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Mit der Auffassung, dass Töten und Sterben freiwillige Angelegenheiten sein sollten, steht man derzeit so alleine da wie seit Jahrzehnten nicht. Unter dem Eindruck von Putins Angriffskrieg, der zuletzt fast 10.000 Menschen getötet und zwei Millionen Menschen aus dem Land vertrieben hat, entdeckt die deutsche Öffentlichkeit ausgerechnet ihre Liebe zu den eigenen Streitkräften wieder. Die Rüstungsindustrie, mal in Gestalt der CDU, mal ganz unverhohlen als sie selbst, frohlockt naturgemäß über diese Entwicklung.

Bis zu 3000 neue Arbeitsplätze und zwei Milliarden Euro zusätzlichen Jahresumsatz verspricht sich beispielsweise Rheinmetall-Chef Armin Pappberger angesichts des neu beschlossenen Wehretats – und kann vor lauter Tatendrang kaum noch stillsitzen: „Wir könnten sofort anfangen, zu produzieren“, zitiert ihn die Nachrichtenagentur dpa. Der parlamentarische Arm der Waffenhersteller stellt sogleich weitere spannende Ideen in den Raum. Warum nicht in ein Raketenabwehrsystem für Berlin investieren, fragt der verteidigungspolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Florian Hahn, der nebenbei auf der Gehaltsliste der Interessengemeinschaft Deutsche Luftwaffe steht. Die Ende Februar durch die Decke geschossenen Aktienkurse deutscher Rüstungsunternehmen pendeln sich gerade auf einem Niveau ein, von dem sie davor nur träumen konnten. Alles in allem also goldene Zeiten für das Geschäft mit Menschenleben.

Rufe nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht sind die logische Konsequenz in solchen Zeiten. Längst sind es nicht mehr nur die Bundeswehr und ihr Rattenschwanz aus Rüstungslobby, konservativen Medien und Kriegsenthusiasten diverser Parteien, die die Deutschen wieder in Reih und Glied sehen wollen. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Business Insider von Anfang März ergab eine Befürwortungsquote von 75 Prozent für „ein soziales Pflichtjahr, zum Beispiel Wehr- oder Zivildienst“.

Die Umfrage zeigt exemplarisch das Problem, an dem die ganze Debatte krankt. Denn ihr Gegenstand wird nicht klar benannt. Ist es ein Wehrdienst mit Verweigerungsoption wie jener, der 2011 abgeschafft wurde, oder eine allgemeine Dienstpflicht, quasi ein Zivildienst mit Waffenoption? Wer denkt, das sei juristische Erbsenzählerei, hat zwar nicht ganz Unrecht, möge sich aber dennoch vor Augen führen, dass der wissenschaftliche Dienst des Bundestags höchstselbst letzteres völlig zurecht als Zwangsarbeit und damit als Menschenrechtsverletzung einordnet. Der Dienst an der Waffe mit wahlweisem sozialen Ersatzdienst ist im Gegensatz dazu menschenrechtskonform, was wiederum die Absurdität dieses Regelwerks aufzeigt, uns aber nicht weiter beschäftigen soll.

Die Bundesrepublik debattiert also fleißig, ohne zu wissen, worüber. Einen Lichtblick mögen die Zyniker unter uns darin sehen, dass all das spätestens mit dem Eintritt des Spannungsfalls hinfällig wird, der automatisch alle deutschen Männer zwischen 18 und 60 Jahren zum Ausbaden desselben verpflichtet. Dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, die die Ampelfraktionen zusammen mit der Union stellen könnten. Und weil bei offenen Grenzen ein militärischer Einberufungsbescheid nur so viel wert ist, wie das Papier, auf dem er steht, ist in einem solchen Fall mit einem Ausreiseverbot für Wehrpflichtige zu rechnen.

Die Ukraine setzt diese Regelung derzeit rigoros durch. Wehrfähige Ukrainer dürfen das Land nicht verlassen und werden an den Grenzen abgewiesen. Nur vereinzelt und zaghaft regt sich Kritik an Selenskyjs Praxis, ein Drittel der eigenen Bevölkerung zum Verbleib in einem Kriegsgebiet zu zwingen. Ein Verbleib, der angesichts der russischen Angriffe auf zivile Ziele in jedem Fall lebensgefährlich ist.

