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In Palästina stehen Frauen* gegen patriarchale Gewalt und Besatzung auf; tausende nehmen an den Demonstrationen teil – konsequent ignoriert von westlicher Berichterstattung. Haydar Kizilbas und Alia Ka haben sich für lower class magazine mit Fidaa Zaanin, einer Palästinensischen Aktivistin aus Gaza, die seit einigen jahren in Deutschland lebt, getroffen, um über die Tal3at Bewegung der Palästinensischen Frauen zu sprechen. Fidaa forscht zu Feminismus und Genderstudies und ist in der palästinensischen Community in Berlin aktiv

Am 26. September gab es in Berlin eine Kundgebung in Solidarität mit der und als Teil der Tal3at Bewegung. Was waren die Anliegen der Protestierenden?

Wir haben den Aufruf für Tal3at gesehen, was übersetzt so etwas bedeutet wie „Wir gehen auf die Straße“. Mit Wir sind Frauen* gemeint. Palästinensische Frauen* überall auf der Welt, egal wo sie sind, haben sich entschieden, auf den Aufruf zu reagieren und auf die Straße zu gehen.

„Tal3at“ bedeutet auf die Straße zu gehen, um gegen Gewalt zu protestieren, alle Formen von Gewalt, egal, welches System hinter dieser Gewalt steckt. Der Aufruf kam in den Wochen nach der Ermordung von Israa Ghrayeb. Sie war ein junges palästinensisches Mädchen, das in Beit Shaour, im Westjordanland von ihrer Familie umgebracht wurde. Wir haben nicht viele Details zu diesem Fall, aber es ist kein Einzelfall. Solche Dinge passieren in Palästina. Es gibt Statistiken, die besagen, dass 38 Frauen* in 2018 ermordet wurden. Und immer noch wird über viele Ermordungen überhaupt nicht berichtet, oder andere Todesursachen werden angegeben. Deswegen hat Tal3at Frauen* dazu aufgerufen auf die Straße zu gehen, um die Gewalt gegen Frauen* anzuprangern, und um klarzumachen, dass es keine Befreiung für das palästinensische Volk gibt, ohne die Befreiung der Frauen* in Palästina. Man kann das Thema der Frauen*befreiung nicht auf später verschieben, nachdem die Befreiung des palästinensischen Volkes erreicht wurde.

Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass palästinensische Frauen* Teil der politischen Bewegung sind und eine führende Rolle einnehmen. Kannst du uns einen kurzen historischen Überblick über die Rolle der Frauen* in der palästinensischen Widerstandsbewegung geben?

Ja, klar. Es ist nichts neues, dass palästinensische Frauen* in politische Kämpfe involviert sind. Sogar schon unter dem britischen Mandat in den 1930er-Jahren haben Frauen* angefangen, ihre eigenen Gemeinschaften zu gründen, hauptsächlich um anderen Frauen* in sozialen Fragen zu helfen. Aber schlussendlich haben sie dann auch politische Arbeit gemacht, weil soziale Fragen eben politisch sind. Auch das Persönliche ist schlussendlich politisch. Nachdem Palästina von den Zionist*innen kolonialisiert wurde, waren Frauen* natürlich in der ersten Intifada aktiv. Sogar sehr stark. Sie haben Flugblätter geschrieben, ausgeteilt und echte politische Arbeit gemacht.

Später waren sie auch Teil von politischen Organiserungsstrukturen. Sie wurden eingesperrt. Sie waren eben nicht nur die Frauen* von palästinensischen Männern. Sie waren nicht nur die Ehefrauen der Gefangenen. Sie selbst, palästinensische Frauen*, haben politische Arbeit unter dem Kolonialismus gemacht. Aber danach, mit der zweiten Intifada und der Form, die der Widerstand angenommen hat, wurde die Rolle, die Frauen* eingenommen haben, immer kleiner. Grade nach dem Oslo-Abkommen, durch die Mengen an Geld, das nach Palästina floss und dadurch, wie der Widerstand NGO-isiert wurde, wurden auch ihre politischen Kämpfe vereinnahmt.

Die Probleme der palästinensischen Frauen* wurden so aus dem Kontext genommen. Sie reden über Armut, aber niemand redet über die Ursachen von Armut unter dem Kolonialismus. Sie sprechen über Kinderehen, aber nicht darüber was die Ursachen sind, wo die Wurzeln des Problems liegen. Sie sprechen über diese Themen ungeachtet der politischen und ökonomischen Aspekte oder der Gesetze, die die Israelis den Palästinenser*innen aufzwingen. Also wir sehen, es ist nicht das erste Mal, dass Frauen* auf die Straße gehen und politische Arbeit machen.

Ich habe einige der Slogans der Tal3at Bewegung gesehen: „Es gibt keine nationale Befreiung ohne die Befreiung der Frau“. Dieser Slogan wird ja auch von anderen z.B der kurdischen Befreiungsbewegungen, im Mittleren Osten ähnlich formuliert…

Es ist auch wichtig zu sagen, dass sehr oft Frauen* sogar in politischen Räumen ausgeschlossen und von ihren eigenen Genossen marginalisiert wurden. Ich habe das Gefühl, dass Frauen* immer alternative Ideen und Strategien für die Befreiung Palästinas hatten. Aber die Männer haben gesagt: „Nein, es muss auf unsere Art und Weise getan werden, nicht auf die, die ihr euch vorstellt. Weil wir Prioritäten haben“.

Und genau das ist es, was Tal3at in Frage stellt, in dem gesagt wird: nein, wir sind hier, um umzudefinieren, was es bedeutet, gegen Kolonialismus zu kämpfen und wie wir uns eine befreite Gesellschaft vorstellen, in der alle Menschen gleich sind, in einem befreiten Palästina. Also was die Frauen* sagen ist: „Nein, ihr könnt uns nicht ausschließen, ihr könnt nicht so weitermachen, wie ihr es die letzten 70 Jahre getan habt“. Wir sagen nein, wir werden es auf unsere Art machen, und nicht auf die Art, auf die ihr, die Männer, es haben wollt.

Ist diese Bewegung eine spontane oder stehen längere Organisierungsprozesse dahinter? Und was sind die Perspektiven für diese Bewegung?

Es ist eine ganz spontane Bewegung. Wie ich gesagt hatte, wurde sie ausgelöst durch die Ermordung von Israa Ghrayeb. Viele Frauen* innerhalb der 1948er-Gebiete haben sich aufgelehnt und haben gesagt: Nein, wir werden jeden Tag umgebracht und wir sollten nicht mehr schweigen und zum Schweigen gebracht werden. Und wir sollten nicht nur darüber sprechen, wenn Israelis uns umbringen, weil wir auch an diesen für uns angeblich „sichersten“ Orten umgebracht werden, in unserem Zuhause, dort wo die meisten Morde passieren, durch Mitglieder der eignen Familie.

