritische Töne zu vernehmen, so in einem Gastkommentar, den das Portal t-online kürzlich veröffentlichte. Darin ging es um das Verhalten der dänischen Regierung in der Flüchtlingsfrage, die in puncto Verlogenheit das Vorgehen der polnischen Regierung sogar noch toppte.

Für die Geflüchteten aus der Ukraine wird eine Ausnahme gemacht, mehr nicht.

Noch Anfang 2021 hatte die rechts-sozialdemokratische Premierministerin Mette Frederiksen als Ziel ‚null Asylsuchende im Land‘ ausgegeben. Jetzt legte die Regierung eine „beispiellose Kehrtwende“ hin, wie die Politikwissenschaftlerin Carolin Hjort Rapp von der Universität Kopenhagen am 19. März bei t-online schrieb. Seit kurzem erhalten Ukrainer*innen in Dänemark ohne Visum oder Asylantrag eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis: Damit dürfen sie arbeiten gehen, ihre Kinder können Schulen und Kindergärten besuchen. Das regelt ein Sondergesetz, das vom Parlament im Eilverfahren mit breiter Mehrheit beschlossen wurde.

Eine breite Mehrheit im dänischen Parlament hatte im Februar 2016 auch ein Gesetz ermöglicht, das allgemein „Schmuckgesetz“ genannt wird. Flüchtlingen kann seitdem Bargeld und Wertsachen ab einem Wert von 10.000 Kronen, umgerechnet 1340 Euro, abgenommen werden, um ihre Unterbringung mitzufinanzieren. Der Familiennachzug wird erschwert und die Dauer von Aufenthaltsgenehmigungen verkürzt. Mit diesem Gesetz sollten Flüchtlinge explizit abgeschreckt werden. Als die ersten ukrainischen Geflüchteten in Dänemark auftauchten, brachte die Regelung die Behörden in die Bredouille. Blonden, blauäugigen Menschen, die gerade einem Krieg entronnen waren, wollte die Regierung dann doch Schmuck und Geld nicht abnehmen. Sie sollen von dem Gesetz ausgenommen werden.

Zum Schluss sei erneut der Beitrag von Franziska Grillmeier zitiert, die im medico-Rundschreiben Ende 2021 schrieb:

„Für diejenigen, die es noch durch die Grenzkontrollen schaffen, bleibt in den Hochsicherheitslagern auf den griechischen Inseln, in den Haftanstalten in Polen oder in den isolierten Fluchtheimen in Kroatien meist nur das Warten ohne Ziel. In Griechenland allein sitzen im Moment 2400 Menschen in Abschiebeanstalten fest, ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen soll. Auch hier hat die Presse keinen Zugang. Aus einer humanitären Krise, die Tausende Menschen 2015 aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in Richtung Europa fliehen ließ, wurde eine europäische Wertekrise. An den Grenzen ist eine rechtliche Parallelwelt entstanden, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit existiert und durch die gezielte Verunsicherung der lokalen Bevölkerung und Kriminalisierung humanitärer Hilfe möglich gemacht wird.“

Daran hat sich nichts geändert und das wird es auch nicht. Für die Geflüchteten aus der Ukraine wird eine Ausnahme gemacht, mehr nicht. Für sie öffnet sich eine Tür in der Mauer, die hinter ihnen sofort wieder zugeschlagen wird.

#Titelbild: Sandor Csudai

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Zwei Jahre nach den rassistischen Morden von Hanau scheinen sich alle einig zu sein: Rassismus ist ein Problem, der Anschlag muss aufgeklärt werden. Die Migrantifa Berlin mit einem Gastbeitrag darüber, warum antirassistische Lippenbekenntnisse angesichts des strukturellen Rassismus, der sich durch „Auklärung“ rassistischer „Einzelfälle“, Rechtssprechung und Politik zieht, bei weitem nicht genug sind.

Vor zwei Jahren, am 19. Februar 2020, wurden Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Sedat Gürbüz von einem Rassisten ermordet. Zwei lange Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt, kurz vor dem 19. Februar 2022, sind die Medien wieder voll mit Beileidsbekundungen und dem Ruf nach mehr Toleranz und “Diversity”. Der Antirassismus (Antira) ist im Mainstream angekommen. Die Antira-Bewegung der letzten Jahrzehnte hat ihn mit Beharrlichkeit und Kraft dorthin geschoben. Das ist aber gleichzeitig Fluch und Segen. Zeit also, die Linse zu schärfen.

Was haben zwei Jahre nach Hanau mit sich gebracht

Seit dem 3. Dezember tagt der Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag zum 19. Februar. Dort soll eine Aufarbeitung erzwungen und Antworten auf viel zu viele offene Fragen gefunden werden. Fragen, wie zu den Waffenscheinen des Täters, zur Nichterreichbarkeit des Notrufs, zum verschlossenen Notausgang am zweiten Tatort, zu den ungeklärten Umständen am Täterhaus, zum respektlosen Umgang mit den Angehörigen in der Tatnacht und danach oder zur Rolle des Vaters des Täters. Der Untersuchungsausschuss und der damit angestoßene Aufarbeitungsprozess wurden nur durch die Beharrlichkeit der Angehörigen und Unterstützer*innen erkämpft.

Die Liste der Fälle, die bisher folgenlos blieben, ist immer noch lang. Rassistisches Verhalten der Behörden vor, während und nach der Tat haben keine Konsequenzen gehabt – weder in Polizeibehörden noch beispielsweise im hessischen Innenministerium. 13 Mitglieder der SEK-Einheit, die am Anschlagsort im Einsatz waren, waren Teil einer rechtsradikalen Chatgruppe. Diese SEK-Einheit wurde nach Bekanntwerden aufgelöst, was jedoch nicht bedeutet hat, dass die jeweiligen Polizisten ihren Job los waren.

Im Dezember 2021 hat sich die Generalbundesanwaltschaft mal wieder damit lächerlich gemacht, dass sie die Ermittlungen gegen mögliche Mittäter eingestellt hat. Somit reihen sie Hanau in die unzähligen rassistischen Vorfälle ein, bei denen die Behörden behaupten es handle sich um Einzeltäter, um die strukturelle Dimension von Rassismus auszublenden. Nur so ist es rhetorisch überhaupt möglich Solidarität zu heucheln, ohne sich selbst konsequent in die Verantwortung zu nehmen.

Weiterhin unbekannt ist, wer die Scheiben der Arena Bar zwei Monate nach dem Anschlag eingeschlagen hat. Es gibt auch keine nennenswerten Debatten um die Ignoranz und den Rassismus der sogenannten Mitte: Noch bevor Details zum Anschlag klar waren, mutmaßten einige Medien schon über eine “Milieutat”, die Hanau-Gedenkdemonstration sechs Monate nach dem Anschlag wurde unverhältnismäßig kurzfristig vom SPD-Bürgermeister aufgrund der Infektionslage abgesagt und die CDU wünschte sich nicht lange nach dem Anschlag, dass Hanau wieder zur „Normalität“ zurückkehre.

Wo wir zwei Jahre nach Hanau als Bewegung stehen

Die Angehörigen, die Initiative 19. Februar und die Antira-Bewegung haben es geschafft, die Namen und Erinnerungen an Ferhat Unvar, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Fatih Saraçoğlu, Vili Viorel Păun, Kaloyan Velkov, Hamza Kurtović, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin in und durch uns weiterleben zu lassen. Serpil Temiz Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhats, hat inmitten der Trauer, der Wut und des Schmerzes die Bildungsinitiative Ferhat Unvar gegründet. Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt vernetzen sich über Generationen und Identitäten hinweg, stehen zusammen und schaffen damit neue Allianzen für den Kampf für ihre gemeinsamen Forderungen. Es sind auch diese gemeinsamen Kämpfe, die die Themen Polizeigewalt, rechte Strukturen in Behörden sowie institutionellem Rassismus immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Politische und gesellschaftliche Debatten zur (De)legitimierung des Verfassungsschutzes und der Abschaffung der Polizei haben es in die breite Öffentlichkeit geschafft, unter anderem durch die starken und abolitionistisch geprägten #BLM-Proteste unserer Schwarzen Geschwister, die aus den USA kamen und auch hier in rassifizierten Communities verbreitet wurden.

Gleichzeitig erleben wir einen sich immer weiter ausbreitenden liberalen Antirassismus, bei dem nicht um materielle Bedingungen, sondern ausschließlich um “Diversity”, Quoten und individuelles Bewusstseinstraining oder Privilegiencheck geht. Selbst die Bundesregierung hat vor etwa einem Jahr einen 89 “starken” Maßnahmenkatalog beschlossen, als “klares Signal gegen Rechtsextremismus und Rassismus”. Die Bürger*innen sollen zu “wehrhaften Demokrat*innen” erzogen werden, um so dem Rechtsruck entgegen zu treten. Diese extreme Verharmlosung rechter Gewalt und ihrer Netzwerke zeugt von einer fatalen analytischen Unschärfe, innerhalb dessen struktureller Rassismus und Unterdrückung nicht verstanden werden kann. Infolgedessen laufen antirassistische Kämpfe Gefahr, vom herrschenden System vereinnahmt zu werden.

Mehr als nur Aufklärung 

Gerade beim Attentat in Hanau zeigt sich, wie wenig Menschen wirklich verstanden haben, wenn selbst diejenigen, die politisch für den Anschlag mitverantwortlich sind, unreflektiert zum Gedenken aufrufen. Für sie bedeutet Gedenken ein bloßes Erinnern und einen Kranz niederzulegen. Sie sehen nicht, dass Hanau Ursache einer Klassengesellschaft und eines Systems ist, in dem zwangsläufig ein oben und unten existieren. Hanau steht in einer Kontinuität zum Anwerbeabkommen, zum Asylrechtskompromiss und zum NSU-Komplex. Sie verstehen nicht, dass Hanau nicht als einzelner, abgekoppelter Einzelfall betrachtet werden kann, den es zu “lösen” gilt. Jeder einzelne Fall rassistischer und rechter Gewalt könnte wahrscheinlich umfangreicher aufgeklärt werden, wenn der Wille da wäre – doch selbst wenn, würden zu jedem aufgeklärtem Fall zehn neue dazu kommen.

Wenn wir uns die Geschichte von Aufklärungs- und Aufarbeitungsarbeit seitens der Behörden und des Staates bei rechten, antisemitischen und rassistischen Taten anschauen, müssen wir wohl auch beim 19. Februar davon ausgehen, dass er leider nur begrenzt erfolgreich sein wird. Die unzähligen Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex, der Ausschuss zur Anschlagsserie in Neukölln und die zahlreichen Gutachten im Fall Oury Jallohs zeigen zum einen, dass die Verantwortlichen sich gegenseitig in ihren Erzählungen und Schuldabweisungen stützen und schützen werden. Zum anderen haben wir strukturell gesehen nicht viel gewonnen. Natürlich ist es enorm wichtig, die verfügbaren rechtlichen Mittel maximal auszuschöpfen, um die konkreten Täter*innen zu benennen, zur Verantwortung zu ziehen und Netzwerke aufzudecken. Kommt ein Untersuchungsausschuss mit dem nötigen Druck zustande, so ist es ein Etappenerfolg innerhalb des herrschenden Systems und aus Sicht der Angehörigen ein kämpferisches Mittel. Deshalb gebührt ihnen die vollste Solidarität und Unterstützung in ihrem Kampf um Aufklärung, Gerechtigkeit, Erinnerung und Konsequenzen.

Wir dürfen jedoch nicht glauben, dass das Zurücktreten von Politiker*in X oder die Versetzung von Beamt*in Y die Revolution herbeiführen wird. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass das System in sich gut funktioniert und nur hier und da sind noch ein paar Schönheitsfehler durch neues Personal oder Zusatzparagraphen zu beheben. Es kann nicht bei bloßer Aufklärung bleiben. Wir müssen für eine Gesellschaft kämpfen, die rechte Ideologien und Gewalt an den Wurzeln bekämpft – und die sitzen im Herzen des kapitalistischen Systems.

Solange wir in diesem kapitalistischen System leben, werden wir immer wieder konfrontiert sein mit dem Auffliegen von rechten Strukturen innerhalb der Polizei, der Bundeswehr, den Sondereinsatzkommandos und werden hören von Reservisten, die Sprengstoffe horten und Todeslisten führen. Die sogenannte Mitte wird weiterhin nach Abschiebungen von Menschen, die sich „illegal“ hier aufhalten schreien. Die Rechten werden die Erzählung eines „Rassenkrieges“ immer weiterspinnen, bis sie schlussendlich handeln werden. Es werden wieder und wieder Menschen in Gewahrsam zu Tode kommen, ohne jegliche Konsequenzen für die verantwortlichen Polizist*innen. Das EU-Grenzregime wird ungebremst seine Mauern höherziehen und ihre Grenzen “verteidigen”. Und unsere Geschwister im globalen Süden werden Tag für Tag weiter in mörderischen imperialistischen Kriegen um Ressourcen und Macht nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre Leben verlieren. 

Diese Normalität rechten Terrors müssen wir bekämpfen. Dabei dürfen wir uns nicht von bürgerlichen Parteien, Politiker*innen oder sonstigen staatlichen Bediensteten vereinnahmen lassen. Denn deren einziger Zweck ist es, eben jenes System und den Staat als ideellen Gesamtkapitalisten zu schützen. Zwar versuchen sie es durch eine Reform hier und da weniger brutal erscheinen zu lassen, am Grundproblem ändert sich jedoch nichts.

Warum am 19. Februar auf die Straße gehen 

Die Forderungen nach Aufklärung, Erinnerung, Gerechtigkeit und Konsequenzen der Angehörigen, Betroffenen und der Initiative 19. Februar gilt es zu unterstützen, wo und wie immer wir können. Gleichzeitig werden wir unser Streben nach radikaler Veränderung der Gesellschaft und Selbstorganisierung weiterverfolgen. Wir vergessen nicht, sondern werden weiterhin all diejenigen anklagen, die für das rassistisches Klima verantwortlich sind, die rechte Strukturen schützen, rechten Terror durch rassistische Politik befeuern sowie den Nährboden für Ausbeutung und Ausgrenzung  füttern. Wir können keine Forderungen an einen Staat stellen, der genau das tut und aktiv daran beteiligt ist, zu vertuschen und zu manipulieren. Wir lassen uns nicht mit leeren Worten und Gesten abspeisen, sondern werden selber machen!

Wir wollen eine Alternative schaffen zu diesem ausbeuterischen, kapitalistischen System, in dem es um Profite statt um Menschenleben geht. Wir wollen kontinuierliche Arbeit in den Nachbarschaften leisten, weiter mit unseren Nachbar*innen in Kontakt treten, zuhören, unsere politischen Visionen teilen und gemeinsam organisieren und umsetzen. Die Verankerung und Bezug zur Nachbarschaft ist besonders wichtig, denn hier wachsen wir auf, haben unsere Beziehungen, Geschichten und führen unsere Kämpfe. Nichtsdestotrotz stehen wir Seite an Seite mit unseren Geschwistern und Genoss*innen im globalen Süden, denn nur der globale Kampf kann eine Befreiung aller sein!

Für den 19. Februar 2022 heißt es, Menschen auf die Straßen zu holen, die tagtäglich erfahren was es heißt, diskriminiert, ausgebeutet und entmenschlicht zu werden. Für viele sitzt die Trauer und die Wut um Hanau, aber auch um unzählige andere Fälle rassistischer Gewalt, immer noch tief. Daher werden wir zur Tatzeit gemeinsam auf den Straßen sein, um kollektive Momente der Trauer, der Wut, der Hoffnung, des Widerstands und der Solidarität zu teilen!