Ja, es geht um das Fortbestehen der Ukraine als autonomer Staat und ja, jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Selbstbestimmung und darauf, unter Einsatz des eigenen Lebens dafür zu kämpfen. Aber das Leben eines anderen ist unantastbar, egal mit welchem Ziel und aus welcher Position heraus. Das muss auch und gerade für den Staat gelten, auch und gerade für einen Staat im Überlebenskampf. Wo das Recht auf Leben ultimativ Gegenstand hoheitlicher Entscheidungsgewalt ist, verblassen alle Rechte, die die „freie Welt“ ihren Bürger:innen zugesteht. Wer jemanden verpflichtet, gegen seinen Willen seine eigene Autonomie mit dem Leben zu verteidigen, macht sich des unverzeihlichen Verbrechens an diesem Leben schuldig.

Die Rechnungsadresse dieses Verbrechens liegt, global betrachtet, natürlich in Moskau. Dort wird indes nicht nur mit Zwang, sondern auch mit einer perfiden Ausnutzung des militärischen Gehorsams gearbeitet. Wo das Propagandamärchen, die Ukraine zu entnazifizieren, nicht ausreicht, stellt man das menschliche Kriegsmaterial vor vollendete Tatsachen. Eigentlich dürften bei Militäroperationen laut russischen Gesetzen nur Berufssoldaten zum Einsatz kommen. Trotzdem landen Rekruten im Krieg. Die Bekundungen der russischen Regierung, diese Gesetzesverstöße zu ahnden, sind Makulatur: Berichten zufolge werden junge, in der verpflichtenden Grundausbildung befindliche Rekruten kurzerhand zur Vertragsunterzeichnung in eine Reihe gestellt und wenig später unwissend an die Front gekarrt. Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt werden abgeschnitten, die Familien völlig im Dunkeln über den Verbleib ihrer Söhne gelassen.

Man darf also in diesem Krieg nicht den Fehler machen, scharf zwischen zivilen und militärischen Todesopfern zu trennen. Zu Putins Verbrechen am ukrainischen Volk tritt zusätzlich das Verbrechen am eigenen. Die Bundesrepublik beweist mit kopflosen Wehrpflichtdebatten und Militärausgaben in schwindelerregenden Höhen, dass die Kriegslogik nicht nur in ihrer Verfassung, sondern auch in den Köpfen fest verankert ist. Es braucht nur einen Befehl, eine einzige Unterschrift eines mächtigen Mannes, und ein ganzer Kontinent frisst seine Kinder.

# Titelbild: Nationalfriedhof in Arlington, Virginia, USA

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Der Krieg im Jemen hat immer brutalere Konsequenzen für die dortige Bevölkerung. Anders als gerne behauptet geht es weniger um religiöse und ethnische Auseinandersetzungen, sondern um knallharte kapitalistische Interessen, auch der deutschen Rüstungsindustrie, die von der BRD freie Hand bekommt. Christoph Morich mit einer Analyse.

Als zum erstenmal das Wort »Friede« ausgesprochen wurde, entstand auf der Börse eine Panik. Sie schrien auf im Schmerz: Wir haben verdient! Lasst uns den Krieg! Wir haben den Krieg verdient!“ (Karl Kraus, 1909)

„Rheinmetall – So sehen Sieger aus!“ So titelte die Internetseite Finanztrends im letzten Monat anlässlich des steigenden Aktienkurses des Konzerns. Nicht nur ließen die nackten Zahlen das Herz der Aktienbesitzer*innen höherschlagen, auch die „Stimmungslage in den sozialen Netzwerken war in den vergangenen Tagen überwiegend positiv.“ Rheinmetall, ein deutscher Autozulieferer und Rüstungskonzern, konnte seinen Gewinn im ersten Halbjahr 2019 um 2,2% auf circa 2,8 Milliarden Euro steigern. Die Einbußen in der Automobilsparte wurden durch zusätzliche Einnahmen im globalen Waffengeschäft kompensiert. Ein wichtiger Abnehmer dieser Waffenlieferungen war die Allianz um Saudi-Arabien, die seit 2015 im Jemen einen blutigen Krieg führt, dem die Zivilbevölkerung zum Opfer fällt. Insgesamt wurden der deutschen Waffenindustrie in der ersten Jahreshälfte 2019 Exporte im Wert von 1,1 Milliarden Euro an diese Allianz genehmigt. Die Menschen im Jemen sind die Verlierer*innen dieses Geschäftes. Während die Rüstungsindustrie und ihre Aktionäre hierzulande jubeln, herrscht bei den Opfern der saudischen Luftangriffe das blanke Elend.