Der sicherste Ort für Frauen*, das Zuhause, wird zum Tatort. Es gibt einen Anstieg der Morde an Frauen*, der sogenannten Ehrenmorde, in Palästina besonders innerhalb der 1948er-Gebiete. Und es spricht Bände, dass die Mordrate innerhalb der Gebiete, die von Israelis kontrolliert werden, höher sind als im Westjordanland und in Gaza. Es kommt auch im Westjordanland und Gaza vor, aber nicht so oft wie an Orten wie Haifa, Jaffa, Umm al-Fahm und anderen Städten innerhalb der 1948 besetzten Gebiete. Die Tal3at Proteste haben ja auch in Haifa angefangen. Und wir haben auf deren Aufruf geantwortet, in Berlin, Gaza, Beirut und in den Geflüchtetenlagern. Frauen* waren überall. Und das ist auch was Tal3at einzigartig macht. Sie haben es sich nicht nur zum Ziel gemacht, nur das Patriarchat zu zerstören, sondern die Bewegung stellt auch die Grenzen in Frage, die die Kolonialisten uns aufgezwungen haben. Es macht deutlich, dass wir eine Einheit sind, egal wo wir sind, im historischen Palästina oder sogar in den Geflüchtetenlagern und in Europa.

In Deutschland wird über die Proteste geschwiegen. Gleichzeitig ist es ja oft so, dass wenn es um die Palästinensische Sache geht, der Großteil der sogenannten Linken auf die Frauen* zeigt und sagt, dass die palästinensische Freiheitsbewegung Frauen* unterdrückt und, dass wir eine generelle Befreiung brauchen und alle Formen von Unterdrückung betrachten müssen. Aber jetzt gerade schweigen eben diese Leute darüber, dass palästinensische Frauen* kollektiv zu diesen Protesten aufgerufen haben. Warum eigentlich?

Natürlich, als ich zu dem Protest am 26. September vor dem Rathaus Neukölln gegangen bin, ist mir aufgefallen, dass keine deutsche Presse da war. Und normalerweise sind sie immer da, wenn es etwas über Palästina gibt. Und plötzlich, wenn wir gegen diese Sache protestieren, ist niemand da und es gibt keine Solidarität der feministischen Bewegung oder von den sogenannten Feminist*innen hier in Deutschland.

Ich frage mich, warum die nicht gekommen sind. Wenn man ihnen nichts Böses unterstellen möchte, könnte man sagen, dass sie vielleicht einfach nichts davon wussten. Aber ich denke, es hatte auch etwas mit den Slogans zu tun. Weil die Frauen* gesagt haben: „Althowra did al thakaria w’al isti3maar“, also „Revolution gegen das Patriarchat und den Kolonialismus“. So haben die deutschen Feminist*innen vielleicht verstanden, dass die Proteste sich nicht nur gegen palästinensische braune Männer richten, sondern, dass sie auch gegen Zionismus sind. Und das ist der Konflikt hier in Deutschland. Man kann das zionistische Regime für sie so nicht kritisieren und man darf auch nicht darüber reden.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Leute hier die Proteste verfolgt haben. Weil Tal3at online gesagt hat, dass sie aufgefordert wurden auf zionistische Feminist*innen zuzugehen. Die wollten bei den Protesten mitmachen, um gegen Gewalt an palästinensischen Frauen* zu protestieren. Tal3at hat dazu nein gesagt, sie sagten: nicht dieses Mal. Wir stellen uns gegen die Hegemonie, die Israelis versuchen auf unseren Diskurs auszuüben, weil dieser politischer Raum uns gehört. Tal3at geht für eine befreite Gemeinschaft auf die Straße, in der jede*r dieselben Rechte hat, in einem befreiten Palästina. Sie gehen nicht auf die Straße, um gleiche Rechte oder keine Diskriminierung in einem kolonialen Staat einzufordern. Das ist nicht der Zweck, weil sie gleiche Rechte für alle Palästinenser*innen fordern. Deswegen passt es vielleicht einfach nicht in die Kriterien der Deutschen hier. Nach dem Motto: „Wie könnt ihr es wagen Israel zu kritisieren und nicht nur eure palästinensischen brauen Männer?“ Und deswegen glaube ich auch, dass sie das nicht in den Medien ausschlachten können.

Als palästinensische Frau, die nach Deutschland gekommen ist, wurde ich oft gefragt wie das Leben von Frauen* in Gaza ist. Ich antworte immer: „Du meinst von palästinensischen Frauen* in Gaza, die nicht nur das Patriarchat bekämpfen, sondern auch unter einer Blockade, unter israelischer Besatzung leben müssen?“ Aber wenn ich sagen würde: „Okay, mein Leben in Gaza ist die Hölle, ich bin eine queere Person, die verfolgt wird…“ Das könnte sehr einfach in den deutschen Medien ausgeschlachtet und gegen mich und meine eignen Leute verwendet werden. Weil es ihnen nicht um mich geht. Es geht ihnen darum, wie sie mich für ihre Zwecke benutzen können. Und ich glaube, das ist das Problem.

Die ganze Sache mit über Palästina in Deutschland reden… Es geht auch nicht nur um diese Proteste. Wenn sie es nicht im Sinne der Besatzung benutzen können, dann berichten sie natürlich nicht darüber, sie sprechen nicht darüber. Es ist ein anderer Diskurs. Ich kann mich erinnern wie sie über den Frauen*streik in Tel Aviv berichtet haben: „Es ist so cool, es ist so bunt… Palästinensische Frauen* gehen zusammen mit israelischen Siedlerinnen* auf die Straße… Das ist so gut und wir lieben das, das ist, wie wir es gerne hätten“. Aber das ist nicht richtig. Sie haben über den Streik berichtet und haben mir viele Fragen zu dem Streik gestellt. Ich habe darauf geantwortet, dass ich aus Gaza komme und mir deswegen nicht erlaubt wird, in das besetzte Tel Aviv zu gehen. Ich würde niemals zu einer Demonstration gehen auf der israelische Soldatinnen* stehen, nur weil sie Frauen* sind. Einfach eine Frau* zu sein ist für mich keine Gemeinsamkeit, es ist eine politische Frage. Ich könnte mit so einer Frau* den ganzen Tag demonstrieren und am nächsten Tag kann sie an einem Checkpoint eine Waffe an meinen Kopf halten. Das sind aber nicht die Worte, die diese Leute hören wollen.