Ajde, alerta, haydi, yallah und bijî Migrantifa!

# Titelbild: neukoellnbild / Umbruch Bildarchiv

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Çağan Varol & Berena Yogarajah

Eine Zusammenfassung der Beobachtungen aus der Verhandlung und der schriftlichen Dokumentation des Strafprozesses.

Am 10.01.2022 endete die Verhandlung gegen den ehemaligen Kölner Bezirksvertreter H. J. Bähner nach fast drei Monaten mit einem Urteil. Der 74-Jährige wurde wegen gefährlicher Körperverletzung, (rassistischer) Beleidigung und dem illegalen Besitz von Waffen zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Bähner legte durch seine Anwälte zwar Revision ein. Von einem Erfolg ist aber nicht auszugehen.

Rassistischer Blockwart oder christlich-konservatives Opfer?

Bähner hatte in der Nacht vom 29.12.2019 dem damals 20-jährigen Krys M., der mit Freunden unterwegs war, wegen angeblicher Ruhestörung mit einer unregistrierten Waffe aus wenigen Zentimetern Entfernung in den Oberkörper geschossen. Die Kugel ging durch Oberarm und Schulter und verfehlte nur um wenige Zentimeter den Hals. Zuvor hatte der waffenaffine Sportschütze versucht, den Überlebenden durch Provokationen und Beleidigungen wie u.a. „Dreckskanacke“ auf sein Grundstück zu locken, um eine Notwehrsituation herbeizuführen. Bähner ließ sich in seiner Einlassung von seiner Verteidigung verschieden darstellen: als Waffenprofi, verantwortungsvoller Nachbar, entschlossen konservativ und dabei christlich-karitativ, auf gar keinen Fall rassistisch, sondern vielmehr Opfer jugendlich-migrantischer Bedrohung.

Dass Bähner über ein reaktionäres und rassistisches Weltbild verfügt, wurde von der Strafkammer und der Staatsanwaltschaft bestätigt. Er erfuhr Unterstützung durch Ralf Höcker, ehemaliger Bundessprecher der Werteunion, dessen Kanzlei wiederum die AfD vertritt und über knapp eineinhalb Jahre Hans-Georg Maaßen beschäftigte. Höckers Medienkanzlei überzog Pressevertreter*innen mit Abmahnungen und versuchte im Vorfeld zu verhindern, dass Bähners Name erwähnt und über die Tat berichtet wird. Seine Strafverteidiger im Prozess, Mutlu Günal und Boris Krösing, verfolgten eine aggressive und diffamierende Strategie und reproduzierte den Rassismus immer wieder.

Anerkennung muss erkämpft werden

Zu Anfang der Ermittlungen galt der Überlebende in den Kölner Medien als „polizeibekannt“, obwohl er zuvor nicht mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war. Krys M. wehrte sich dagegen. Nur durch die ständige Auseinandersetzung mit den Tatvorkommnissen durch eine aktivistische Gegenöffentlichkeit, sowie das vehemente Eintreten der Geschädigtenveränderte sich die Medienresonanz zum Fall. Eine Polizeibeamtin sagte aus, dass auf dem Revier lediglich „Thermik“ geherrscht habe, nachdem ein WDR-Bericht von den Hasspostings Bähners auf Facebook sprach und Rassismus als Tatmotiv ins Spiel brachte. Erst in Folge des Berichts ging man den „Vorwürfen der Ausländerfeindlichkeit“ nach, um sich – nach Aussage des leitenden Ermittlers – zu versichern, dass es keine rechtsradikalen Inhalte auf Facebook gebe. 

Institutioneller Rassismus vom Notruf bis zur Zeugenvernehmung

Der Fall und selbst das anschließende Urteil sind definitiv keine Ruhmesgeschichte für die Institutionen. Vieles bleibt ungehört, unangetastet und wurde als irrelevant eingestuft: Während des Notrufs wurden die Betroffenen gefragt, ob ein Deutscher oder ein Ausländer geschossen habe – warum? 

Die Betroffenen berichteten von Anfang an mehrfach von rassistischen Beleidigungen, die von der Polizei nicht dokumentiert wurden, weil diese Information als unwichtiges Detail erachtet wurde. Die Rassismusvorwürfe des Geschädigten wurden von den ermittelnden Polizist:innen von Beginn an als zu „unkonkret“ abgetan, so wie auch die anderen Betroffenen diesbezüglich nicht ernst genommen wurden. Krys M. sei aufgedreht gewesen, sehr gesprächig, unkonzentriert und auf Adrenalin. Ob das damit zu tun haben könnte, dass dieser gerade von einem alten Mann aus dem Nichts mit einer Waffe in die Schulter geschossen wurde? Auch im Krankenhaus konnte der Betroffene keinen Schutz erwarten. Der Überlebende Krys M. wurde noch in der Tatnacht im Krankenhaus verhört – trotz seiner Schmerzen und des Schockzustands. Der behandelnde Arzt zog sich aus der Verantwortung, da „die Polizei doch wissen müsse, wen sie vernehmen könne oder nicht“. Wieder machte der Geschädigte Aussagen darüber, dass „irgendetwas gegen Ausländer“ gesagt wurde, aber fand weiterhin kein Gehör.

Für die Bewertung der Facebook-Posts von Bähner wurde seitens der Polizei kein:e Expert:in hinzugezogen. Dabei hatte der leitende Ermittler nach eigenen Angaben keinerlei Expertise über politische Begriffe und Thematiken, benutzte diese dennoch ständig. Es wurde der Frage nachgegangen, ob auch Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit oder ähnliches als Motiv vorliegen könnte. Das Wort „Rassismus“ wurde kein einziges Mal verwendet. Die Aussagen Bähners auf Facebook beurteilte er als Laie nur als kritische und teilweise grenzwertige Aussagen, ohne die Fachabteilung hinzuzuziehen. Daran zeigt sich, wie leichtfertig mit der Tat umgegangen wurde.

Nicht zuletzt ließ das Gericht zu, dass die Zeugen und der Geschädigte durch die Verteidigung „gegrillt“ und herabgewürdigt wurden – die Betroffenen gingen mit dem Gefühl aus dem Zeugenstand sie seien die Angeklagten, was sicherlich deren Retraumatisierung förderte. Es ist nicht nur die fehlende Sensibilität für Betroffene rechter Gewalt, es ist auch die explizite Reproduktion rassistischer Bilder, die in diesem Prozess griff: Die Verteidigung fragte, ob der Tatort als „Ort marodierender Jugendlicher“ und als „Treffpunkt der Kifferszene“ bekannt sei. Auch schon während der Ermittlungen wurden der Hinweis auf eine „gewisse Szene“ ernst genommen und ein Anruf beim Ordnungsamt getätigt. Die Polizistin fragte dort nach, ob es sich um einen „Brennpunkt für Ruhestörungen“ handele. Die Antwort war negativ. Während den Jugendlichen kaum geglaubt wurde, ging man den Verleumdungen Bähners immer wieder nach. All das verdeutlicht die mangelnde Sensibilität für rassistische Gewalt und ihre Betroffenen.

Weißes Privileg und Ignoranz sind Teil von Rassismus

Dass die Erfahrung Bähners, eines weißen Mannes, anders ist als die Erfahrung der Betroffenen, zeigte sich mehrfach: Trotz des Schusses auf einen Menschen und die Kenntnis, dass der Täter bewaffnet war, wurde in der Tatnacht von der Herbeirufung eines SEK-Teams abgesehen und zunächst ein sechsminütiger Anruf getätigt, um Bähner auf seine Festnahme vorzubereiten. Dieses Telefonat wurde nicht aufgezeichnet. Die Festnahme verlief sanft. Die Begründung des leitenden Ermittlers dafür war sehr banal, aber vielsagend: Es habe sich um ein bürgerliches Haus in einem bürgerlichen Viertel gehandelt: „Wir dachten, das klären wir so“. Für die zuvorkommende Art bedankte Bähners Verteidigung sich im Prozess bei der Polizei. Die Zeugenaussagen der anderen Polizist:innen über Bähners kühles und trotziges Verhalten am Tatort und dessen Aussage „Man muss sich schon selber helfen“ als Indiz für Selbstjustizbestrebungen wurden nicht mit den späteren Erkenntnissen über sein Weltbild in Verbindung gesetzt. Der Tatverdächtige wurde nicht einmal in Untersuchungshaft genommen. Stattdessen wurde der umfassende Waffenfund und die unangemessene Aufbewahrung der Waffen und Munition verharmlost, obwohl die Mordkommission ermittelte.

In den Ermittlungsakten ist außerdem die Rede von einem „Gerangel“ zwischen Bähner und Krys M., was einen körperlichen Konflikt auf Augenhöhe suggeriert. Dabei schilderten die Betroffenen, dass Bähner sie beleidgt hatte. Der Überlebende hatte dann verbale Erwiderungen getätigt, während der Täter versuchte, mit seiner durchgeladenen Pistole auf ihn einzuschlagen. Auf Rückfrage im Gericht, insbesondere nach den Zeugenaussagen, wurde von dem zuständigen Beamten eingestanden, dass es sich dabei um eine „flapsige Interpretation“ handle. Er habe gewusst, dass nur der Täter zugeschlagen habe. Diese „Flapsigkeit“ hätte jedoch enorme Konsequenzen auf den Prozess haben und Bähners Konstruktion einer Notwehrsituation unterstützen können. Wir sehen, Bähner profitierte von weißen Privilegien und Klassenjustiz: Wohlwollen, Unschuldsvermutung bis zuletzt und das Fehlen des Generalverdachts. Ob es noch mehr Gründe für die kooperative Stimmung zwischen Behörden und Bähner gibt, bleibt unklar.

Institutioneller Rassismus ist eine Struktur, sie braucht keine bösen Absichten

Wir wissen: Polizist:innen müssen nicht selbst zu Täter:innen werden oder rassistische Einstellungen teilen, um ein Teil von institutionellem Rassismus zu sein. Der Richter William MacPherson (England) erarbeitete im Jahr 1999 nach dem Mord an einem Schwarzen Jugendlichen, Stephen Lawrence, eine Definition von institutionellem Rassismus. Nachdem dieser 1993 von einem rassistischen Mob erstochen wurde, ging die Polizei trotz der vielen Hinweise und Indizien nicht mit aller Ernsthaftigkeit gegen die Täter vor, welche in der Folge aufgrund von Mangel an Beweisen freigesprochen wurden. Erst Jahre später wurde nach Bestrebungen von Aktivist:innen und der Familie der Fall nochmals aufgerollt und zwei Täter verurteilt. Erst danach wurde MacPherson damit beauftragt, etwaiges behördliches Fehlverhalten zu untersuchen. Sein Bericht definierte den institutionellen Rassismus damals als das „kollektive Versagen einer Organisation, angemessene und professionelle Dienstleistungen für Personen aufgrund ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft anzubieten. Dies kann in Entwicklungen gesehen oder festgestellt werden. Abwertende Einstellungen und Handlungsweisen tragen zur Diskriminierung und der Benachteiligung Angehöriger ethnischer Minderheiten bei. Dies erfolgt unwissentlich durch Vorurteile, Ignoranz, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotypisierungen.“ [Macpherson-Report, 1999] Hier wird deutlich, dass Motive, Intentionen oder ein spezifisch rassistisches Bewusstsein keine Voraussetzung für institutionellen Rassismus sind.

Es gilt zu dieser Definition hinzufügen, dass die Abwertung und Diskriminierung nicht nur unwissentlich, sondern auch bewusst erfolgen kann und nicht auf einer anderen Hautfarbe oder Ethnie basieren muss, sondern das Ergebnis von Konstruktion und Abwertung von Gruppen durch konkrete Handlungen ist. Die Institutionen schaffen es bis heute sich dieser hartnäckig zu verwehren.

Keine Ausländer:innen, keine Fremde – Rassismus!

Der institutionelle Rassismus materialisierte sich auch im nicht zeitgemäßen und falschen Umgang mit analytischen Begriffen. Während der Verhandlung und seitens der Polizei war stets von Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit die Rede. Dabei wissen wir, dass es weder um Nationalitäten, noch um eine vermeintliche „Fremdheit“ geht.. Rassismus trifft eben deutsche Staatsbürger:innen. Die Banalisierung des Rassismus und die Nutzung von Deckmantelbegriffen sind keine Lappalien. Durch die polizeiliche Behandlung der Betroffenen, also auch der traumatisierten Freunde des Angeschossenen, werden alltägliche rassistische Gewalttaten unsichtbar gemacht und tauchen dementsprechend weder in der Statistik noch im öffentlichen Bewusstsein als solche auf. Davon profitiert das Mittel der Täter-Opfer-Umkehr: Es wurde von Beginn an gemutmaßt, dass die Betroffenen aggressiv gewesen sein müssten, eventuell auch kriminell. Obwohl das Vorstrafenregister leer war, bohrte die Verteidigung Bähners mit Erlaubnis des Gerichts hier immer wieder vehement nach.

Noch immer fehlt deutschen Gerichten ein Rassismusverständnis. Bei der Strafzumessung kam der § 46 Abs. 2 StGB strafschärfend zur Anwendung, wobei hier nur das Motiv der Fremdenfeindlichkeit, nicht aber der rassistischen Beweggründe gewürdigt wurde. Eine Erklärung, warum diese Auswahl erfolgte, blieb das Gericht bei der Urteilsverkündung schuldig. Es setzte jedoch die gesamte terminologischen Vorgehensweise des Gerichts fort und fügte sich in die polizeiliche Sprache ein.

Die Kategorie Ausländerfeindlichkeit steht sinnbildlich für das deutsche Rassismusproblem, welches 1945 für beendet erklärt wurde. Die Binarität „Ausländer“ vs. „Deutsche“ ist dabei Ausdruck einer aus dem Kaiserreich stammenden rassialisierten Hierarchie, die noch auf dem alten Blutsprinzip basiert, das jedoch in der Einbürgerungspraxis bis in die 2000er zur Anwendung kam. Die Historikerin Maria Alexopoulou weist darauf hin, dass die Kategorie der sogenannten Ausländerfeindlichkeit noch von behördlicher Seite genutzt wird, obwohl die „biologistische, Herkunft wertende und hierarchisierende und damit an Rassekonzepte anschließende Bedeutungsdimension“ allseits bekannt sei. Es gebe ein geteiltes gesellschaftliches Wissen darüber, dass weiße Personen mit Hintergrund aus europäischern Ländern wie Schweden, Frankreich oder den Niederlanden, nicht in die „Ausländer-Kategorie“ kämen In den 1990er kam dann, mit den erneuten Pogromen, vermehrt der Begriff der Fremdenfeindlichkeit auf. Das Sprechen über Rassismus in Deutschland ist hingegen das Ergebnis der Kämpfe der Migrantisierten, die zuletzt in den 2000ern auch an den Universitäten und in der Zivilgesellschaft geführt wurden. Institutioneller Rassismus hängt eng mit Prozessen der Migration und ihrer begrifflichen Klassifizierung zusammen.

Der Kampf geht weiter!