Der Krieg im Jemen begann mit der saudischen Intervention, nachdem weite Teile des Landes durch Huthi-Rebellen erobert worden waren. Er wird gemeinhin als ein Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten bezeichnet, was der Komplexität des Geschehens jedoch keineswegs gerecht wird. Tatsächlich überlagern sich im Jemen verschiedene politische, ökonomische und ideologische Konflikte, regionaler und globaler Ausprägung.

Im Januar 2011 begannen Proteste gegen den korrupten Präsidenten Salih, der wenig später auf Anweisung Saudi-Arabiens durch seinen Stellvertreter Hadi ersetzt wurde. Unter beiden dienten die staatlichen Strukturen in erster Linie der Bereicherung einzelner Cliquen (insbesondere durch den Export von Öl), während ein großer Teil der Bevölkerung in bitterer Armut lebte. Ein Schicksal, das der Jemen mit vielen ehemaligen Kolonien teilt, die mittlerweile allesamt zu günstigen Rohstofflieferanten für den Weltmarkt geworden sind, während sich an den Schaltstellen der Macht eine kleine Elite bereichert. Die an den Protesten maßgeblich beteiligte Bevölkerungsgruppe der Huthis wurde im Zuge des Regierungswechsels übergangen und erkannte den neuen Präsidenten nicht an. Es gelang ihnen daraufhin weite Teile des Jemens zu erobern, was die Allianz um Saudi-Arabien zu einer Intervention veranlasste. Erst daraufhin kam es nach Ansicht vieler Beobachter*innen zu einer zunehmenden Konfessionalisierung des Konfliktes.

Ursprünglich sind wirtschaftliche und machtpolitische Interessen von entscheidender Bedeutung in dem Konflikt. Dem Kapital geht es darum sich Zugang zu profitablen Anlagemöglichkeiten, insbesondere den Ölvorkommen, und Absatzmärkten, z.B. für Lebensmittel, zu sichern. Um davon zu profitieren, sind verschiedene Fraktionen der politischen Elite der Region bemüht, die Herrschaft über entsprechende Regionen und Schaltstellen im Staatsapparat für sich zu sichern. Die vernachlässigten Teile der Bevölkerung, die eine entscheidende Rolle bei den Protesten seit 2011 spielten, fordern einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum ein. Deren Armut und erlebte Ungerechtigkeit nutzen diverse Gruppen, um Anhänger*innen für ihre mehr oder weniger ideologisch motivierten Kämpfe zu rekrutieren, hinter denen in der Regel ebenfalls materielle Interessen stehen. Auch die sezessionistischen Bestrebungen im Süden Jemens werden auf die gefühlte Benachteiligung der dortigen Bevölkerung gegenüber dem Rest des Landes zurückgeführt.

In diesen Kampf um Macht und Profit im Jemen sind zahlreiche Länder verwickelt. Vor allem Saudi-Arabien fürchtet um seine Vormachtstellung, da der Iran zunehmen Einfluss auf die Huthi-Rebellen gewinnt. Ähnliche Überlegungen trieben die USA zur Beteiligung am Krieg im Jemen, wo sie über lange Zeit eine Basis für ihren „Krieg gegen den Terror“ hatten. Auch Frankreich und Großbritannien leisten der Allianz logistische Unterstützung. Der „Krieg gegen den Terror“ wendet sich in erster Linie gegen Al-Qaida, die Teile des Jemens beherrschen, selbst aber in den vergangenen Jahren Konkurrenz vom ebenfalls sunnitischen Islamischen Staat bekam. Im Kampf gegen die Huthi-Rebellen (und somit indirekt gegen den Iran), verfolgten die USA und Saudi-Arabien wiederum dieselben Ziele wie Al-Qaida. Also die Gruppe, die das saudische Königshaus stürzen möchte und für die Anschläge vom 11. September auf das World-Trade-Center verantwortlich war. Ähnlich paradox erscheint, dass der ehemalige Präsident Salih sich nach seiner Entmachtung mit seinen ehemaligen Gegnern, den Huthi-Rebellen verbündete, sich dann erneut mit ihnen überwarf und letztendlich von ihnen umgebracht wurde. Die sunnitischen Stämme verfolgen ebenfalls eigene Interessen und sind mit verschiedenen Akteur*innen – der Regierung Hadi, Al-Qaida oder dem IS – verbündet. Auch die Sezessionisten gehen teils wechselnde Bündnisse ein.

