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Der Coronavirus, dieser neue unsichtbare Feind, hat erreicht, was Kugeln, Tränengasgranaten, Wasserwerfer und all die Polizeibrutalität über Monate hinweg nicht schafften: uns von der Straße zu holen. Der Virus wurde zum besten Verbündeten der Regierung Piñera. Das erkämpfte Plebiszit über eine neue Verfassung wurde auf Oktober verschoben, und mehrere Regierungsmitglieder sprechen davon, es erneut zu verschieben. Vorgeblich wegen des Virus erlaubte es die Regierung dem Militär, wieder auf die Straße zu gehen und Versammlungen von mehr als 50 Personen zu verbieten, Sicherheitsabstand hin oder her.

Die Verfassung von 1980, die während der Militärdiktatur Augusto Pinochets und den Architekten des neoliberalen Fundamentalismus verfasst wurde und für die so viele Genossen ihr Augenlicht verloren haben, verwundet, gefoltert wurden und sogar im Kampf um ihre Neufassung starben, bleibt in diesen Zeiten der Pandemie unantastbar. Chile kann in diesem Moment als ein ganz praktisches Beipiel des autoritären Neoliberalismus verstanden werden. Diese beiden Konzepte – autoritärer Staat und grenzenloser Wirtschaftsliberalimus – prägen unser tägliches Leben.

Was die tatsächlichen Zahlen von mit dem Coronavirus Erkrankten angeht, sind die chilenischen Behörden unfassbar intransparent, was angesichts der Korruption aller chilenischen Institutionen nicht verwundert. Trotz der Tatsache, dass die Ansteckungrate in Chile immer weiter steigt, schlägt der konservative Präsident Sebastián Piñera, getreu seinem Engagement für die Wirtschaftselite, die Wiedereröffnung des Handels und die Wiederaufnahme des Schul- und Universitätsbetriebs vor und fördert die Rückkehr zu einer falschen und gewalttätigen Normalität, die wir Chilenen so gut kennen. Eine Normalität, die in den Monaten der Proteste nicht aufrecht erhalten werden konnte. Dies unter dem ironischen Namen „Plan für eine sichere Rückkehr“. Es ist traurig, eine solche Verachtung für die Arbeiterklasse zu sehen, wenn Begriffe verwendet werden, um Gesetze und Pläne zu benennen, die gegen unser Leben gerichtet sind. Die Regierung hatte den Nerv, ein Gesetz mit der Bezeichnung „Beschäftigungsschutz“ zu erlassen, das es dem Arbeitgeber erlaubt, die Löhne der Beschäftigten für einen vom Unternehmen vereinbarten Zeitraum nicht zu zahlen, ohne sie entlassen zu müssen. Ganz zu schweigen von der Ironie, dass Geschäfte und Schulen geöffnet werden können, aber eine Wahl abgesagt wird.

Wir sind Zeugen davon, dass es uns in Chile nicht an Ressourcen mangelt, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Es ist nur so, dass unsere Würde keine Priorität hat. Vor unseren Augen sehen wir, wie Geld für neue Waffen für den Polizeiapparat ausgegeben wird, um uns zu unterdrücken, wie in ganzen Vierteln Videoüberwachng installiert wird, wie Unternehmer Gewinne einfahren, aber gleichzeitig das Kündigungsschutzgesetz ausnutzen, um ihre Arbeitnehmer um ihren Lohn zu prellen.

Die Gefangenen befinden sich in einem ungesünderen Zustand als je zuvor und sind völlig vergessen. Überbelegung und mangelnde oder nicht vorhandene sanitäre Einrichtungen machen Gefängnisse zu Ansteckungsherden sondersgleichen.

Gleichzeitig schafft es die bürgerliche Presse, die Schuld für die Verbreitung des Virus den Schwächsten in die Schuhe zu schiebe. Diese Medien berichten über die Orte, wo viele Migrant*innen leben, und während sie sie schikanieren, stellen sie sie als Quelle der Ansteckung dar. Und bis zu einem gewissen Grad stimmt das auch, denn die Situation vieler Migranten ist völlig prekär und sie haben oftmals keine andere Möglichkeit als auf beengtem Raum zu leben.

Der Mangel an Urteilsvermögen und die Brutalität der Behörden ist unerbittlich. Mitten in der Notlage vernichtete die Polizei im Süden auf Befehl des Bürgermeisters von der Provinzhauptstadt Temuco die Früchte und das Gemüse der indigenen Mapuche Straßenhändlerinnen, in einer klaren Demonstration institutioneller Gewalt im Dienste der Logik eines neoliberalen Modells. Was vorher vorgeblich wegen nicht gezahlter Steuern geschah, wird nun mit mangelnder Hygiene und Corona begründet. Und wie um die Millionen von Frauen und Dissident*innen, die am 8. März die Straßen von Santiago und Chile überschwemmten, zu beleidigen, wurde just eine Großnichte von Pinochet, einer Verteidigerin der Diktatur, zur Ministerin für Frauen und Gleichstellung der Geschlechter ernannt. Einer Diktatur, die – neben der brutalen Repression und dem Wirtschaftsliberalismus – patriarchalste Werte vertrat und patriarchalste Gesetze in die Wege leitete.

Das alles erinnert uns nur daran und bekräftigt uns erneut, dass alles, was wir fordern, legitim und dringend ist. Nach und nach gibt es wieder kleinere Proteste, die brutal unterdrückt werden, obwohl nicht einmal 100 Personen anwesend sind. Die Tatsache, dass wir es mit einer Krankheit zu tun haben, die hauptsächlich die Atemwege befällt, ist den Agenten des Staates egal, wenn sie unverhältnismäßig viele Tränengasgranaten auf kleine Gruppen von Menschen werfen, die ihr Demonstrationsrecht ausüben.

Bis zum 18. Oktober vergangenen Jahres befand sich unser tägliches Leben in einer tiefen Krise. Die Gemeinschaften, die Arbeiterklasse und die Natur wurden für diese Normalität geopfert. Ein Opfer, dessen einziger Zweck es ist, die Profite der Wirtschaftsoligarchie zu steigern. Diese Prekarität unserer Existenz zwang uns, mit aller Kraft auf die Straße zu gehen, es konnte nicht anders sein. Die Normalität, die jetzt mit Corona begründet durchgesetzt wird, ist genau diese.

Wir haben ein gemeinsames Ziel: unsere Würde. So hatten wir genug Platz für alle. Dass alle Realitäten willkommen seien, da die Gesamtheit der Welten und Individualitäten dem Kollektiv Kraft gebe. Die Mapuche-Flagge wurde zu einem Symbol des massiven Widerstands. Die Mapuche, deren Widerstand seit Jahrzehnten als „Terrorismus“ gebrandmarkt wird. Und obwohl viele von uns es bereits wussten, gab es andere, die endlich verstanden, dass der einzige Terrorist in Chile der Staat ist.

Wir erlaubten uns, den historischen Emblemen des Widerstands Raum zu geben, damit sie von jeder Subjektivität wieder angeeignet und in den Kampf einbezogen werden konnten. Wir verstanden, dass das Ziel größer war, als unter uns zu diskutieren, wie und wer Symbole unserer Ideologien, Bewegungen und historischen Kämpfe verwenden konnte. Diese Anerkennung jeder unserer Welten, diese Solidarität der Straße ermöglichte es uns, die gegenseitige Unterstützung zu verstärken, die schon immer existiert hat, nur ist sie jetzt präsenter und sinnvoller denn je.

Diese Solidarität ist es auch, die uns jetzt in Zeiten von Corona durch die Krise hilft. Eine Solidarität, die aus unserer Selbstbestimmung und unserem Organisationsvermögen erwächst. Wo mit minimalen Mitteln die Nachbarn hinausgehen, um öffentliche Räume, Bushaltestellen und sogar die U-Bahn zu desinfizieren. Wo innerhalb der Gemeinschaft Unterstützungsnetzwerke aufgebaut werden, um den vielen, die Opfer informeller Arbeitsbedingungen oder der Migrationspolitik sind, zu helfen, zu überleben. All diese Maßnahmen der gegenseitigen Unterstützung werden nie als Wohltätigkeit verstanden. Sie sind eine Möglichkeit, uns als ein organisiertes Volk mit der Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu verstehen. In dieser Zeit, in der der autoritäre Neoliberalisms in Gestalt von Repression und Gesetzen wieder die Vorherrschaft an sich reißen will, ist es unsere Organisation, die uns unterstützt.

