Am morgigen Sonntag wird in #Bolivien zum ersten Mal seit dem rechten Putsch gegen den indigenen Sozialisten Evo Morales im vergangenen Jahr gewählt. In allen Umfragen führt die linke Partei MAS („Bewegung zum Sozialismus“) – doch es wachsen Befürchtungen, die Rechte könnte versuchen, durch Wahlbetrug oder Gewalt an der Macht zu bleiben.
Lower Class Magazine hat – in Kooperation mit redfish media – mit Luis Acre Catacora (57), dem Präsidentschaftskandidaten der „Bewegung zum Sozialismus“ gesprochen. Acre ist studierter Ökonom und war während der Regierung von Evo Morales erst Finanz- dann Wirtschaftsminister. Im Interview redet er über seine Wahlchancen, die Erfolge der MAS und den rechten Putsch nach den Wahlen im vergangen Jahr.
Sie führen derzeit in allen Umfragen zur anstehenden Präsidentschaftswahl in Bolivien. Sehen Sie irgendwelche Hindernisse auf dem Weg zum Wahlsieg?
Nun, es ist klar, dass wir die Wahl gewinnen werden. Aber wir haben Zweifel daran, wie das Oberste Wahlgericht damit umgeht. Es gibt viele Maßnahmen, die wir nicht für die geeignetsten halten. Eine davon ist, dass es in Bolivien üblich ist, die Wahlergebnisse pro Tisch und nicht pro Wahlbezirk zu erhalten. Und nun hat dieser Oberste Gerichtshof festgelegt, dass er die Informationen nach Wahlbezirk und nicht nach Wahltisch geben wird. Das scheint uns ein Rückschritt zu sein, es scheint uns nicht transparent genug zu sein.
Indem wir über die Wahlbezirke sprechen, wird die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Menschen sehen können, wie sie gewählt haben. Es gibt auch andere Zweifel, die mit der Frage der Prüfung des Computersystems zu tun haben, von dem wir jetzt erfahren haben, dass ausländische Unternehmen dafür zuständig sind. Tatsächlich gibt es zwei Unternehmen, von denen wir nichts wissen, und wir sind kurz vor der Wahl. Wir haben eine ganze Reihe von Beobachtungen, die ihnen, dem obersten Wahlgericht, vorgetragen wurden.
Warum stimmt das bolivianische Volk für die MAS?
Ich denke, wir müssen auf die Wahlen vom vergangenen Oktober zurückblicken. Seitdem sind elf Monate vergangen und wir haben weder Demokratie und – schlimmer noch – stehen vor einer völlig ruinierten und kaputten Wirtschaft. Das bolivianische Volk kann also den Vergleich anstellen zwischen den 14 Jahren der Verwaltung der MAS und der Verwaltung – wenn man das so nennen kann – in diesen elf Monaten der De-facto-Regierung. Die Wirtschaft ist sehr schlecht gelaufen, nicht nur wegen der Pandemie, sondern schon vorher, und die Menschen haben es in ihren Geldbeuteln gespürt. Dazu kommt die Angst vor der Pandemie. Diese Regierung, die Rechte kümmert sich außerdem nicht um Bildung. Sie hat ein Dekret erlassen, mit dem das Schuljahr beendet wird, weil sie nicht in der Lage ist, während der Pandemie den Bildungsbetrieb am Laufen zu halten. Dies zeigt die völlige Unfähigkeit, die Wirtschaft, das Gesundheits- und Bildungswesen in unserem Land zu verwalten. Und sie beginnen, Schlüsselministerien, wie das Kulturministerium und andere, zu schließen.
Also: Es gibt ernsthafte Probleme, und die Bevölkerung hat erkannt, wie es ist, in einer MAS-Regierung zu sein, in der es Fortschritt, Entwicklung, Beschäftigung, Wachstum und all das gab, im Gegensatz zu einer rechten Regierung, in der man nichts davon hat, sondern nur Probleme. Wenn man also die Bilanz zieht ist klar, wohin die Abstimmung tendieren wird.
Wie hat sich das Leben der Arbeiter*innen und Indigenen während der Regierung von Evo verändert?
Die Veränderung war grundlegend, insbesondere für die indigenen Brüder. Sie hatten keine Rechte in der Verfassung. Heute haben sie die Möglichkeit an der politischen Aktivität und an der Entscheidungsfindung des Landes teilzunehmen, was vorher nicht geschah, weil sie ausgeschlossen wurden. Mit den vielen Gesetzen, die diese Verfassung begleiten, haben unsere indigenen Brüder jetzt viele Privilegien und viele Rechte, die zum Wohle der indigenen Völker angewandt werden.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter haben auch große Fortschritte gemacht. Zum Beispiel gab es Fortschritte bei einem Rentengesetz, das einen Beitrag des Arbeitgebersektors vorseiht. Jetzt gibt es in Bolivien einen Arbeitgeberbeitrag, der direkt in den Solidaritätsfonds fließt, der die Verbesserung des Einkommens der Bescheidensten, der Ärmsten, die weniger Lohn haben, ermöglicht. Der nationale Mindestlohn wurde von 440 Bolivianos – das waren in der Vergangenheit mehr oder weniger 35 Dollar – auf etwa 1120 Bolivianos – jetzt mehr oder weniger 300 Dollar – angehoben. Das sind wirklich wichtige Steigerungen der Kaufkraft der Arbeitnehmer. Es hat viele soziale Errungenschaften gegeben, und es wurden Vorschriften angewandt, die den Arbeitnehmern in allen Sektoren zugute kamen. Es gab also einen großen Fortschritt auf Seiten der Arbeiter mit der MAS-Regierung.