In solchen Gemengelagen werden plötzlich Identitäten, die bislang kaum eine Rolle spielten, zur materiellen Gewalt, da bisherige Ordnungen in sich zusammenbrechen und sich keine neue an deren Stelle etablieren kann. Religiöse Identitäten bieten Orientierung. Sie erlauben das Dasein im täglichen Kampf ideologisch aufzuladen und zum „heiligen Krieg“ zu verklären. Gleichzeitige werden sie von Saudi-Arabien und dem Iran genutzt, um Verbündete zu rekrutieren und gegen den Gegner mobil zu machen.

Es handelt sich also bei dem Konflikt im Jemen weniger um einen schon immerwährenden Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, als um eine zerfallende Gesellschaft im Zuge der globalen Krise, in der nicht vollends auszumachen ist, wer eigentlich gerade gegen wen kämpft.

Die UNO bezeichnet die Situation im Jemen als „die größte humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts“. Nach Schätzungen des „Armed Conflict Location and Event Data Project« (Acled) haben seit Beginn des Krieges fast 100.000 Menschen ihr Leben verloren. Millionen von Menschen sind vertrieben und auf Hilfslieferungen angewiesen, die sie oftmals aufgrund der andauernden Kämpfe nicht erreichen. Videoaufnahmen und Fotos zeigen Kinder, die aus nichts als Haut und Knochen bestehen und zu jeglicher menschlicher Regung zu schwach sind. Viele von ihnen sterben aufgrund der mangelnden Ausrüstung in Krankenhäusern, wenn sich ihre Eltern den Weg dorthin überhaupt leisten konnten. Alle 10 Minuten verliert ein Kind im Jemen durch Hunger sein Leben. UNICEF bezeichnet das Land als „living hell for children“.

Diese lebende Hölle wird durch deutsche Waffen noch weiter befeuert. Die Hilfeschreie unzähliger Journalist*innen und Menschenrechtsorganisationen über die Situation im Jemen, die seit Jahren den sofortigen Stopp von Waffenlieferungen an die saudische Allianz fordern, verhallen ohne Konsequenz.

Der Allianz wurde in den vergangenen Jahren immer wieder Bombardierungen von zivilen Einrichtungen, von Krankenhäusern bis Schulen und Schulbussen, nachgewiesen. Durch eine Seeblockade, die verhindert, das Lebensmittel und Hilfslieferungen ins Land kommen,ist sie maßgeblich für die Hungersnot im Jemen verantwortlich. Auch hierbei kamen in Deutschland gebaute Schiffe zum Einsatz. Dennoch: Saudi-Arabien wird weiterhin von der deutschen Rüstungsindustrie versorgt.

Bei der Produktion von Waffen kommt das Verhältnis von Tausch- und Gebrauchswert einer Ware in besonders brutaler Weise zum Ausdruck. Damit bei den Produzent*innen einer Ware und ihren Aktionären die Kurse stimmen, also durch den Verkauf der Ware aus Geld mehr Geld gemacht wird, muss sie andernorts gebraucht werden. Im Fall einer Waffe, indem sie Menschen tötet. Die Gewinne auf dem Aktienmarkt, werden mit dem Verlust von Menschenleben bezahlt. Die Undurchsichtigkeit der heutigen Weltgesellschaft erlaubt es dabei allen Akteur*innen die eigene Verantwortung für diesen offensichtlichen Zusammenhang zu leugnen. Es sei ja nicht Rheinmetall, die Bomben werfen, erklärt etwa ein Aktionär einem Team der ARD. „Und wenn wir die nicht liefern, dann tun es andere“, ist ein häufig angeführtes Argument von Seiten der Politik. Rheinmetall selbst beruft sich auf den Druck der Aktionär*innen, und den Erhalt der Werke in Deutschland, bei denen zumindest noch gewisse Mindeststandards in der Ausfuhrkontrolle existieren. Die Fabriken baut Rheinmetall aber mittlerweile in strukturschwachen Regionen in Sardinien und Südafrika, da dort mit wenig Widerstand gegen das Geschäft mit dem Krieg zu rechnen ist. An diesen, wie auch an den deutschen Standorten wird dann gerneauf die Notwendigkeit verwiesen, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, um halbwegs würdig überleben zu können. Was Saudi-Arabien mit den Bomben macht, entzieht sich dann der europäischen Verantwortung. Und da es die Menschen aus dem Jemen nur in den seltensten Fällen bis ans europäische Festland und die Bilder der Sterbenden nur ausnahmsweise in die hiesigen Medien schaffen, können sich weiterhin alle stillschweigend darauf einigen, die Hände in Unschuld zu waschen.

