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Mordende und um sich schlagende Nazi-Skins in den 90ern – darüber wurde doch schon alles gesagt, höre ich Euch bei dieser Headline sagen, oder?

Es wurde viel gesagt, das stimmt. Aber so vieles schlummert noch in den Köpfen. In den Köpfen der Opfer, in den Köpfen der Angehörigen, in den Köpfen von uns Zeug*innen und hoffentlich auch in den Köpfen der Mörder*innen, die oft nur eine milde Haftstrafe bekamen oder einfach so davon kamen.

Mich bewegt diese Zeit auch noch 30 Jahre später. Deswegen möchte ich Euch meine Geschichte erzählen.

Mein Baseballschlägerjahr spielte sich eigentlich erst 1995 ab, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, als Mutti und ich an einem Sommertag 1992 mit unserem Ford Fiesta in unseren Schrebergarten nach Lichtenstein/Sachsen fuhren. Ich wuchs in Westsachsen auf – zwischen Chemnitz und Zwickau – dem Sumpf in dem der NSU entstand. Ich war damals 14 und mein kleiner Bruder war 5 und nahm an diesem Tag auf dem Rücksitz Platz. Papa war nicht dabei und ich durfte den Beifahrer mimen.

An der Eisenbahnunterführung in Sankt Egidien fuhr unser Auto direkt in einen wütenden Mob grüner Bomberjacken und Mutti ging hart auf die Eisen. Es waren bestimmt 50 Boneheads mit Baseballschlägern. Ich wusste zwar um die Existenz dieser Nazisubkultur, die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock Lichtenhagen waren präsent – aber in der Nähe unseres Dorfes? Mutti wurde sichtlich nervös, das merkte ich sofort. Wir bekamen Beachtung und ernteten böse Blicke, da Mutti, wie gesagt, beinahe in den Mob gebrettert war. Ich hatte Angst, checkte aber, dass deren tatsächliche Wut nicht uns galt, sondern wem anders. Ich löcherte Mutti den Rest des Tages mit Fragen. Sie antwortete, dass es in Sankt Egidien ein „Asylantenheim“ in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs gab und dass scheinbar Nazis aus dem Umland mit dem Zug kamen, um das Camp anzugreifen. Sankt Egidien nahm damals Bürgerkriegsflüchtende aus dem ehemaligen Jugoslawien auf. Es kann sein, dass die Lokalzeitung „Freie Presse“ am Montag darauf in einer Randnotiz über den Überfall berichtete.

Wenige Monate später entdeckte ich Punk als Subkultur und begann mich darin zu verlieben. Meine Anwesenheit im Leipziger „Conne Island“ lehrte mich, dass es auch RASH und SHARPS in der Skinhead-Bewegung gab. Ich kleidete mich der linken Subkultur entsprechend. Ich sog Hardcore-Musik und Deutschpunk auf. In unserer Dorfdisko in Falken bekamen Freunde regelmäßig von Zwickauer Nazihools auf die Fresse, lagen zusammengeschlagen im Dorfbach und entkamen nur knapp dem Tod. Ich bekam auf dem Limbacher Stadtparkfest von der „Legion88“ „lediglich“ ’ne Ohrfeige. Irgendwie hatte ich immer Glück.

Ich lernte das „Café Taktlos“ in Glauchau und die „Alte Schule“ in Kändler mit den Punx vom „Autonomen Brenn-Kommando“ kennen. Westsächsische „Antifa-Brutstätten“ – direkt neben HooNaRa-Chemnitz (Hooligans-Nazis-Rassisten, die in sämtlichen Großraumdiskotheken als Firma „Haller Security“ Bouncer stehen hatten, oder das Pressefest der „Freien Presse“ sicherten. In den späteren 90ern dann gewährten sie dem NSU-Trio Unterschlupf) und der „Glatzenhochburg“ Meerane. Dieses Wort stand da jahrelang über dem Ortseingangsschild. Es gab Gerüchte, dass die Meeraner Faschos einen verrückten Blood & Honour Typen namens Billy aus UK bei sich hatten, der in der Nazidisco Remse immer mit Machete bewaffnet war.