Die Ignoranz gegenüber den Hinweisen auf Rassismus, die Laieneinschätzung zum Facebook-Profil, der Umgang mit den Betroffenen im Zeugenstand im Vergleich zu dem mit Bähner und den gewissenhaften Ermittlungen zu seiner Tatversion zeigen deutlich, wie tief verankert rassistische Mechanismen in den deutschen Institutionen sind. Solange Klassenjustiz und Ungleichheitsideologie im Polizei- und Sicherheitsapparat greifen, ist es an uns, Gerechtigkeit zu erkämpfen. Der Fall Bähner zeigt deutlich, wo es für die migrantische Gesellschaft wichtig ist, Druck auszuüben: Wir müssen weiterhin den rassistischen Normalzustand aufdecken und hinterfragen. Rassismus erkennen, ernst nehmen, als solchen benennen und entschlossen bekämpfen. Wir brauchen ein Ende der Täter-Opfer-Umkehr. Der Staat und seine Apparate müssen den Betroffenen und ihrer Erfahrung der rassistischen Kontinuität Gehör und Glauben schenken.

#Foto: Initiative Tatort Porz

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Durch die intergenerationale Weitergabe von Erfahrungen nehmen Familienmitglieder der nachfolgenden Generationen die Ängste und Sorgen ihrer Eltern und Großeltern auf. Ein in der Psychologie bereits beobachtetes Phänomen. Wie passiert das? – Eine kleine Reise durch drei Generationen Gastarbeiter*innen.

„Sie haben gelebt, nur um zu arbeiten.“ Dieser Satz fiel mehrmals während eines Gesprächs mit einem sehr guten Freund, der Ende der 1960er mit seinen Eltern aus Italien nach Deutschland kam. Wir tauschten uns als Nachkommen von Gastarbeiter*innen in Deutschland aus. Vor circa 60 Jahren waren sie nach Deutschland gekommen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Im Verlauf des Gesprächs wurde uns beiden klar, dass wir in der Gegenwart diesen jahrzehntelangen existenziellen Kampf unser beider Familien stark nachempfanden und als Teil unserer eigenen Geschichte wahrnahmen. Ihre Erfahrungen und Geschichten sind Teil unserer Identität und prägen unsere Entscheidungen noch heute. Es sind nicht nur die Erzählungen der Großeltern, sondern internalisierte Gefühle der Angst vor dem Verlust der Existenzgrundlage oder dem nicht dazugehören.

Die Forschung zur generationsübergreifenden Weitergabe von Trauma beschäftigt sich mit genau diesem Phänomen. Durch die Übertragung von Stress und Traumata auf die nachfolgenden Generationen erhöht sich die lebenslange Anfälligkeit für Depressionen und andere psychische Erkrankungen. Trauma wird häufig als eine Reaktion auf ein einzelnes Ereignis zurückgeführt. Es kann aber im Zusammenhang mit Migration auch aus einzelnen immer wiederkehrenden negativen Ereignissen entstehen. Der Migrationsprozess besteht aus verschiedenen Phasen, wie das Verlassen der Heimat und der Anpassung an ein neues Land. Während dieses Prozesses kann es ebenfalls zu schweren psychologischen Wunden kommen. Die Weitergabe dieser Wunden auf die nachfolgende Generationen wirkt sich unterschiedlich aus. Zum Beispiel durch das Verhalten, die weitergetragenen Geschichten oder die biologischen Auswirkungen von Stress der Elterngenerationen. Als ein weiterer Ansatz in der psychologischen Forschung wird die Weitergabe aber auch anhand der Ereigniszentralität betrachtet. Also dem Ausmaß indem ein Ereignis, wie die Migration, als ein bedeutender Aspekt der Identität wahrgenommen und in nachfolgende Generationen weitergetragen wird. Eine Studie von israelischen Forscher*innen fand heraus, dass die Erlebnisse der Überlebenden der Shoa besonders in der dritten Generation in die Identität der Familiennachkommen integriert wurden. Studien zeigen auch, dass die Zentralität von Ereignissen bei Menschen mit Migrationsgeschichte eine große Rolle spielt. Die mit der Migration zusammenhängenden Erlebnisse können so in die familiäre Identität integriert werden und haben Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit.

Die erste Generation

Als Kind von türkischen Gastarbeiter*innen machten die Erlebnisse meiner Familie einen großen Teil meiner Identität aus. Die Erzählungen der Familien, die wir bei uns im Umfeld hörten, waren meistens sehr ähnlich: Der Großvater verließ zunächst das Land, um alleine in Deutschland zu arbeiten und Geld in die Heimat zu schicken. Für meine Großeltern ergab sich diese Möglichkeit durch eine Steinfabrik für feuerfestes Material in Westdeutschland, aus deren Anwerbung eine ganze Wohnsiedlung für Arbeiter*innen entstand. Die Ehefrau und die Kinder kamen nach. Falls die Kinder jung waren, gingen sie zur Schule, falls nicht, mussten auch sie ihre Familien unterstützen und konnten ihren Bildungsweg nicht mitbestimmen. Wie meine Mutter, die ebenfalls in der Steinfabrik arbeitete.

Es gab für viele kaum Möglichkeiten sich weiter zu bilden, geschweige denn die nötige Zeit, finanzielle Möglichkeiten oder kognitive Ressourcen. Dementsprechend war die Sprache eine Hürde für ein selbstbestimmtes Leben. Unsere Großeltern benötigen bis heute unsere Hilfe bei Ärzt*innenbesuchen oder bei der Übersetzungen und Beantwortung von Dokumenten. Dass ihre jüngeren Kinder in der Schule diskriminiert wurden und ihnen eine anständige Chance auf Bildung erschwert wurde, unterstützte das Gefühl der Ausgrenzung immens.

Eine Existenz dazwischen

Die zweite Generation sollte es jedoch in Deutschland besser haben. Getrieben von der Sorge um das fehlende Fundament und die wenigen Optionen arbeiteten sie hart, um sich ein lebenswerteres Leben und Sicherheit aufzubauen. Die Existenzängste der ersten Generation wurden in der zweiten Generation weitergeführt und der soziale Druck wurde immer größer. Ein Eigenheim, um endlich anzukommen, und eine gute Schulbildung für die Zukunft der Kinder standen im Mittelpunkt der Zukunftsplanung. Die Angst vor dem Verlust der Existenzgrundlage sollte so verschwinden.

Das Leben meiner Eltern bestand darin, immer mehr zu wollen und immer mehr zu erreichen. Für ihre Akzeptanz als Mitglieder der Gesellschaft. Die Sorge davor diskriminiert und ausgeschlossen zu werden, weil man nicht den Normen entsprach, die die Dominanzgesellschaft vorgab, war ein roter Faden im Kapitel meiner Eltern.

Wir machen uns unser Zuhause

Und was ist mit der dritten Generation? Geprägt von den Geschichten unserer Familien, haben wir die Sorge, dass wir ununterbrochen Leistung bringen müssen, um nicht aus unserem Zuhause ausgeschlossen zu werden. Diese internalisierten Ängste können das Auftreten psychischer Erkrankungen begünstigen. Die dritte Generation hat jedoch die Möglichkeit, die Familiengeschichte bewusst anzunehmen, mit ihr zu arbeiten und diese bewusst in die eigene Identität und Perspektive zu integrieren.

Die postmigrantische Kunst und die Arbeit von Journalist*innen sorgen für ein nie dagewesenes Bewusstsein in den Köpfen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Wir haben endlich Zeit und Ressourcen, um all das, was unsere Großeltern und Eltern uns mitgegeben haben, all die Ängste, die Sorgen und Diskriminierung aufzuzeigen und zu verarbeiten.

Şeyda Kurt beispielsweise definiert in ihrem Buch „Radikale Zärtlichkeit“, die Liebe und Zärtlichkeit poststrukturalistisch neu und erzählt auf dem Weg zur Erkenntnis die Geschichte der Herkunft ihrer Eltern und ihrer Identität. Die perspektivische Wahrnehmung der Sorgen von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland wird nun durch die Folgegenerationen der Gastarbeiter*innen und Geflüchteten in die Identität und Geschichte Deutschlands integriert.

Auch die deutsche Filmkunst erzählte Anfang 2021 die Geschichte von Gastarbeiter*innen aus verschiedensten Ländern: Im Film Gleis 11 interviewt und begleitet Regisseur Çağdaş Yüksel die Geschichte der ersten Einwanderergeneration. Durch seine Linse wird das Bewusstsein für die Menschen, die ein großer Teil der Geschichte Deutschlands waren, größer. Dadurch wird deutlich, was für eine Vielfalt an Geschichten erzählt werden würde, gäbe es mehr Diversität in unserer Unterhaltungsbranche.

Aber auch die sozialen Medien helfen dabei, dieses Wissen für die breite Masse zu erweitern. Als ein Raum, in dem jede*r seine Geschichte erzählen kann – ohne einen Gatekeeper der Dominanzgesellschaft – wächst das Wissen über die vielen verschiedenen und sich doch ähnlichen Geschichten über das Migrationsland Deutschland.

Persönlichkeiten wie Alice Hasters, Gianni Jovanovic, Max Czollek, Mohamed Amjahid, Seyda Kurt und viele mehr, richten den Diskurs neu aus. Sie greifen damit bestehende Machtverhältnisse an und machen damit vielleicht den ersten Schritt, der nötig ist, damit die Weitergabe von diskriminierenden Erfahrungen und Traumata nicht in Stress, Angst oder der Anfälligkeit für psychische Erkrankungen münden. Sondern als Teil unserer Gesellschaft benannt, anerkannt und aufgenommen werden.

#Foto: via Wikimedia Commons

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Mittlerweile ist es 17 Jahre her, dass der aus Sierra Leone stammende Oury Jalloh am 07. Januar 2005 in der Zelle Nr. 5 des Dessauer Polizeireviers ermordet wurde. 
17 Jahre, in denen die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh Gedenkveranstaltungen und Solidarität organisierte, Brandgutachten durchführen ließ und sich für Aufklärung einsetzte. In denen viel geschrieben und gesagt wurde über die möglichen Todesumstände und die nicht stattfindende Aufarbeitung seitens Polizei, Justiz und Politik. Wer den Staat wohlwollend betrachtet, mag annehmen, dass hier eine schreckliche Ausnahme vorliegt, in der alle drei staatlichen Gewalten versagt haben. Schaut man sich jedoch die schiere Masse an sogenannten „Einzelfällen“ von rechter und faschistoider Gesinnung und Gewalt in den deutschen Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren und den politischen Umgang mit diesen an, beginnt man zu zweifeln. Wer sich dann noch mit dem konkreten Fall auseinandersetzt – mit all den Hinweisen, die aufzeigen, dass die offizielle Erzählung der Selbstentzündung so nicht stimmen kann – der muss zu dem Schluss kommen, dass es sich um einen vertuschten Mord handelt. Dass der Korpsgeist innerhalb der Polizei mehr zählt, als ein Menschenleben. Und, dass die zuständigen Gerichte einige juristisch fragwürdige Entscheidungen zugunsten der Beamten fällten. 

Schon die Festnahme Oury Jallohs am Morgen des 07. Januar 2005 war – wie zwei vom Landtag eingesetzte Expert:innen 2020 in ihrem Bericht feststellten – rechtswidrig. Keine seiner vorherigen Handlungen rechtfertigte diese. Hinzu kommt, dass Jalloh mit zirka drei Promille Alkohol und Spuren von Drogen im Blut zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht mehr gewahrsamtauglich war. Trotz einer ärztlichen Untersuchung wurde er am Vormittag des 07. Januar, in Zelle Nr. 5 im Keller des Dessauer Polizeireviers verbracht und dort an Händen und Füßen auf einer Matratze gefesselt. Das vorangegangene Telefonat zwischen dem Bereitschaftsarzt und dem Dienstgruppenleiter Andreas S. findet sich in den Gerichtsakten. Es ist herablassend und rassistisch. Was danach folgte, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Und das, was man weiß, ist grauenvoll. Oury Jalloh versucht mehrmals, durch die Sprechanlage auf sich aufmerksam zu machen, bittet darum, dass seine Fixierung gelöst wird. Nach einiger Zeit geht eine zuständige Polizistin Beate H. nach unten in den Keller und schaut nach ihm. Beim Verlassen der Zelle nimmt sie eine durchsichtige Flüssigkeit auf dem Boden der Zelle wahr, doch sie geht wieder nach oben ohne sich näher damit zu befassen. Jalloh ruft daraufhin erneut mehrmals durch die Sprechanlage, woraufhin Andreas S. diese leise stellt. Beate H. dreht sie wieder lauter. Auch den später erklingenden Feueralarm drückt Andreas S. zwei Mal weg. Erst als der Alarm für die Zellenbelüftung angeht, schickt sie ihren Gruppenleiter hinunter in den Keller, damit er nachschaut, was dort passiert. Im Folgenden hört sie nur noch panische Schreie durch die Sprechanlage. Niemand rettet ihn. Der junge Mann verbrennt an diesem Tag bei lebendigem Leib und ohne jegliche Chance, sich aus der Situation zu befreien.


Was danach folgt, ist eine unerträgliche Farce. Anstatt wegen Mordes zu ermitteln, steht das Urteil für viele der beteiligten Beamt:innen anscheinend schon fest: In den Mittelpunkt der Ermittlungen rückt die These, dass Oury Jalloh seine Matratze selbst angezündet haben soll und die anwesenden Polizist:innen lediglich nicht schnell genug gehandelt hätten. Doch dafür spricht nichts, wirklich gar nichts. Die Matratze ist feuerfest, das Feuerzeug wurde angeblich zwei Mal übersehen. Zunächst bei der Durchsuchung vor der Gewahrsamnahme, dann taucht es erst drei Tage später, am 10. Januar, im Brandschutt auf. Lediglich leicht angeschmort und mit Anhaftungen von Fasern und DNA, welche eindeutig nicht auf eine Benutzung durch Oury Jalloh zurückzuführen sind. Spätere Brandgutachten, welche von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh initiiert und durch Spendengelder bezahlt wurden, schließen aus, dass es ihm überhaupt möglich gewesen wäre, in gefesseltem Zustand die Doppelnaht der Matratze aufzureissen und anzuzünden. Und sie stellen fest, dass Brandbeschleuniger im Spiel gewesen sein muss. 
Doch von alldem will die Staatsanwaltschaft Dessau nichts wissen. Sie ermitteln gegen Andreas S. und einen weiteren Beamten, der angeblich das Feuerzeug übersehen hat, lediglich wegen fahrlässiger Tötung. Außerdem wehrt sie sich gegen eine Röntgenuntersuchung der Leiche. Eine zweite Obduktion findet im März 2005 dann doch statt – erneut organisiert und finanziert durch die Initiative. Diese zeigt einen Bruch des Nasenbeins, im Oktober 2019 wird darüber hinaus festgestellt, dass auch sein Schädel, sowie mehrere Rippen gebrochen sind. Die Herkunft dieser Verletzungen wird gerichtlich nicht weiter geklärt. Ganze 59 Verhandlungstage dauert der Prozess vor dem Dessauer Gericht und doch gibt es am Ende keine Aufklärung. Die beiden Beamten werden am 08. Dezember 2008 zunächst freigesprochen. 
Daraufhin legen die Anwält:innen der Familie Jallohs beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe Revision ein. Es folgen jahrelange Gerichtsverhandlungen: Erst in Magdeburg, wo es zunächst zu einer Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung kommt, nach einer von allen Seiten eingelegten Revision soll das Verfahren dann aber an die Bundesanwaltschaft übergeben werden. Diese verweigert sich jedoch ihrer Zuständigkeit und gibt die Ermittlungen an die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg ab, welche wiederum die Staatsanwaltschaft Dessau für zuständig erklärt. Schließlich bestätigt der Bundesgerichtshof im September 2014 – also neun Jahre nach dem Mord – das Urteil des Magdeburger Landgerichts, welches dadurch rechtskräftig wird. 