Was wären deiner Meinung nach die Pflichten von internationalistischen Revolutionär*innen und auch linken Bewegungen hier in Deutschland, um eure Kämpfe zu unterstützen?

Ich würde sagen Solidarität. Transnationale feministische Solidarität mit Palästina, im Kontext des Lebens unter dem Siedlerkolonialismus. Die Leute sollten unsere Sache weitertragen. Informationen weiterzugeben, kann ein revolutionärer Akt sein. Damit Leute von den Protesten hören, durch palästinensische Stimmen. Das ist das Wichtigste, dass sie palästinensische Frauen* sprechen hören. Es ist gut, dass ihr wir ein Interview zusammen führen. Das ist ein Akt der Solidarität. Wir können ihn nach Palästina schicken und die Frauen*, die sich dort organisieren werden wissen, dass es Leute in Deutschland gibt, die daran interessiert sind, über Tal3at zu erfahren. Und, dass ihr dem Diskurs darüber, wie nationale Befreiung aussehen sollte, zustimmt. Und es ist wichtig zu sagen, dass Palästina nicht befreit werden kann, so lange Frauen* nicht befreit sind. Auch in unseren Räumen hier in Deutschland, Großbritannien und überall. Als Internationalist*innen dürfen wir nicht zulassen, dass dieses Thema auf später verschoben wird. Auf Arabisch sagen wir: „Du kannst kein freies Palästina auf den Gebeinen von toten palästinensischen Frauen aufbauen“. Wir werden das nicht zulassen. Das ist nicht wonach wir streben. Es geht darum den Diskurs von Tal3at und den Frauen*, die auf der Straße protestieren aufzugreifen. Wir fordern Solidarität.

#Bildquelle: wikimedia commons

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Am 17.09.19 wurde in Israel gewählt. Im Vorfeld kündigte Benjamin Netanjahu zunächst an, bei seiner Wiederwahl das Jordantal annektieren zu wollen, zwei Tage vor der Wahl ließ er auch noch kurzerhand den Bau einer neuen israelischen Siedlung in der Westbank genehmigen. Mittlerweile ist zwar klar, dass Netanjahu und seine Partei an Stimmen verloren haben, eine Ende seiner Herrschaft und des Staates Israels über die palästinensische Bevölkerung ist damit aber nicht in Sicht. Wir haben mit Baha Hilo, einem palästinensischen Aktivisten und Mitbegründer von „To Be There“ über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Wahlen, Netanjahus Ankündigung das Jordantal annektieren zu wollen und die Auswirkungen der Wahlergebnisse auf Palästina gesprochen.

In Deutschland war überall von den „Wahlen in Israel“ zu lesen. Wo liegen die Grenzen innerhalb der Wahl, wer darf wählen und wer nicht ?

Obwohl der Staat Israel das Leben und die Freiheiten von fast 7 Millionen Palästinenser*innen kontrolliert (2 Millionen in Gaza, 3 Millionen im Westjordanland, 300.000 in Jerusalem und 1,7 Millionen in Israel), wird die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung von der Wahl ausgeschlossen. Ihre Abwesenheit bei den israelischen Wahlen wird durch das israelisches Grundgesetz legitimiert. Sieben Millionen Palästinenser*innen haben keine sogenannte „israelisch jüdische Identität“, weder laut Pass noch real existierend. Deswegen dürfen die meisten von ihnen nicht wählen gehen. Konkret bedeutet das, dass alle in Gaza, in der West Bank und in Jerusalem lebende Palästinenser*innen nicht an Wahlen in Israel teilnehmen dürfen. Trotzdem werden sie vom israelischen Staat kontrolliert und stetig diskriminiert.

Die palästinensische Bevölkerung, die in Israel lebt, sind die einzigen Palästinenser*innen, die zur israelischen zur Wahl gehen dürfen. Die einzigen Bewohner*innen des Westjordanlandes, denen es erlaubt ist, an den israelischen Wahlen teilzunehmen, sind israelische Siedler*innen.

Menschen ohne „israelische Identität“ haben also kein Wort bei den Wahlen zu melden. Welche Bedeutung hat das für die palästinensische Bevölkerung?

Aus der Abwesenheit der palästinensischen Bevölkerung bei den israelischen Wahlen resultiert, dass diese Palästinenser*innen für viele einfach nicht mehr existieren. Das ist auch ein Ziel von Israel und seinen Unterstützer*innen. Vor allem für die Palästinenser*innen, die in Israel leben und die, welche innerhalb der israelischen Grenzen von Jerusalem leben, ist das hoch problematisch.

Die Palästinenser*innen, die in Israel leben, werden von Israel, auch im Pass, arabische Israelis genannt. Die Palästinenser*innen, die in den israelischen Grenzen von Jerusalem leben, werden von Israel „ständige Bewohner Jerusalems“ genannt. Durch ihre Nichtbenennung und damit Nichtexistenz als Palästinenser*innen kann somit auch vom Staat verschleiert werden, dass sie einer stetigen Diskriminierung ausgesetzt sind. Die Verteidiger des Staates Israels machen bei dem Motto „Wir benennen sie nicht, daher existieren sie nicht, daher sind sie auch keiner Diskriminierung ausgesetzt“ ebenso mit. Verteidiger des Staates Israels und Israel selbst verleugnen damit die diskriminierende rassistische Realität und die bloße Existenz von Palästina und Palästinenser*innen. Palästina existiert aber, ebenso Palästinenser*innen, überall auf der Welt.

Um die Öffentlichkeit von dieser Realität abzulenken, denke ich, dass uns der Staat Israel erlaubt, noch teilweise das besetzte Westjordanland (mit Ausnahme von Jerusalem) und den Gazastreifen zu bewohnen. Damit können wir an den Wahlen zur PA (Palestine Authority, Palästinensische Autonomiebehörde, Anmerkung Redaktion) teilnehmen, einer Behörde, die unter jeglicher, vor allem finanzieller und militärischer, Herrschaft des Staates Israel im Westjordanland und im Gaza Streifen tätig ist. Sie steht unter totaler Kontrolle von Israel. Die Wahlen zur PA finden also unter israelischer Militärherrschaft statt.

Du sagst zwar, dass euch im besetzten Westjordanland erlaubt wird zu leben, allerdings gestaltet sich die Situation hier ja auch sehr kompliziert für Palästinenser*innen.