Ich bewunderte den Mut von meinen Antifakumpels „Abbas“, „Fanta“ und „Van Gogh“ aus diesen Brutstätten. Ich ziehe noch heute meinen Hut vor ihnen, denn sie retteten Leben. Was Nazigewalt in dieser Zeit betrifft war man auf sich gestellt. Es gab keine Cops -vor allem nicht im sächsischen Hinterland. In der Übergangszeit 1990 bis 1992 gab es zwar noch den ein oder anderen ex-Abschnittsbevollmächtigten (ABV), der mit neuer Cop-Uniform auf altem Schwalben-Moped tagsüber für Sicherheit sorgte, aber sonst gab es nix.

In Städten wie Penig oder Chemnitz wurden bei RAC-Konzerten („Rock against Communism“) schon damals Gelder für den „Nationalsozialistischen Untergrund“ generiert, so wissen wir jetzt. Im beschaulichen Waldenburg fanden in den Wäldern Wehrsport-Übungen für Nazis statt. „Manole“ (Ralf Marschner) aus Zwickau spitzelte für den Verfassungsschutz und war Arbeitgeber für Mundlos und Zschäpe. Bandmitglieder von Nazibands wie Bomber tauchten auf unseren Konzerten auf. Es gab Diskussionen, Handgemenge und immer wieder auf die Fresse. Irgendwie ertrugen wir das alles. Wer Arsch in der Hose hatte, teilte aus.

Der 25. Mai 1995 aber war härter, traumatisierender und prägender. Es war einer „dieser 90er-Jahre-Männertage“ (Christi Himmelfahrt). Eigentlich wussten „wir“, dass wir bspw. Badestätten an diesem Sauf- und Rüpeltag mit garantierter Faschoglatzen-Präsenz meiden sollten. Aber das Wetter an dem Tag war so schön, dass auch ich mit meinen Hiphop-Kumpels auf einer Decke am Strand des Stausee Oberwald saß. Aus den Boxen lief leise 2Pac, die Birken blühten, ein warmer Wind wehte, die Sonne schien. Um uns herum waren Dutzend weitere Decken und glückliche Gesichter so weit das Auge reichte. Einige gingen baden. Wir alle kannten irgendwie einander. Fast unsere gesamte Schulklasse war auf diversen Decken verstreut. Es wurde laut gelacht.

Dann gegen Mittag gab es diesen Moment, den ich heute noch glasklar vor Augen habe. Wir saßen nicht weit von der Promenade entfernt und auf selbiger erblickte ich circa 30 Meter entfernt einen Typen mit Ganzkörper-Badeanzug in schwarz-weiß-rot und 20-Loch Doc Martens. Die Glatze spiegelglatt, eher muskelbepackt. Einen Baseballschläger in der Rechten. Er hatte locker ein Dutzend weitere Typen mit Baseballschlägern um sich herum. Sie schlenderten nicht, sondern gingen eher straight. Irgendwie schienen sie ein Ziel vor Augen zu haben. Um uns war es binnen zwei Sekunden totenstill. Wir vernahmen kein Windwehen mehr, 2Pac hörte auf mit Rappen. Das Lachen aller verstummte. Die Blicke aller auf den Decken Anwesenden wandten sich in Richtung Schlägertrupp. Alle ahnten, was uns blühen könnte.

Vorne an der Spitze ging ein weitaus jüngerer Typ und aus ihm schoss es auf sächsisch raus „Der wor’s!“. Er deutete mit seinem Zeigefinger auf eine Clique von circa drei Typen, die unweit von uns auf einer Decke saßen. Dann ging alles ganz schnell und das Dutzend rannte die verbliebenen 10 Meter auf selbige Clique zu.