Doch die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh hört nicht auf, für Aufklärung und Gerechtigkeit zu kämpfen. Gegründet im Januar 2005 organisierte sie seitdem unzählige Kundgebungen und Mahnwachen, die jährlich stattfindende Gedenk-Demonstration sowie zwei radiologische Untersuchungen. Insgesamt drei unabhängige Brandgutachten wurden beauftragt, das letzte aus dem November 2021, ausserdem Pressekonferenzen sowie eine unabhängige internationale Kommission aus Sachverständigen und stellte zusammen mit der Familie von Oury Jalloh mehrmals Anzeigen wegen Mordes – teilweise mit konkreten Hinweisen zu einem möglichen Täter. Doch statt dem nachzugehen, wurde mit Repression gegenüber denjenigen reagiert, welche die Anschuldigungen äußerten. In einem Fall traf dies einen Justizvollzugsangestellten, welcher die Polizei darüber informierte, dass ein gewisser Udo S. (zu diesem Zeitpunkt schon im Ruhestand) der Mörder von Oury Jalloh sei. Gegen ihn wird ein Disziplinarverfahren eingeleitet und eine Anzeige wegen Verleumdung gestellt. Und auch die politische Aufklärung wird blockiert. Erst im August 2021 beschloss der Vorstand der SPD im Landtag von Sachsen-Anhalt, dass sie in der folgenden Legislaturperiode nicht für einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss stimmen wird. Sie geben sich mit dem Bericht der zwei Sonderbeauftragten aus dem Jahr 2020 zufrieden, welcher ihrer Auffassung nach belege, „dass offene Ermittlungsansätze zum Tod von Oury Jalloh nicht zu erkennen seien“. Diese Aussage ist zutiefst verachtend.
Doch trotz all diesem offensichtlichen Unwillen zur Aufklärung, trotz des vorherrschenden Korpsgeists und den wiederkehrenden Falschbehauptungen, arbeitet die Initiative weiter für „Aufklärung, Gerechtigkeit und Entschädigung“, wie es auf ihrer Website heißt. Und sie sind gut darin. Waren bei der ersten Demonstration in Dessau noch 150 Menschen, so kommen mittlerweile an jedem 07. Januar mehrere Tausend Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet in Dessau zusammen, um für die oben genannten Forderungen zu demonstrieren. Doch nicht nur auf der Straße zeigen sich die Errungenschaften der Initiative. Ihr und der Familie Oury Jallohs ist es zu verdanken, dass eine breite Öffentlichkeit auf den Fall aufmerksam geworden ist und das Narrativ der Selbsttötung angezweifelt wird.

Diese Kontinuität und Beharrlichkeit der Beteiligten ist wichtig in einem Land, in dem rassistische Morde oft zu einem seltenen Randphänomen verklärt werden, anstatt sie als das anzuerkennen, was sie sind: Die Konsequenz einer strukturell rassistischen Gesellschaft inklusive der ihr eigenen staatlichen Organe.

#Foto: PM Cheung

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„Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.“ Angesichts dieses mir schon lange vertrauten Zitats des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec muss ich immer zuerst an den Mann denken, der vor ein paar Tagen zum Bundeskanzler dieses Landes gewählt worden ist. Olaf Scholz erscheint mir wie ein Prototyp dieses von Lec beschriebenen Menschenschlags. Was bürgerliche Medien bei dem Sozialdemokraten als „Pragmatismus“ bejubeln, lässt sich wohl eher als kalte Arroganz der Macht beschreiben. In Scholz‘ politischer Karriere gibt es genug Ereignisse, die diese Einschätzung bestätigen – aber wohl keines so deutlich wie der Fall Achidi John.

Es ist ein irgendwie seltsam anmutender – aber auch bezeichnender – Zufall, dass der frühere Hamburger Bürgermeister ausgerechnet am 9. Dezember 2021 zum Bundeskanzler gewählt worden ist. Das war auf den Tag genau 20 Jahre nach den Vorgängen im Institut für Rechtsmedizin des Hamburger Universitätsklinikums (UKE), die den Nigerianer Michael Paul Nwabuisi, der sich Achidi John nannte, das Leben kosteten. Mit großer Brutalität wurde dem als Kleindealer verdächtigten und erst 19 Jahre alten Mann am 9. Dezember 2001 dort zwangsweise ein Brechmittel verabreicht, um verschluckte Drogenkügelchen zu Tage zu fördern. John erlitt einen Herzstillstand, fiel ins Koma. Drei Tage später wurde er auf einer Station des UKE für tot erklärt.

Der 20. Todestag von Achidi John wurde in den bürgerlichen Medien, von Ausnahmen abgesehen, in den vergangenen Tagen geflissentlich beschwiegen. In der überbordenden Berichterstattung über die Kanzlerwahl und die neue Bundesregierung, fanden die Verstrickungen von Scholz in die Affären um die Cum-Ex-Deals und Wirecard oder seine Rolle beim G-20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg gelegentlich Erwähnung. Aber mit dem Thema Brechmittel und seinem Anteil an der Sache wollte man dem neuen mächtigsten Mann im Staat offenbar nicht kommen. Dabei sagen die Vorgänge vermutlich mehr über ihn aus, als vieles andere.

Denn Achidi John kann ohne Übertreibung als direktes Opfer des machiavellistischen Politikansatzes des Olaf Scholz bezeichnet werden. Dazu muss man wissen, dass Scholz im Mai 2001 zum Innensenator Hamburgs ernannt worden war. Damals stand eine Bürgerschaftwahl im September bevor und der SPD und den Grünen drohte der Machtverlust. Die bürgerlichen Medien der Stadt arbeiteten fleißig daran, allen voran die Springerblätter Hamburger Abendblatt (inzwischen Funke-Gruppe), Bild und Welt. Die Kleindealer auf St. Pauli, in St. Georg und im Schanzenviertel, fast durchweg Afrikaner, wurden zum Hauptproblem der Stadt hochstilisiert. Zugleich baute die Presse den durch überharte Urteile aufgefallene Amtsrichter Ronald Schill, den man „Richter Gnadenlos“ getauft hatte, zum Heilsbringer auf.

Scholz versuchte der Schill-Partei, die mit dem Richter als Zugpferd gegründet worden war und rückblickend als Vorläufer der AfD bezeichnet werden kann, das Wasser abzugraben. Und zwar indem er einen harten Law-and-Order-Kurs fuhr. Dazu gehörte auch, dass er die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln gegen als Drogendealer verdächtigte Menschen erlaubte, obwohl es auch damals schon medizinische Bedenken gegen den Einsatz des Brechsirups Ipecacuanha gab. Mit diesem gewissenlosen Profilierungsversuch gab Scholz letzlich nur der rassistischen und protofaschistischen Schill-Partei recht, die folglich bei der Bürgerschaftswahl im September 2001 sensationelle 19,4 Prozent einfuhr und der CDU unter Ole von Beust an die Macht verhalf. Als Achidi John starb, war Schill bereits Innensenator.

Noch heute läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich Schilderungen der Foltertortur lese, die der junge Mann im Institut für Rechtsmedizin am 9. Dezember 2001 erleiden musste. Der Nigerianer wehrte sich verzweifelt gegen die Verabreichung des Sirups. Aber das half ihm nicht. Zuletzt fixierten ihn fünf Polizeibeamte. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen hielten sie ihn auf dem Boden fest. Erst nach mehreren Versuchen gelang es der Rechtsmedizinerin Ute L., John eine Magensonde durch die Nase einzuführen und ihm 30 Milliliter des Brechsirups Ipecacuanha sowie Wasser einzuflößen. Später gab es Vorwürfe, L. und die Beamten hätten den Nigerianer anschließend liegen lassen ohne sich um ihn zu kümmern und die Reanimation zu spät eingeleitet. Dieser Verdacht ließ sich aber offenbar nicht wirklich erhärten. 

Weder Ute L. noch einer der beteiligten Beamten wurden jemals angeklagt. Die Staatsanwaltschaft stellte ein Vorermittlungsverfahren gegen die an dem Einsatz Beteiligten im Juni 2002 ein. Ein Klageerzwingungsverfahren des Vaters von Achidi John wurde vom Hanseatischen Oberlandesgericht im Juli 2003 wegen angeblicher Formfehler abgelehnt. Natürlich gab es weder von Olaf Scholz, noch von Klaus Püschel, dem kürzlich pensionierten Leiter des IfR, auch nur das geringste Wort des Bedauerns oder gar eine Entschuldigung. Unter Püschels Leitung wurden auch nach dem Tod von John die Brechmitteleinsätze noch bis ins Jahr 2006 fortgeführt. 

Erst danach wurde die zwangsweise Verabreichung in Hamburg eingestellt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte im Juli 2006 geurteilt, dass die erzwungene Vergabe von Brechmitteln gegen das Folterverbot des Artikels 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Nach Angaben der Hamburger „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ wurden zwischen 2001 und 2006 insgesamt 530 Menschen – fast ausschließlich schwarze junge Männer – von der Polizei dem Institut zugeführt und mit einer Zwangseinflößung des Brechmittels bedroht, respektive malträtiert. Was wenig bekannt ist: Die „freiwillige“ Einnahme von Brechmitteln wurde noch bis 2020 fortgesetzt. Wobei von Freiwilligkeit nicht wirklich gesprochen werden kann, wenn einer Straftat Verdächtigte unter Druck gesetzt und Vorteile bei „Kooperation“ versprochen werden.

Die „Initiative zum Gedenken an Achidi John“ hat aus Anlass seines 20. Todestages dem Vorstand des Universitätsklinikums Eppendorf geschrieben und ihn unter anderem gefragt, „wie er heute zu der damaligen menschenrechtswidrigen Praxis am IfR steht, und ob zumindest eine medizin-ethische Aufarbeitung am UKE stattgefunden habe“. Die Antwort des UKE in einem Schreiben vom 12. August sei keine, erklärte die Initative in einer Mitteilung. Das UKE habe lediglich auf Bürgerschaftsdrucksachen verwiesen. „In den Räumen des Instituts für Rechtsmedizin ist gefoltert worden“, wird der Sprecher der Initiative, Daniel Manwire, zitiert. Püschel und seine Mitarbeiter hätten sich den Einsätzen verweigern können und müssen.


Ebenso wie die Linksfraktion in der hamburgischen Bürgerschaft fordert die Initiative eine Entschuldigung der Verantwortlichen und die Einrichtung eines „würdigen Gedenkortes“ für Achidi John und die anderen von der Brechmittelfolter Betroffenen auf dem Gelände des UKE. Daraus dürfte aber nichts werden. Ein entsprechender Antrag der Linken in der Bürgerschaft wurde abgebügelt. Von Vertreter*innen der SPD und der Grünen gab es Worte des Bedauerns, entschuldigen wollten sie sich nicht.

Olaf Scholz wird vermutlich weiterhin gut schlafen können, da er sich wohl – wie immer – nichts vorzuwerfen hat. Das Hermetische seiner Auffassungen macht Angst, mir jedenfalls. Ein langjähriger Abgeordneter der Linken in der Bürgerschaft erzählte mir einmal eine Begebenheit, die viel über den Sozialdemokraten aussagt. Er habe versucht, Scholz seinen Standpunkt zu erläutern, darauf habe dieser zu ihm gesagt: „Das weiß ich doch alles schon. Da sagen Sie mir nichts Neues.“ Diese felsenfeste Überzeugung, alles besser zu wissen, kann gefährlich sein – vor allem wenn jemand an den Hebeln der Macht sitzt. 

#Foto: Wikimedia Commons

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Die Abschottungspolitik der Europäischen Union führt immer wieder zu Eskalationen an den Außengrenzen der Staatengemeinschaft. Zuletzt hat sich die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze zugespitzt, weil eine wachsende Zahl Geflüchteter versucht, über diese Route in die EU zu gelangen. Als Antwort entsandte die polnische Regierung tausende Soldaten an die Grenze und richtete eine Sperrzone ein, in die weder internationale Beobachter noch Ärzte und Journalisten gelassen werden. Helfer dringen dennoch unter Inkaufnahme persönlicher Risiken zu den Geflüchteten vor. Sie berichten von unhaltbaren Zuständen. Die Aktion Mauerfall jetzt! – bestehend aus der Seebrücke DeutschlandLeaveNoOneBehind und dem Verein Wir packen’s an aus dem brandenburgischen Bad Freienwalde – brachte vor kurzem mit einem Bus Sachspenden an die Grenze. Unter den Aktivisten war auch Tareq Alaows, aktiv bei Seebrücke und dem Flüchtlingsrat Berlin. Im Interview mit dem Lower Class Magazine berichtet er von der Aktion und der Lage an der Grenze. 

Ihr wolltet den Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze Hilfsgüter bringen. Wie ist es gelaufen?

Leider sind wir nicht bis zur Grenze durchgekommen. Direkt an der Sperrzone wurde der Bus gestoppt. Plötzlich war überall Polizei, uns wurde erklärt, dass wir umkehren müssten. Die Situation war so eskalierend, dass wir das wir das Gefühl hatten, man würde uns in Gewahrsam nehmen, wenn wir noch geblieben wären. Schweren Herzens haben wir uns zur Umkehr entschlossen, da eine Konfrontation hier keinen Sinn gemacht hätte. Die Hilfsgüter, die wir dabei hatten, haben wir an humanitäre Organisationen übergeben, die eine Möglichkeit haben, sie Geflüchteten zukommen zu lassen. 

Erklärtes Ziel eurer Aktion war neben dem Transport von Sachspenden, geflüchtete Menschen auf der Rückfahrt mit nach Deutschland zu nehmen. 

Ja. Wir hatten beim Bundesinnenministerium um eine Erlaubnis gefragt, dass wir Geflüchtete im Bus mit nach Deutschland zurücknehmen können. Es lagen bereits Zusagen von drei deutschen Kommunen vor, die Menschen aufzunehmen. Aber wie nicht anders zu erwarten war, hat das BMI (Bundesministerium des Inneren, Anm.) auf unser Hilfsangebot nicht reagiert. 

Habt Ihr denn bei eurer Aktion Geflüchtete treffen können?

Vor Ort ging das leider nicht. Aber ich bin über die sozialen Medien im Kontakt mit vielen geflüchteten Menschen in der Grenzregion. Weil ich eine relativ große Reichweite in den entsprechenden Communities habe und selbst arabisch spreche, schreiben sie mich dort an. Ich komme ja aus Syrien und bin vor sechs Jahren selbst geflüchtet und dann nach Deutschland gekommen, habe hier deutsch gelernt. 

War hörst du über die Lage vor Ort? Es heißt die Versorung sei miserabel, die Menschen der Kälte und Witterung seit Tagen und Wochen fast schutzlos ausgeliefert. Ein Video des belarussischen Fernsehens zeigte Menschen, die um Lagerfeuer kauern. 