Ja, in der West Bank gibt es drei Zonen, A, B und C. In den Zonen A und B, ebenso wie in Gaza, erlaubt Israel der PA, öffentliche Dienstleistungen zu kontrollieren und zu versorgen, dazu gehören z.B. der Bekämpfung der Kriminalität, Organisation von Straßenverkehr, Gesundheitswesen, Schulen und so weiter. Aber die sogenannte „Sicherheit“ kontrolliert Israel, ebenfalls ist es der PA nicht erlaubt, Palästinenser*innen vor israelischen militärischen Angriffen zu schützen oder die Grenzen zu kontrollieren. Als zum Beispiel die US-Kongressabgeordnete Rashida Talib ihre Großmutter besuchen wollte, welche in der Nähe von Ramallah lebt (Ramallah gehört zur Zone A, die Umgebung zur Zone B, Anmerk. Redaktion), hinderte sie der Staat Israel daran. Kann er ja auch, er kontrolliert ja die Grenzen.

Die Zone C steht unter voller Kontrolle von Israel, also auch öffentliche Dienstleistungen.

Alle Zonen werden regiert von der israelischen Militärregierung.

Zurück zu den Wahlen: Netanjahu kündigte an, das Jordantal annektieren zu wollen. Welche Konsequenzen hätte das für die palästinensische Bevölkerung?

87% des Jordantals sind Gebiet C, also sowieso schon unter totalen Kontrolle von Israel. Im Jordantal leben etwa 120.000 Palästinenser*innen, wobei Jericho (Zone A, Anm, d. Red.) die größte palästinensische Gemeinschaft ist. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt dort. Der Rest ist über alle Gebiete verstreut. Die meisten der 50 palästinensischen Gemeinschaften, welche sich in der Region befinden, müssen jetzt schon entweder damit leben, dass ihre Häuser abgerissen werden oder flüchten. Der israelische Staat hat das Land palästinensischer Familien beschlagnahmt und geraubt, indem er in diesem Bereich militärische Zonen, militärische Ausbildungsplätze oder, falls eine Militärzone nicht in Betracht kam, Naturschutzgebiete eingerichtet hat.

Allein an diesem Beispiel zeigt sich, dass das diskriminierende und kriminelle Verhalten Israels gegenüber den Palästinenser*innen seit der Gründung der israelischen Regierung in unserem Land präsent ist. Es ist nicht schockierend, dass ein solcher Ministerpräsident ein solches Wahlversprechen geben wird. Palästinenser*innen wurde der freie Zugang zu ihrem Land und Besitz im Jordantal verweigert, seitdem der Staat Israel die Mehrheit genau diesen Tals zu geschlossen militärischen Zonen erklärt hat. Das Jordantal ist schon jetzt de facto eine geschlossene israelische Militärzone. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die vollständige Annexion des Gebietes erklären. Netanjahus Ankündigung, das Jordantal zu annektieren, verstehe ich deswegen nur als weiteres Versprechen des amtierenden Premierministers, uns noch mehr zu kontrollieren, als eh schon.

Hast du eine Ahnung, warum das Jordantal Israel so wichtig ist?

Der Staat hatte, wie in vielen anderen Fällen, den Aufbau des Militärs im Jordantal mit der israelischen „Sicherheit“ begründet. Im Zusammenhang damit ist interessant, was die Weltbank herausgefunden hat. Wenn die Palästinenser*innen ihr Land im Jordantal zurückgewinnen würden, könnten sie wohl mit dem Land etwa eine Billion USD jährlich erwirtschaften. Wirtschaftlich unabhängige Palästinenser*innen scheinen also eine Gefahr für die israelische Sicherheit darzustellen.

Kann durch die israelische Wahl dann noch irgendetwas für die palästinensische Bevölkerung verändert werden?

Genau das diskutiert die palästinensische Bevölkerung in Israel. Es gibt diejenigen, welche die (arabische) Partizipation als einen Weg sehen, den Staat zu verändern und Diskriminierung zu verringern. Und es gibt diejenigen, welche gegen die Teilnahme an den Wahlen sind, weil sie denken, das eine Wahl niemals grundlegende Rechte für Palästinenser*innen in Israel bringen kann. Das ist auch logischer, denn eine Gleichstellung wird ja schon vom israelischen Grundgesetz an und für sich verweigert, indem es nur Menschen zur Wahl zulässt, die eine israelische Identität haben. Und es ist auch sehr wichtig zu betonen, dass auch die Palästinenser*innen, die eine „arabisch israelische“ Identität haben, niemals die selben Rechte erfahren werden, wie die Menschen mit einer israelisch jüdischen Identität.

Unter der israelischen Herrschaft haben die Palästinenser*innen alle Arten von staatlicher Gewalt erlebt. Mord, Diebstahl von privaten Besitz und Land, Verweigerung aller möglichen Freiheiten, Wohnungsabrisse, massive Einschnitte in die Bewegungsfreiheit, Beschränkung des Zugangs zu den Ressourcen, einschließlich Land und Wasser. Alles, was dem Staat Israel einfällt um unser Leben zu kontrollieren, hat er schon gemacht.

Die Parteien, die man in Israel wählen kann, egal ob linker oder rechter Flügel, sind sich in einem alle gleich: sie stehen unter zionistischer Herrschaft (auch die arabischen Koalitionen). Die Unterschiede zwischen ihnen sind sehr gering, zum Beispiel bei Fragen, ob mehr oder weniger Lebensmittel in den Gazastreifen gelangen sollten oder nicht. Kleine Zugeständnisse gab und gibt es immer. Aber bei wesentlichen Fragen, zum Beispiel nach der generellen Frage der Freiheit der Palästinenser*innen oder dem generellen Zugang zur Nahrung, sind sie sich einig. Diese Fragen stehen nämlich gar nicht zur Debatte. Es wird also keine großen Veränderungen geben. Der Kampf im israelischen Parlament war schon immer ein Kampf zwischen verschiedene Parteien, welche die israelische Kontrolle über Palästina und die Palästinenser*innen behalten wollen.

Es ist daher falsch anzunehmen, dass die israelischen Wahlen dazu verhelfen können, in Palästina weniger Schaden zu verursachen, geschweige denn uns einen Schritt näher an Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit und Selbstbestimmung zu bringen.

Egal was am Ende jetzt nach der Wahl noch rauskommt: die Palästinenser*innen werden weiterhin unter israelischer Kontrolle leben müssen, unabhängig davon, wer die israelische Exekutive inne hat. Solange der Staat Israel auf der Grundlage einer ausschließenden nationalistischen Ideologie basiert, und das tun linker und rechter Flügel, wird die palästinensische Bevölkerung unterdrückt und ihnen alle Grundfreiheiten verweigert.