Die Baseballschläger zeigten in Richtung Himmel. Ich erinnere mich nur noch, dass einer aus dem Dutzend in unsere Richtung rannte und uns wegscheuchte mit den Worten „Haut ab – hier gibt’s nüscht zu sehn!“. Im Nachhinein fiel mir auf, dass er so verdammt souverän war. Er lachte sogar irgendwie verschmitzt. Er hatte Null Panik. Er sah die Angst in unseren Augen -da bin ich mir sicher. Er machte dies auf alle Fälle nicht zum ersten Mal.

Meine Freund*innen und ich rannten in verschiedene Richtungen und von dem Zeitpunkt an erinnere ich mich an gar nichts mehr. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin oder was ich in den nächsten Tagen erlebt habe.

Aus der angegriffenen Clique überlebte Peter T. diese Attacke nicht. Er wurde 24 Jahre alt, starb wenig später im Krankenhaus und hinterließ eine Partnerin und das gemeinsame Baby.

Peter wurde ermordet.

Wie wir später erfuhren, war er ein eher unpolitischer Typ und hatte wohl am Morgen „lediglich“ Zivilcourage gezeigt, als dieser erwähnte jüngere Typ Teppichhändler*innen mit Migrationsgeschichte auf der Promenade beschimpfte. Diese Widerworte wollte sich die Jungglatze wohl nicht gefallen lassen und holte wenige Stunden später Verstärkung.

Ich fahre heute noch an diesen Tatort und ich gedenke Peter. Es gibt keine Gedenktafel, aber viele Jahre später wurde der Mord von der Bundesregierung als „Todesopfer rechtsextremer Gewalt“ anerkannt.

Die Zeug*innen-Vernehmung in der Bullenwache Hohenstein-Ernstthal dauerte viele Monate. Wir waren locker über 150. Ich erinnere mich daran, dass ich mich durch eine Fotomappe von circa 100 Glatzen wälzte. Ich meinte, mich an die Schlägervisage des Badeanzug-Skins zu erinnern und so wurde ich dann als Zeuge zur Verhandlung geladen. Diese fand erst ein knappes Jahr später statt. Da es so viele Angeklagte mit Pflichtverteidiger*innen gab, fand die Verhandlung im Polizeikino Chemnitz statt. Unter den Angeklagte waren viele, die ich aus Antifarecherche kannte. Viele davon aus der „Glatzenhochburg“ Meerane. Viele meiner Freund*innen sagten auch aus. Keine*r von uns hatte gesehen, wer den letztendlich tödlichen Baseballkeulenschlag ausübte. Wir wurden trotzdem geladen.

Die Gerichtsdienerin bat mich bei Betreten des Gerichtssaals mein Basecap abzunehmen. Ich wollte meine Dreadlocks verstecken, um nicht als Zecke wahrgenommen werden. Ich hatte Angst. Unmittelbar neben mir saß UK Billy auf der Anklagebank. Er musste es sein. Er hatte diese Tattoos, die damals keine Kartoffel haben konnte.

Meine Anschrift wurde vom Richter verlesen. Sämtliche Anwält*innen schrieben mit. Ich hatte noch mehr Angst. Ich musste frontal auf der Kinobühne Patz nehmen, da ich bei meiner früheren Aussage ja zu Protokoll gegeben hatte, einen erkannt zu haben. Vor mir bauten sich nach und nach alle Angeklagten auf. Ich traute mich nicht, ihnen in die Augen zu schauen. Ich hatte unbeschreibliche Angst. Es zog sich über 15 Minuten. Ich erkannte niemanden, auch nicht den Badeanzug-Fascho. Der Richter entließ mich aus dem Zeug*innenstand. Mir zitterten die Knie. Da ich der letzte Zeuge vor der Mittagspause war, gab er noch durch das Mikro bekannt, dass jetzt 30 Minuten Mittagspause anstehe und die Verhandlung unterbrochen sei.