Von der belarussischen Seite gibt es überhaupt keine Versorgung. Die Menschen haben faktisch nur die Sachen, die sie mit sich tragen. Wer also eine Decke mitgebracht hat, der hat eine. Wer keine dabei hatte, hat eben keine. Sie versuchen, sich an Lagerfeuern ein wenig zu wärmen. Auch zu Essen und zu Trinken haben die Menschen zu wenig. Viele sind schon länger dort. Sie kommen weder über die von Grenzpolizisten und Soldaten gesicherte polnische Grenze, noch kommen sie zurück nach Belarus. Die Grenzer auf belarussischer Seite lassen sie nicht durch, um zum Beispiel etwas zum Essen oder zu Trinken zu beschaffen. 

Das heißt, die Menschen sind im Grunde eingesperrt in den Wäldern.

Sie stecken fest im Niemandsland zwischen den beiden Staaten, kommen nicht vor und nicht zurück. 

Bis vor kurzem war von zehn bestätigten Todesfällen die Rede, Menschen, die erfroren oder an Dehydrierung gestorben sind. Jetzt kam noch ein Fall hinzu.

Ja, es ist schrecklich. Ein 14 Jahre alter Junge wurde heute morgen tot aufgefunden, offensichtlich ist er erforen. Viele Berichte, die ich von Geflüchteten aus der Region empfange, sprechen von viel mehr Toten als den jetzt elf bestätigten. Die Dunkelziffer ist hoch. Viele Geflüchtete, die durchgekommen sind und hier in Deutschland ankommen, berichten, dass sie in den Wäldern Leichen gesehen haben. 

Wie viele Geflüchtete halten sich denn nach deinen Kenntnissen in der Grenzregion auf?

Laut den Zahlen, die ich bekomme, sind es 4000 bis 5000 Personen. Aber es könnten auch noch mehr sein. 

Es heißt, die polnischen Grenzpolizisten und Soldaten würden äußerst brutal gegen die Menschen vorgehen. Die Männer, die es geschafft hätten und hier ankommen, hätten fast alle Hämatome oder andere Verletzungen. Entspricht das deinen Erkenntnissen?

Das kann ich bestätigen, auch auf Grundlage der Berichte meiner Kollegen aus der Flüchtlingsberatung in Berlin. Es liegen viele Berichte von Gewaltspuren an den Körpern der Menschen vor, meist erwachsene Männer. Es wird von hunderten rechtswidrigen Pushbacks berichtet, die mit Gewalt verbunden sind. Von denen, die hier sind, sind die wenigsten gleich beim ersten Mal durchgekommen. Als wir vor Ort waren, bekam ein Aktivist einen Anruf von einer achtköpfigen Familie mit schwerkranker Tochter. Die hatte drei oder vier Mal versucht, über die Grenze zu kommen. Es wurde berichtet von Gewaltspuren bei diesen Menschen, das Kind wurde nicht medizinisch versorgt. Wir wissen nicht, wie es ihnen jetzt geht und wo sie sind. 

Hierzulande hat die Entwicklung eine üble Kampagne in den Leitmedien und viel Hetze in den sozialen Medien ausgelöst. Bild, Welt, die FAZ und viele andere Medien haben kritiklos das Narrativ übernommen, es handele sich um einen „hybriden Krieg“ des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, die Geflüchteten würden „als Waffen benutzt“. Was sagst du dazu?

Diese Berichterstattung und die Debatte führen zu einer Enthumanisierung. Wir haben es mit Menschen zu tun, die in Not sind. Sie kommen zu einem großen Teil aus Syrien, Irak und Afghanistan. Das sind Länder die instabil sind, in denen es Kriege gibt oder gab. Die Not dieser Menschen wird von Lukaschenko missbraucht, keine Frage. Aber die politische Antwort der EU kann nicht sein, dass neue Zäune und Mauern errichtet werden, sondern die müssen abgebaut werden. Ich begreife nicht, woher diese Angst vor den geflüchteten Menschen kommt. Wir machen uns doch erpressbar, wenn wir mit Panik reagieren. Die Gesamtzahl der Menschen an der Grenze liegt, wie gesagt, bei etwa 5000 Personen. Wenn die alle aufgenommen und in ganz Europa verteilt werden, dann machen sie einen Anteil von 0,01 Prozent der europäischen Bevölkerung aus. 

Rechte Politiker und Medien wie die Bild-Zeitung arbeiten mit dem Framing, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Den Satz kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung heraus nur bekräftigen – allerdings ganz anders, als etwa die CDU oder die AfD es meinen. Ich gehöre zu den Menschen, die damals nach Deutschland gekommen sind und weiß, wovon ich rede. 2015 bedeutet soviel Leid, bedeutet brutale Reaktionen gegen geflüchtete Menschen, 2015 steht für viele, die ertrunken sind. Und das ist es, was sich auf keinen Fall wiederholen darf. Darum müssen wir sichere Fluchtwege schaffen, dass Menschen Asyl außerhalb von Europa beantragen können und sich nicht auf solche lebensgefährlichen Routen begeben müssen. 

Die EU scheint das Elend der Menschen an der Grenze nicht zu interessieren. Offenbar geht es nur darum, die Abschottung um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Ist es nicht absurd, wenn EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen, Lukaschenko Zynismus vorwirft?

Natürlich. Die EU macht ja selbst zynische Deals mit Diktatoren, nur um Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Zum Beispiel der sogenannte Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Oder der Deal mit der so genannten libyschen Küstenwache, das sind paramilitärische Gruppen, die von der EU finanziert werden, um Geflüchtete aufzuhalten. Das Muster ist immer dasselbe, man will null Asylbewerber in Europa. Aber das funktioniert einfach nicht, weil die Menschen aus Ländern kommen, in denen sie keinerlei Perspektive haben. Selbst wenn die Hoffnung für sie, ein sicheres Leben in Europa zu führen, noch so gering ist, ist das noch eine Hoffnung – in ihrer Heimat haben sie gar keine Hoffnung mehr. 

#Titelbild: Srishti Pandya on unsplash

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Was dem einen sein Sarrazin, ist dem anderen sein Palmer. So könnte man in leichter Abwandlung eines bekannten Sprichworts aktuelle Entwicklungen in der Parteienlandschaft der Republik kommentieren. In einer Zeit spätkapitalistischer Zerfallsprozesse und einer unübersehbaren Verrohung des Bürgertums nehmen zwangsläufig auch die Fliehkräfte in den bürgerlichen Parteien zu. Wobei die Linkspartei in diese Kategorie leider einzubeziehen ist, da sie – von lobenswerten Ausnahmen abgesehen – die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie weitgehend akzeptiert hat und nicht wirklich daran arbeitet, das System zu überwinden. Folglich hat sie auch Anteil an den systemischen Defiziten und Krankheiten.

Vor dem Hintergrund der geschilderten gesellschaftlichen Prozesse ist es wohl kaum ein Zufall, dass sich fast zeitgleich drei der im Bundestag vertretenen Parteien mit prominenten Abweichlern in den eigenen Reihen herumärgern müssen: Bündnis 90/Die Grünen mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, die CDU mit dem früheren Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen und Die Linke mit der früheren Fraktionschef der Partei im Bundestag, Sahra Wagenknecht. So unterschiedlich die drei Fälle im Detail sind, sind sie doch im Kern auf ein- und dieselbe Problematik, ein- und dasselbe Grundmotiv zurückzuführen. Während Emerson, Lake & Palmer in den 1970ern mit ihrem progressiven Rock den Hörer*innen neue musikalische Sphären erschlossen, heißt der Hit des Trios Wagenknecht, Maaßen & Palmer, bei dem all die reaktionären Angstbeißer, vor allem aus der Mittelschicht, lauthals mitsingen: „Das wird man wohl noch sagen dürfen“.


Im Kern geht es bei diesen Dreien und ihrem Vorläufer und Wegbereiter, dem früheren Sozialdemokraten Thilo Sarrazin, letztlich doch nur um Eines: die xenophobische Grundstimmung im Bürgertum zu bedienen und zu nähren. Alle vier sind in ihren jeweiligen Milieus Sprachrohr einer sich in der Regel missverstanden fühlenden Gruppe, die ihre Ressentiments gegen Geflüchtete und andere marginalisierte Menschen pflegen möchte, ohne dafür irgendwie moralisch in Frage gestellt oder gar beschuldigt zu werden, ohne „in die rechte Ecke gestellt zu werden“. Sarrazin, Wagenknecht, Maaßen und Palmer geben den Ressentiments vor allem der Mittelschicht, die sich letztlich aus deren Angst vor dem sozialen Abstieg und von ihr als bedrohlich empfundenen Dynamiken speist, in je eigener Prägung Ausdruck und sprechen sie pauschal von aller Kritik frei.

Sarrazin hat auf sehr plumpe und offen rassistische Art und Weise mit seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ schon 2010 den Aufschlag gemacht. Für die SPD hat das den unschätzbaren Vorteil, dass sie ihren Abweichler schon los geworden ist, auch wenn das Ausschlussverfahren etwas gedauert hat. CDU, Grüne und Linke müssen sich dagegen noch mindestens im gesamten Bundestagswahlkampf mit den Sarrazin-Epigonen herumärgern. Bei der Union und der Linken haben es Maaßen resp. Wagenknecht bekanntlich sogar geschafft, sich trotz ihrer Außenseiterpositionen für den Bundestag aufstellen zu lassen. Maaßen wurde im tiefschwarzen Südthüringen nominiert, Wagenknecht gar auf Platz 1 der Landesliste in Nordrhein-Westfalen gewählt. Gegen die beiden wird offenbar auch kein Ausschlussverfahren in den jeweiligen Parteien erwogen, während Palmer seit kurzem bei den Grünen eines am Hals hat, nachdem er es mit dem Provozieren etwas übertrieben hatte.

Wagenknecht, Maaßen & Palmer arbeiten nicht ganz so mit dem Holzhammer wie Sarrazin, am ehesten noch Maaßen. Seine Äußerungen sind kompatibel mit denen von AfD-Vertretern und anderen reaktionären Gestalten. Maaßen verkörpert den hetzerisch-paranoiden Typus, dessen verzerrte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht anders als pathologisch genannt werden muss. Er glaubt offensichtlich tatsächlich daran, dass die Republik von einer „links-grün-versifften“ Mafia regiert wird, die das Land ins Unglück stürzt und in der „aufrechte Bürger“ wie er, die sich tagtäglich um die Rettung des Abendlandes und seiner Werte bemühen, eine verfolgte Minderheit sind. Seine Bemerkungen sind oft unfreiwillig komisch, etwa als er einst „linksradikale Kräfte in der SPD“ ausgemacht haben wollte. Ob Maaßen wegen seiner verschrobenen politischen Positionen zum Chef des Inlandsgeheimdienst gemacht wurde oder erst durch die Tätigkeit in dem Laden durchgeknallt ist, lässt sich nicht sagen.

Der Tübinger Lockdown-Lockerer Boris Palmer, dem in dieser Kolumne bereits ein eigener Beitrag gewidmet war, würde wohl nie so holzschnittartig wie Maaßen argumentieren. Er steht eher für den grün lackierten Wohlstandsbürger, der es versteht, wortreich zu begründen, warum seine Ressentiments keine sind. Als typischen Anhänger Palmers kann man sich vielleicht, um ein Klischee zu zitieren, einen Oberstudienrat vorstellen, der gern als linksliberaler Intellektueller gesehen werden will, tatsächlich in vielem aber ein Reaktionär ist. Ein ähnliches Klientel dürfte Sahra Wagenknecht bespielen, wenn man sich dieses vielleicht auch insgesamt noch jünger und sich noch eher als links verstehend vorstellen muss.

Die rote Diva verbindet mit Maaßen, dass sie sich auch als verfolgte Unschuld sieht. Da es bei einer Linken natürlich noch viel weniger akzeptiert wird, gegen Geflüchtete oder andere Marginalisierte Stellung zu beziehen, ist der rhetorische Aufwand und das Maß an Verdrehtheit in der Argumentation von Wagenknecht noch mal erheblich größer als bei Sarrazin, Palmer und Maaßen. Sie hat bekanntlich kürzlich ein ganzes Buch geschrieben, um klar zu stellen, dass sie keine Rassistin ist, sondern tatsächlich ganz vorn an der Barrikade steht, Arm in Arm mit den revoltierenden Massen. Ihr Machwerk „Die Selbstgerechten“ ist selbstredend genauso ein Bestseller, wie es Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ oder Palmers „Wir können nicht allen helfen“ waren. Von Maaßen gibt es übrigens bisher nur trockene juristische Fachliteratur, etwa über die „Stellung des Asylbewerbers im Völkerrecht“ – da kommt der Bestseller wohl noch.

Bedenklich ist an all dem vor allem, dass vier so defizitäre Charaktere mit politisch mehr als bedenklichen Positionen von den bürgerlichen Medien, voran den Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dermaßen gehypet werden. Das hat natürlich etwas mit den Funktionsweisen und Imperativen von Medien im Kapitalismus zu tun. Radau sorgt für Quote. Die öffentliche Präsenz der Drei hat aber auch damit zu tun, dass sie ein Thema repräsentieren, das trotz der seit 2015 zurückgehenden Zahlen bei den Asylbewerbern keineswegs verschwunden ist und unterschwellig auch den Bundestagswahlkampf mitbestimmt: die Angst vor den anderen, den Fremden. Das Thema an die AfD zu delegieren und aus den bürgerlichen Parteien herauszuhalten, funktioniert ganz offenbar nicht.

Wagenknecht, Maaßen & Palmer bleiben weiter in den Charts und wir werden sicher noch manchen „Hit“ von ihnen hören.

# Titelbild: Emerson, Lake & Palmer, Gorupdebesanez CC BY-SA 3.0, Boris Palmer © Superbass / CC-BY-SA-4.0 (via Wikimedia Commons)“, Maaßen, Bundesministerium des Innern/Sandy Thieme CC BY-SA 3.0, Wagenknecht © Superbass / CC-BY-SA-4.0 (via Wikimedia Commons), Collage: LCM

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Die Massenproteste gegen die Zwangsräumungen von Palästinenser:innen in Sheikh Jarrah und die weltweiten Solidaritätsdemonstrationen haben auch im internationalen Diskurs eine Verschiebung eingeleitet – nur Deutschland und Österreich hinken hinterher, meint unser Gastautor Marik Ratoun.

Viel läuft schief in der hiesigen Diskussion über die aktuellen Entwicklungen in Palästina-Israel: In den letzten Wochen hat das hochgerüstete israelische Militär in Gaza gezielt dichtbevölkerte Wohnviertel bombardiert, kritische Infrastruktur zerstört (darunter das einzige Corona Testzentrum in Gaza, Mediengebäude, Schulen, Straßen, die zu Krankenhäusern führten etc.) und 219 Menschen, darunter 63 Kinder, ermordet. In deutschen Medien – zwischen linken und bürgerlichen Medien waren hier oft kaum Unterschiede zu verzeichnen – standen allerdings nicht diese Kriegsverbrechen im Vordergrund, sondern der Raketenbeschuss des bewaffneten Arms der Hamas auf israelische Städte, bei dem 28 Menschen ums Leben gekommen sind. Daneben waren antisemitische Geschehnisse vor Synagogen Thema sowie die vielen Demonstrationen gegen die koloniale Gewalt in Palästina am Tag der Nakba (15.05). Gezielt wurden die fortschrittlichen Demonstrationen, deren Organisator*innen sich zuvor eindeutig von Antisemitismus und Faschismus distanziert hatten, unter die antisemitischen Geschehnisse subsumiert.