Der, Ende letzten Jahres von der Bundesregierung verhängte, Exportstopp für Waffenlieferungen zeugt von der Scheinheiligkeit aller beteiligten Akteure. So waren es weder die saudischen Bombenangriffe auf Schulen und Krankenhäuser, noch die Tausenden Toten und Millionen von Hungernden im Jemen, die Deutschland zu einem Exportstopp veranlassten. Erst als die saudischen Behörden den Journalisten Jamal Kashoggi in ihrer Botschaft in der Türkei wohl bei lebendigem Leib zerstückelten und damit einen diplomatischen Skandal auslösten, sah sich die deutsche Regierung gezwungen zu handeln. Doch selbst bei diesen Maßnahmen einigte man sich auf genug Ausnahmen und Schlupflöcher, um die Profite deutscher Unternehmen nicht ernsthaft zu gefährden, wie die Zahlen aus dem ersten Halbjahr 2019 belegen. Indem es Rheinmetall gestattet wird, Tochterunternehmen in Sardinien und Südafrika zu unterhalten, kann der Waffenhersteller ohnehin weitestgehend autonom gegenüber der deutschen Gesetzeslage produzieren und verkaufen. Die Sozialdemokraten sind in gewohnter Manier an dieser Heuchelei beteiligt. Bezeichnete es Sigmar Gabriel 2013 noch als „große Schande“, dass Deutschland als Waffenexporteur „Helfershelfer für die Aufrüstung von Diktaturen“ geworden sei, sind sie in der Regierungsverantwortung federführend an der Genehmigung von Waffenlieferungen an Akteur*innen in den blutigsten Konfliktregionen beteiligt. Der Zynismus, mit dem Politiker*innen der Regierungsparteien seit Jahren ihre Verantwortung für den Mord an Unschuldigen leugnen, ist nur schwer zu überbieten.

Doch gegen die Verwicklung Europas in den Krieg im Jemen regt sich vermehrt Protest. Bei der kürzlich in Berlin stattgefundenen Aktionärs-Hauptversammlung von Rheinmetall, gelang es Aktivist*innen kurzzeitig die Bühne zu besetzen, um auf das mörderische Geschäft des Unternehmens aufmerksam zu machen. In Italien und Frankreich streikten Hafenarbeiter*innen, um die Beladung eines saudischen Schiffes mit neuem Kriegsgerät zu verhindern. Für Anfang September veranstaltet das Bündnis ‚Rheinmetall entwaffnen‘ ein Protestcamp und ruft dazu auf, die Produktion des Rüstungsherstellers durch Blockaden lahmzulegen. Jede Unterbrechung der Produktion und Lieferung von Waffen kann Menschenleben im Jemen retten und hoffentlich langfristig dazu beitragen, einen Massemord zu beenden, an dem deutsches Kapital und deutsche Politik maßgeblich beteiligt sind.

#Titelbild: Zerstörte Häuser im Süden von Sanaa, wikimedia commons

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Der Mitte Juli veröffentlichte aktuelle UN-Bericht zur Ernährungssituation in der Welt hat wenig erbauliches zu berichten: Die Zahl der Hungernden steigt weltweit. Die Ursachen des Hungers werden allerdings allenfalls oberflächlich betrachtet. Unser Autor Christoph Morich hat den Bericht und seine Schwachstellen analysiert.