# Interview mit Baha Hilo

# Interview und Übersetzung Lena Spix

# Titelbild : Mauer in Bethlehem

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In Berlin treffen wieder zwei Lager aufeinander. Es geht um Rassismus, um Kolonialismus und um die Frage was linke Politik eigentlich in Deutschland heute bedeutet. Dies mal geht es aber auch darum, welche queeren Menschen das Recht haben, im öffentlichen Raum Kämpfe zu führen und zu verteidigen. Wir waren auf dem diesjährigen Radical Queer March in Berlin und haben die Diskussionen im Vorhinein, die Situation vor Ort und die Debatten im Nachhinein verfolgt.

Am vergangenen Samstag fand um 12 Uhr der kommerzielle 41. Cristopher Street Day (CSD) Marsch in Berlin mit mehr als einer Millionen Teilnehmenden vom Kurfürstendamm bis zum Brandenburger Tor statt, bei dem, wie jedes Jahr, unter anderem der obligatorische USA-Truck vertreten war. Daneben wurde um 18 Uhr auch zu einem alternativen „Radical Queer March“ aufgerufen, der vom Mariannenplatz im Herzen Kreuzbergs startete. Vor der Demo kam es jedoch zu Antisemitismus-Vorwürfen gegenüber möglichen Teilnehmenden.

Nachdem am 15. Juli, auf Facebook Bodo Niendel auf der Seite des Radical Queer March Berlin die Frage stellte, wie sich Organisator*innen des Radical QueerMarch zu Antisemitismus verhalten würden und ob Aktiven der Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) die Teilnahme untersagt werden würde, brach eine große Diskussion aus. Die Organisator*innen des Radical Queer March bezeichneten dabei BDS und dessen Aktive platt und ohne Argumentation als antisemitisch.

Alle Radikalen Queers, die sich solidarisch mit Palästina zeigen und BDS unterstützen seien Antisemit*innen, und deshalb auf der Demo nicht willkommen und würden auch aktiv ausgeschlossen werden, hieß es.

BDS ist eine gewaltfreie Bewegung, die von hunderten zivilgesellschaftlichen Organisationen in Palästina ins Leben gerufen wurde, um den Boykott, den Abzug von Investitionen und Sanktionen gegenüber dem israelischen Staat gemäß Internationalem Recht durchzusetzen. Die Kampagne fordert das Ende der illegalen Besatzung palästinensischer Gebiete, die 1967 von Israel besetzt wurden, sowie die Gleichberechtigung für Palästinenser*innen und Israelis in Israel selber. Auch kämpft die Kampagne für das Recht, dass vertriebene Palästinenser*innen wieder in ihr Land zurückkehren dürfen und nicht verstreut und entrechtet, teils unter menschenunwürdigen Bedingungen in Flüchtlingslagern zusammengepfercht überleben zu müssen. BDS wird von zahlreichen Organisationen, die für soziale Gerechtigkeit einstehen, sowie von antirassistischen Kämpferinnen wie den Marxistinnen Angela Davis und Tithi Bhattacharya aktiv unterstützt.

Als Antwort auf diese Ausladung und Gleichsetzung von BDS mit Antisemitismus, formte sich daraufhin kurzfristig ein Queers for Palestine Block, der zur aktiven Teilnahme antikolonialer und antiimperialistischer Queers und Freund*innen aufrief. Hierauf gab es zwei unterschiedliche Reaktionen. Auf der einen Seite befürworteten einige die Ausladung durch den Radical Queer March und bezeichneten BDS Befürworter*innen als Rassist*innen. Sie forderten zudem, die Ausladung von Palästina-solidarischen Queers aufrechtzuerhalten. Um dies zu unterstreichen wurden unter anderem Bilder von nackten, verpügelten queeren Palästinenser*innen gepostet. Auch wurden jüdische Befürworter*innen von BDS offen als Nazis bezeichnet. Auf der anderen Seite, wurde von mehrheitlich Jüden*innen, Araber*innen und andere nicht-weißen Menschen immer wieder betont, wie BDS in einer Tradition antikolonialer und antirassistischer Boykott-Bewegungen steht und wie die platte Unterstellung des Antisemitismus in die zionistische Logik einer jüdisch-Ashkenazim, also weiß-vorherrschaftlichen udn kolonialen Ideologie des israelischen Staates spielt, der jede Kritik an seiner Entstehung und Politik als „antisemitisch” zurückweist.

Dieser unbegründete Antisemitismusvorwurf wurde als erneuter Versuch gewertet, Stimmen zum Schweigen zu bringen, die sich solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf zeigen – dieses Mal von queeren palästinensischen und jüdischen Menschen.

Am 25. Juli veröffentlichten die Organisator*innen des Radical Queer March eine Stellungnahme, in der sie sich für „die pauschale, undifferenzierte Gleichsetzung vom BDS mit Antisemitismus“ entschuldigten. Dennoch würden sie „bestimmte Methoden und Argumentationsgänge von Teilen des BDS […] durchaus kritisch“ sehen und stuften diese – wieder ohne genauere Beispiele oder Argumente – „als eindeutig antisemitisch“ ein. „Vergleiche von der israelischen Politik mit dem deutschen Nazi-Regime sowie die Art und Weise, wie der pinkwashing-Vorwurf gegen Israel vorgebracht wird“ gehörten für sie dazu.

Pinkwashing in Israel

Pinkwashing ist eine Propaganda-Taktik, bei der vor allem westliche Staaten LGBTQI* Rechte für ihre Staatspropaganda bzw. offizielle Demokratie-Marketingkampagnen, sowie als Rechtfertigung für Krieg und Vertreibung missbrauchen. Dadurch soll ihr Image als progressive und liberale Nationen gefördert und von Staatsrepression, Menschenrechtsverletzungen und struktureller Unterdrückung abgelenkt werden. Israel betreibt schon seit Jahren eine Politik des Pinkwashings. Sie lenken von ihren rassistischen und menschenverachtenden Verbrechen gegenüber Palästinenser*innen und anderen nicht-weißen Bevölkerungen in Israel ab und verschleiern so die konstante Besatzungssituation in Palästina. Dabei werden gezielt Palästinenser*innen, sowie andere benachbarte arabische, mehrheitlich muslimische Länder als besonders homo- oder transphob dargestellt. Hier steckt eine Ziviliationslogik dahinter, in der Israel sich als Verfechter von LGBTQI* Rechten – im Sinne des Westens – darstellt, gleichzeitig aber LGBTQI* Palästinenser*innen ermordet und sie ihres Landes beraubt.

