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Wer ist Shabir?

Shabir Baloch war ein prominenter belutschischer Studentenführer, der als zentraler Informationssekretär der Baloch Students Organization–Azad (BSO-Azad) tätig war. Am 4. Oktober 2016 wurde er während einer Militäroperation in Gowarkop im Distrikt Kech in Belutschistan von pakistanischen Sicherheitskräften entführt. Seine Frau und seine Familienangehörigen wurden Zeugen der Entführung. Seitdem ist sein Verbleib unbekannt. Amnesty International veröffentlichte einen dringenden Aktionsaufruf (UA 232/16), in dem gewarnt wurde, dass Shabir ernsthaft von Folter und außergerichtlicher Hinrichtung bedroht sei. Trotz wiederholter Appelle haben die pakistanischen Behörden weder seine Inhaftierung bestätigt noch ihn vor Gericht gestellt. Seine Familie, insbesondere seine Frau Zarina und seine Schwester Seema, haben einen unermüdlichen Kampf geführt und Proteste, Sitzstreiks und Aufklärungskampagnen in Belutschistan, Karatschi und Islamabad organisiert.

Shabirs Fall ist zum Symbol für Tausende von Fällen von Verschleppungen in Belutschistan geworden, wo der Staat nicht nur Krieg gegen die Körper seiner Bevölkerung führt, sondern auch gegen ihr Gedächtnis, ihre Würde und ihren Widerstand.

Der Brief

An meinen geliebten Shabir,

ich sende dir meine Grüße. Ich kann dich nicht nach deinem Befinden fragen, denn in den Gefängnissen und Folterkammern dieses Staates geht es niemandem gut.

Shabir, seit diesem Tag, dem 4. Oktober 2016, sind die Farben unseres Lebens verblasst. Belutschistan sieht mehr denn je wie ein Kriegsgebiet aus. Jeden Tag verschwinden Menschen gewaltsam, und unzählige Leichen werden auf verlassene Straßen und in die Dunkelheit der Nacht geworfen.

Du hast bei deinen Versammlungen oft gesagt, dass der Staat die Belutschen wie Tiere behandeln würde. Damals habe ich das vielleicht nicht ernst genommen. Aber heute, wo ich diese Grausamkeit mit eigenen Augen sehe, treffen mich deine Worte jeden Tag wie ein Stich ins Herz. Ich hätte nie gedacht, dass ich, deine Schwester, dir eines Tages von diesen Umständen berichten würde. Ich habe immer geglaubt, dass du derjenige sein würdest, der mir erklärt, wie sich Sklaverei wirklich anfühlt.

Aber heute ist es meine Feder, die sich bewegt, und ich schreibe diesen Brief, um dir zu erzählen, wie sich unsere Welt verändert hat, seit du verschleppt wurdest, und wie Belutschistan brennt.

Shabir, ich bringe es nicht über mich, Ammas (Mutter) Geschichte voller Trauer und Kummer zu schreiben, also vergib mir bitte im Voraus. Sie sitzt Tag und Nacht an der Tür und hofft, dass ihr Shabir zurückkehrt, damit sie dich an ihre Brust drücken und die Jahre des Schmerzes wegwaschen kann. Sie bleibt nachts wach, als wäre auch ihr Schlaf mit dir gefangen.

Zarina, Shabir’s Ehefrau mit einem Poster: „Ich weiß nicht ob ich Shabir’s Ehefrau oder Witwe bin!“

Shabir, seit deinem Verschwinden ist das Glück aus unserem Haus gewichen. Zarina ist nicht mehr die Zarina, die du einmal kanntest. Ihr Lächeln ist verschwunden. Sie geht nicht mehr zu Zusammenkünften, sie spricht nicht mehr. Shabir, Zarina ist still geworden. Ich sage ihr immer wieder, sie solle sich erholen, neue Kleider tragen. Aber sie wird nur still und sagt:

„Ich werde mich erst schmücken, wenn mein Shabir zurückkehrt. Dann werde ich wieder eine Braut sein.“

Und als sie das sagt, laufen ihr Tränen über das Gesicht. Ich kann es nicht ertragen.