# Titelbild: frentefotográfico

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Der gegenwärtige Krisenschub scheint den Spätkapitalismus im Rekordtempo in eine längst überwunden geglaubte, barbarische Vergangenheit abstürzen zu lassen.

Wie lange lässt sich die Notwendigkeit der Überwindung der spätkapitalistischen Produktionsweise ignorieren, während diese offen in Krise und Barbarei versinkt? Weite Teile der sozialdemokratisch verhausschweinten Umverteilungslinken in der Bundesrepublik mögen noch immer die Augen ganz fest zudrücken angesichts des sich global entfaltenden Desasters, um die notwendigen, radikalen Schlussfolgerungen nicht ziehen zu müssen, die so abträglich für Koalitionskalkül und Karriereplanung sind. Den deutschen Funktionseliten aber dämmert es inzwischen durchaus, was da auf sie zukommt. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), dem informellen Verlautbarungsorgan der deutschen Bourgeoisie, spricht man inzwischen von einem „Pearl-Harbor-Moment“. Der wirtschaftliche Umbruch, den das Virus ausgelöst habe, werde über „Generationen dauern“, hieß es in einem Kommentar. Die „Dramatik dessen, was sich gegenwärtig vollzieht“ entziehe sich weitgehend gängiger Einordnung.

Der wirtschaftliche Einbruch kommt

Der IWF versuchte sich Mitte April an einer ersten substantiellen Einschätzung des kommenden Wirtschaftseinbruchs, der durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ausgelöst wurde. Schon jetzt stehe fest, dass die überschuldete Weltwirtschaft in die größte Krise seit der großen Depression der 30er abstürzen werde. Selbst die Finanzkrise von 2008/09 würde dahinter verblassen, so die Zusammenfassung der IWF-Prognose seitens der FAZ. Die Weltwirtschaft werde demnach in diesem Jahr um rund drei Prozentpunkte schrumpfen, wobei rund 170 Länder mit einem Rückgang der Wirtschaftsleitung rechnen müssten.

Der Währungsfonds geht von einem diesjährigen Einbruch von rund sieben Prozent in der Bundesrepublik aus, in der gesamten Eurozone soll die Wirtschaftsleistung um 7,5 Prozent schrumpfen. Besonders hart soll es Italien treffen, wo ein tiefer konjunktureller Fall von 9,1 Prozent prognostiziert wird. Auf die USA kommt ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von mindestens 5,9 Prozentpunkten zu. Etliche Länder des globalen Südens, in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems, könnten hingegen auch in diesem Jahr ein knappes nominelles Wirtschaftswachstum verzeichnen. Für die übergroße pauperisierte Bevölkerungsmehrheit in diesen ökonomisch abgehängten Weltregionen bedeute dies nichtsdestotrotz eine Verschärfung des täglichen Überlebenskampfes, weil die „Wachstumsgewinne“ sehr ungleich verteilt seien, wie es die FAZ formulierte. Im Klartext: nur bei kräftigem Wachstum können in der „Dritten Welt“ Pauperisierungstendenzen eingedämmt werden, schwaches Wachstum führt zu fortgesetzter Verelendung.

Für nahezu alle Länder und Regionen prognostiziert der IWF im kommenden Jahr einen Aufschwung, der aber in kaum einem Fall die massiven Verluste dieses Jahres kompensieren können werde. Nennenswerte Ausnahmen bilden hier nur China und Indien. In diesem Jahr sollen beide „Schwellenländer“ um ein bis zwei Prozentpunkte wachsen, während 2021 ein kräftiger Aufschwung von 7,4 Prozent (Indien) bis 9,2 Prozent (China) vorhergesagt wird. Diese Zahlen des IWF beruhen allerdings auf einem optimistischen Szenario, das davon ausgeht, dass die Folgen der Pandemie in der zweiten Jahreshälfte 2020 erfolgreich eingedämmt werden. Sollten die schon jetzt anlaufenden Maßnahmen zur Lockerung des „Lockdowns“ nicht erfolgreich sein und die globale Mehrwertmaschine auch in der zweiten Jahreshälfte stillstehen, dann droht ein historisch beispielloser Zusammenbruch der Weltwirtschaft. Den kapitalistischen Funktionseliten aus Politik und Wirtschaft bleibt nichts Anderes übrig als, allen Warnungen von Virologen zum trotz, die Wirtschaft wieder schnellstmöglich „hochzufahren“.

Es brennt an allen Ecken und Enden. Inzwischen haben mehr als 90 Länder beim IWF Notfallfinanzierungen beantragt, um Schuldenkrisen oder Staatspleiten abzuwenden, wobei die für ihre berüchtigten Sparprogramme berüchtigte Institution diesmal die neoliberalen Zügel lockerer anlegen will. Rund 25 der ärmsten „Entwicklungsländer“ hat der Währungsfonds sogar Erleichterungen beim Schuldendienst zugesagt. Die Krise der „Schwellenländer“ (Semiperipherie) und der Peripherie wird durch eine historisch beispiellose Kapitalflucht in die Zentren des Weltsystems, sowie dem Absturz der Preise für Energieträger angefacht. Die Preise für Rohöl rutschten bei der US-Sorte WTI absurderweise sogar ins Negative, was auf die Auslastung aller Lagerkapazitäten bei weiterhin laufender Förderung und eine kollabierende Nachfrage zurückzuführen ist.

Die Lohnabhängigen trifft es am härtesten

Gigantisch sind insbesondere die – mitunter existenzgefährdenden – Verluste, die die Lohnabhängigen im Verlauf dieses Krisenschubes hinzunehmenhaben. Die International Labour Organization (ILO) der Vereinten Nationen spricht von „niederschmetternden Verlusten“ an Arbeitsstunden und Beschäftigung, die einen „katastrophalen Effekt“ auf die globale Arbeiterschaft hätten. Der Wirtschaftseinbruch werde durch pandemiebedingte Produktionsstillegungen mindestens 6,7 Prozent der weltweit geleisteten Arbeitsstunden ausfallen lassen, was knapp 200 Millionen Vollarbeitsplätzen entspräche. Insgesamt 1,9 Milliarden Arbeiterinnen und Arbeiter sind in Sektoren beschäftigt, die von „drastischen und verheerenden“ Arbeitszeitkürzungen, Lohnkahlschlag und Entlassungen bedroht seien. In Indien sind – trotz leichtem Wachstums – beispielsweise 400 Millionen arbeitende Arme im informellen Sektor vom Abrutschen in eine existenzgefährdende Armut bedroht, was auf die rasche Ausbreitung von Hunger und Mangelernährung hinausläuft. In Europa sollen allein im zweiten Quartal dieses Jahres 7,8 Prozent aller Arbeitsstunden ausgefallen sein, was in etwa 12 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen entspricht. Zum Vergleich: Während der Eurokrise, als Spanien und Griechenland eine Arbeitslosenquote jenseits der 20 Prozent verzeichneten, sind in der Eurozone 3,8 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen.

Innenalb der Zentren des kapitalistischen Weltsystems sind die Vereinigten Staaten bislang am stärksten von dem Krisenschub getroffen worden – sowohl in Bezug auf die Anzahl der Todesfälle, als auch der ökonomischen Verheerungen im Gefolge der Pandemie. Die Arbeitslosenquote ist dort, nach dem Scheitern der halbherzigen Bemühungen sie durch Übergangsregelungen abzufangen, regelrecht explodiert. Innerhalb eines Monats mussten sich bis Mitte April 22 Millionen US-Bürger arbeitslos melden, was einen einsamen historischen Rekord darstellt und der globalen Prognose der ILO nahekommt. Somit haben rund 13,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung der USA ihre zumeist ohnehin prekären und mies bezahlten Jobs binnen kürzester Zeit verloren. Die offizielle Arbeitslosenrate der USA, die ohnehin stark geschönt ist, soll Prognosen zufolge von 4,4 Prozent im März auf rund 15 Prozent im April hochschnellen. Da breite Bevölkerungsschichten der Vereinigten Staaten bereits seit der Immobilienkrise 2008 einen sozialen Abstieg erfahren haben, der die Mittelklasse massiv abschmelzen ließ, sind auch kaum finanzielle Reserven gegeben, um den Absturz abzufangen.