Im Sommer 2014 wurden bei den Angriffen auf Gaza mindestens 2200 Menschen getötet. Darunter waren palästinensische Lesben, Schwule, Trans und Queers. Durch den Missbrauch von LGBTQI*-Rechten legitimiert der israelische Staat seine Position als Besatzungsmacht und damit auch die Entrechtung der „rückständigen und queer-feindlichen“ Palästinenser*innen. Erst im Juli hat der israelische Staat, palästinensische Häuser in Ostjerusalem zerstört, um die Bewohner*innen aus der Stadt zu vertreiben zum Beispiel.

Weißsein und (Anti)Rassismus

Während des Radical Queer Marches hat sich offenbart, um welche Radikalität es geht. Der Queer for Palestine Block war mit einer antirassistischen und queeren Politik präsent und stellte sich aktiv gegen koloniale Besatzungen und Kapitalismus, was durch viele Sprechchöre in diesem Sinne deutlich wurde. In diesem Block waren überwiegend nicht-weiße LGBTQI* sicht- und hörbar, während beim Radical Queer March die weiße Mehrheit sich, von diesen unliebsamen „Anderen“ zu distanzieren suchte.

Eine der Demostrierenden, Leil Zahra Mortada, beschrieb die Situationfolgendermaßen: „Ich ging den ganzen Marsch umher, zur erwarteten Weißen Vorherrschaft; im Gegensatz zum Queers for Palestine Block, der eine schöne und herzerwärmende Mischung aus Queers und unseren Verbündeten war. Queers, die weiß, Schwarz, Braun, PoC [People of Color, lcm], Latinx, Migrant*innen, Asylsuchende, Palästinenser*innen, Israelis, Jüd*innen, Türk*innen, US Staatsangehörige, Iraner*innen, Indigene, Undokumentierte, Sexarbeiter*innen, Anarchist*innen, Antifa…“ sind.

Was beim Radical Queer March wirklich passierte

Als kurz bevor der Radical Queer March losging hat eine Person versucht, Plakate mit der Aufschrift „Queers for a free Palestine. Fight against: racism, islamophobia, homo/transphobia, antisemitism, apartheid!“ (Queers für ein freies Palästina. Kampf gegen Rassismus, Islamophobie, Homo-/Transphobie, Antisemitismus, Apartheid!) herunterzureißen. Doch queere nicht-weiße und jüdische Aktivist*innen haben sich gegen diese physische Gewalt zur Wehr gesetzt. Der Versuch der Einschüchterung war nicht erfolgreich. Nach kurzer Zeit des Laufens erschienen zahlreiche Polizist*innen in kompletter Kampfausrüstung und schnitten mit einer Kette den Queers for Palestine Block und die dahinter laufenden Demonstrant*innen vom kurzen Frontblock ab. Die Organisator*innen des Radical Queer March gaben der Polizei an, dass der Queers for Palestine Block nicht zum Radical Queer March gehöre und nicht willkommen sei. So forderte die Polizei von dem bis dahin auf 500 Menschen angewachsenen Queers for Palestine Block, den Radical Queer March durchlaufen zu lassen, während der Weg für den antikolonialen Block versperrt blieb. Die Demonstrierenden des Queers for Palestine Blocks forderten jedoch ein, weiterlaufen zu dürfen. Die Parole „it’s not radical to call the police“ (Es ist nicht radikal, die Polizei zu rufen) hallte durch die Reihen. Diese hoch angespannte Situation hätte sehr leicht eskalieren können und zu Verletzungen und Ingewahrsamnahmen von Demonstrant*innen führen können. Auch Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus und Menschen ohne Papiere, die sich im antikolonialen Block aufhielten hätten ernsthafte Konsequenzen hieraus bekommen können.

„Indem du die Polizei rufst, hast du dich weiter in rassistische und fremdenfeindliche Politik vertieft, den nicht-weißen Körper als den gefährlichen, nicht gebändigten, hasserfüllten und unzivilisierten“ darzustellen, so Leil Zahra. Nach einiger Zeit der Angst und Verwirrung, dämmerte es wohl den Organisator*innen des Radical Queer March, dass es politisch katastrophal ist, die Bullen auf die wenigen nicht-weißen Teilnehmer*innen einer „linken“ Demo zu hetzen. Die Polizei zog jedoch erst ab, als sich der Radical Queer March ohne den Queers for Palestine Block bereits weiterbewegt hatte. Der Radical Queer March ließ also einen großen Block von antirassistischen, antikolonialen und antiimperialistsichen mehrheitlich nicht-weißen Queers allein mit der Polizei zurück. Jegliche Behauptungen im Nachhinein, die Organisator*innen des Radical Queer March hätten die Polizei nicht gerufen ist somit irrelevant, da sowohl im Vorhinein in Sozialen Medien genau der Rückgriff auf die Repressivkräfte des Deutschen Staates angekündigt wurde, als auch die Tatsache, dass bei der Polizeikette keine*r der Organisator*innen des Radical Queer March eingeschritten ist für sich spricht.

Das erste Gefühl welches sich im Queers for Palestine Block breit machte war, trotz niedriger Erwartungen, Fassungslosigkeit. Wie konnten diese selbsternannte radikalen Queers die Polizei auf Migrant*innen, Asylsuchende und andere hetzen? In der deutschen Polizeigeschichte sind zahlreiche rassistische Angriffe und Morde an Schwarzen, migrantischen, asylsuchenden, Trans und queeren Menschen bekannt. Hätte man wirklich einen Dialog führen wollen, dann hätte im Vorhinein ein Plenum einberufen werden müssen um sich argumentativ auszutauschen und die Frage zu stellen: Was bedeutet queere linke Politik heute? Die Organisator*innen des Radical Queer March entschieden sich jedoch dafür, mit dem repressiven Staatsapparat gegen „die Anderen“, die Ausländer*innen, die Unliebsamen zu arbeiten.

Dies ist nicht nur ein Verrat an radikale queer-feministische Politik, sondern auch ein Verrat an die einstigen Aufstände gegen brutale Polizeirazzien und Repressalien in Stonewall Inn 1969, die die Geburtsstunde für die weltweite radikale Lesben- und Schwulenbewegung war. Denn hier waren es proletarische Schwarze und Latinx Queers – mitunter viele Sexarbeiter*innen –, die sich gegen die rassistische, homo- und transfeindliche Politik der Stadt New York aktiv zur Wehr setzen.