Ich habe beschlossen, dir diesen Brief zu schreiben, aber Shabir, wie kann ich neun Jahre in einem einzigen Brief zusammenfassen? Trotzdem versuche ich es.

Weißt du noch, wie wir eines Tages zu einer Kundgebung nach Karachi gefahren sind? Zarina und ich waren die ersten, die im Presseclub ankamen. Aber die Polizei war bereits da. Sobald wir ankamen, steckten sie uns in ein Fahrzeug und brachten uns zu ihrem Kontrollpunkt. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich in einen Polizeiwagen gesetzt wurde. Ich hatte schreckliche Angst; Tränen füllten meine Augen. Aber meine Angst galt nicht mir selbst. Ich dachte nur an dich, wie du wohl in ein solches Fahrzeug gezerrt, geschlagen und mit verbundenen Augen festgehalten worden sein musstest.

Aber Zarina, deine liebe Zarina, tröstete mich und sagte:

„Mach dir keine Sorgen, wir sind nur am Kontrollpunkt. Uns wird nichts passieren.“

Unser Leben besteht nun darin, uns gegenseitig zu trösten. Später wurden wir freigelassen, aber diese Momente werden uns immer im Herzen bleiben.

Shabir, der Schmerz ist so tief, dass selbst die Feder zögert, ihn zu beschreiben. Kennst du einen jungen Mann namens Zeeshan Zaheer, der für die Freilassung seines vermissten Vaters kämpfte? Eines Nachts wurde auch er gewaltsam verschleppt. Am nächsten Morgen wurde seine verstümmelte Leiche vor sein Haus geworfen, als wäre sie ein „Geschenk“. Sein Märtyrertod stürzte ganz Belutschistan in Trauer. Die Menschen strömten in alle Städte, es wurden Kundgebungen abgehalten und Kerzen angezündet. Auch wir veranstalteten unter dem Banner des BYC (Baloch Yakjehti Committee) eine Kundgebung am Hub-Kontrollpunkt.

Alle vergossen Tränen über Zeeshans Märtyrertod. Aber als wir den Hub-Checkpoint erreichten, hatte die Polizei den Presseclub bereits umzingelt. Sie versuchten, uns aufzuhalten, aber wir weigerten uns, uns zurückzuziehen, und begannen eine friedliche Kundgebung auf der Straße. Innerhalb weniger Minuten griff die Polizei an. Sie schlugen uns, traten uns, schossen auf uns und stießen uns in Fahrzeuge, wobei sie uns mit Worten beschimpften, die uns bis ins Mark erschütterten.

Shabir, ich habe mich an diesem Tag immer wieder gefragt, welches Verbrechen wir begangen hatten, dass wir geschlagen, beschimpft und gedemütigt wurden. Wir wurden zum Checkpoint gebracht.

Und dann verstand ich: Der Staat foltert uns nicht nur, weil wir unsere Stimme erheben. Er foltert uns, weil er weiß, dass wir nicht mehr unwissend sind. Er weiß, dass Aktivisten wie du, die in seinen Folterzellen eingesperrt sind, uns bewusst gemacht haben.

Der Staat kann versuchen, uns zu unterdrücken, so viel er will, aber solange wir atmen, werden wir weiterhin unsere Stimme für dich und für jeden vermissten Belutschen erheben.

Shabir, nach Zeeshans Märtyrertod, als wir zum Kontrollpunkt gebracht wurden, beschimpften und verfluchten sie uns weiter. Wir wurden wie Kriminelle eingesperrt. Stunden vergingen in erstickender Hitze, und sie gaben uns kein Wasser. Einige der jüngeren Kinder, die bei uns waren, fingen vor Angst an zu weinen.

Spät in der Nacht holten sie uns nacheinander heraus. Die Polizistinnen schlugen uns, zogen uns an den Haaren und stießen uns herum. Dann schoben sie uns wieder hinein. Wir fragten immer wieder: „Welches Verbrechen haben wir begangen? Welches Gesetz haben wir gebrochen?“ Aber statt Antworten bekamen wir nur weitere Tritte und Beleidigungen.