Sie waren an der Verstaatlichung der Bodenschätze zur Finanzierung von Sozialprogrammen beteiligt. Werden Sie diese Linie fortsetzen?
Wir sind die einzige Partei in Bolivien, die diese Sozialprogramme garantieren kann. Wir haben sie geschaffen. Diese Regierung hat dieser Art von Sozialpolitik nicht die geringste Bedeutung beigemessen. Heute ist die Binnennachfrage im Land völlig reduziert, und mit diesen Programmen meinen wir, dass wir die Binnennachfrage verbessern sollten.
Besteht auch bei diesen Wahlen die Möglichkeit eines Staatsstreichs oder eines Wahlbetrugs?
Diese Möglichkeit besteht immer. Wir haben eine Rechte, die verzweifelt ist, weil sie weiß, dass sie bei den Wahlen verlieren wird, und viel Geld ausgegeben hat, um den Staatsstreich im letzten November zu finanzieren. Es ist also klar, dass sie die Regierung nicht schnell und einfach aufgeben wollen. Sie haben auch schon auf eine Reihe von Mitteln zurückgegriffen, um die Durchführung der Wahlen zu vermeiden, wie der dauerhaften Verschiebung des Wahltermins. Aber es gab eine große Mobilisierung, um ein endgültiges Datum festzulegen, und es ist dieser 18. Oktober. Unter Berücksichtigung der Geschehnisse des letzten Jahres, wo es internationale und inländische wirtschaftliche und politische Interessen gab, sind ein Putsch oder Wahlbetrug weiter möglich. Denn diese Interessensind nicht verschwunden. Alle wollen das bolivianische Lithium kontrollieren. Alle wollen wieder mit dem bolivianischen Gas handeln, und, ich wiederhole, es gibt ausländische und inländische Interessen.
Warum hat das Militär beim Putsch letztes Jahr Evo nicht unterstützt? Im Vergleich etwa mit dem Fall Chávez in Venzuela?
Ich glaube, dass die ideologische Frage, das Bewusstsein für den Prozess des Wandels, in den Streitkräften nicht so stark war, so dass ein paar Geldscheine es erlaubten, dass die Führung das Interesse der Bolivianer aus den Augen verloren hat. Ich denke, das ist einer der Hauptgründe. Es gibt keine Ideologie, keine Verbundenheit der Streitkräfte mit ihrem Volk.
Wie haben Sie den Putsch erlebt? Wurden Sie bedroht?
Sie hatten eine Strategie der permanenten Einschüchterung. Den ganzen Oktober über gingen sie zu Häusern und malten Parolen an die Türen, beschmierten die Häuser. Ich wohne in einem Gebäude, und sie haben sich sogar getraut, an die Tür meiner Wohnung zu kommen. Auf Whatsapp gab es ein Foto vom Google Maps mit dem Hinweis „hier lebt Luis Acre, Wirtschaftsminister“ und eine Reihe von Adjektiven, die ich nicht wiederholen möchte. Es gab also Einschüchterungen nicht nur am Tag des Staatsstreichs, sondern viel früher. Nach dem Staatsstreich mussten wir uns an geheime Orte begeben, denn wir sahen, wie sie die Häuser von Genossinnen und Genossen, von Ministern, von Leuten, die mit der MAS in Verbindung stehen, niederbrannten. Sie haben Häuser geplündert, man musste also vorsichtig sein, um in Sicherheit zu sein. Ich war damals untergetaucht, weil man nicht die geringste Sicherheit in unserem Land hatte.
Was waren die größten Fehler der Regierung von Evo? Was hätte man besser machen können? Und was würden Sie anders machen?
Es gibt mehrere Themen, zum Beispiel die Justiz. Ich denke, es war ein Fehler, Wahlen für Richter zu machen, die nicht funktioniert hat. Das ist ein Problem, das korrigiert werden musste. Hinzu kommt die Tatsache, dass viele der Arbeiten recht langsam vorankamen, da sie nicht rechtzeitig abgeschlossen wurden. Es gibt viele Dinge, die unvollendet geblieben sind. Wir werden all dies wieder aufgreifen müssen.
Haben Sie eine Botschaft für die Menschen in Europa?
Am 18. Oktober dieses Jahres haben wir eine wichtige Wahl, nicht nur, weil es eine Wahl für den Präsidenten oder die Legislative in Bolivien ist. An diesem 18. Oktober wird Bolivien die Demokratie wiederherstellen. Sie haben uns im November letzten Jahres mit einem blutigen Staatsstreich, bei dem es mehrere Tote gab, die Demokratie verweigert. Deshalb ist diese Wahl sehr wichtig, denn wir müssen zeigen, dass wir Bolivianer eine demokratische Berufung haben und dass wir Bolivianer uns nicht mit Gewalt begegnen wollen. Ich glaube, dass die Demokratie das beste Zeichen ist, das wir der ganzen Welt zu geben haben. Und natürlich ist es nicht nur eine Botschaft für das bolivianische Volk, sondern auch für die Region. Die Region ist in einer sehr komplizierten Situation, in der wir mehrere neoliberale Regierungen haben, die viel Armut mehr Arbeitslosigkeit in ihren Ländern erzeugen.
Und Bolivien ist seit langem eine der besten Volkswirtschaften, die von einer fortschrittlichen Regierung geführt wird, von einer Regierung, die an das Volk glaubt und für das bolivianische Volk arbeitet. Daher ist die große Herausforderung für Bolivien, die Demokratie wiederherzustellen.
# Titelbild: Brasil de Fato, Luis Acre links neben Evo Morales im Januar 2020 CC BY-NC-SA 2.0