Bis Redaktionsschluss gab es keine Stellungnahme des Radical Queer March Berlin zu den Geschehnissen am Samstag. In den Sozialen Medien regnet es jedoch nur so von Rechtfertigungen, die es leider auch in linke Medien schaffen, wie ein tatsachenverdrehender Artikel im neuen deutschland zeigt.

Wir müssen uns organisieren!

Insgesamt war der Queers for Palestine Block spontan und kurzfristig ins Leben gerufen worden. Folglich war dieser recht unorganisiert. Die Menschenmasse war recht lose, und unkontrolliert. Es gab auch keine klaren Ansagen. Der antikoloniale Block hat es jedoch immer wieder geschafft, sich zu sammeln. Improvisierte Parolen wurden genauso gerufen wie alt-bekannte aus der antipatriarchalen, antikapitalistischen und Palästina-solidarischen Bewegung. Trotz aller Hindernisse entstand so ein Gefühl des starken kollektiven Zusammenhaltes. Der Queers for Palestine Block wurde außerdem immer größer, da auch Teilnehmende des Radical Queer March sich ihm anschlossen.

Das anarchistisch-feministische Hausprojekt Liebig34 zeigte sich solidarisch und sagte die After-Demo-Party des Radical Queer March kurzerhand ab, da sie die Zusammenarbeit mit der Polizei und schon gar nicht diese für die Durchsetzung der eigenen politischen Ziele zu nutzen tolerierten. Auf Twitter schrieben sie: „Keine Bullen bei Pride! Wir denken nicht, dass es Zeit für eine Party ist, nach dem, was heute in #radicalqueermarch passiert ist. Also sagen wir die Party bei #Liebig34 ab.“

Ein voller Erfolg: Doch wie geht es weiter?

Trotz der unsicheren Situation, und der möglichen Gewaltaussetzung in dieser Demo, versammelten sich viele mutige Menschen, die ihre gelebten Realitäten von Rassismus und kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung nicht länger von weißen linken, selbsternannten Radikalen bestimmen lassen und zum Schweigen gebracht werden wollten. Das wahre Gesicht der heuchlerischen weißen, mal sich „antinational,“ mal „antideutsch“ nennenden Linken ist an diesem Tag deutlich zum Vorschein gekommen.

Letzten Samstag konnte jedoch auch gezeigt werden, dass palästinensische, jüdische, pro-palästinensische und solidarische Stimmen mit antikolonialen Kämpfen nicht länger zum Schweigen gebracht und ausgeschlossen werden können. Auch und vor allem nicht in queeren und feministischen Räumen. Die Organisator*innen des Queers for Palestine Block sind überwiegend queere Frauen*, die sich aktiv für ein freies Palästina einsetzen und in verschiedenen politischen Gruppen arbeiten. Weitere Aktionen sind in den kommenden Wochen und Monaten geplant. Nach der Demonstration wurde in einer großen Feedback-Runde Ideen gesammelt, wie eine Demonstration kontrollierter und organisierter verlaufen müsste, wie man sich besser vernetzen kann und welche konkreten Methoden, Strategien zur Mobilisierung genutzt werden können.

Für weitere Vernetzungen, Aktionen und Informationen kann man sich mit den Organisator*innen über die Facebook-Seite Palästina spricht Palestine speaks oder auch mit Berlin Against Pinkwashing in Verbindung setzen.

Der Radical Queer March war nicht radikal. Deutsche Linke haben versucht marginalisierte und antikoloniale Stimmen zu ächten, zu verbannen, zu kriminalisieren, zum Schweigen zu bringen und sind letzten Endes daran gescheitert. Radikal bedeutet nun mal die Probleme an der Wurzel packen, und zwar feministisch, antikolonial, antiimperialistisch und antirassistisch. Alles andere ist Heuchelei.

# Titelbild: Queers for Palestine beim Radical Queer March Berlin am 26. Juli 2019, http://bds-kampagne.de/wp-content/uploads/2019/07/Radical-Queers-March-2019-mit-Pal%C3%A4stinenserinnen-und-Fahne.jpg

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Die Massenproteste gegen die Hamas und die israelische Besatzung im Gaza-Streifen sind Ausdruck einer Neubewertung der sozialen Frage in Palästina. Gespräch mit dem in der Westbank lebenden Aktivisten Hassan von der Palästinensischen Volkspartei (Hizb al-Sha’b al-Filastini, PPP).

In den vergangenen Wochen ist es zu größeren Demonstrationen in Gaza – auch gegen die dort regierende Hamas – gekommen. Wie würdest du diese bewerten? Was sind die Forderungen?

Wenn man die Situation in Gaza betrachten will, muss man das größere Bild analysieren. Die Menschen sind in den letzten zwei Wochen in Gaza auf die Straßen gegangen, weil sie nichts mehr haben und ihnen keine andere Wahl bleibt. Die Bevölkerung dort lebt seit 1967 unter der Besatzung und nun mehr als 15 Jahre in einem großen Gefängnis; jeder Kontakt zu Außenwelt ist de facto unterbunden. Man muss sich vorstellen, wie die Lage ist, wenn man zwei Millionen Menschen auf einem Landstreifen zusammen sammelt, in dem es keinen Zugang zu Medikamenten und nicht ausreichend Nahrung gibt.

Die Menschen sind auf die Straßen gegangen unter dem Motto: Wir wollen Leben!. Es ist verständlich, dass sie verzweifelt sind, da sie weder Chancen noch Möglichkeiten haben und auch gerade keine bessere Zukunft sehen. Diese Situation ist bedingt durch die Schließung aller Ein- und Ausgangspunkte zur Außenwelt, also dem Belagerungszustand durch Israel. Die Demonstrationen richteten sich zunächst gegen die Hamas beziehungsweise deren Milizen, die die Macht und die Kontrolle im Gazastreifen behalten wollen. Denn das ist jene Macht, die die Bevölkerung alltäglich mitbekommt. Der tiefere Grund hinter der Unzufriedenheit liegt in der israelischen Besatzung und dem Belagerungszustand. Es ist nicht die Hamas, die Gaza dicht gemacht hat, sondern die israelische Armee. Hamas organisiert nur die internen täglichen Angelegenheiten, kontrolliert aber nicht die Grenzen. Dass keine Lebensmittel oder Rohrmaterialien reinkommen, dass eine hohe Arbeitslosigkeit besteht, dass es keine Arbeit und Fabriken gibt, liegt an denjenigen, die Gaza belagern.