Alle standen zeitgleich auf und steuerten die einzige Ausgangstür an. Sie schienen Hunger zu haben. Ich suchte nach der Gerichtsdienerin. Ich bildete mir wahrscheinlich ein, dass sie in dem Moment meine Bezugsperson sei. Ich wusste nicht, was ich jetzt machen soll. Ich war wie gelähmt. Ich fragte eine random sächsisch-Person im Raum, was ich machen soll: „Nu mir ham jetze Mittogspause. Gehn könn se. Uff wiedorsehn“. Dann ging ich durch diese Ausgangstür und direkt davor fand ich mich inmitten des Mobs wieder. Sie umringten einen Bauchladen-Bockwurstmann. Kein Scheiß! Einer der Boneheads klopfte mir auf die Schulter und flüsterte leise „Gut gemocht Kleenor!“ in meine Richtung. Ich ging zu meinem Auto und weinte.

Billy musste drei Jahre und 10 Monate ins Gefängnis. Er hatte scheinbar Vorstrafen. Alle anderen wurden freigesprochen. Es wurde natürlich nicht ermittelt, wer den tödlichen Schlag verpasste. Eine damals angeklagte Person ist heute in der „Glatzenhochburg“ ein angesehener Mensch in der Zivilgesellschaft, so wurde mir zugetragen. Viele wissen um seine Vergangenheit. Er sei ein guter Arbeitgeber. Ich hoffe, dass auch er sich an den „Männertag 1995“ so glasklar erinnert wie meine Freund*innen und ich.

Auf einem Klassentreffen 2022 erzählten wir Zeug*innen einander unsere Wahrnehmung 30 Jahre nach dem Vorfall und es tat so gut zu reden. Eine Freundin sagte mir, dass sie jedes Mal, wenn sie das Kind von Peter sieht, an diesen Tag erinnert wird. Ich hoffe, dass Ihr Eure Wahrnehmung auch ein bisschen in meinen Zeilen wiederfindet? Denn ich habe diese Zeilen auch für Euch geschrieben.

Ruhe in Frieden Peter!

Hupe (Februar 2023)

# Titelbild: Del Zomber

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Es ist erstaunlich ruhig geworden um den so genannten Neukölln-Komplex. Zeitweise berichteten die Medien in großer Aufmachung über die rechtsterroristischen Anschläge, die in dem Berliner Bezirk vor allem von 2016 bis 2019 für Angst und Schrecken sorgten. Dass vor dem Amtsgericht Tiergarten im August der Prozess gegen zwei mutmaßliche Haupttäter der Anschlagserie begonnen hat, die Neonazis Sebastian T. und Thilo P. (36 und 39 Jahre alt), sorgte zwar noch mal für Berichterstattung. Aber das Thema wurde eher pflichtgemäß abgehakt – zumindest bei den bürgerlichen Blättern und Sendern. Es waren, wie so oft, linke Zeitungen und Portale, die sich darum bemühten, die Hintergründe aufzuhellen. Etwa auf den Umstand hinzuweisen, dass sich die Ermittlungen zu der Anschlagsserie jahrelang hinzogen, während es bei linken Angeklagten oft sehr schnell geht.

Für etwas Aufregung sorgte der Umstand, dass das Amtsgericht Tiergarten zuerst Ferat Kocak, der für die Linkspartei im Abgeordnetenhaus sitzt und einer der Betroffenen der Anschlagserie ist, nicht als Nebenkläger zuließ. Gleich zweimal lehnte die Vorsitzende Richterin einen entsprechenden Antrag ab. Seltsame Begründung: Der Linke-Politiker habe „keine körperlichen und seelischen Schäden“ davongetragen. Offenbar hielt es die Richterin für nicht weiter gravierend, dass Kocaks Auto in der Nacht des 1. Februar 2018 direkt vor dem Haus seiner Familie in Flammen aufging und zeitweise die Gefahr bestand, dass das Feuer auf das Haus übergreift. Und wie sich herausstellte, hätte eine Gasleitung explodieren können.