Was wir in der deutschen Berichterstattung und den apologetischen Reflexen der meisten bürgerlichen Politiker*innen beobachten können, ist eine Weigerung die Realität der Apartheid und der siedlerkolonialen Gewalt in Palästina-Israel anzuerkennen. Die bedingungslose „Solidarität mit Israel“ scheint ein verzweifeltes Aufbäumen zu sein gegen diese Realität und gegen den fortschreitenden Wandel im weltweiten Blick auf die Situation, der sich verschiebt. Überall hat es große Demonstrationen in Solidarität mit den Palästinenser*innen gegeben. In Berlin waren mehr als 15.000 auf der Straße, in London waren es gar 180.000 Menschen. Und sogar in den US-amerikanischen Leitmedien kamen Aktivist*innen zu Wort, die vor laufender Kamera sagen können, was ist. So erklärte der palästinensische Aktivist Mohammed El-Kurd bei einem Interview beim MSNBC am 11. Mai über die Entwicklungen im Jerusalemer Stadtviertel Sheikh Jarrah: „Das ist ethnische Säuberung“. Ein MSNBC Kolumnist analysierte: „Wir müssen in der Lage sein zu sagen, dass Israels Behandlung der Palästinenser Apartheid ist. Punkt.“ Dies war bei den früheren Gewaltausbrüchen unvorstellbar. Auch einige Politiker*innen der demokratischen Partei verurteilten die israelischen Angriffe weit schärfer, als es bisher toleriert wurde. Diese Sag- und Hörbarkeit palästinensischer antikolonaler Perspektiven ist eine Folge der jahrelangen Organisierung palästinensischer und solidarischer jüdischer Aktivist*innen in den USA.

In Deutschland sind wir scheinbar noch weit entfernt, einen derartigen Wandel in der allgemeinen und linken Berichterstattung zu spüren. Der Verlust der Überzeugungskraft des israelischen Regierungsnarrativs, wonach Israel sich stets angemessen gegen Angriffe von außen selbst verteidige und „beide Seiten an der Eskalation schuld seien“ ist nach wie vor dominant.

Deshalb sollten wir daran arbeiten, dass sich das ändert. Gerade aus linksradikaler Sicht ist es unsere Aufgabe, die Analyse der Palästinenser*innen populär zu machen und nach außen zu tragen. Denn sie haben vor allem in Deutschland keine großen Lobbyorganisationen oder kraftvollen politischen Kanäle, die ihre Sicht auf die Dinge hörbar machen könnten. Aber sie haben die Bewegung, sie haben uns. Umso wichtiger ist es, dass wir ihre Stimmen verstärken und unterstützen: Es ist Zeit, dass wir beginnen, das anhaltende Schweigen der deutschen Linken im Angesicht der mehr als 70 Jahre andauernden Unterdrückung der Palästinenser*innen zu beenden. Es ist Zeit, dass wir uns eine kritische und sachkundige Analyse und Beschreibung von den Entwicklungen in Palästina-Israel aneignen, statt untätig im Paradigma der „beiden Streithähne aus Nahost“ und der „Selbstverteidigung Israels“ zu verharren. Die Wörter, die wir benutzen, um die Entwicklungen zu beschreiben, haben in diesem Befreiungskampf eine herausgehobene Stellung: Weil die Palästinenser*innen sich angesichts der israelischen Gegenmacht nicht selbst befreien können, appellieren sie an die Welt, sie nicht im Stich zu lassen. Und hierzu gehört auch, sich vehement gegen die fabrizierte Verteidigung der andauernden Kolonisierung palästinensischen Lands zu stellen.

Nicht erst der Bericht von Human-Rights-Watch vom 27. April 2021 hat gezeigt, dass es in Palästina-Israel nicht einfach um ein bisschen Diskriminierung, sondern glasklare Apartheid, d.h. strukturelle ethnische Separation, geht. Seit Jahrzehnten sprechen palästinensische Aktivist*innen im Angesicht von Mauern, Checkpoints, ethnischer Säuberung und Vertreibung, rassistischen Gesetzesregimes (für Palästinenser*innen in Israel gilt israelisches Zivilrecht, für Palästinenser*innen unter Besatzung Militärrecht) und der Einkreisung der arabischen Städte in der Westbank von Apartheid, ohne jedoch Gehör zu finden. Genauso ist inzwischen den meisten progressiven Kreisen (außerhalb von Deutschland und Österreich) klar, dass die Natur des Konflikts keine religiöse, sondern eine siedlerkoloniale ist. Die Pogrome gegen Palästinenser*innen innerhalb von Israel durch zionistische Siedler*innen, mit Rückendeckung der Polizei, die regelmäßigen Angriffskriege auf Gaza, die Militärgewalt in der Westbank, all das ist Teil der siedlerkolonialen Gewalt. Diese Gewalt hat die Funktion, den Zugriff auf Land und Territorium für die Siedlergesellschaft zu ermöglichen, indem das Land von der indigenen Bevölkerung zur Siedlergesellschaft übergeht („ethnische Säuberung“).

Und schließlich wird es Zeit, dass wir die Tragweite der letzten Wochen für die palästinensische Befreiungsbewegung anerkennen. Sowohl die palästinensischen Fraktionen als auch die Israelis und internationale Beobachter*innen waren vor allem überrascht von einem Aspekt: der Einheit der Palästinenser*innen. Auch nach mehr als 100 Jahren „teile und herrsche“ und nach jahrelanger politischer Separation demonstrierten Menschen in Gaza für Sheikh Jarrah (Jerusalem) und Menschen in Haifa für Gaza. Die Palästinenser*innen organisierten Demonstrationen unabhängig von den korrupten politischen Eliten und riefen zu einem massiven Generalstreik im ganzen historischen Palästina am 18.05 auf.

Diese Proteste, die vereinzelt und womöglich verfrüht als „Intifada der Einheit“ beschrieben werden, sind eine historische Zäsur. Die neue Generation der Palästinenser*innen, die nur die Stagnation seit Oslo und die brutale Zerschlagung der palästinensischen Gesellschaft während der zweiten Intifada kennt, diese Generation, die nur das regelmäßige vernichtende Bombardement von Gaza und die zerstörten Flüchtlingslager kennt, beginnt sich vom Jordan bis zum Mittelmeer zu erheben gegen ihre koloniale Unterdrückung und für die Dekolonisierung in Palästina-Israel zu kämpfen. Und wir sollten uns endlich konsequent an ihre Seite stellen. Denn wie der berühmte palästinensische Schriftsteller und Revolutionär Ghassan Kanafani einmal gesagt hat: “Die palästinensische Sache ist nicht nur eine Sache für Palästinenser, sondern eine Sache für jeden Revolutionär, wo immer er sich befindet, als Sache der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in unserer Zeit.”

#Bildquelle: Pixabay

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Seit etwas mehr als zwei Jahren existieren die Black Socialists in America (BSA) und machen mit einer klassenorientierten, strömungsübergreifenden Propaganda von sich reden. Unser Autor Paul Sommer hat in einem ausführlichen Gespräch mit Demetrius, Mitlied der BSA und Co-Host des Podcasts „1000 cuts“, über die Lage in den USA, die Notwendigkeit einer Schwarzen Organisierung und die Perspektiven der Revolutionär:innen im Herz der Bestie gesprochen. (Teil 1 von 3)

Ihr habt euch erst kürzlich, im Jahr 2018, gegründet, obwohl es ja bereits zahlreiche linke Organisationen gibt. Was waren die Gründe, eine neue und auch eine spezifisch Schwarze Organisation zu gründen?

Ich war zwar nicht unter den Gründer*innen, aber es ging wohl darum, eine Leerstelle in der Schwarzen Linken zu füllen. Es gibt bereits zahlreiche linke Organisationen, aber ihnen fehlt oft ein klares Programm und sie machen ihre komplexen Konzepte, welche nicht zugänglich und verständlich für die Menschen sind. Genau das versuchen wir, beispielsweise mit unserer Leseliste oder unseren Infografiken über verschiedene theoretische und historische Themen wie Soziale Ökologie, Paternalismus oder die Funktionsweise von Arbeiter*innen-Kooperativen und Betrieben unter Arbeiterselbstverwaltung. Und dafür bekommen wir großartige Rückmeldungen.

Ein Weiterer Grund ist, dass wir in einer Zeit leben, in der der Anblick des Todes Schwarzer Menschen, beispielsweise der Mord an George Floyd, wie ein Stich in ein Wespennest war. Daraufhin haben wir extrem viel Unterstützung bekommen, weil es Menschen gibt, die auf der Suche nach spezifisch Schwarzen Organisationen wie der unseren sind.

Und ich denke, dass das sogar gefährlich sein kann. Natürlich nicht, sich mit anderen Menschen zusammenzutun und sich zu organisieren. Sondern der paternalistische Instinkt, der Leute dazu bringt, autoritären Kaderparteien beizutreten, die den Menschen sagen, was zu tun ist. Manche Menschen wollen lieber einer solchen Partei beitreten, als einer Organisation beizutreten, die Autonomie und direkte Demokratie in den Mittelpunkt stellt und sie dazu ermutigt rauszugehen und sich gegen die Herrschafts- und Ausbeutungssysteme zu wehren. Aber ich denke, die meisten Leute suchen einfach nur nach Orten mit neuen Perspektiven, um sich dort zu informieren.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Menschen nach Organisationen suchen, die ein Programm, Strategien und Taktiken anbieten, um die Systeme der Beherrschung und der Ausbeutung zu verstehen und zu untergraben. Ich denke, viele sind zur Zeit hungrig nach Antworten. Sie schauen auf die Gesamtheit dieser Ausbeutungs- und Herrschaftssysteme, des Rassismus, des Patriarchats, der Altersdiskriminierung, der Art und Weise in der wir versuchen, die nicht-menschliche Natur zu beherrschen, und sie sagen sich: »Was zum Teufel können wir tun? Wir werden an den Rand des Abgrunds getrieben!« Und wir bieten ihnen echte, praktische Vorschläge an. Wir sprechen über den Aufbau neuer Strukturen wie Arbeiter*innen-Kooperativen und Community-Land-Trusts. Außerdem betonen wir, dass wir nicht nur neue Strukturen aufbauen müssen, sondern dass wir auch die sozialen Beziehungen zwischen uns Menschen im Hier und Jetzt ändern müssen.

Ein Aspekt, um den es mir mit der ersten Frage auch ging, war, dass BSA eine spezifisch Schwarze Organisation ist. Hier in Deutschland haben sich, vor allem im vergangenen Jahr nach dem Anschlag in Hanau, viele Migrantifa-Gruppen gegründet. Das sind radikale migrantische Selbstorganisierungen, die gegründet wurden, weil ihre Stimmen in der Linken zu oft nicht gehört wurden. Gab es ähnliche Gründe für die BSA als spezifisch Schwarze Organisation?

Absolut! Es muss Raum für speziell Schwarze oder BIPoC Organisationen geben, weil wir es auch in linken Räumen noch immer mit den Problemen der weißen Vorherrschaft und der White Power zu tun haben. In dem Essay „Autoritäre Linke: Bringt den Bullen in eurem Kopf um!“ von Lorenzo Komboa Ervin, das auch auf unserer Leseliste steht, spricht er von diesen speziellen rassistischen Dynamiken in linken Bewegungen, insbesondere zwischen weißen und Schwarzen Linken. Dadurch kommt es zu diesen merkwürdigen klassenreduktionistischen Ideologien, die sich ausschließlich mit Klasse beschäftigen wollen. Sie wollen sich nicht mit Identitätsfragen beschäftigen, weil Identitätspolitik sei dies und das und überhaupt. Aber viele weiße Linke verstehen nicht, dass diese Denke in Wirklichkeit ein Trojanisches Pferd für weiße Vorherrschaft ist. Sie haben sich einfach noch nicht damit auseinandergesetzt und sich noch nicht von ihrem Weißsein befreit.

Ich denke also, dass diese Räume notwendig sind. Es sollte Asiatische linke Organisationen geben, gerade derzeit, wo Asiat*innenfeindlichkeit und Anti-Asiatische Ressentiments und Gewalt in den USA zunehmen. Unsere Asiatischen Brüder, Schwestern und Älteren werden angegriffen! Und ich denke, dass auch Latinxs eine linke Organisation brauchen. Die Menschen sehnen sich danach!

Als wir unseren Podcast 1000 Cuts gestartet haben, haben wir sehr viel Unterstützung und Lob bekommen, weil er speziell auf Schwarze und PoCs ausgerichtet ist und die Leute sich damit viel wohler fühlen. Wir reden über unsere spezifischen Probleme, während wir gleichzeitig allgemeine linke Theorien und Ideen vorstellen. Wir versuchen dabei, diese Konzepte auf das Wesentliche zu reduzieren und sie BIPoC zu vermitteln, die links sind oder sich für linke Ideen interessieren. Und sie sind hungrig danach! Aber wenn man sich linke Podcasts mal wirklich ansieht, sind sie vollgestopft mit weißen Männern, die lächerliches Zeug sagen. Wenn man kurz schüttelt, fallen überall Autoritäre raus. Natürlich gibt es auch gute linke Podcasts von weißen Podcaster*innen, deren Prinzipien und Praxis solide sind. Aber vieles ist auch einfach lächerlicher Bullshit.

Aber das betrifft nicht nur Podcasts, sondern auch die breitere linke Medienwelt. Ein großer Teil davon ist autoritär, bestärkt linke weiße Vorherrschaft und Klassenreduktionismus durch die Delegitimierung von Konzepten wie Intersektionalität und fördert Narrative, die die brutalen Hinterlassenschaften staatskapitalistischer Regime, wie zum Beispiel in China, weißwaschen. Und das ist gefährlich, weil Medien ein extrem mächtiges Werkzeug für politische Bildung aller Art sind.

Deshalb wollen wir in unserem Podcast praxisnah sein und über Lösungen sprechen, anstatt uns nur immer wieder um die Probleme zu drehen. Außerdem versuchen wir, Positivität und echte Hoffnung in den Podcast zu bringen. Und das sind alles Dinge, die es in vielen linken Podcasts einfach nicht gibt. Sie geben keine Antworten.

Ich habe beim Hören des Podcasts auf jeden Fall auch oft gelacht, was bei linken Podcasts sonst eher nicht passiert. Ein Punkt, den du schon angesprochen hattest ist, dass ihr Leute anderer Ethnien dazu aufruft, ähnliche Organisationen zu gründen, um eine Rainbow-Coalition zu bilden. Warum habt ihr diesen Ansatz anstelle, sagen wir, einer großen Organisation für alle gewählt?

Ich denke, dass Gruppen dieser Art besser angehen können, was im spezifischen Kontext ihrer Community wichtig ist. Was sind beispielsweise die speziellen Probleme der Asiatischen oder der Latinx Communities? Deshalb ist es wirklich sehr wichtig, derartige Organisationen zu haben. Wenn wir die globalen Ausbeutungs- und Herrschaftssysteme zurückdrängen wollen, müssen wir uns am Ende aber die Hände reichen und gemeinsam auf das Monster losgehen. Das ist die wichtige und notwendige Herangehensweise, die die Black Panther Party hatte. Auch sie haben Menschen aus anderen Gruppen dazu ermutigt, sich zu organisieren. Und das ist passiert! Es gab radikale Gruppen, die wie die Black Panthers strukturiert waren: Arabischstämmige Gruppen, White Panthers, queere Organisationen und die Young Lords, eine Puertoricanische revolutionäre Gruppe. Daher kommt dieser Ansatz. Weil wir eigene Räume brauchen, aber ein Systemwandel am Ende des Tages eine internationale Anstrengung sein muss.