Zwei oder drei Stunden später ertönte plötzlich eine laute Stimme: „Steht auf, ihr werdet freigelassen. Eure Leute sind gekommen, um euch abzuholen.“ Aber Shabir, niemand empfand in diesem Moment Freude. Wir alle sahen uns geschockt und verängstigt an und fragten uns, ob es sich um eine weitere Falle handelte.

Sie brachten uns aus dem Kontrollpunkt heraus und fuhren uns in Polizeifahrzeugen weit weg. Wir dachten, wir würden freigelassen, aber stattdessen brachten sie uns ins Gadani-Gefängnis. Dort wurden wir in schmutzige, stinkende Zellen gesteckt, in denen selbst Tiere sich weigern würden zu bleiben. Der Geruch war unerträglich, überall wimmelte es von Mücken. Wir konnten die ganze Nacht nicht schlafen.

Am nächsten Morgen nahmen sie unsere Namen auf und ließen uns in Reihen stehen, als wären wir Kriminelle. Dann brachten sie uns altes Essen, das kaum genießbar war. Einige der jüngeren Mädchen konnten überhaupt nichts essen. Unsere Kleidung war von den Schlägen zerrissen, unsere Haare zerzaust, unsere Gesichter geschwollen. Aber Shabir, nichts davon hat unseren Geist gebrochen.

Wir standen vor den Gefängnisbeamten und sagten:

„Wir sind keine Kriminellen. Wir sind hier, weil wir unsere Stimme für unsere vermissten Brüder erhoben haben. Wenn Sie glauben, Sie könnten uns mit Gefängnissen zum Schweigen bringen, irren Sie sich. Wir werden unsere Stimme noch lauter erheben als zuvor.“
Nach zwei Tagen ließen sie uns plötzlich ohne Erklärung frei. Sie ließen uns mitten in der Nacht am Straßenrand stehen. Wir kamen erschöpft zu Hause an, unsere Körper waren voller Blutergüsse, aber unsere Entschlossenheit war stärker denn je.

Shabir, was ich dir sagen möchte, ist Folgendes: Der Weg, den du uns gezeigt hast, das Bewusstsein, das du uns vermittelt hast, lebt weiter. Der Staat mag uns in Kontrollpunkte, Folterzellen oder Gefängnisse stecken, aber er kann die Kette des Widerstands nicht brechen.

Shabir, erinnerst du dich, wie unsere Schwester Seema vor neun Jahren noch zu schüchtern war, um überhaupt zu sprechen? Sie konnte nicht einmal richtig Urdu sprechen. Aber heute, Shabir, steht Seema auf den Straßen von Karachi und Islamabad und trotzt dem Staat auf Urdu.

Deine Trauer hat uns stark gemacht, Shabir. Wir wachsen in unserer Trauer.

Nun beende ich diesen Brief mit der einzigen Hoffnung, dass dieser Schmerz der Trennung eines Tages ein Ende haben möge. Aber die liebevollen Erinnerungen an dich werden immer in meinem Herzen weiterleben. Und ich gebe dieses Versprechen: Solange wir atmen, wird keiner von uns aufhören, für die Verschwundenen Widerstand zu leisten.

Shabir, wir haben von Dr. Mahrang Baloch gelernt, dass Widerstand Leben ist, und in diesem bleiben wir am Leben.

Die bitteren Erinnerungen an deine Abwesenheit können niemals ausgelöscht werden. Ich kann nur eines wünschen: dass du zusammen mit allen Verschwundenen bald zurückkehrst, damit auch wir wie andere Menschen auf der Welt leben können.

Deine kleine Schwester,
Sammul

Sammul mit einem Bild ihres Bruders

Schlussbemerkung

Shabirs Geschichte ist nicht nur der Schmerz einer Familie. Es ist der Schmerz einer Nation, in der Tausende von Müttern, Ehefrauen und Schwestern weiterhin auf ihre verschwundenen Angehörigen warten. Dieser Brief, geschrieben in Liebe und Schmerz, ist auch ein Manifest des Widerstands: ein Beweis dafür, dass selbst in den dunkelsten Zellen die Erinnerung überlebt und der Kampf für die Freiheit nicht zum Schweigen gebracht werden kann.