Zum Glück hatte das Landgericht Berlin als höhere Instanz ein Einsehen. Am 26. August kassierte es den Beschluss des Amtsgerichts und entschied, dass Ferat Kocak im Prozess zur Anschlagsserie doch als Nebenkläger auftreten darf. Damit war ein erneuter Antrag des Linke-Politikers erfolgreich. Zur Begründung führte Kocaks Anwältin, Franziska Nedelmann, unter anderem an, dass den Angeklagten T. und P. im Falle der Brandstiftung zu Lasten ihres Mandanten möglicherweise ein versuchtes Tötungsdelikt vorzuwerfen sei. Es sei nur einem glücklichen Zufall zu verdanken gewesen, dass die Gasleitung an der nahegelegenen Garage der Kocaks nicht durch die Flammen erfasst worden sei.

Das Landgericht Berlin schloss sich dieser Argumentation in seinem Beschluss teilweise an. Eine Tötungsabsicht der Angeklagten, so heißt es in dem Beschluss laut dem Rundfunksender rbb, sei „nicht so fernliegend“, als das dem geschädigten Kocak der Zugang zum Prozess als Nebenkläger verwehrt werden könne. Drei Tage später begann vor dem Amtsgericht Tiergarten der Prozess gegen die beiden Hauptangeklagten aus der Neonaziszene. Der Berliner Generalstaatsanwaltschaft wirft T. und P. unter anderem Bedrohung, Brandstiftung beziehungsweise Beihilfe dazu sowie das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vor. Nach Überzeugung der Berliner Generalstaatsanwaltschaft sollen die beiden Angeklagten versucht haben, Menschen einzuschüchtern, die sich gegen Nazis engagieren.

Mitte September meldete die Deutsche Presse-Agentur, dass im Prozess das Verfahren gegen einen dritten Angeklagten abgetrennt worden. Im Fall des 38-Jährigen, dem Sachbeschädigung vorgeworfen wird, wolle das Amtsgericht bereits am diesem Mittwoch zu einem Urteil kommen. Gegen die beiden Hauptangeklagten werde die Verhandlung am 24. Oktober mit ersten Zeugen zu Brandanschlägen auf Autos von zwei Männern fortgesetzt. Geladen sei auch Kocak als einer der Betroffenen. Im Prozess habe sich das Gericht zunächst mit dem angeklagten Komplex zu Aufklebern und Zetteln sowie aufgesprühten Parolen mit „rechtsextremistischen Inhalten“ im Jahr 2017 befasst. Dem 38Jährigen, dessen Verfahren nun abgetrennt wurde, werde die Beteiligung an 17 solcher Vorfälle zur Last gelegt. Ursprünglich sei der Prozess gegen fünf Beschuldigte geplant gewesen, so die Agentur. Das Verfahren gegen einen 48Jährigen sei jedoch wegen Krankheit abgetrennt. Gegen einen 50 Jahre alten Mitangeklagten sei wegen Sachbeschädigung in zwei Fällen eine Geldstrafe von 900 Euro per Strafbefehl ergangen. Dagegen habe er allerdings Einspruch eingelegt. Für den Prozess gegen P. und T. seien vier weitere Tage bis Ende November vorgesehen.

Während also die mutmaßlich für die Anschlagsserie verantwortlichen Neonazis endlich vor Gericht stehen, befasst sich parallel ein Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses mit dem Neukölln-Komplex. Am 16. September war Ferat Koçak geladen. Er schilderte vor dem Ausschuss, wie viel Glück seine Eltern und er hatten, dass sie noch rechtzeitig aus dem Haus gekommen waren. Koçak sprach vor dem Ausschuss auch von Todesangst in der Tatnacht, wie er gegenüber dem Lower Class Magazine berichtete. Die Flammen des brennenden Autos seien bereits bis zum Dach des Wohnhauses hochgeschlagen, als sich die Familie habe retten können.

