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Der Hungerstreik kurdischer Gefangener ist auch eine Kritik an den Unzulänglichkeiten unseres Internationalismus

„Warum kommen denn die Deutschen nicht mehr?“, sagt ein Demonstrant zu den Umstehenden. Es regnet, es ist eiskalt und die kurdischen Flaggen kleben an den Fahnenstangen fest, weil sie so nass sind. Es ist der Abend des 18. März auf dem Berliner Hermannplatz und vor wenigen Stunden hat Zülküf Gezen sein Leben verloren. Gezen war einer der hunderten kurdischen Aktivist*innen, die sich derzeit im Hungerstreik befinden. Seit 12 Jahren saß er in einem türkischen Gefängnis, nach über 60 Tagen ohne Nahrung nahm er sich am 17. März 2019 aus Protest das Leben.

„Warum kommen denn die ganzen Deutschen nicht mehr?“ Die Frage steht. In den Jahren nach 2014 haben viele deutsche Linke einen Bezug zur Revolution in Rojava und zur gesamten kurdischen Befreiungsbewegung gefunden, aber die Solidarität hatte Konjunkturen. Salopp gesagt ist es so: Ein großer Teil der Linken kommt, wenn das Thema in irgendeiner Weise in den Massenmedien präsent ist. In jenen Phasen, in denen Spiegel&Co. die Kämpfe und Massaker, die Siege und Niederlagen ignorieren, sucht man das Gros der deutschen Linken vergeblich auf den Kundgebungen, Hungerstreiks, Demonstrationen und Aktionen der kurdischen Genoss*innen. Persönliche, gar genossenschaftliche Beziehungen zu den Kurd*innen haben nur wenige aufgebaut.

Das ist in der aktuellen Phase besonders spürbar, denn der Hungerstreik, den die HDP-Politikerin Leyla Güven begann und dem sich tausende Menschen weltweit anschlossen, richtet sich nicht nur gegen die Isolation des inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan. Das ist zwar klar die Hauptforderung. Aber, so formulierte es kürzlich die Vorsitzende des Kurdischen Nationalkongresses (KNK) Nilüfer Koc auf einem Treffen in Berlin: „Die Hungerstreikenden kritisieren mit ihrer Aktionen auch uns alle. Und sie tun das unter Einsatz ihres Lebens.“

Man muss diesen Satz ernst nehmen. Gerade wir als Internationalist*innen, deren Komfortzonen doch sehr viel ausgedehnter sind, als jene der kurdischen Freund*innen. Wir haben die „Freiheit“, uns zu sagen: „Ach, es regnet, es ist kalt, heute gehe ich mal nicht auf die Demo, mache mir nen schönen Abend.“ Oder: „Uff, so viele Aktionen, ich fühle mich wirklich überlastet.“ Wir haben die „Freiheit“, wegzusehen, uns zu ducken und dann, wann es uns passt, die Fahne auszukramen und von Solidarität zu reden.

Die Freundinnen und Freunde, die in der Türkei und in Syrien kämpfen, haben diese „Freiheit“ nicht. Sie müssen Widerstand leisten, wenn sie es nicht tun, ist es ihr Untergang. Unsere Pflicht ist es, wenigstens über die Bedeutung, die das für uns hat, nachzudenken. Tausende Menschen, laut der kurdischen Nachrichtenagentur ANF sind es mittlerweile 7000, haben aufgehört, Nahrung zu sich zu nehmen, um ein politisches Ziel zu erreichen. Sie sind bereit, mit ihrem Leben dafür einzustehen. Es drängt sich doch die Frage auf: Wann sind wir denn eigentlich bereit, für unsere eigenen Ziele, die wir so oft und so laut in die Welt hinaus schreien, etwas einzusetzen? Auch, wenn es mal anstrengend wird. Und auch, wenn man mal andere Dinge, die einem Spaß machen oder die man für Sachzwänge hält, zurückstellen muss?

Am selben Tag, an dem Zülküf Gezen sein Leben verlor, wurde die Nachricht des Todes eines weiteren Genossen öffentlich. Der Internationalist Tekoşer Piling, fiel im Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien. Er hatte sich der Rojava-Revolution schon vor längerem angeschlossen, kämpfte in Afrin gegen die Türkei. Für den Fall, dass er sterben würde, hat er seinen Freund*innen einen Brief hinterlassen. „Ach, seid nicht traurig, mir geht es gut so. Ich bereue nichts und bin gestorben, während ich das getan habe, was ich für richtig halte“, schreibt er. Und: „Ich wünsche euch das Beste von allem und hoffe, dass auch ihr eines Tages – falls ihr es nicht schon getan habt – die Entscheidung trefft, euer Leben für die zu geben, die nach uns kommen. Nur so können wir die Welt verändern. Wir können nur etwas ändern, wenn wir den Individualismus und den Egoismus besiegen, den wir alle in uns tragen.“

Heval Tekoşer und Leyla Güven formulieren dieselbe Kritik an uns: Unser Individualismus und Egoismus, die Dauergönnung, die wir uns geben können, weil wir (noch) die Option haben, den Kampf unserem Wohlfühlfaktor unterzuordnen, steht uns im Weg. Wir müssen uns eingestehen, auch wenn es ein schmerzvoller Prozess ist: Wir können uns nicht Revolutionär*innen oder Internationalist*innen nennen, wenn wir diese Kritik nicht hören. Wenn wir unsere Augen und Ohren vor dem verschließen, was unsere Genoss*innen uns mit ihrem Leben sagen wollen.

Die Botschaft der Revolutionär*innen ist zugleich keine der Askese und der Freudlosigkeit. Sie sagen auch: Das, was ihr im Hedonismus, in der bürgerlichen Karriere, in der Bequemlichkeit finden wollt, findet ihr dort nicht. Bedeutung und Sinnstiftung, Freude und Freundschaft findet ihr im gemeinsamen Kampf für eine bessere Welt. „Vielleicht sterben wir am Ende dieser Aktion“, sagt Ilhan Şiş, ein weiterer Hungerstreikender, der bereits in Lebensgefahr ist. „Aber was wir uns wirklich fragen müssen, ist, ob wir wirklich ein freies und gleiches Leben führen. Wir lieben dieses Leben so sehr, dass wir für es sterben würden.“ Und Heval Tekoşer schreibt in seinem Abschiedsbrief: „Trotz meines frühen Abgangs bin ich ziemlich sicher, dass mein Leben erfolgreich war und ich mit einem Lächeln auf den Lippen gegangen bin. Etwas Besseres hätte ich mir nicht wünschen können.“

Viele dieser Worte mögen uns, die wir hier politisch sozialisiert wurden, verstörend vorkommen. Und viele werden vielleicht unmittelbar mit einer Abwehrhaltung auf sie reagieren. Aber vielleicht sollte man zumindest über sie nachdenken. Das zumindest, ist der letzte Wunsch von unserem gefallenen Freund Tekoşer: „Ich liebe euch alle und hoffe, dass ihr meine Worte zu schätzen wisst. Serkeftin!“

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