Die Folge ist eine rasche Zunahme extremer Armut. Viele US-Bürger sind nicht mehr in der Lage, sich selbst zu ernähren: In Szenen die an die große Depression der 30er Jahre erinnern, werden die Lebensmittelbanken in den Vereinigten Staaten von rasch anschwellenden Massen verzweifelter Menschen überrannt, die mitunter stundenlang in ihren Fahrzeugen warten müssen, um etwas Nahrung für sich oder die Familie ergattern zu können. Zugleich werden von Agrar- und Lebensmittelkonzernen massiv Lebensmittel vernichtet, um die Marktpreise zu stabilisieren. Hilfsorganisationen berichten zudem über eine Zunehme sexueller Belästigung durch Vermieter gegenüber Frauen, die mit ihrer Miete in Verzug geraten seinen. Die verhassten „Landlords“ forderten bei diesen Erpressungsversuchen Sex gegen Mietnachlässe.

Sündenbock China

Die Trump-Administration setzt derweil auf die faschistische Karte, um den Wahlkampf gegen den dementen demokratischen Establishment-Kandidaten Joe Biden für sich zu entscheiden. Kurz nach der Kapitulation des linken Sozialisten Sanders mobilisierte Trump seine rechte Anhängerschaft zu Massenprotesten gegen den Lockdown, während zugleich die US-Administration und rechte Massenmedien wie Fox News zu wütenden Angriffen gegen China übergingen, das für die Pandemie verantwortlich gemacht wird. Die rechte Strategie im Wahlkampf 2020 zeichnet sich klar ab: Sofortiges Hochfahren der Wirtschaft und Aufbau von China als auswärtigem Sündenbock für das Desaster in den USA.

Dabei ist Peking ein bestenfalls relativer Gewinner der Pandemie. Auch die staatskapitalistische „Werkstatt der Welt“ musste einen der schwersten Wirtschaftseinbrüche ihrer Geschichte verzeichnen. Um 6,8 Prozent ist die Wirtschaftsleistung in der „Volksrepublik“ im ersten Quartal 2020 geschrumpft, das ist der stärkste Einbruch seit der Kulturrevolution. Inzwischen mehren sich die Anzeichen für eine Erholung der Wirtschaft, doch dürfte China mittelfristig kaum noch als eine globale Konjunkturmaschine fungieren können. Zum einen, weil die globale Nachfrage für die chinesische Exportindustrie eingebrochen ist, zum anderen, weil das Land selber schon unter hohen Schuldenbergen leidet, die gigantische Konjunkturprogramme wie 2008/09 verhindern dürften.

EU in der Existenzkrise

Die USA und China fallen somit bis auf Weiteres als Absatzmärkte aus. Für das Krisenkalkül der Bundesrepublik – die auf eine rasche Erholung ihres exportgetriebenen Wirtschaftsmodells hofft – dürfte das verheerend sein. Es waren ja insbesondere die gigantischen Handelsdefizite der USA, die in den vergangenen Dekaden stabilisierend auf die Weltwirtschaft wirkten. Die EU befindet sich ohnehin in einer Existenzkrise, da die Streitfrage gemeinsamer europäischer Anleihen die – ohnehin gegebenen – zentrifugalen Tendenzen in Europa befeuert. Die Saaten und Machtblöcke der „Europäischen Union“ bemühen sich wie 2008/09 die Folgen der Krise auf die europäische Konkurrenz abzuwälzen um selber im innereuropäischen Machtkampf gestärkt aus dem Krisenschub hervorzugehen.

Bislang ist es der Bundesrepublik gelungen, Forderungen der südlichen Peripherie nach gemeinsamen Anleihen und umfassenden Konjunkturmaßnehmen abzuwehren. Der Preis dafür besteht in einer zunehmenden Erosion der Eurozone. Ob es Berlin abermals möglich sein wird, die Krisenkosten auf die südliche Peripherie abzuwälzen darf diesmal aber bezweifelt werden – der konjunkturelle Einbruch ist zu heftig, als dass der dominante deutsche Wirtschaftsnationalismus nicht entsprechende politische Reaktionen, etwa in Italien, auslöste. Das Gespenst des europäischen Nationalismus, so irreal und funktionslos es angesichts der Dichte globale Verflechtung ist, könnte bei der Implosion der Eurozone ein letztes kurzes Revival in Form einer unbeständigen Krisenideologie erfahren.

Dies erodierende Europa dürfte sich in den folgenden Jahren mit den Folgen eines abermaligen Entstaatlichungsschubes in der Peripherie konfrontiert sehen. Die Folgen der Pandemie im subsaharischen Afrika, wo sich das Virus mit zweimonatiger Verspätung ausbreitet, drohten „Chaos, Unruhen und Bürgerkriege“ zu intensivieren, warnte Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU). Viele Saaten in der Peripherie, die unter einer historisch einmaligen Kapitalflucht in die Zentren leiden, hätten keine Möglichkeiten, sich auf die Krise adäquat vorzubereiten. Pandemievorsorge ist in den gigantischen Slums kaum möglich. Selbst Länder wie der Libanon, die rund 1,5 Millionen syrischer Flüchtlinge aufgenommen haben, stehen nun vor der Staatspleite. Islamistische Terrorgruppen dürften in vielen Zusammenbruchregionen die Krise für sich nutzen und ihre Kampagnen intensivieren und die staatlichen Erosionsprozesse beschleunigen.

Drohende Stagflation

Von den USA, über viele Peripherie- und Schwellenländer bis zu Europa – das System befindet sich am Abgrund. Dies wird vor allem anhand der Verwerfungen im Finanzsektor deutlich, wo nur noch extreme Maßnahmen den Zusammenbruch verhindern konnten. Die Notenbanken haben massenhaft Wertpapiere wie Staatsanleihen oder Bonds der Privatwirtschaft aufgekauft, um die panischen Finanzmärkte mit Liquidität zu überfluten. Diese Gelddruckerei lässt die Bilanzen der Zentralbanken im Rekordtempo anschwellen. Laut der Financial Times dürfte die Fed im aktuellen Krisenverlauf ihre Bilanz auf bis zu neun Billionen US-Dollar aufblähen – von rund vier Billionen bei Krisenausbruch. Zum Vergleich: Vor dem Ausbruch der Immobilienkrise 2008 lag die Bilanzsumme der Fed bei einer knappen Billion Dollar. Schrottpapiere werden also aufgekauft, um die Finanzsphäre liquide zu halten und eine „Kreditklemme“ zu verhindern. Kurzfristig ist dieses Vorgehen bürgerlicher Krisenpolitik alternativlos. Ähnlich agieren die Bank of Japan, aber auch die EZB, die ein Gegengewicht zur deutschen Blockadehaltung bei der Frage europäischer Anleihen bildet, indem sie Staatspapiere der südlichen Peripherie aufkauft.

Mit dieser Liquiditätswelle steigt aber auch das Risiko einer Inflation, vor allem wenn die Finanzmärkte wieder einbrechen sollten und diese frisch generierte Liquidität Zuflucht in realen Werten suchen müsste. Mittelfristig droht somit ein altes Gespenst wiederzukehren, das gewissermaßen als Geburtshelfer des neoliberalen Zeitalters fungierte: Die Stagflation, also eine Krisenphase einer stagnierenden oder schrumpfende Konjunktur, die von einer starken Inflation begleitet wird. Die Stagflationsperiode der 70er Jahre markierte in vielen Industrieländern das Ende des langen, fordistischen Nachkriegsbooms, da sich dieses Akkumulationsregime aufgrund zunehmender Automatisierungstendenzen in der Warenproduktion erschöpfte. Und es war gerade diese lang anhaltende Krisenperiode der Stagflation, an deren Überwindung der damals herrschende Keynesianismus scheiterte – und die dem Neoliberalismus ab den 80er Jahren in den USA und Großbritannien zum Durchbruch verhalf.