Zu diesem Zeitpunkt habe er noch gar nichts von der Gasleitung in der Garage gewusst, die zu explodieren drohte. Nur fünf Minuten später, so habe ihm ein Feuerwehrmann gesagt, wären er und seine Familie nicht mehr so zügig aus dem Haus gelangt. Diese Bilder aber blieben. Stets wachsam und in Alarmbereitschaft sei er seit dem Anschlag. Er habe die Abgeordneten gefragt: „Wie würden Sie sich fühlen, wenn sie immer damit rechnen müssten, dass jemand einen Molotowcocktail durch die Scheibe wirft und die Eltern im eigenen Haus verbrennen?“ Dann habe er dem Ausschuss berichtet, dass er noch in der Tatnacht von einem Streifenbeamten nach „seinen Wurzeln“ befragt worden sei und ihm gesagt worden sei, dass der Brand auf einen „türkisch-kurdischen Konflikt“ zurückzuführen sein könnte. Kocak: „Dabei hätte ein Blinder mit Krückstock sehen müssen, dass der Anschlag auf mich und meine Familie einen rechten Hintergrund hatte.“

In Sicherheitsgesprächen mit dem Landeskriminalamt sei es aber fast nur um ihn selbst gegangen – sein politisches Engagement, seine „Kennverhältnisse“, seinen Tagesablauf. „Mir wurde vermittelt, dass keine unmittelbare Gefahr für mich bestehe“, erklärte Kocak gegenüber LCM: „Das war absolut widersinnig, denn auf der anderen Seite bekam ich vom LKA Verhaltenstipps, die genau das Gegenteil suggerierten: dass ich zum Beispiel Wegstrecken ändern oder den Schlafort regelmäßig wechseln sollte.“

Von Torsten Akmann, Staatssekretär der Senatsverwaltung für Inneres, sei er im Ausschuss „angemacht worden“, erklärte Kocak weiter. Auslöser war, dass Kocak zuvor konstatiert hatte, dass die Polizei ein „Nazi-Problem“ habe. „Akmann hat sich darüber aufgeregt, dass ich damit einen Vergleich mit der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte gezogen hätte“, sagte Kocak: „Ich werde aber weiterhin Nazis Nazis nennen. Davon hält mich keiner ab.“ Noch unangenehmer als Akmanns Empörung sei für ihn bei der Befragung im Ausschuss aber das Vorgehen des AfD-Vertreters Antonin Brousek gewesen. Der ist – interessantes Detail am Rande – übrigens Richter am Amtsgericht a. D., wie es auf der Homepage des Abgeordnetenhaus heißt.

„Armselig“ nannte Kocak den Auftritt des Mannes in der Befragung. Dieser habe sich ereifert, dass er ihm doch den Namen seiner Eltern zu nennen habe, damit sie als Zeugen geladen werden könnten. „Ich bin natürlich nicht darauf eingegangen“, so Kocak, „daraufhin hat der AfD-Vertreter versucht, ein Ordnungsgeld zu erwirken, was aber durch den Ausschussvorsitzenden zurückgewiesen wurde.“ Der AfD-Mann habe natürlich provozieren wollen, er habe sich aber nicht aus der Reserve locken lassen, so Kocak gegenüber LCM.