Immer wenn die Vereinten Nationen einen neuen Bericht zur gegenwärtigen Ernährungssituation in der Welt veröffentlichen, schafft es dieser für einen Tag in die Presse, um am nächsten wieder in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Die Zahlen des im Juli 2019 veröffentlichten Berichts „The State of Food Security and Nutrition in the World“ zeugen, wie jene der vorherigen, von der Grausamkeit der bestehenden Weltordnung: 820 Millionen Menschen leiden an Hunger. Fast 20% der Menschen in Afrika sind unterernährt. 2 Milliarden sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, haben also keinen regelmäßigen Zugang zu ausreichendem Essen. Unter ihnen befinden sich 8% der Bevölkerung Europas und der USA.

Die Zahlen erregen wenig Aufmerksamkeit, da sie uns im Grunde wenig Neues verraten. Seit dem Hinweis der eigenen Eltern, man müsse essen, was auf dem Teller ist – schließlich hätten die Kinder in Afrika gar nichts zu essen – weiß ein jeder über das Grauen in der Welt Bescheid. Es erscheint als etwas Natürliches. Und nicht zuletzt aus den Benefiz-Galas der Vorweihnachtszeit oder anderen Spendenaufrufen kennen wir die Bilder hilfsbedürftiger Kinder, denen man durch finanzielle Zuwendung eine Zukunft ermöglichen kann. So nobel dabei das Motiv von Einzelnen sein mag, so sehr führen sie an einer vernünftigen und nachhaltigen Auseinandersetzung mit dem Thema vorbei. Der spanische Theoretiker Jordi Maiso spricht diesbezüglich von einer Koexistenz von Sentimentalität und Gleichgültigkeit. Rühren die einzelnen Schicksale beim Fernseh-Abend zu Tränen, stört am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit an den Obdachlosen in erster Linie ihr Geruch. Bei solcher Wohltätigkeit geht es um die Beruhigung des eigenen Gewissens und nicht um Solidarität mit den Opfern der kapitalistischen Gesellschaft. Eine solche Solidarität wäre nicht Almosen, sondern der Abschaffung ihres Leidens verpflichtet. Diese hätte sich in erster Linie mit den gesellschaftlichen Ursachen von Armut auseinanderzusetzen.

Das allgegenwärtige menschliche Leiden, von dessen Existenz alle wissen, wird verdrängt, um nichts Grundsätzliches in Frage stellen zu müssen. Der Historiker Eric Hobsbawm schreibt diesbezüglich über eine Entwicklung im 20. Jahrhundert: „Denn das Schlimmste von allem ist, dass wir uns an das Unmenschliche gewöhnt haben. Wir haben gelernt das Unerträgliche zu ertragen.“ Das Leben geht seinen Lauf, während alle wissen, dass irgendwo gerade Kinder verhungern. Diese kollektive Verdrängung des Leidens müsste durchbrochen werden. Das Grauen des Hungers von Millionen dürfte keine nebensächliche Nachrichtenmeldung sein (die sich in diesen Wochen weit hinter den Spekulationen über die Zukunft von Ursula von der Leyen finden ließ), sondern müsste als offensichtlichster Ausdruck andauernder Barbarei alles beeinflussen, was irgendwo gedacht und getan wird.

Der regelmäßige Bericht der Vereinten Nationen zur Welternährungslage ist dabei von zentraler Bedeutung, schafft er es doch zumindest, die globalen Ausmaße des Hungers nicht komplett in Vergessenheit geraten zu lassen. Die notwendigen Konsequenzen, die aus dem globalen Elend zu ziehen wären, spart er aber aus. In diesen gesellschaftlichen Verhältnissen ist die Verbreitung des Hungers vor allem abhängig von den Konjunkturzyklen in den verschiedenen Weltregionen. Dass die Anzahl der Hungerleidenden bis 2015 zurückgegangen ist, ist nämlich keineswegs das Resultat von politischen Maßnahmen zu seiner Beseitigung, sondern zum großen Teil auf den wirtschaftlichen Aufschwung Chinas und Indiens zurückzuführen. Jede ökonomische Krise droht damit die Zahl der Hungernden weiter zu erhöhen.