Der Neoliberalismus hat die Krise nur herausgezögert

Die strukturelle Krise kapitalistischer Warenproduktion, die durch das Auslaufen des fordistischen Akkumulationsregimes initiiert wurde, löste der Neoliberalismus durch eine blinde Flucht nach vorn ins kapitalistische Extrem, die einer Flucht in die brutale kapitalistische Vergangenheit gleicht: Die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft wurde verschärft, sodass in den USA das reale Lohnniveau seit den späten 70ern stagnierte. Das Arbeitslebenben wurde prekarisiert, um bei zunehmender Krisenanfälligkeit schnell heuern und feuern zu können. Diese Maßnahmen wurden begleitet von umfassenden Privatisierungen der gesellschaftlichen Infrastruktur, die dem unter einer strukturellen Überproduktionskrise leidenden Kapital neue Verwertungsfelder eröffneten. Als Resultat ist diese so marode und heruntergewirtschaftet, dass die effiziente Bewältigung von Naturkatastrophen oder Pandemien kaum noch möglich ist.

Es war aber vor allem die Expansion des Finanzsektors, die dieses neoliberale Zeitalter erst ermöglichte, indem hier die kreditgetriebene Nachfrage in Gestalt beständig global wachsender Schuldenberge und der korrespondierenden Spekulationsblasen generiert wurde, die eine hyperproduktive Industrie vor dem Kollaps bewahrte. Die neoliberale Globalisierung war somit vor allem einer Globalisierung dieser Schuldenberge, indem Länder mit Exportüberschüssen (Deutschland China) sich Defizitländern wie den USA gegenübersahen.

Historisch betrachtet brachte der Neoliberalismus einen Aufschub der kapitalistischen Systemkrise um rund drei Dekaden mit sich. Jetzt zeichnet sich nun eine ähnliche Krisenkonstellation ab, wie am Vorabend des neoliberalen Zeitalters in der zweiten Hälfe der 70er: Stagnation samt drohender inflationärer Welle. Dennoch ist dies nicht einfach nur die Wiederkehr eines alten Krisengespenstes – Geschichte wiederholt sich nicht einfach, und beim Kapitalismus handelt es sich eben um keinen ewigen Naturzustand, sondern eine konkrete, historische und durch innere Widersprüche in blinde Expansion getriebene Gesellschaftsformation. Der neoliberale Krisenaufschub hatte einen furchtbaren Preis. Dies nicht nur im Hinblick auf die eskalierende Klimakrise, oder auf den Abbau demokratischer Rechte und die aus dem Zerfallsprodukten neoliberaler Ideologe sich formierende Neue Rechte. Das Krisenniveau – verstanden als Intensität der inneren Widerspruchsentfaltung des Kapitals – ist 2020 weitaus höher als in den 80er Jahren des 20. Jahrhundert, sodass die Krise nun mit dieser historisch beispiellosen Wucht einschlägt. Die Schuldenberge sind in Relation zur Weltwirtschaftsleistung viel höher, die Produktivität der globalen Verwertungsmaschine ist in astronomische Dimensionen vorgerückt, die Verrohung und Faschisierung der Metropolengesellschaften ist evident. Deswegen dürfte auch der nach der Deflation drohende Inflationsschub weitaus heftiger ausfallen als in den späten 70ern, als in den USA zweistellige Inflationsraten verzeichnet wurden.

Das ist die Krisenrealität, die sich nun gnadenlos entfalten wird. Alle Insassen der kapitalistischen Tretmühle werden gezwungen sein Stellung zu beziehen, wie inzwischen auch die Funktionseliten des Kapitals zu ahnen scheinen. Ob mensch es nun wahrhaben will, oder nicht, die Frage stellt sich mit aller Macht der an Dynamik gewinnenden Systemtransformation: Which side are you on?

#Titelbild: Gespenst eines Ermordeten von Katsushika Hokusai (1760–1849), gemeinfrei

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Man könnte eine launige Glosse darüber schreiben, dass die Bundespolizei jetzt auch noch Geld dafür haben will, wenn sie jemanden schikaniert. Aber bei genauem Hinsehen ist das Thema viel zu ernst, um darüber zu schmunzeln. Die vom Bundesministerium für Inneres im September so gut wie unbemerkt von der Öffentlichkeit eingeführte Gebührenverordnung für „individuell zurechenbare öffentliche Leistungen“ ist ein weiterer Schritt hin zum Polizeistaat. Natürlich soll der Eindruck vermittelt werde, es handle sich dabei um eine rein verwaltungstechnische Maßnahme – aber in einer Zeit, in der in Bund und Ländern überall die Sicherheitsbehörden mehr Durchgriffsrechte erhalten und Polizei und Justiz an der Repressionsschraube drehen, ist das eine gefährliche Verharmlosung.

Welche Gebühren sind nun eingeführt worden und was ist mit „individuell zurechenbaren Leistungen“ gemeint? Die Formulierung klingt wohl nicht zufällig ähnlich schwammig wie bestimmte Begriffe, mit denen die Behörden zuletzt ihre Definitionsmacht erweitert haben, zum Beispiel die viel diskutierte Figur des „Gefährders“. Zur Kasse sollen Personen gebeten werden, die vorsätzlich oder fahrlässig eine „Gefahrenlage“ schaffen. Natürlich bestimmt die Bundespolizei vor Ort, wann eine Gefahrenlage eintritt. Die taz hat die neuen Gebühren Anfang Februar in einem Beitrag recht anschaulich erklärt. Und zwar mit dem Beispiel eines Fußballfans, der auf einem Bahnhof einen Bengalo gezündet hat und deshalb von der dort zuständigen Bundespolizei eingesackt, auf die Wache mitgenommen und erkennungsdienstlich behandelt wird.

Der Fan müsse sich auf eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz einstellen, heißt es in dem Artikel. Aber davor gebe es noch „eine Strafe vor der Strafe“. Nach der neuen Verordnung muss der Fan in diesem Beispiel nämlich folgende Gebühren für die nicht bestellte „Dienstleistung“ bezahlen: Identitätsfeststellung: 53,75 Euro, Anordnung zur Gewahrsamnahme 74,15 Euro, eine Viertelstunde Fahrt auf die Wache 15,69 Euro, erkennungsdienstliche Behandlung mit Fotos und Fingerabdrücken 59,50 Euro und für jede Viertelstunde in Gewahrsam 6,51 Euro. Für einen „stinknormalen Polizeieinsatz“ müsse man also eine hohe dreistellige Summe auf den Tisch legen, noch bevor der Rechtsstaat über Schuld und Unschuld befunden und die eigentliche Strafe verhängt hat.

Das Prinzip ist schon bisher nicht ganz unbekannt im Bereich der Landespolizeibehörden. Wer zum Beispiel als Betrunkene*r aufgegriffen wird, muss bereits jetzt für den Polizeieinsatz und die Unterbringung in der Ausnüchterungszelle zahlen. In Berlin, so erläuterte die taz, kostet der Gewahrsam für „hilflose, nicht vorläufig festgenommene Personen“, also Betrunkene oder Berauschte, 208,89 Euro zuzüglich der Fahrt auf die Wache. Nachts werde es noch teurer.