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Von Ruzhn, Belutschische politische Aktivistin

Zwischen dem 9. und 11. Juli 2025 startete die Baloch Liberation Front (BLF) Operation Baam, eine koordinierte, landesweite Militärkampagne im besetzten Belutschistan. In nur 72 Stunden wurden über 84 Anschläge ausgeführt, was sie zur größten und synchronisiertesten Offensive der BLF bis heute macht. „Baam“ bedeutet Morgendämmerung auf Balochi und symbolisierte nicht nur eine taktische Eskalation, sondern den Beginn eines neuen strategischen Kapitels im belutschischen nationalen Befreiungskampf.

Der Kontext: Belutschistan unter Besatzung

Belutschistan, die größte Provinz Pakistans nach Fläche und Bodenschätzen, befindet sich seit 1948 in militärischer Besatzung. Trotz geo-strategischer Bedeutung und umfangreicher mineralischer Ressourcen sehen sich die belutschischen Menschen politischer Marginalisierung, wirtschaftlicher Ausbeutung und einer brutalen Counterinsurgency-Kampagne ausgesetzt, geführt von Pakistans Militär und Geheimdiensten.

Der belutschische Widerstand, sowohl bewaffnet als auch gewaltfrei, besteht seit Jahrzehnten. Die Baloch Liberation Front gilt als eine der wichtigsten bewaffneten Formationen, die gegen die pakistanische Herrschaft kämpfen, und operiert vornehmlich in den südlichen und zentralen Regionen Belutschistans.

Was machte Operation Baam anders?

Im Gegensatz zu früheren Guerilla-Aktionen stand Operation Baam für eine High-Level mehrfronten Kampagne. Die BLF behauptet, dass bei der Operation über 50 pakistanischen Militär- und Geheimdienstmitarbeitern getötet wurden, während 51 weitere verletzt wurden. Neun Geheimdienstler sollen an einer Checkpoint-Position in Musakhel gefangen genommen und hingerichtet worden sein.

Wesentliche Merkmale der Operation umfassen:

  • 84 gleichzeitige Angriffe in mehreren Distrikten, darunter Kech, Awaran, Kohlu, Kalat und Dera Bugti.
  • Zerstörung militärischer und Überwachungsinfrastruktur, darunter 7 Mobilfunktürme und 5 Drohnen.
  • Beschlagnahme von Waffen und Dokumenten aus pakistanischen Armeelagern und Konvois.
  • Einrichtung von 22 temporären Kontrollpunkten, um kurzfristige Kontrolle über feindliches Territorium zu behaupten.
  • Koordination über unwegsames Gelände, von der Makran-Küste bis zu den Sulaiman-Bergen.

Das Ziel war deutlich: Militärische Mobilität lähmen, Überwachungskapazitäten zerstören und operative befreite Zonen schaffen. Dies markierte eine doktrinäre Verschiebung von taktischem Stören hin zu koordinierter Störung und psychologischer Dominanz.

Psychologische und politische Kriegsführung

Über den militärischen Erfolg hinaus hatte die Operation Baam ein schweres symbolisches Gewicht. Sie zeigte die Fähigkeit der BLF, den Mythos der Staatsskontrolle herauszufordern und direkt die Infrastruktur der Besatzung anzugreifen. Die Operation war auch eine politische Botschaft an den pakistanischen Staat, an die belutschische Bevölkerung und an die Welt: Der Widerstand ist nicht zerbrochen; er entwickelt sich weiter.

Sie erfolgte zu einer Zeit, in der urbaner belutschischer Aktivismus unter der Führung von Frauen, Studenten und Familien der Verschwundenen zunahm. Operation Baam bildete eine Brücke zwischen Bergen und Städten, Waffen und Stimmen, in einer einheitlichen Erzählung des Widerstands.

Baam im Kontext eines wachsenden Widerstands

Operation Baam brach nicht einfach isoliert aus; sie war die schärfste Klinge einer breiteren Eskalation im belutschischen Befreiungskampf.