Zwar wird in dem Bericht neben dem Klimawandel, kriegerischen Konflikten und einer konjunkturellen Verlangsamung auch die Ungleichheit innerhalb einzelner Länder als eine der Ursachen für Hunger angeführt, das wirkliche Ausmaß des Elends einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft aber verkannt: der Ausschluss der Menschen vom gesellschaftlichen Reichtum durch das Privateigentum, der Zwang die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, dem ein Großteil der Weltbevölkerung unterliegt, während die herrschende Klasse über die Produktionsmittel verfügt und an den Finanzmärkten mit Lebensmitteln spekuliert, die anderen zum Überleben fehlen.

Die ökonomischen Gründe für den Klimawandel, die Zerstörung des Planeten durch das rastlose Streben des Kapitals nach Anlagemöglichkeiten (wie die kürzlich durch den faschistischen Präsidenten Brasiliens gesetzlich legitimierte, weitestgehend uneingeschränkte Abholzung des Regenwaldes), finden allenfalls verkürzt und unterbelichtet Erwähnung. Auch kriegerische Konflikte, die in der Folge zu immer mehr Hungerleid führen, erscheinen als etwas, das mit dem gesellschaftlichen Normalbetrieb nichts zu tun hat. Viele Länder, in denen Kriege geführt werden, sind jedoch ehemalige Kolonien, die in der globalen kapitalistischen Konkurrenz nicht bestehen konnten. Durch den Abbau von Ressourcen und deren Verkauf in den globalen Norden entstehen dort Kriegsökonomien, die Konflikte vor allem deshalb andauern lassen, da Geld mit ihnen zu verdienen ist. Dies gilt insbesondere für viele Länder in Sub-Sahara Afrika, wo die Zahl der Hungernden mit 22.8% weltweit am höchsten ist. Nicht zuletzt verdient an den kriegerischen Konflikten die europäische Waffenindustrie. So etwa die deutsche Firma Rheinmetall, die Millionenprofite durch den Krieg im Jemen einstreicht, wo alle 10 Minuten ein Kind eines vermeidbaren Todes stirbt.

Die Blindheit des Berichts für den wesentlichen Ursprung der Phänomene zieht sich durch den ganzen Text. So schreiben die Autor*innen, dass insbesondere die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten zu einer höheren Gefahr für Hunger und Nahrungsmittelunsicherheit führen. Ohne aber zu erwähnen, dass für diese Abhängigkeit vor allem die neoliberalen Umstrukturierungen aller Nationalökonomien, u.a. durch die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF), verantwortlich sind. Sie bauten die Diversität der Agrarwirtschaft einzelner Nationalökonomien ab, liberalisierten den Handel und forcierten Monokulturen für den Import und Export. Zwar können so größere Profite für Agrarunternehmen generiert werden, Nationalökonomien, in denen sich die Bevölkerung bis dato halbwegs selbst versorgen konnte, gerieten aber in die Abhängigkeit vom Weltmarkt. Nun einfach eine gegenteilige Entwicklung zu fordern, hat kaum Aussicht auf Erfolg und erscheint angesichts der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte so naiv wie den Sozialstaat gegen den Raubtierkapitalismus zurückzufordern. Es gibt keinen guten Kapitalismus, der sich gegen die immanente Logik des Kapitals selbst einfordern ließe.

Ohne eine grundlegende Kritik am Kapitalismus können die Grauen der Gegenwart nicht adäquat verstanden und bekämpft werden. Die Praxis der Herrschenden, die kein Interesse an der Überwindung der bestehenden Verhältnisse haben, sind dementsprechend weitestgehend konsequenzlos, wie an den Hunderten von Konferenzen und Absichtserklärungen zur Bekämpfung des Klimawandels oder des Welthungers zu sehen ist.

Und genau daran krankt der UN-Bericht. Er beschreibt das kapitalismusgemachte Grauen, ohne auch nur ansatzweise die Bedingungen, die dazu führen benennen zu können. Der Wunsch, den Hunger besiegen zu wollen, braucht aber die Vermittlung mit der theoretischen und historischen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Ohne diese bleibt es bei lächerlichen Maßnahmen, in der die Linderung von Hunger nur ein Beiprodukt eines „wirtschaftlichen Aufschwungs“ sind. Nur mit einer radikalen Kritik der bestehenden Produktionsverhältnisse, kann eine revolutionäre Gesellschaft aufgebaut werden, in der die Linderung von Leiden der Zweck der Produktion selbst wäre.

#Christoph Morich
#Titelbild: United Nations Photo/
CC BY-NC-ND 2.0

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