Als weiterer Zeuge trat der Gewerkschafter Detlef Fendt in der Ausschusssitzung vom 16. September auf, der ein Jahr vor dem Anschlag auf Kocak bereits vom rechten Terror betroffen war. Er und seine Frau leben bis heute in der Neuköllner Hufeisensiedlung. In ruhigen, knappen Worten, beschrieb Fendt seine Erfahrungen. Sein Auto stand am 23. Januar 2017 auf der Straße in der Nähe des Wohnhauses in Flammen. Ein Nachbar habe ihn damals mit den Worten geweckt: „Du komm mal, dein Auto brennt.“ Kurz zuvor hatte das Auto der Neuköllner Bezirksstadträtin Mirjam Blumenthal von der SPD gebrannt. Fendt habe daraus geschlossen: „Ach, jetzt bist du dran.“ Schon zuvor waren neben seinem Gartentor Aufkleber der NPD und der Identitären Bewegung aufgetaucht. Fendt macht deutlich, was der Anschlag mit ihm gemacht hat: Seine Kinder trauten sich nicht mehr, bei ihm zu übernachten. Die Nazis beobachteten ihn weiter, erinnerten ihn regelmäßig daran, dass es sie noch gebe. Er lebe heute nicht mehr so unbefangen.

Im Mai 2022 brannte das Auto einer jüdischen Nachbarsfamilie. Diese war bereits am 9. November 2021 durch ein Hakenkreuz auf dem Gartentor „markiert“ worden. Fendt ist sich sicher, dass der rechte Terror schlicht weitergehe. Er berichtete dem Ausschuss, dass er des öfteren Anrufe auf dem Festnetz erhalte, wo sich niemand melde und dann einfach auflege: „Wer ist so hart, dass er das alles so durchzieht? Das gibt schon irgendwo nen Knick“, erklärte Fendt.

Wie Kocak berichtete auch der Gewerkschafter über sein mangelndes Vertrauen in die Behörden. Ihm sei vom Staatssekretär Akmann immer signalisiert worden, dass alles „ganz kurz vor der Aufklärung sei“ – doch bis heute ist nichts aufgeklärt. Fendt bemängelte, dass den Worten der politisch Verantwortlichen nichts Substanzielles folge: „Der Staatssekretär war bei uns, um zu sagen, dass die Staatsanwaltschaft die Fälle zusammenlegt. Da geht man zweimal hin, ein drittes Mal und dann kann man das nicht mehr hören“, sagte er im Ausschuss.

# Titelbild: Kim Winkler, 7. November 2020 – Demonstration „Rechte & rassistische Strukturen in Staat & Gesellschaft bekämpfen!“ in Berlin

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Kommentar

Ein Sommertag im Juni 2019. Die Uhr am Gebäude der Scientology Kirche im Hamburger Zentrum zeigt fünf nach eins. Dieselbe Zeit wie die Turmuhr der Hauptkirche St. Petri vis-à-vis. Auf der kurzen Straße dazwischen haben sich Demonstrant*innen versammelt, an die 250 vielleicht. Vor den Reden läuft Musik, schön laut, aber selbst das geht fast unter im Trubel eines ganz normalen Einkaufssonnabends.

Einen Steinwurf entfernt bevölkern Tourist*innen und Einheimische die Mönckebergstraße, das nächste Schaufenster im Blick, Fastfood oder den Coffee to go in der Hand. Sie mustern die Demonstrant*innen eher wie Tiere im Zoo, sofern sie sie überhaupt zur Kenntnis nehmen. Wer der Mann auf dem Foto ist, das auf ein Plakat am Lautsprecherwagen geheftet worden ist? Auf diese Frage würden die meisten Passanten wohl antworten: Das ist doch dieser Politiker, der erschossen wurde.

Das Bild zeigt in der Tat den Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, der am 2. Juni auf der Terrasse seines Hauses im hessischen Wolfhagen mit einem Kopfschuss ermordet wurde. Vermutlich von dem Neonazi Stephan Ernst. Die Kundgebung an diesem Sonnabend richtet sich gegen die „geistigen Brandstifter“, die für solche Taten den Boden bereiten – darum findet sie vor dem Bürogebäude statt, in dem sich die Geschäftsstelle des Hamburger Landesverbands der protofaschistischen AfD befindet.