Die Logik dieser neuen Verordnung ist bestechend einfach: Fußballhooligans und Betrunkene haben es ja nicht anders verdient. Was fällt den Leuten auch ein kriminell zu werden? Abgesehen davon, dass diese Vorverlagerung von Strafe in einen vorjuristischen Raum eine offensichtliche Aushölung des sonst gern bemühten Rechtsstaats ist, ist sie auch eine politische Repressionsverschärfung. Diese wird mit hundertprozentiger Sicherheit auch bald politisch Aktive treffen. So ist in der Verordnung eine mündliche Platzverweisung in Verbindung mit Identitätsfeststellung mit 44,65 Euro gelistet, eine schriftliche Platzverweisung mit 88,85 beim ersten Mal und 52 Euro bei Wiederholung. Für eine gut verdienende Person aus der Mittelschcht ist das nicht viel Geld, aber zu denen zählen viele Linke nicht. Mit Verwaltungs-, Gerichtskosten und ähnlichem ist schon manche*r in die Pleite getrieben und zum Schweigen gebracht worden. Es handelt sich bei der neuen Gebührenverordnung also eindeutig um ein Disziplinierungsinstrument, das abschreckend wirkt und mit dem die Versammlungsfreiheit im Ergebnis weiter eingeschränkt wird.

Und noch eines: Das Ministerium für Inneres wird bekanntlich vom früher CSU-Chef Horst Seehofer geführt, also dem Kader einer Partei, die sich derzeit mit Macht gegen ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen stemmt. Dass dort gerast, gedrängelt und genötigt wird, bis der Arzt kommt, dass die Autobahnen im Grunde rechtsfreie Räume sind, interessiert die Herrschaften nicht. Aber wehe du zündest ein Bengalo. Dass die ultrarechte Deutsche Polizeigewerkschaft im März 2019 jubelte, als ein Entwurf der Gebührenverordnung vorlag, liegt auf der Hand. „Endlich werden damit zukünftig zum Beispiel polizeiliche Maßnahmen gegen Verhaltens- oder Zustandsverantwortliche gebührenpflichtig“, freute sich Heiko Teggatz, erster stellvertretender Bundesvorsitzender der DPolG. Unter den „Leistungen“, die künftig kostenpflichtig seien, führte die Gewerkschaft übrigens auch den Einsatz von Wasserwerfern und die „Anwendung unmittelbaren Zwangs“ an. Gut, dass diese Verordnung beim G-20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 noch nicht galt. Das wäre für viele, die in den Genuss der „Dienstleistung“ Wasserwerfereinsatz gekommen sind sonst sehr teuer geworden.

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In Ecuador gibt es seit dem 2. Oktober massiven Protest gegen das Strukturanpassungsprogramm der Regierung. Mittlerweile hat die Regierung auf Grund der Proteste das umstrittenste Dekret zurück genommen. Das LCM sprach mit Carlos Pazmiños, 32. Pazminõs ist Soziologe, Journalist und Redakteur des linken Online-Magazins Revista Crisis aus Ecuador. Revista Crisis hat die Protestierenden vor allem in Quito begleitet und ist eines der wenigen Medien, das solidarisch mit dem Aufstand im Land berichtet.

Seitdem das Dekret 883 am Mittwoch, den 2. Oktober, vom ecuatorianischen Präsidenten Lenín Moreno verkündet wurde, welches die Richtlinien des Internationalen Währungsfonds (IWF) befolgt und eine Reihe von staatlichen Subventionen für Alltagsgüter kappt, gibt es massive Proteste im Land. Zeitweilig musste sogar die Regierung aus Quito nch Guayaquil fliehen. Bis jetzt werden offiziell 5 Tote gezählt, sowie tausende Verletzte und Verhaftete. Am Sonntag, den 13. Oktober hat die Regierung Morenos nun das Dekret aufgehoben. Welche Folgen hätte das Dekret für die einfache Bevölkerung gehabt? Warum gab und gibt es so massiven Widerstand?

Dieser paquetazo wie wir ihn nennen, hätte vor allem für die normale und eher arme Bevölkerung große ökonomische Konsequenzen gehabt. Sobald die Streichung der Subvention von Kraftstoffen durchgeführt worden wäre, wären die Preise aller produktiven Wirtschaftszweige wie industrieller Produktion, Transport, Konsum in die Höhe geschellt. Auch die Kosten von städtischemöffentlichem Nahverkehr, sowie vom Fernverkehr wäre exponentiell gestiegen. Dies würde konkret weniger Brot auf den Tischen der Menschen bedeuten. Auf der anderen Seite steht die Dollarisierung, denn Ecuador ist seit der Wirtschaftskrise 1998 dollarisiert. Dieses Dekret hätte die Schranken für die Ein- und Ausfuhr von Kapital aufgehoben und da wir dollarisiert sind, würden ecuatorianische Güter katastrophal an Wert verlieren. In einem realistischem Szenario würden wir stärker abstürzen als Argentinien 2001. Zusammengefasst geht es um die Verteuerung des täglichen Lebens sowie alltäglicher Dienstleistungen, wie zum Beispiel der Bildung und der Gesundheit, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Privatisierung dieser Sektoren; es geht um die Verminderung von Wohnqualität und die Deregulierung der staatlichen Werkzeuge zum Eingreifen in die Wirtschaft.

Die CONAIE, die Konföderation der indigenen Völker in Ecuador, ist die am stärksten mobilisierende Kraft und hat auch am 9. Oktober zum Generalstreik aufgerufen. Wer ist die CONAIE und wie können wir diese politisch einordnen?

Die CONAIE ist eine der wichtigsten historischen Organisationen der Indigenenbewegung in Ecuador, in welchem die verschiedenen indigenen Völker und Nationen des Landes vertreten sind. Eines ihrer Ziele war es indigene Politiker*innen zur Wahl stellen zu können, und zwar unabhängig von den jeweiligen politischen Kräften, die gerade in der Regierung sind. Die CONAIE ist eine komplexe Organisation, in der es unterschiedlichste Spannungen und Perspektiven gibt. Das was sie vereint ist die Vernunft der indigegen Völker und Nationen des Landes. Hier spielen vor allem indigene Kosmovisionen und religiöse Überzeugungen eine wichtige Rolle. Die CONAIE ist der zentrale Akteur der aktuellen Proteste und ist eine grundlegende soziale, politische und ideologische Kraft. Ihr Gesellschaftsprojekt ist ein interkulturelles, also zum Aufbau eines tatsächlich interkulturellen Staates. Diese Devise steht im Widerspruch zu der modernen, kapitalistischen Rationalität. Die CONAIE selber ist im ganzen Land vertreten. Sie ist im Grunde wie ein Parallelstaat, da sie in allen gesellschaftlichen Bereichen und auf allen Ebenen vertreten sind. Es ist eine unglaublich beeindruckende Kraft. Die CONAIE und die indigegen Völker und Nationen Ecuadors sind aktuell die Speerspitze im Kampf gegen den Neoliberalismus in diesem Land.

In einem Artikel vom 8. Oktober schriebt ihr über die „Kommune“ von Quito. Welche Erfahrungen der sozialen, politischen und/oder ökonomischen Selbstorganisierung macht die Bevölkerung gerade in Ecuador und in anderen Epizentren des Protestes?

Man muss verstehen, dass es sich um einen ausgedehnten Aufstand des Volkes handelt. In allen Regionen des Landes finden Straßenblockaden, sowie offene Protestversammlungen statt. In einigen Regionen mehr und in anderen weniger. Dabei herrscht in einigen Versammlungen und politischen Aktionen ein hoher Politisierungsgrad. Es ist kein perfekter Prozess, jedoch ist kein revolutionärer Prozess perfekt. Es gibt unterschiedliche Formen in denen die politische Organisierung der Menschen und der Protest auf der Straße zu Tage tritt. Was wir in Quito erleben, ist besonders spannend, denn hier gibt es besonders viele Versammlungen in den verschiedenen Bezirken. Sogar in Bezirken mit einer gemischten Klassenbasis. Wir erleben das im Süden der Stadt, sowie im Norden; wobei im Süden die traditionellen Arbeiterviertel zu finden sind, und im Norden die traditionellen Viertel des Klein- und Großbürgertums. Dies ist ein durch und durch spontaner Prozess. Es ist ein Prozess der spontanen Solidarität, welcher wirklich beeindruckend ist. Es gibt wirklich keine Worte um das zu beschreiben, was sich in diesen Tagen hier zuträgt. Die Kommune-Erfahrungen ergeben sich in dem Moment, in dem normale Menschen politische Macht ausüben und ein Territorium verteidigen können. Auf der Straße zeigt sich dies, wenn die Menschen der Staatsgewalt trotzem und nicht zurückschrecken. Und hier werden unterschiedliche Formen des Kampfes erprobt, die von der Bevölkerung selber legitimiert werden. Wir sehen in einem Arbeiterviertel Männer, Frauen, Kinder und Alte gemeinsam Barrikaden bauen. Die Menschen verteidigen sich mit dem was sie finden: Stöcker, Äste, Steine. Menschen machen Kaffee und Zimt-Tee, damit die Protestierenden nicht ermüden. Es wird Natronwasser zusammen gemischt, damit man sich die Augen auswaschen kann, wenn man Tränengas abbekommen hat. Alls dies geschieht hier.