Wir sind zur Zeit in einer dynamischen Situation. Wir sind mit einer Pandemie, einer ökonomischen und ökologischen Katastrophe und vielen weiteren Problemen konfrontiert. Aber gleichzeitig sind weltweit zahlreiche soziale Bewegungen im Aufwind. Ich habe neulich das folgende Zitat gelesen: »Wenn die 1970er von zu viel Optimismus gekennzeichnet waren, ist die Gegenwart von zu viel Pessismismus gekennzeichnet.« Was denkst du dazu?

Ich denke, dass wir in einer Zeit leben, in der das Menschsein außerordentlich deprimierend sein kann, wenn man es zulässt. Wenn man diesen unglücklichen, deprimierten und negativen Gemütszustand hat, führt das dazu, dass man sich nur auf die weniger schönen Aspekte des Lebens fokussiert. Und das passiert mit der Linken. Außerdem fördert die Tatsache, dass wir das System analysieren diese Art von Verzweiflung. Selbstverständlich ist Systemanalyse eine unserer zentralen Arbeitsweisen. Aber wenn man die globalen Systeme und Ideologien, mit denen wir es zu tun haben, nicht aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, fragt man sich schon: »Verdammt, wie sollen wir das alles jemals überwinden?«

Aber wir sind gleichzeitig darauf ausgerichtet zu überleben. Murray Bookchin schreibt in Ökologie der Freiheit, wie sich Leben aus Leben entwickelt, wie Leben Leben nach sich zieht. Und dass es nicht nur nach Überleben, sondern nach seiner eigenen Selbstverwirklichung strebt. Nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Und natürlich greifen diese beiden Sphären auch ineinander.

Außerdem brauchen die Herrschaftsstrukturen eine unglaubliche Menge an Energie, um die Menschen unterdrückt zu halten. Viel Geld, Zeit und Hirnschmalz werden aufgewendet, um immer neue Wege zu finden, Bewegungen zu infiltrieren und abzuhören. Weil die Menschen am oberen Ende unserer konstruierten Hierarchie genau wissen, dass die Menschen sich zusammenschließen und sich organisieren würden, wenn die ganzen Hindernisse nicht mehr da wären. Denn das haben wir schon immer getan. Und selbst im Angesicht dieser Strukturen tun wir es weiterhin. Denn wo immer es Autorität und Herrschaft gibt, gibt es Widerstand. Es wird immer diese entgegengesetzten Kräfte geben. Wir sehen sie ständig die Geschichte vorantreiben. Das ist wirklich eine Art wissenschaftliche und spirituelle Wahrheit. Und das sollte uns hoffnungsvoll stimmen!

Letztes Jahr sind die #BlackLivesMatter-Proteste gegen den Mord an George Floyd und gegen Polizeigewalt im Allgemeinen ausgebrochen und hatten weltweit große Auswirkungen. Wie können wir aus diesen wichtigen, aber spontanen Aufständen eine nachhaltige politische Bewegung aufbauen?

Zur Zeit haben die Menschen das Gefühl, dass sie nicht weiter schweigen können. Und ich denke, dass wir diese Energie als Linke nutzen sollten, indem wir Organisation und Kooperation befördern. Denn wir sollten uns wirklich darum kümmern, vom Kurzfristigen zum Langfristigen zu kommen. Und das ist Organisierung. Daher müssen wir einen Aktionsplan vorlegen, wie wir diese Ungerechtigkeiten und dieses korrupte System loswerden können. Und deshalb sind Organisationen wie BSA so wesentlich: Wir geben den Leuten einen solchen Plan. Und es ist wirklich wichtig, dass er für Menschen außerhalb der Linken verständlich gemacht wird und nicht nur für verdammte Theorieköpfe, die den ganzen Tag lang das Kapital lesen. Denn echte Macht und wirkliche Veränderung wird nicht von Akademiker*innen kommen, so wichtig sie auch sind. Sie kommt von den Menschen aus der Arbeiterklasse vor Ort. Von einer Mutter von drei Kindern, die an der Tankstelle arbeitet, von einem Koch in der Küche. Von den Arbeiter*innen, die die Schnauze voll haben, nach Antworten suchen und die dazu bereit sind, sich mit anderen zusammenzutun, um gemeinsam etwas zu erreichen. Und ich denke, dass wir genau das nach dem Tod an George Floyd gesehen haben. Menschen, die vorher bereits progressiv waren, rücken weiter nach links, schließen sich uns an und fangen wirklich damit an, sich zu organisieren.

Beispielsweise hatten wir hier in Texas vor kurzem einen Kälteeinbruch, bei dem es sogar geschneit hat. Das Stromnetz ist zusammengebrochen, Rohre sind durch die Kälte geplatzt und die Menschen waren ohne Strom und Wasser. Es gab Vorfälle wie den einer Großmutter und ihrer drei Enkelkinder, die in ihrem eigenen Haus verbrannten, weil sie versuchten, sich am Ofen warm zu halten. Aber was hier passiert, so schmerzhaft es auch für mich und meine eigene Familie war, ist ein weiterer Beweis für das Versagen nicht nur des Kapitalismus, sondern auch des Staates. Die Menschen haben genug! Es ist schwer für sie, sich und ihre Kinder zu ernähren. Und das aufgrund von systemischem Versagen, das letztlich vermeidbar war. Und das ist genug, um Menschen zu radikalisieren. Zum Beispiel organisieren wir derzeit mit Menschen in einem Appartementkomplex einen Mietstreik. Es ist wie die große Abolitionistin Mariame Kaba sagte: »Lasst euch von diesem Moment radikalisieren!« Wir als Linke müssen also flink sein, auf die Leute vor Ort achten und sagen: »Okay, schaut her: Ihr seid wütend und angepisst und das hier machen wir jetzt kurzfristig. Aber so und so können wir die Dinge langfristig ändern!« Wir müssen also einen Weg finden, zu längerfristigen Zielen überzugehen.

Habt ihr als Organsiation staatliche Repression erfahren seit ihr BSA gegründet habt und angefangen habt, euch zu organisieren?

Oh, wir werden definitiv überwacht. Sie haben uns im Auge. Das allgemeine Level von Überwachung in diesem Land und speziell in Bezug auf Befreiungsbewegungen ist wahnsinnig. Insbesondere, wenn du Schwarz bist. Unter der Trump-Administration wurde die Kategorie »Black Identity Extremists« vom FBI eingeführt. Sie beobachten also jede Schwarze Befreiungsbewegung hier. Erst vor kurzem wurden ein Genosse und seine Familie direkt vom FBI kontaktiert. Das ist ein Beweis dafür, dass sie uns beobachten. Und als jemand, der relativ neu dabei ist, ist das furchteinflößend und unheimlich. Aber am Ende des Tages haben wir uns als Linke, die sich ernsthaft zur Wehr setzen wollen, darauf eingelassen.

Und das soll nicht heißen, dass man keine Angst haben sollte. Aber man muss im Angesicht dieser Angst weitermachen und dagegenhalten. Denn man ist auf der richtigen Seite und tut, was richtig ist! Und natürlich bin auch ich ein Mensch wie jeder andere auch und es gibt Zeiten, in denen ich mir Sorgen mache. Ich habe Beziehungen und Familie und Freunde, um die ich mehr Angst habe als um mich selbst. Aber wir müssen eben vorwärts gehen und weiterhin sagen, was wir sagen. Wir werden nicht aufhören dagegenzuhalten und Dual Power zu bewerben und zu fördern. Obwohl unsere Vorfahren nicht einmal als Menschen, sondern als menschliches Eigentum angesehen wurden, haben sie sich gewehrt! Ich habe also keine Ausreden.

# Titelbild: BSA

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Dieser Text ist ein Versuch, verschiedene linke Positionen und Kritiken zum Thema Identitätspolitik zu diskutieren. Es ist weniger ein Text für oder gegen Identitätspolitik, als vielmehr ein Schritt, Missverständnisse und falsche Annäherungen an das Thema aus dem Weg zu schaffen, damit die Debatte sich nicht mehr ständig im Kreis dreht. Durch eine antikapitalistische, antirassistische und feministische Linse sollen einige Grundlagen bestimmt werden, auf der Basis dessen zukünftig vielleicht sinnvoller darüber diskutiert werden kann, inwiefern Identitätspolitik für linke Kämpfe brauchbar oder unbrauchbar ist.

Während sich viele in letzter Zeit auch um differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema bemühen, scheint es in linken Kontexten bezüglich dieser Frage grob betrachtet zwei dominante Pole zu geben, und um es vorweg zu nehmen: Beide enthalten einige problematische und verkürzte Sichtweisen, die aus dem Weg geräumt werden müssen, damit wir in unserer Praxis weiterkommen. Die eine Seite besteht wohlgemerkt zu gefühlt 90 Prozent aus Männern mittleren Alters. Manchmal sind sie links, in dem Fall lautet ihr Argument in etwa so: Leute wollen nur ein bisschen rumopfern, spalten die Linke und lenken mit ihrem Identitätsgelaber vom Klassenkampf ab. Dem anderen Pol liegt der Irrglaube zugrunde, dass bestimmten Identitäten schon an und für sich irgendwas „Radikales“ innewohnen würde. Das kann im Fall von Deutschland gelegentlich mal dazu führen, dass in Kontexten antirassistischer Arbeit türkische Faschos gepusht werden, weil „die sind ja PoC“ und alles andere (wie zum Beispiel linke politische Grundhaltung oder Rückgrat zu besitzen) ist dann nicht mehr von Belang.

Bei genauerer Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen Positionen und Kritiken lassen sich jedoch trotzdem einige gemeinsame Grundlagen bestimmen, auf deren Basis wir linke Praxis weiterdenken und weiterbringen könnten.

Zunächst zu denjenigen, die sich über Identitätspolitik aufregen, weil sie um die „Einheit“ der Linken bangen: Linke sind und waren nie eine starre Einheit, die nun erst durch „sektiererische“ Identitätspolitik zu zerbrechen droht. Im Gegenteil bestanden Spaltungen innerhalb der Linken eigentlich schon immer und zwar mitunteranderem auch darin, dass z.B. Frauen, Migrant*innen, Schwarze Menschen, PoC, queere Menschen, Geflüchtete usw. in vielen linken Strukturen jahrzehntelang ausgeschlossen, rausgemobbt, ignoriert, mundtot gemacht, belächelt oder nicht ernst genommen wurden. Hier stellt sich die Frage: Was genau wird hier „gespalten“, was genau wird hier gestört? Ist es wirklich „die Linke“ oder vielleicht doch einfach ein gemütlicher Status Quo, in welchem niemand über Macht, Mackertum und übers Kartoffelsein nachdenken musste? So betrachtet stand hinter Identitätspolitik ursprünglich ein sehr simpler Grundgedanke. Wenn es z. B. um internationalistische antifaschistische Kämpfe geht, ist es nicht in Ordnung, dass nur weiße Männer zu Wort kommen und dass über die Köpfe von Betroffenen hinweg gearbeitet wird – bis hierhin sind wir uns doch bestimmt alle erstmal einig. Diese Grundidee ist vielleicht auch gar nicht das Problem – das Problem ist vielleicht viel eher, was heute aus Identitätspolitik gemacht wird, aber dazu später.

Davor noch zurück zur Annahme, Identitätspolitik würde vom Klassenkampf ablenken: Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, unseren Begriff von Klasse zu hinterfragen bzw. weiterzudenken. Denn wenn wir von der unterdrückten Klasse sprechen, sollten alle ausgebeuteten Gruppen gemeint sein. Arbeiter*innen, Menschen im globalen Süden, rassifizierte Menschen, (ehemals) Kolonisierte, Frauen usw. wurden im Laufe der Geschichte systematisch unterworfen und in einen Zustand der Gewalt und Ausbeutung gedrängt. Sie müssen in diesen Klassenbegriff aufgenommen werden, ohne dass ihre Unterdrückung als bloßer Nebenwiderspruch behandelt wird. Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus und Patriarchat gingen historisch gesehen Hand in Hand und diese Tatsache müssen wir in unsere Praxis einbetten. Wenn diese Praxis „von unten“ wachsen soll, muss denjenigen Platz gemacht werden, die am meisten unter diesen Unterdrückungssystemen leiden und gelitten haben. Das heißt nicht, dass bestimmte Identitäten glorifiziert und mit Allwissenheit assoziiert werden. Wie wir wissen, können Leute diskriminiert und unterdrückt werden, aber trotzdem scheiße sein: So gibt es z.B. weibliche Cops, korrupte Politiker*innen of Color oder queere Menschen, die rassistisch sein können. Es geht hier aber vielmehr darum, dass diejenigen, die am meisten unter dem System leiden und vielleicht genau deshalb potenziell die radikalsten Bekämpfer*innen des Systems sein könnten, sich endlich Raum nehmen müssen, der ihnen vorher versperrt wurde.

Das Combahee River Collective, ein Kollektiv Schwarzer Feministinnen, formulierte es 1977 in seinem Statement folgendermaßen: „Wir glauben, dass eine tiefgehende und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht“. Die Idee, die eigene Identität für den politischen Kampf hervorzuheben, entstand für das Kollektiv aus der Erkenntnis heraus, dass „keine andere vermeintlich progressive Bewegung unsere spezielle Unterdrückung jemals als Priorität gesehen hat oder sich ernsthaft damit beschäftigt hätte, sie zu beenden“ [aus Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Unrast, 2019. S. 53). Und genau das trifft auf viele marginalisierte und diskriminierte Menschen zu, die aus linken Kontexten immer wieder ausgeschlossen oder nur geduldet wurden, solange sie ihre spezifische Unterdrückung nicht zum Thema machten. Kein Wunder also, dass heute so ein starkes Bedürfnis danach besteht, sich durch kollektive Identitätsbildung selbst zu ermächtigen und so einen würdigen Platz im Kampf gegen das System einzunehmen.

An diesem Punkt scheinen heute jedoch sowohl viele Kritiker*innen als auch Befürworter*innen das Konzept der Identitätspolitik falsch zu verstehen. Vielleicht liegt das eigentliche Problem mit Identitätspolitik aktuell vor allem darin, dass der Ansatz sich von seinen radikalen Inhalten und Ursprüngen entfernt und somit immer weniger mit revolutionärer Praxis zu tun hat. Manche Angehörige unterdrückter Gruppen haben angefangen, mit Neoliberalismus zu liebäugeln, anstatt die kollektive Selbstermächtigung in Aktion und Widerstand umzuwandeln.