Die Interventionistische Linke (IL) Hamburg hat zur Demo aufgerufen, für einen Politiker der CDU. Ungewohnt genug, aber in diesen Tagen gerät vieles durcheinander. Die politische Öffentlichkeit beruhigt sich mit den üblichen Ritualen. Auf allen Kanälen sondern „Extremismusexperten“ Statements ab, die TV-Talks verhackstücken den Lübcke-Mord und Politiker*innen üben sich in Abgrenzerei. Gebot der Stunde: nach ganz rechts zeigen, auf die „bösen Nazis“, die offenbar aufgetaucht sind wie Kai aus der Kiste und mit denen man nichts zu tun hat.

Da kam der Evangelische Kirchentag in Dortmund gerade recht. Kirchentage sind bekanntlich ein willkommener Ort für Politiker*innen, hochmoralische, aber folgenlose Ansprachen zu halten und sich Absolution für ihr Tun und Reden abzuholen. So auch diesmal. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) äußerte Abscheu und Entsetzen über den „braunen Terror“ und salbaderte über „verrohte Sprache“ im Netz und anderswo. Der Zukunft vertrauen, das falle „vielen Deutschen heute nicht leicht“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schwadronierte, „Rechtsextremismus“ müsse „in den Anfängen“ und „ohne Tabu“ bekämpft werden.

Sie begreifen nichts, und sie wissen nicht, was sie reden, könnte man in leichter Abwandlung eines Bibelwortes diese Äußerungen kommentieren. Es soll hier gar nicht um die Verstrickungen staatlicher Stellen, voran des Verfassungsschutzes, in Nazistrukturen gehen, wie sie sich beim NSU-Komplex zur Genüge gezeigt haben. Vielleicht wird sich noch herausstellen, wie viel „tiefer Staat“, wie viel „Strategie der Spannung“ in Taten wie dem Mord an Lübcke stecken.

Es geht um etwas Grundsätzlicheres: Rechte Gewalt, faschistischer Terror sind Ausfluss spätkapitalistischer Zerfallsprozesse, einer allgemeinen Verrohung. Dass sich mit Steinmeier ausgerechnet einer der Architekten des Verarmungsprojekts Agenda 2010 über „verrohte Sprache“ beklagt, ist zum einen grotesk und zeigt zum anderen die ganze Ignoranz der politischen Klasse. Wenn man täglich ums materielle Überleben kämpft, kann man schon mal das Vertrauen in die Zukunft verlieren.

Mit ihrem Klassenkampf von oben haben die Herrschenden, vor allem nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz 1990, die Verrohung dieser Gesellschaft angefacht. Die AfD und die Neonazis sind nur ein Symptom dieser Entwicklung. Dass Geflüchtete und alle, die sich auf ihre Seite stellen, zunehmend zum Ziel rechter Gewalt werden, daran haben SPD, CDU, FDP und Grüne ihren Anteil. Indem sie das Asylrecht komplett demontiert haben, indem sie es zulassen, dass Tausende auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken, indem sie dafür sorgen, dass Menschen in das Kriegsland Afghanistan abgeschoben werden. Indem sie, wie SPD und CDU gerade im Bundestag, das Asylrecht immer weiter verschärfen und damit indirekt all denen Recht geben, die in den Asylsuchenden ein Problem sehen.

Sozialismus oder Barbarei – das ist mehr als eine Parole, die man so hinsagt. Wir sind doch längst auf dem Weg in die Barbarei oder sogar schon mittendrin. Die Szenerie bei der Kundgebung vor der Hamburger AfD-Zentrale, passte da ins Bild. Für die fröhlich konsumierende Masse ist doch der Mord an Walter Lübcke so weit weg und so irreal wie ein Fall in irgendeinem „Tatort“ am Sonntagabend oder ein der US-amerikanischen CSI-Serien. Sie haben sich vor den Zumutungen der Gegenwart längst in eine Art Autismus geflüchtet.

Titelbild: Andreas Arnold/dpa

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