Wie wird es deiner Meinung nach weiter gehen?

Offensichtlich muss die Regierung in einen Dialog treten, was sie ja auch bereits angekündigt hat. Die Situation auf der Straße hat ihnen keine andere Option gegeben. Die Armee und die Polizei hat Reibungen zwischen den Mittleren und Höheren Rängen und den Fußsoldaten. In diesem möglichem Dialog gibt es gute Chancen, weitere Forderungen wie der Aufhebung des Notstandes. Die Genoss*innen der CONAIE werden Straferlass für alle inhaftierten Protestierenden fordern. Der Erfolg dieses Dialogs wird sich zeigen, solange der Druck auf der Straße aufrecht erhalten werden kann. Daher muss die aktuelle soziale Bewegung dazu über gehen kohärentere und organisiertere Schritte zu machen, um den Staat selber in die Enge zu treiben und im bestmöglichen Fall weiter zu destabilisieren. Und hier ist die Rolle der alternativen Medien besonders von Relevanz. In den letzten Tagen gab es eine riesige Rauchwolke in den traditionellen ecuatorianischen Medien, die nicht wirklich über das berichten, was gerade passiert. Sie versuchen den Generalstreik zu einem Ausdruck von willkürlicher Gewalt und Diebstahl zu verklären. Aber die Menschen erkennen nun, dass die bürgerlichen Medien Lügen – sie sehen die Wahrheit.

Wie können wir euch aus dem Ausland unterstützen?

Ich denke aus dem Ausland kann man an die unabhängigen Organisationen spenden, denn egal ob der Generalstreik bald aufhört oder nicht, brauchen die Genoss*innen Geld, um die Menschen alle zu transportieren, Anwält*innen sowie Essen und Unterkunft zu bezahlen. Wenn dieser Generalstreik weiter gehen sollte, müssen wir auch die Provinzen mit versorgen. Des weiteren könnt ihr im Ausland Teil davon sein diesen mediatischen Boykott zu durchbrechen und der Welt zu zeigen was wirklich in Ecuador geschieht.

#Titelbild: Generalstreik am 8.Oktober, Iván Castaneira, revista crisis

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Die AfD hat bei den Wahlen in Sachsen und Brandenburg enorm an Stimmen gewonnen. Unser Autor Simon Zamora Martin hat analysiert, was die Wahlergebnisse mit dem von allen Regierungsparteien seit der Wende vorangetriebenen neoliberalen Strukturwandel zu tun haben und wo Anknüpfungspunkte für eine antifaschistische Politik sind, die über liberale Überheblichkeit hinausgehen.

Am Sonntag den 1. September rummste es kräftig in Sachsen. Ein großes Gewitter fegte über die ostdeutsche Provinz. Der Regen fiel zeitgleich mit dem politischen Gewitter auf die Hochburgen der AfD in Sachsen. Angefangen im Erzgebirge, an dessen Fuß sich der NSU lange verkroch, hin zur ehemaligen NPD-Hochburg sächsische Schweiz, über Bautzen bis Görlitz, wo die AfD Ende Mai fast den ersten Oberbürgermeister gestellt hätte. Hat sich der Osten mit den Wahlen, bei denen die protofaschistische AfD in Sachsen 27,5 Prozent, in Brandenburg 23,5 Prozent der Wähler*innenstimmen bekam, nun einfach dazu bekannt, was er von Natur aus ist? Braun?

Ein genauerer Blick auf die Wetterkarte der Wahlen lässt durchaus mehr erkennen als ein Stadt-Land Gefälle. Es sind nicht nur die klassisch ländlichen Räume, in denen die AfD punktet. Von der ehemaligen Montanregion Erzgebirge bis zur Maschinenbaustadt Görlitz erstrecken sich viele industrielle Zentren. Auch entlang der Grenze zu Polen reiht sich von Görlitz nach Norden eine Kette von Industriestädten: von der brandenburgische Kohlestadt Cottbus bis zu den Hochöfen von Eisenhüttenstadt. Städte, die mit der Wende unter großen Entlassungswellen, Bevölkerungsschwund und den damit einhergehenden Zerbrechen des Sozialgefüges gelitten haben. Und die sich heute den Herausforderungen eines erneuten Strukturwandels gegenüber sehen.

Die meisten Hochöfen der einstigen Stahlstadt Eisenhüttenstadt sind schon lange erloschen. Seit 1990 hat Eisenhüttenstadt mehr als die Hälfte ihrer Einwohner*innen verloren. Die Auswirkungen des internationalen Handelskrieges und der Krise der deutschen Automobilindustrie als größter Stahlabnehmer sind hier deutlich zu spüren: Der Weltmarktführer ArcelorMittal drosselte unlängst die Produktion und droht damit, den Standort Eisenhüttenstadt mit Bremen zusammenzulegen. In der Belegschaft werden massive Kündigungen erwartet, ja sogar eine Abwicklung des Standortes. Im April wurde der größte noch betriebene Hochofen stillgelegt und es läuft nur noch einer von einst sechs Öfen. Die Produktion wurde auf 25% gedrosselt, befristete Verträge nicht verlängert und fast alle verbleibenden Arbeiter*innen in Kurzarbeit geschickt. Die Belegschaft bangt um ihre Arbeitsplätze. Seit dreißig Jahren geht das Tauziehen um den Erhalt des Standortes jetzt schon, bei dem derzeit über 10% der Stadtbevölkerung direkt beschäftigt sind. Seit Jahren hören die Arbeiter*innen große Versprechen der Politik, und müssen dann doch eine Entlassungswelle nach der anderen erdulden. Das Vertrauen in die seit der Wende regierende SPD, aber auch das in die Linkspartei ist dahin. Sie rutschten mit der aktuellen Wahl auf 27,8 bzw. 11,6 Prozent ab, während die AfD mit über 30% stärkste Kraft wurde.

Nicht viel besser sehen die Ergebnisse der AfD in der zweitgrößten Stadt Brandenburgs 50 km weiter südlich aus. Auch in Cottbus, der Hauptstadt des Lausitzer Kohlereviers, aus dem die Brennstoffe für die Hochöfen in Eisenhüttenstadt kommen, wurde die AfD stärkste Kraft. Der überfällige Kohleausstieg verunsichert die Menschen zutiefst. Nach den „blühenden Landschaften“ der 90er Jahre fürchten mit dem Kohleausstieg viele erneut um ihre Existenzgrundlage. Zwar beschloss die schwarz-rote Bundesregierung fünf Tage vor den Landtagswahlen ein 40 Milliarden Euro schweres Investitionspaket, doch neue Straßen, Eisenbahnlinien, Forschungsinstitute und Behörden bringen den Kohlekumpels auch keine neuen Jobs. Selbst die Linkspartei, die in den 90ern noch Seite an Seite mit den Kumpels stand, machte in Brandenburg Wahlkampf dafür, die Zechen noch früher als geplant zu schließen. Auch das dürfte ein wichtiger Punkt sein, warum die AfD mit ihrer Leugnung des Klimawandels in den Kohlerevieren zur stärksten Kraft wird.