Laut einem jüngsten Bericht des belutschischen Innenministeriums verzeichnete die Provinz zwischen dem 1. Januar und dem 11. Juli 2025 501 bewaffnete Vorfälle, die 257 Todesopfer und 492 Verletzte forderten. Von diesen richteten sich 332 Angriffe speziell gegen Staatstruppen, sie töteten 133 Soldaten und verletzten 338. Tötungen von Siedlern sollen im Vergleich zu 2024 verdoppelt worden sein, mit 52 Toten, die bei 14 Angriffen getötet wurden – eine Zahl, die der Staat nutzt, um die Befreiungsbewegung zu diskreditieren.

Die Allianz der bewaffneten Gruppen der Belutschen unter der Führung von Baloch Raaji Aajoi Sangar (BRAS), darunter die BLA und die BLF, hat jedoch die Darstellung des Staates zurückgewiesen. In ihren Erklärungen warf die BRAS dem pakistanischen Militär vor, absichtlich Siedler und nicht-lokale Arbeitskräfte in militarisierten Zonen anzusiedeln, um Zustimmung für die Besatzung zu erzeugen. Sie behaupten, dass staatliche Streitkräfte, Geheimdienstmitarbeiter und die Infrastruktur der Rohstoffindustrie ihre primären Ziele seien.

In ihren eigenen Halbjahresberichten:
•    Die BLA gab 284 Angriffe an, bei denen 724 feindliche Soldaten getötet und 373 verletzt worden seien.
•    Die BLF meldete 302 Angriffe, bei denen 221 Feinde getötet und über 148 verletzt worden seien.
•    Zusammen behaupten die beiden Gruppen, 151 Waffen beschlagnahmt, dutzende Fahrzeuge zerstört und kurzzeitig die Kontrolle über Militärposten übernommen zu haben.
•    53 Kämpfer wurden getötet – 29 von der BLA, 17 von der BLF und 7 Selbstmordattentäter.

Unabhängig davon, ob man den staatlichen Daten oder den Kommuniqués der Widerstandgruppen Glauben schenkt, bleibt eine Wahrheit bestehen: Belutschistan befindet sich in einem Zustand des eskalierenden Kampfes, nicht nur in einer bloßen Sicherheitskrise.

Eine Verschiebung des Gleichgewichts

Die Operation Baam war keine einmalige Machtdemonstration, sondern eine Erklärung der Ausdauer, der Leistungsfähigkeit und der Ausrichtung der Bewegung. Sie signalisierte, dass die Belochistan Liberation Front und die breitere Unabhängigkeitsbewegung sich nicht mehr auf reaktive Verteidigung beschränken, sondern in eine Phase strategischer Durchsetzung eingetreten sind.

Für den Staat war es ein Schlag gegen die Illusion der Kontrolle. Für das Volk der Belutschen war es eine Erinnerung daran, dass der Widerstand lebendig ist. Und für die Welt sollte es ein Weckruf sein: Belutschistan ist nicht nur eine vergessene Peripherie, sondern ein Schlachtfeld für Würde, Souveränität und das Recht auf Selbstbestimmung.

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“Bosnia grave of the doomed.” Der Spruch, einer der wenigen auf Englisch, steht an der Wand eines Gebäudes in der Stadt Bihac im nördlichen Kanton Una-Sana, nur 10 km von der kroatischen Grenze entfernt.
Er macht deutlich, dass die Balkanroute nicht nur hier durchführt, sondern hier auch endet. Europa liegt dort drüben, jenseits der Berge, die den Blick nach Westen versperren und ein klaustrophobisches Gefühl vermitteln. Mit knapp über 60.000 Einwohner*innen ist Bihac zu einem Grenzaußenposten geworden.