Die kurdische Frauenbewegung (auch wenn sie sich an der Stelle nicht auf Identitätspolitik bezieht) kritisiert z.B. an westlichen Feminismen, dass sie, obwohl gerade Feminismus eine der radikalsten Bewegungen gegen das System sein müsste, es nicht geschafft haben, akkurat auf gesellschaftliche Probleme zu reagieren und einen radikalen Widerstand zu organisieren. Damit Feminismus wieder zum radikalen Ursprung zurückkehrt, muss er sich von den Einflüssen der kapitalistischen Moderne loslösen. Vielleicht ist das ein nützlicher Ausgangspunkt für die weitere Diskussion um Identitätspolitik: Konzepte für politische Kämpfe sollten daran beurteilt werden, inwiefern sie einen Beitrag zur Befreiung der Gesellschaft leisten und reell Veränderung bewirken. Wie wirksam sind z.B. elitäre Diskurse, die sich nicht über die akademische Sphäre hinausbewegen oder Ansätze wie sog. „Girlboss feminism“? Kaum – denn sie bewegen sich oft in geschlossenen Kreisen und erreichen nicht die Straßen. Bestimmte Konzepte, die ursprünglich aus revolutionären Ideen entstanden, werden in solchen Zusammenhängen aus dem Kontext gerissen und zweckentfremdet. Auch der Neoliberalismus bedient sich heute etwa Konzepten wie Diversity und Feminismus. Besonders schlimm wird’s dann, wenn das auch noch abgefeiert wird: Es werden diejenigen von uns gepriesen, die es „nach ganz oben“ geschafft haben und es scheint irgendwie egal zu sein, wenn es sich dabei z.B. um stinkreiche Celebrities handelt. Klasse und Kapitalismus werden nicht mehr problematisiert, sondern vielmehr hingenommen. Identifikation findet hier mit den falschen Leuten statt; sie dient nicht mehr dem kollektiven Bewusstwerdungsprozess, um gegen die Verhältnisse zu kämpfen, sondern es scheint immer mehr darum zu gehen, sich als Angehörige*r einer unterdrückten Gruppe einen Weg nach „oben“ bzw. einen Platz innerhalb des ausbeuterischen Systems zu verschaffen. Dabei kümmert es viele nicht, dass sich Ungleichheit und Gewalt dadurch nicht vermindert, denn egal, wieviel „Diversität“ oben herrscht – es sind und bleiben die Massen, auf deren Schultern die Last kapitalistischer, rassistischer und sexistischer Ausbeutung und Ausgrenzung sitzt.

Um nun zurück auf Identitätspolitik zu kommen: Das Konzept in dieser jetzigen, zweckentfremdeten Form wird bestimmt keine Antwort auf die Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Welt sein. Das heißt jedoch nicht, dass die Relevanz von Identität einfach ausradiert werden darf. Die Rolle von Identität im Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat muss neu gedacht werden und zwar als die direkteste, radikalste Form, sich den Missständen bewusst zu werden und dementsprechend kollektiven Widerstand zu organisieren. Aufwertung der eigenen, unterdrückten Identität kann dabei ein erster wichtiger Schritt, aber nicht Selbstzweck sein. Sie sollte dazu dienen, den Kampf für Befreiung voranzutreiben, anstatt sich von diesem zu entfremden.

#Titelbild: ROAR Magazine/P2P Attribution-ConditionalNonCommercial-ShareAlikeLicense

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Die traditionelle Revolutionäre 1. Mai Demonstration in Berlin stellt sich dieses Jahr neu auf. Ein breites migrantisches Bündnis will die Demo revitalisieren. Peter Schaber sprach mit Aicha Jamal, Pressesprecherin des Revolutionären 1. Mai Bündnisses und Mitglied von Migrantifa Berlin, über den Kampftag der Weltarbeiterklasse und wie man ihn dieses Jahr in Berlin begehen möchte.

Migrantifa ist aus einer Massenmoblisierung gegen rechten Terror, racial Profiling, Rassismus entstanden. Jetzt werdet ihr dieses Jahr zu einer der Hauptorganisatorinnen des Revolutionären 1. Mai. Warum? Was sind die inhaltlichen Gründe dafür, sich diese schwer handhabbare Demo aufzubürden?

Es ist uns vor allem wichtig, dass der Klassenkampf migrantischer wird – und dass überhaupt Klassenkampf in diesem Land stattfindet. Es geht uns auch darum, aufzuzeigen, dass liberaler Antirassismus nichts bringt. Die Idee, dass mehr Repräsentation in der herrschenden Klasse Verbesserungen für den Großteil der migrantischen Bevölkerung oder den Globalen Süden hervorbringen wird, ist eine Illusion. Die Produktionsweise muss geändert werden. Der Kapitalismus trägt den Rassismus in sich wie die Wolke den Regen, könnte man in Abwandlung eines Zitats von Jean Jaures sagen. Das einzige wirksame Mittel gegen Rassismus ist Klassenkampf.

Andererseits nehmen wir auch wahr, dass die radikale Linke in Deutschland sich in den vergangenen Jahren sehr isoliert war von der Bevölkerung. Wir glauben aber, dass radikale Politik nicht in Szenen oder Blasen gemacht werden kann, sondern dass man eine breite Massenbewegung aufbauen muss, die weit über das Szene- und Akademikermilieu hinausgeht. Man muss die Arbeitenden, Erwerbslosen, die Menschen ohne Papiere, Frauen und die Jugend abholen.

Die Demo führt dieses Jahr durch Berlin-Neukölln. Was war ausschlaggebend für die Wahl der Route?

Neukölln ist einerseits der Ort, in dem wir als Migrantifa schon viele Verbindungen zu Nachbar:innen haben. Wir sind sehr präsent hier. Und es ist ein Ort, an dem sich viele politische Entwicklungen aufzeigen lassen: Der rechte Terror, die massive Polizeipräsenz, die Kriminalisierung der Communities durch die rassistische Clan-Debatte, die Gewerbekontrollen und Razzien. Diese Faschisierungstendenzen sind vom kapitalistischen System nicht zu trennen und deshalb ist es wichtig, sie auch am Tag der Weltarbeiterklasse zum Thema zu machen.

Neukölln ist auch ein migrantischer und Arbeiterbezirk. Weil unser Ziel ist, am 1. Mai unsere Klassengeschwister einzuladen, mit uns auf die Straße zu gehen, fanden wir, dass das der richtige Kiez ist.

Wir wollen die historische Bedeutung von Kreuzberg für den 1. Mai zwar mitaufnehmen – deshalb laufen wir am Ende auch rein-, aber gleichzeitig ist in Kreuzberg schon sehr viel von der früheren Kultur und dem früheren Kiezleben durch die Gentrifizierung zerstört worden.

Jenseits der neuköllnspezifischen Themen, welche bundesweiten oder globalen Anliegen stehen dieses Jahr im Mittelpunkt?

Es geht vor allem um die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Arbeiter:innenklasse, die Erwerbslosen und Armen. Die herrschende Klasse zeigt auf die Bevölkerung und tut so, als ob diese an der Pandemie Schuld wäre. Aber in Wahrheit steht in der offiziellen Corona-Politik ja nicht irgendein Gemeinwohl im Zentrum, sondern Kapitalinteressen. Diese Krise hat Profiteure, die sich immens an ihr bereichern, während es für uns stetig bergab geht. Wir haben immer weniger Geld, verlieren unsere Jobs und sind einem deutlich höheren Infektionsrisiko ausgesetzt als die Bonzen, obwohl wir unser Privatleben komplett einschränken müssen.

Ein weiteres Thema ist der Ausverkauf der Stadt, die Spekulation auf dem Wohnungsmarkt. Die komplette Stadt gehört Investoren. Da wollen wir vor allem das Thema Enteignung aufgreifen, weswegen es auch eine Enteignungs-Block auf der Demo geben wird.

Natürlich spielen auch die Kämpfe in den Herkunftsländern unserer Freund:innen eine große Rolle, in denen ja oft genug der deutsche Imperialismus mitmischt: Kurdische Genoss:innen werden mitlaufen, Solidarität mit den indischen Bauernaufständen wird es geben, aus den Philippinen beteiligen sich Genoss:innen, Palästina und der Sudan werden eine Rolle spielen. Geflüchtete und die Kämpfe gegen das mörderische Grenzregime werden ebenfalls vertreten sein.

Ihr schreibt in eurer Pressemitteilung, dass es euch wichtig ist, dass die Demo „nicht entfremdend“ auf die Menschen in Neukölln wirkt. Welches Auftreten schwebt euch da vor?

Bei unserer Demonstration zu Hanau haben wir gesehen, dass sich sehr viele migrantische Menschen der Demo angeschlossen haben und mitgelaufen sind, weil sie sich angesprochen gefühlt haben. Ich glaube, schon durch das breite migrantische Bündnis, das dieses Jahr zum ersten Mal mit aufruft, können wir einladend auf unsere Geschwister wirken. Dadurch dass wir unsere Themen und unsere politische Kultur miteinbringen, schaffen wir einen Identifikationspunkt.

Gleichzeitig wollen wir einen Anknüpfungspunkt schaffen, weil der 1. Mai auch in vielen unserer Herkunftsländer eine lange Tradition hat. Wir haben uns zudem entschieden, die Demo dieses Jahr anzumelden, das heisst, wir können auch mehr Redebeiträge und kulturelle Beiträge stattfinden lassen. Wir wollen eine Atmosphäre schaffen, die Leute ermutigt, sich in die Demo einzureihen.

Dadurch, dass viele migrantische Gruppen aufrufen, wird auch von Anfang an ein breiterer Schnitt durch die Gesellschaft anwesend sein, ältere Genoss:innen, Familien mit Kindern und so weiter. Wir bitten auch alle Teilnehmenden darum, die Demonstration als kämpferische politische Veranstaltung und nicht als Outdoor-Party zum Biertrinken zu sehen.

Die Corona-Zahlen steigen. Wie ist unter diesen Bedingungen die Demo sicher durchzuführen?

Wir nehmen das Virus sehr ernst und wollen auch bei der Demonstration das Infektionsrisiko so gering wie möglich halten. Mindestabstände sollen eingehalten werden, Masken sind Pflicht. Gleichzeitig fordern wir die Polizei dazu auf, sich von der Demo fernzuhalten, denn es ist unmöglich, das durchzusetzen, wenn ein Mob von Cops auf die Demo einprügelt.

Die Gefahr einer im Freien, mit Abstand und Maske durchgeführten Demonstration ist unserer Einschätzung nach geringer als das Ansteckungsrisiko, dem wir jeden Tag auf der Arbeit ausgesetzt sind. Solange das nicht beendet wird, lassen wir es uns auch nicht nehmen, für unsere Interessen auf die Straße zu gehen.

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Kristian Stemmler

Es war ein heißer Sommertag in den späten 80ern, ich kann mich noch gut erinnern. Die Heidefläche vor dem Haus meiner Oma in der Lüneburger Heide war knochentrocken. Wie es genau zu dem Feuer kam, weiß ich nicht mehr genau. Ich meine, mein Bruder und ich wollten die trockenen Pflanzen kontrolliert abfackeln, was natürlich extrem leichtsinnig war. Jedenfalls stand eine Ecke der Fläche plötzlich in Flammen und ein Feuerring breitete sich in rasender Geschwindigkeit in alle Richtungen aus. Wir, mein Bruder, ein herbeigeeilter Freund und ich, versuchten das Feuer auszutreten oder mit Decken auszuschlagen – doch wenn es an einer Stelle eingedämmt war, flammte es an einer anderen Stelle wieder auf.

Warum ich das erzähle? Weil mir diese Episode aus jungen Jahren in den Sinn kam, als ich zum Jahreswechsel – bekanntlich die Zeit, in der man gern Bilanz zieht und leicht ins Philosophieren kommt – über die Lage der Linken nachdachte. Wenn ich mir das Fortschreiten der unterschiedlichen Kämpfe im abgelaufenen Jahr 2020 ansehe, dann erscheinen mir unsere verzweifelten Versuche von damals, das Feuer einzufangen, als eine passende Analogie. Wo man heutzutage auch hinschaut, in allen gesellschaftlichen Bereichen schlagen Flammen hoch oder sind zumindest Glutnester auszumachen. Wenn man meint, man habe das Feuer an einer Stelle eingedämmt, flammt es anderer Stelle wieder auf. Es ist ein Flächenbrand.

Kaum verwunderlich ist daher, dass viele radikale Linke an einer gewissen Überforderung leiden. Schon die Beurteilung der Frage, wo es am meisten brennt, wirft Probleme auf. Und von der Antwort hängt nicht zuletzt ab, worauf man seinen Blick richtet und für welches Engagement man die begrenzte Zeit und Kraft einsetzt.

Unterstütze ich zum Beispiel Seebrücke, weil ich was gegen die katastrophale Situation der Geflüchteten auf den griechischen Inseln tun will und gegen das Ertrinken auf dem Mittelmeer? Oder blockiere ich mit einer Friedensgruppe die Zufahrt zu einem Werk von Rheinmetall? Oder solidarisiere ich mich mit Baumbesetzern? Oder schließe ich mich doch einer Antifa-Gruppe an, um Nazistrukturen aufzudecken und Nazis zu bekämpfen?

Natürlich ist das jetzt etwas konstruiert, da eine solche rationale Abwägung auch im Leben von Linken eher selten vorkommt. Man kommt doch oft eher durch Freunde oder Bekannte zu einer politischen Gruppe und damit auch zu einem Thema oder auch durch ein bestimmtes Ereignis, das einen umtreibt. Nichtsdestotrotz interessiert man sich als politischer Mensch ja auch für andere Themenbereiche und versucht sich ein Bild von der Gesamtlage zu machen. Dabei kommt man leicht zu der Frage, wo die Probleme und Gefahren die größten sind, wo es „am meisten brennt“.

Das ist, kaum überraschend, nicht endgültig zu beantworten. Jede Bewegung, jeder Kampf beansprucht für sich wichtig zu sein – und das durchaus zu recht. Die Friedensbewegung kann darauf verweisen, dass von der Zivilisation nicht viel übrig bleiben wird, wenn der Frieden nicht bewahrt wird. Die Klimabewegung kann wiederum konstatieren, dass wir vom Frieden nicht viel haben, wenn die Natur zum Teufel geht. Die Antifa kann argumentieren, dass der Frieden und eine gerettete Umwelt wenig bringen, wenn die Faschisten wieder ans Ruder kommen. Und wer sich gegen Repression engagiert, kann allen drei Bewegungen entgegenhalten, dass sie eines Tages nicht mehr effektiv gegen Krieg, den Klimawandel und Nazis protestieren und kämpfen können, wenn das Versammlungsrecht weiter eingeschränkt wird und immer mehr radikale Linke im Knast sitzen.

Mit anderen Worten: Jeder Kampf hat seine Berechtigung und jeder ist wichtig. Das gilt auch für die Kämpfe, die hier noch gar nicht erwähnt wurden, also etwa in den Betrieben, gegen Rassismus, gegen den Mietenwahnsinn und die Gentrifizierung, für Hartz-IV-Empfänger*innen, Drogensüchtige, Obdachlose. Für radikale Linke gibt es alle Hände voll zu tun, es wird nicht weniger und es ist letztlich egal, an welcher Stelle sie versuchen, Flammen auszutreten, um an die Analogie vom Anfang anzuschließen. Es gibt aber folglich auch keinen Grund, die eigene Bewegung, den eigenen Kampf für bedeutsamer zu halten als andere.

Vielleicht kann man das als Wunsch fürs neue Jahr formulieren: dass sich diese Einsicht noch mehr durchsetzt. Denn noch zu oft sind die Kämpfe der Linken zu unverbunden, geradezu isoliert voneinander. Es kann und muss hier noch viel mehr zusammengeführt werden.

Eine gelingende Verbindung von Kämpfen kann aber nur da stattfinden, wo sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass es in dieser Gesellschaft zwar viele Brandnester gibt, aber nur einen Brandherd, nur eine Brandursache: den Kapitalismus. Alle in diesem Beitrag geschilderten Krisenphänomene sind auf dieses System zurückzuführen und ein gemeinsamer Kampf setzt voraus, dass man sich zuerst auf eine Agenda einig:
Der Kapitalismus muss weg, mit Stumpf und Stiel!

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