Südlich des Lausitzer Kohlerevierst liegt die Geburtsstadt des alten und wohl neuen Ministerpräsidenten von Sachsen, Michael Kretschmer (CDU). Er konnte am Wochenende dort sein Direktmandat verteidigen, bei den Zweitstimmen lag die AfD fast vier Prozent vor der CDU. Die letzten Monate war die Stadt nicht nur in den Schlagzeilen, weil die AfD hier fast ihre erste Oberbürgermeisterwahl gewann, sondern auch wegen geplantenEntlassungen, bei Siemens und Bombardier. Bei Siemens wird trotz lauter Proteste und Streiks der Großteil der Beschäftigten gehen müssen, worüber keiner mehr redet. Auch nicht der Görlitzer MdB Tino Chrupalla (AfD), der die „Klimalüge“ für die Schließung des Gasturbinenwerkes verantwortlich machte.

Eines der wichtigen Wahlkampfthemen in Sachsen war auch gerade jene angebliche „Klimalüge.“ Die von der AfD lancierte Kampagne „Ein Herz für Diesel“ ist nicht nur eine komische Freakshow von Landwirt*innen, die mit ihren Traktoren durch die Innenstätte fahren wollen. Sie zielt auch auf die Beschäftigten des sächsischen Automobilsektors ab. Von Görlitz bis zu den Automobilzentren am Fuße des Erzgebirges findet nach dem abrupten Aus der Dieselmotoren ein massiver Abbau von Arbeitsplätzen in den Zulieferbetrieben statt. Mit ihrer Politik der Klimaleugnung schafft es die AfD auch einen Teile der Arbeiter*innenklasse, die ihre Lebensgrundlage von dem Strukturwandel bedroht sehen, zu gewinnen und sie vor ihren neoliberalen und rassistischen Karren zu spannen.

Der Rechtsruck im Osten hat viel mit der aktuellen Klimapolitik zu tun. Die Grünen aber auch CDU und SPD wollen die aktuelle Klimadebatte nutzen, um die deutsche Wirtschaft aus ihrer Überproduktionskrise zu führen, sich international im Handelskrieg behaupten zu können und die Arbeiter*innen durch eine CO2-Steuer und massive Entlassungen für diese „Erneuerung“ des Kapitalismus zahlen zu lassen. Selbst die Linkspartei wendet sich zunehmend von den Arbeiter*innen ab und einem kleinbürgerlichen, urbanen Publikum zu.

Die Folge ist, dass zunehmend die soziale Frage gegen die Klimafrage diskutiert wird. Die AfD profitiert davon und kann sich heuchlerisch als Verteidigerin der sprichwörtlichen kleinen Leute, die unter dem kapitalistischen Strukturwandel leiden, inszenieren. Dabei sind die wirtschaftlichen Vorschläge der AfD katastrophal für Arbeiter*innen: sie schlagen beispielsweise vor, in der Lausitz eine Sonderwirtschaftszone zu errichten, in welcher Unternehmen nicht nur von Steuern befreit sein sollen, sondern wohl auch Arbeits- und Tarifrecht legal unterlaufen könnten.

Die IG-Metall Kampagne für eine Senkung der Arbeitszeit im Osten auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich, welche auch auf der FairWandel Demo in Berlin sehr betont wurde, ist nicht nur ein Kampf um gleichen Lohn für gleiche Arbeit, damit die Ossis nicht weiter die Lohndumper in Deutschland sind. Er zeigt auch einen Weg, wie schadstoffreiche Industriebetriebe sozialverträglich runter gefahren und die Überproduktionskrise gelöst werden kann: mit Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Doch um einen ökologischen und sozialen Strukturwandel der Industrie vollziehen zu können, wird es nicht reichen nur zu probieren, gegen die sozialen Auswirkungen des kapitalistischen Strukturwandels zu kämpfen. Die Arbeiter*innen müssen diesen mitgestalten. Zum Beispiel durch eine entschädigungslose Enteignung der Energiekonzerne, um unter Kontrolle der Arbeiter*innen die Konzerne so umbauen zu können, dass der Kohleausstieg zügig realisiert wird, in den betroffenen Gebieten aber auch neue Produktionsketten hochgezogen werden. Trotz dem Debatten um Verstaatlichungen, die mit der Kampagne #DWEnteignen dieses Jahr angestoßen wurden, ist deren Umsetzung ziemlich unwahrscheinlich. Doch gerade in Ostdeutschland kocht die Forderung nach Enteignung nicht erst seit Kevin Kühnerts Debatte um eine Vergesellschaftung von Verlusten der Automobilindustrie immer wieder hoch. Die Streiks zwischen 1989 und 1994 gegen die Treuhand– die Größten seit dem Faschismus – endeten zwar fast alle in Niederlagen. Doch die ältere Generation hat in jener Zeit durchaus gelernt, wie eine Betriebsbesetzung funktioniert. Dass Bosse einfach abgesetzt werden können und die Produktion von den Arbeiter*innen selbst organisiert werden kann. Und dass auf die eigenen Kräfte mehr Verlass ist, als auf die leeren Versprechen der Sozialdemokratie oder Gewerkschaftsbürokratie. Auch heute noch kommt die Forderung nach Verstaatlichung immer wieder in ostdeutschen Arbeitskämpfen auf. Wie beim Halberg-Guss-Streik in Leipzig letztes Jahr. Oder aktuell der Kampf von Union Werkzeugmaschinen Chemnitz. In den 90er Jahren rettete die Union-Belegschaft ihren Betrieb vor der Schließung durch die Treuhand, und jetzt möchte der neue Eigentümer das Werk schließen. Auch hier fordern die Beschäftigten jetzt sowohl eine Verstaatlichung gegenüber dem Land Sachsen, als auch eine Rückkehr zur Kooperative: ein nicht mehr all zu großer Sprung zu einem verstaatlichten Betrieb unter Selbstverwaltung der Arbeiter*innen.

Das Gewitter, welches sich am jenem Sonntag über dem Osten entladen hat, rüttelt hoffentlich auch die linken Kräfte in diesem Land auf. Es ist nicht genug, die AfD nur wegen ihrem Rassismus anzugreifen. Die Arbeiter*innen mit ihren Kämpfen müssen wieder stärker in den Fokus genommen werden, statt bestenfalls ignoriert zu werden, weil sie nicht radikal genug sind. Dass kämpfende Arbeiter*innen sehr wohl auch für Kämpfe gegen rassistische und sexistische Unterdrückung, zeigt vielleicht auch das Beispiel der Belegschaft der nordsächsischen Nudelfirma „Riesa.“ Sie führten einen langen Kampf für einen Tarifvertrag und gegen Outsourcing, den sie nicht zuletzt mit einer breiten Solidaritätskampagne gewann. So sprachen sie zum Beispiel auch auf der Unteilbar Demo in Dresden über ihren Kampf und setzten ein Zeichen gegen Rassismus und gegen die AfD.

Gemeinsame Kämpfe für soziale Rechte sind eine bessere Schule der Solidarität als Symbolaktionen. Sie zeigen, dass wir was verändern können, wenn wir uns nicht spalten lassen in Deutsche und Migrant*innen, Frauen und Männer, Ossis und Wessis. Aber auch, dass Solidarität heißt, für die Rechte der anderen einzutreten. Gelebte Solidarität im Kampf um soziale Rechte ist wohl das beste Mittel, um die Richtung des tosenden Gewitters zu ändern und nicht uns Unterdrückte und Ausgebeutete, sondern die Kapitalist*innen im Regen stehen zu lassen.

#Simon Zamora Martin

# pixabay, Rico Loeb

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Der Mitte Juli veröffentlichte aktuelle UN-Bericht zur Ernährungssituation in der Welt hat wenig erbauliches zu berichten: Die Zahl der Hungernden steigt weltweit. Die Ursachen des Hungers werden allerdings allenfalls oberflächlich betrachtet. Unser Autor Christoph Morich hat den Bericht und seine Schwachstellen analysiert.

Immer wenn die Vereinten Nationen einen neuen Bericht zur gegenwärtigen Ernährungssituation in der Welt veröffentlichen, schafft es dieser für einen Tag in die Presse, um am nächsten wieder in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Die Zahlen des im Juli 2019 veröffentlichten Berichts „The State of Food Security and Nutrition in the World“ zeugen, wie jene der vorherigen, von der Grausamkeit der bestehenden Weltordnung: 820 Millionen Menschen leiden an Hunger. Fast 20% der Menschen in Afrika sind unterernährt. 2 Milliarden sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, haben also keinen regelmäßigen Zugang zu ausreichendem Essen. Unter ihnen befinden sich 8% der Bevölkerung Europas und der USA.