Die Menschen haben in ihren Forderungen völlig recht. Das sind Leute, die sich ein menschliches Leben wünschen. Sie schaffen es jedoch nicht, gegen die Israelischen Besatzung etwas auszurichten, da sie nicht mit denen im täglichen Kontakt sind. Deswegen bleibt die Hamas übrig, die unfähig ist, radikale Veränderungen zu erwirken.

Die Bewegung, die heute auf der Straße steht und sich Wir wollen leben! nennt, ist die Kontinuität einer Bewegung, die es schon seit mehr als eineinhalb Jahren gibt und die damals auf die Grenzen zum israelisch besetzten Teil Palästinas zugelaufen ist. Seitdem gibt es jede Woche und fast jede Nacht Demonstrationen, widerständige Aktionen und den Versuch, dieses Gefängnis zu verlassen. Es ist eine komplexe Lage. Die Menschen leben unter Besatzung, sie brauchen Essen, Medikamente und sie wollen frei leben.

Wie siehst du die Rolle linker und revolutionärer Organisationen in diesen Entwicklungen?

Eine wichtiger Punkt in den letzten Bewegungen, der auch als ein positives Zeichen für die palästinensische Gesellschaft erwähnt werden muss, ist, dass die Organisatoren dieser Demonstration, die von der PA [Palästinensische Autonomiebehörde, A.d.R.] und der Hamas in Gaza verhaftet wurden und Repressionen erlitten haben, hauptsächlich aus den drei größeren politischen linken Parteien, PFLP [Volksfront zur Befreiung Palästinas, A.d.R], DFLP [Demokratische Front zur Befreiung Palästinas, A.d.R] und PPP, und anderen neueren linken und demokratischen Kräften kommen.

Diese bringen, und das ist sehr wichtig, den sozialen Aspekt in den Vordergrund. Oft wird dieser durch den Kampf gegen die Besatzung unbeachtet gelassen und zurück gestellt. Im Namen des Kampfes gegen die Besatzung wurden Fragen nach dem demokratischen Umgang miteinander, faschistischen Tendenzen, die Versorgungslage und die soziale Lage umgangen. Diese Bewegung jetzt ist für uns wichtig, weil sie diese Themen wieder angeht und ein gesellschaftliches Bewusstsein schafft.

Die Demonstrationen heute sind Teil des 70-jährigen Kampfes des palästinensischen Volkes für ihre Rechte auf Selbstbestimmung und gegen die Besatzung. Wir haben gelernt, nie aufzugeben und wir werden auch nie aufgeben. Deswegen werden die Palästinenser sich gegen jede Macht verteidigen, die sie entrechtet, sei es die Besatzung oder reaktionären Gruppierungen, die die Gesellschaft unterdrücken wollen. Wir haben gesehen, dass sich die Demonstrationen auch gegen die Hamas-Kräfte richten. Ohne damit die Hamas in irgendeiner Form in Schutz nehmen zu wollen, darf allerdings auch nicht aus den Augen verloren werden, dass die Belagerung Gazas der Hauptauslöser ist.

Jede Bewegung hat lang- und kurzfristige Effekte. Wir erhoffen uns von diesen Bewegungen, die von linken Kräften geführt wurden, dass sie einen positiven Effekt gegen die islamische Regierung in Gaza haben. Wir als Palästinenser sind nicht gegen das politische Handeln der Hamas, denn wir sind der Überzeugung, dass wir das Recht haben, gegen Israel Widerstand zu leisten. Besonders die Menschen in Gaza, die de facto in einem Gefängnis leben. Allerdings sind wir gegen die soziale Politik der Hamas, ihre islamische Regierung ist für Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Sie verhindert die Entstehung einer demokratischen Gesellschaft.

Deswegen können solche Bewegungen der Rolle linker Politik in Palästina neues Leben einhauchen und zu ihrer Erneuerung beitragen. Darauf hoffen wir. Die Linke kämpft für die Armen und unterdrückten Menschen und ihr Recht auf Arbeit, Gleichheit und für ein gutes Leben. Das muss man als soziale Frage sehen und man darf die Augen davor nicht verschließen. Durch die Belagerung von Gaza und den Kampf der Hamas gegen die Besatzung wurde dieser Aspekt zum Teil ignoriert.

Was erwartest du von der internationalen Linken?

Dieser Punkt ist sehr wichtig und sollte gut analysiert werden. Die Rolle der internationalen Linken war für uns als Palästinenser stets sehr wichtig. Die Linke und damit auch die palästinensische Linke hatte stets die Position, dass der Konflikt kein religiöser/historischer ist, sondern ein kapitalistischer beziehungsweise ein Klassenkonflikt. Die zionistische Bewegung ist als eine kapitalistische, imperialistische Bewegung nach Palästina gekommen, hat das Land ihren lokalen Besitzern geraubt und sie vertrieben. Mit Geldern großer imperialistischer Staaten, die hier investiert haben, wurden Firmen aufgebaut und eine Macht im Nahen Osten geschaffen, die den Einfluss der Imperialisten ausweiten soll.

Die Rolle der internationalen Linken zusammen mit der palästinensischen ist es diesen Analysepunkt in diesem System immer wieder festzuhalten. Wir müssen diesen Standpunkt verteidigen und die Menschen davon überzeugen, dass das die Hintergründe des Konflikts sind. Dass dieser Konflikt ein Klassenkampf ist: zwischen den wohlhabenden Klassen, die Interessen der westlichen Staaten vorantreiben und der lokalen indigenen Bevölkerung, die zum Großteil Bauern waren, denen das Land geraubt wurde. Wenn wir es nicht schaffen, dies klarzustellen, wird der Narrativ des religiösen Konflikts immer stärker, was zur Unlösbarkeit der Probleme und Erstarkung faschistischer und zerstörerischer Ansätze führt.

Es ist ein Klassenkampf, es ist eine Frage der Globalisierung, es ist eine Frage der Expansion kapitalistischer Staaten und des US-Imperialismus gegen die Völker – genauso, wie damals in Vietnam und Nicaragua und heute in Kurdistan. Nur mit linken Ansätzen und Ideen können wir die gesellschaftliche und soziale Freiheit des palästinensischen Volkes erkämpfen. Gerade deshalb brauchen auch jetzt die Palästinenser die Solidarität internationaler linker Kräfte. Verbunden mit den Demonstrationen in Gaza als einem Aufstand der Armen ist es die Aufgabe linker Organisation eben jene zu verteidigen und zu unterstützen.

# Interview und Übersetzung: Heyder Paramaz

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