Die Grenze davor ist eine der am meisten kontrollierten auf der Route. Anders als Ungarn, das eine unpopuläre Mauer errichten ließ, schützt sich Kroatien mit einer Hightech-Ausrüstung aus Drohnen, Bewegungsmeldern und Wärmebildkameras. Trotz moderner Technik sind die Methoden immer noch die alten: Es ist überall bekannt, dass die kroatische Grenzpolizei geflüchtete Menschen verprügelt und ihres Geldes, Handys, Schuhe und Kleidung beraubt, bevor sie sie zurück nach Bosnien abschiebt. All das mit Zustimmung der europäischen Institutionen, subventioniert aus Gledern der EU (108 Millionen für die Jahren 2014-2020, Ende 2018 noch um 6,8 Millionen aufgestockt) und unter Missachtung des internationalen Rechts, das eine Überprüfung der Asylanträge vorschreibt. Für Menschen, die illegal nach Europa einreisen müssen wird Bosnien immer mehr zu einer Sackgasse, in der sie Monate und Jahre ihres Lebens verlieren.
Gewissheit, wieder herauszukommen, haben sie nicht.

Viele kommen aus dem Iran, Irak und aus afrikanischen Ländern, die meisten jedoch aus Pakistan und Afghanistan. Wie Sakine, eine 36-jährige Afghanin, die der schiitischen Minderheit der Hazara angehört. Sie durchquerte den Iran, die Türkei, Griechenland, Albanien und Montenegro, aber seit Monaten sitzt sie an der kroatischen Grenze fest. „Wir versuchen es seit fast einem Jahr, wir sehen kein Ende”, sagt sie. Zusammen mit ihrem Mann Jawad und ihren 4- und 8-jährigen Töchtern haben sie mehr als 30 Mal versucht, Europa zu erreichen. Dort möchten sie den Mädchen eine Ausbildung ermöglichen. Das letzte Mal nahm die kroatische Polizei ihnen alles weg und drängte sie dann mit Schlagstöcken, Tasern und Hunden zurück über die Grenze.
“Gegenüber Kroatien verlieren wir gerade unsere Hoffnung“, gesteht die Frau.

Sakine und Jawad leben mit anderen afghanischen Familien in einem verlassenen Haus in der Nähe von Velika Kladusa, der anderen Stadt des Kantons, die nahe der Grenze liegt. In Bosnien sind solche Häuser mit freiliegenden roten Ziegeln überall zu sehen. Sie werden verlassen, bevor sie überhaupt fertig sind. Die Besitzer haben entweder kein Geld mehr oder wandern einfach aus, vielleicht nach Deutschland oder Österreich. Sie wollen einem Land ohne Perspektive entkommen, in dem Durchschnittslöhne knapp 400 Euro betragen und Jugendarbeitslosigkeit bei 60 % liegt. Dass in vielen dieser Häuser auf dem Weg zwischen Bihac und Velika Kladusa nun Menschen, die Europa erreichen wollen, Zuflucht gefunden haben, gibt einem zu denken. Es scheint so, als wären die Häuser eine Art Erbe – hinterlassen von diejenigen, die vor Jahren auf der Suche nach Hoffnungen und Träumen ausgewanderten, dieser neuen Generation von „Verdammten“, die Bosnien nicht verlassen können.

Gleichermaßen erinnern die Namen der alten und neuen besetzten Gebäude in Bihac, in denen Geflüchtete in absoluter Not und ohne staatliche Unterstützung leben, an wilde Privatisierungen und Bankrotte, die nach Ende des jugoslawischen Sozialismus stattfanden: Kombitex, wo noch etwa 100 Menschen leben, war ein Textilunternehmen; Dom Penzionera, wo 300 Menschen lebten, war ein Altenheim, das aufgrund eines Korruptionsskandals nie eröffnet wurde; Krajina Metal, wo kürzlich 200 Menschen Unterkunft fanden, war eine ehemalige Fabrik für Metallteile; selbst im ehemaligen Lager von Bira, das letztes Jahr infolge von Bürgerprotesten geschlossen wurde, wurden einst Kühlschränke hergestellt. Das frühere Scheitern der produktiven Infrastruktur, die ausverkauft und zum Zusammenbruch geführt wurde, überschneidet sich nun mit dem Scheitern des Empfangssystems – wenn man es überhaupt als Empfang bezeichnen kann.