Die Zahlen erregen wenig Aufmerksamkeit, da sie uns im Grunde wenig Neues verraten. Seit dem Hinweis der eigenen Eltern, man müsse essen, was auf dem Teller ist – schließlich hätten die Kinder in Afrika gar nichts zu essen – weiß ein jeder über das Grauen in der Welt Bescheid. Es erscheint als etwas Natürliches. Und nicht zuletzt aus den Benefiz-Galas der Vorweihnachtszeit oder anderen Spendenaufrufen kennen wir die Bilder hilfsbedürftiger Kinder, denen man durch finanzielle Zuwendung eine Zukunft ermöglichen kann. So nobel dabei das Motiv von Einzelnen sein mag, so sehr führen sie an einer vernünftigen und nachhaltigen Auseinandersetzung mit dem Thema vorbei. Der spanische Theoretiker Jordi Maiso spricht diesbezüglich von einer Koexistenz von Sentimentalität und Gleichgültigkeit. Rühren die einzelnen Schicksale beim Fernseh-Abend zu Tränen, stört am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit an den Obdachlosen in erster Linie ihr Geruch. Bei solcher Wohltätigkeit geht es um die Beruhigung des eigenen Gewissens und nicht um Solidarität mit den Opfern der kapitalistischen Gesellschaft. Eine solche Solidarität wäre nicht Almosen, sondern der Abschaffung ihres Leidens verpflichtet. Diese hätte sich in erster Linie mit den gesellschaftlichen Ursachen von Armut auseinanderzusetzen.

Das allgegenwärtige menschliche Leiden, von dessen Existenz alle wissen, wird verdrängt, um nichts Grundsätzliches in Frage stellen zu müssen. Der Historiker Eric Hobsbawm schreibt diesbezüglich über eine Entwicklung im 20. Jahrhundert: „Denn das Schlimmste von allem ist, dass wir uns an das Unmenschliche gewöhnt haben. Wir haben gelernt das Unerträgliche zu ertragen.“ Das Leben geht seinen Lauf, während alle wissen, dass irgendwo gerade Kinder verhungern. Diese kollektive Verdrängung des Leidens müsste durchbrochen werden. Das Grauen des Hungers von Millionen dürfte keine nebensächliche Nachrichtenmeldung sein (die sich in diesen Wochen weit hinter den Spekulationen über die Zukunft von Ursula von der Leyen finden ließ), sondern müsste als offensichtlichster Ausdruck andauernder Barbarei alles beeinflussen, was irgendwo gedacht und getan wird.

Der regelmäßige Bericht der Vereinten Nationen zur Welternährungslage ist dabei von zentraler Bedeutung, schafft er es doch zumindest, die globalen Ausmaße des Hungers nicht komplett in Vergessenheit geraten zu lassen. Die notwendigen Konsequenzen, die aus dem globalen Elend zu ziehen wären, spart er aber aus. In diesen gesellschaftlichen Verhältnissen ist die Verbreitung des Hungers vor allem abhängig von den Konjunkturzyklen in den verschiedenen Weltregionen. Dass die Anzahl der Hungerleidenden bis 2015 zurückgegangen ist, ist nämlich keineswegs das Resultat von politischen Maßnahmen zu seiner Beseitigung, sondern zum großen Teil auf den wirtschaftlichen Aufschwung Chinas und Indiens zurückzuführen. Jede ökonomische Krise droht damit die Zahl der Hungernden weiter zu erhöhen.

Zwar wird in dem Bericht neben dem Klimawandel, kriegerischen Konflikten und einer konjunkturellen Verlangsamung auch die Ungleichheit innerhalb einzelner Länder als eine der Ursachen für Hunger angeführt, das wirkliche Ausmaß des Elends einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft aber verkannt: der Ausschluss der Menschen vom gesellschaftlichen Reichtum durch das Privateigentum, der Zwang die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, dem ein Großteil der Weltbevölkerung unterliegt, während die herrschende Klasse über die Produktionsmittel verfügt und an den Finanzmärkten mit Lebensmitteln spekuliert, die anderen zum Überleben fehlen.

Die ökonomischen Gründe für den Klimawandel, die Zerstörung des Planeten durch das rastlose Streben des Kapitals nach Anlagemöglichkeiten (wie die kürzlich durch den faschistischen Präsidenten Brasiliens gesetzlich legitimierte, weitestgehend uneingeschränkte Abholzung des Regenwaldes), finden allenfalls verkürzt und unterbelichtet Erwähnung. Auch kriegerische Konflikte, die in der Folge zu immer mehr Hungerleid führen, erscheinen als etwas, das mit dem gesellschaftlichen Normalbetrieb nichts zu tun hat. Viele Länder, in denen Kriege geführt werden, sind jedoch ehemalige Kolonien, die in der globalen kapitalistischen Konkurrenz nicht bestehen konnten. Durch den Abbau von Ressourcen und deren Verkauf in den globalen Norden entstehen dort Kriegsökonomien, die Konflikte vor allem deshalb andauern lassen, da Geld mit ihnen zu verdienen ist. Dies gilt insbesondere für viele Länder in Sub-Sahara Afrika, wo die Zahl der Hungernden mit 22.8% weltweit am höchsten ist. Nicht zuletzt verdient an den kriegerischen Konflikten die europäische Waffenindustrie. So etwa die deutsche Firma Rheinmetall, die Millionenprofite durch den Krieg im Jemen einstreicht, wo alle 10 Minuten ein Kind eines vermeidbaren Todes stirbt.

Die Blindheit des Berichts für den wesentlichen Ursprung der Phänomene zieht sich durch den ganzen Text. So schreiben die Autor*innen, dass insbesondere die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten zu einer höheren Gefahr für Hunger und Nahrungsmittelunsicherheit führen. Ohne aber zu erwähnen, dass für diese Abhängigkeit vor allem die neoliberalen Umstrukturierungen aller Nationalökonomien, u.a. durch die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF), verantwortlich sind. Sie bauten die Diversität der Agrarwirtschaft einzelner Nationalökonomien ab, liberalisierten den Handel und forcierten Monokulturen für den Import und Export. Zwar können so größere Profite für Agrarunternehmen generiert werden, Nationalökonomien, in denen sich die Bevölkerung bis dato halbwegs selbst versorgen konnte, gerieten aber in die Abhängigkeit vom Weltmarkt. Nun einfach eine gegenteilige Entwicklung zu fordern, hat kaum Aussicht auf Erfolg und erscheint angesichts der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte so naiv wie den Sozialstaat gegen den Raubtierkapitalismus zurückzufordern. Es gibt keinen guten Kapitalismus, der sich gegen die immanente Logik des Kapitals selbst einfordern ließe.

Ohne eine grundlegende Kritik am Kapitalismus können die Grauen der Gegenwart nicht adäquat verstanden und bekämpft werden. Die Praxis der Herrschenden, die kein Interesse an der Überwindung der bestehenden Verhältnisse haben, sind dementsprechend weitestgehend konsequenzlos, wie an den Hunderten von Konferenzen und Absichtserklärungen zur Bekämpfung des Klimawandels oder des Welthungers zu sehen ist.

Und genau daran krankt der UN-Bericht. Er beschreibt das kapitalismusgemachte Grauen, ohne auch nur ansatzweise die Bedingungen, die dazu führen benennen zu können. Der Wunsch, den Hunger besiegen zu wollen, braucht aber die Vermittlung mit der theoretischen und historischen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Ohne diese bleibt es bei lächerlichen Maßnahmen, in der die Linderung von Hunger nur ein Beiprodukt eines „wirtschaftlichen Aufschwungs“ sind. Nur mit einer radikalen Kritik der bestehenden Produktionsverhältnisse, kann eine revolutionäre Gesellschaft aufgebaut werden, in der die Linderung von Leiden der Zweck der Produktion selbst wäre.

#Christoph Morich
#Titelbild: United Nations Photo/
CC BY-NC-ND 2.0

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