Ein Junge aus Afghanistan in der Nähe der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien

Denn während die EU darauf beharrt, geflüchtete Menschen außerhalb ihrer Grenzen zu halten, tut die bosnische Regierung ihrerseits alles, um die Lage im Kanton Una-Sana unerträglich zu machen. Der Plan ist, Regierungslager als einzige Alternative vorzuschreiben. Ins Lager von Lipa wollen aber viele Menschen nicht. Es liegt total isoliert auf einer Hochebene 28 km von Bihac entfernt, zu weit von der Grenze entfernt, die sie überqueren wollen und zu Fuß erreichen müssen. Der Lager untersteht der SFA (Service for Foreigner’s Affairs) und wird nach einem Brand im vergangenen Dezember weiter ausgebaut. Untergebracht sind in ihm derzeit 600 Personen, bei einer Kapazität von 900 Personen hat die Regierung 30 Militärzelte, eine gleiche Anzahl von chemischen Toiletten und einige medizinische Container aufgestellt, in denen hauptsächlich Schmerzmittel verteilt werden. Als Mitte Juli die Touristensaison begann und die Räumung einiger großer von Geflüchteten besetzen Gebäude – darunter auch Krajina Metal – stattfand, machten sich Menschen, die in das Lager deportiert worden waren, auf den Weg nach Bihac zurück. Sie gingen wieder in informelle Unterkünfte: Gebäude und Zeltlager ohne Strom und Wasser und mit kritischen hygienischen Bedingungen. Verschärft wird diese Lage durch das Verbot von Hilfeleistungen (einschließlich medizinischer Versorgung) und der Verteilung grundlegender Güter außerhalb der Regierungslager, so dass internationale NGOs und Gruppen gezwungen sind, im Verborgenen zu arbeiten.

Der Versuch, die Grenze zu überqueren, scheint so als einzige Möglichkeit. Selbst für diejenigen, die erschöpft einen Asylantrag in Bosnien stellen möchten, sind die Fristen so lang, dass sie davon abgeschreckt werden: 300 Tage für die Formalisierung des Antrags, 400 Tage für die erste Anhörung, die einen aus der Illegalität holen könnte. Es gibt nur “the game”, wie Geflüchtete die Grenzüberquerung nennen: Gewinnt man, ist man in Europa; verliert man, verliert man alles, manchmal sogar sein Leben – wie der fünfjährige afghanische Junge, der am 30. Juli im Fluss Una ertrank, als er mit seiner Familie versuchte, Kroatien zu erreichen. Der Anteil von denen, die es schaffen, ist sehr gering, die Verzweiflung und Zähigkeit aber so groß, dass sie als letzte Form des Widerstands erscheint. An dieser Grenze kämpfen Menschen nur mit ihrem eigenen Körper, gegen Müdigkeit, Schläge, Wunden. Eine Chance haben hier, wie anderswo auch, nur diejenigen mit Geld: 3.500 Euro kostet ein “taxi game”, damit kann man mit dem Auto Italien erreichen. Allen anderen bleibt nichts anderes übrig, als sich zu Fuß auf den Weg zu machen, nachts, manchmal über Felder, die noch vom Krieg vermint sind. Von hier bis Triest sind es zwölf Tage Fußmarsch und drei Grenzen, an denen man geschlagen, abgeschoben und zum Ausgangspunkt zurückgebracht werden kann, zurück nach Bosnien, dem Grab der Verdammten.

#Text und Bilder: Elisa Scorzelli und Fabio Angelelli

Ursprünglich erschienen auf italienisch in il manifesto unter dem Titel „Benvenuti in Bosnia, la tomba dei dannati“

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Das Landgericht Dortmund hat Recht gesprochen: 258-facher Konzernmord aus dem Jahr 2012 ist verjährt.

Am 11. September 2012 brannte ein Textilwerk der Firma Ali Enterprises im pakistanischen Karachi aus. In den Flammen starben 258 Arbeiter*innen, die meisten waren zwischen 15 und 35 Jahren alt. Der Vorfall gilt als der größte Industrie-“Unfall“ in der Geschichte Pakistans. Der Hauptabnehmer des Sweat Shops, der zur Todesfalle wurde, war der deutsche Textildiscounter KiK. (mehr …)

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