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Am 20. Oktober erscheint im Münsteraner Unrast-Verlag die erste deutschsprachige Einführung in das Gesamtwerk des kurdischen Revolutionärs und Vordenkers einer Erneuerung des Sozialismus im Mittleren Osten, Abdullah Öcalan. Mit Genehmigung des Verlags veröffentlichen wir einen Auszug aus dem 5. Kapitel des Buches( „Die Erneuerung der Kaderpartei„) vorab.

Ein in der Rezeption der aktuellen Entwicklungen der kurdischen Freiheitsbewegung weitgehend ignorierter Aspekt der Theorie Öcalans ist sein Verständnis der revolutionären Partei. Die PKK verstand sich und versteht sich bis heute als revolutionäre Kaderpartei – also als Partei von Berufsrevolutionären, um ein älteres Wort zu gebrauchen.

In einer bemerkenswerten Schrift von 1998, also noch vor seiner Entführung, schreibt Öcalan ausführlich über die Gründe des Scheiterns des sozialistischen Modells. »In den realsozialistischen Ländern war es weder gelungen, eine sozialistische Persönlichkeit noch eine sozialistische Demokratie zu schaffen«, wiederholt er seine zentralen Kritikpunkte am russischen Sozialismus. Die kurdische Bewegung und die Arbeiterpartei Kurdistans seien – weil sie sich anders entwickelt habe, als die gescheiterten Sozialismusversuche – für einen Neuanlauf in Richtung Revolution von besonderer Wichtigkeit. Und unter den eigenen Leistungen hebt er gerade die Art und Weise, wie die Partei organisiert ist, hervor: »Unsere Erfolge hängen vor allem mit der Entwicklung eines neuen Partei- und Führungsmodells zusammen und nicht nur mit unserer militärischen, politischen und diplomatischen Arbeit.«

Die Einschätzung, Partei und Führung seien geradezu im Zentrum der Errungenschaften der kurdischen Bewegung, muss jedem, der sich mit der Entwicklung des Kampfes in Kurdistan empirisch auseinandersetzt, einleuchten. In der Tat wären etwa die Revolution in Rojava oder auch nur das Überleben der kurdischen Bewegung ohne ihr Modell der Kaderpartei kaum vorstellbar.

Aber es ergibt sich sofort die Frage: Von welcher Art von Partei reden wir hier eigentlich? Und wie sieht die Führungsrolle aus, die sie einnimmt? Denn auch auf diesem Gebiet hat Öcalan in den 1990er- und beginnenden 2000er-Jahren harte Selbstkritiken verfasst, die zur Leitlinie auch in der Praxis der Arbeiterpartei Kurdistans wurden. In Jenseits von Staat, Macht und Gewalt kritisiert er zunächst an »klassischen« Parteien, dass sie stets – ob »mit revolutionären Methoden oder mit Wahlen« – den Staat erobern wollen. Auch der PKK attestiert er diesen Makel und warnt, dass ein solches Vorgehen geradezu zwangsläufig Auswirkungen auf »Persönlichkeit, Organisation und Arbeitsweise« habe. ( „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ / JSMG, S436f )

Eine Partei in diesem »klassischen« Sinn aber – »als Ausdruck eines Willens, der auf einen Staat ausgerichtet ist« – laufe »dem Sozialismus zuwider, den wir als Ideal von Freiheit und Gleichheit bezeichnen können; sie widerspricht ihm.« ( JSMG, S438) Das bedeutet, dass revolutionäre Parteien »ihre Programmatik auf Politik- und Gesellschaftsformen ausrichten« müssen, bei denen »der Staat nicht im Mittelpunkt steht« ( JSMG, S441).

Kaderpartei und revolutionäre Führung

Was meint diese Neuausrichtung nun für die Art und Weise, wie eine Partei organisiert ist? Um es vorwegzunehmen: Keine Abkehr vom Kadermodell. Jede Bewegung, die geschichtsmächtig sein will, braucht einen Kaderkern: »Durch die gesamte Geschichte hindurch ist kein parteiähnlicher Zusammenschluss ohne Kader mit fester Überzeugung und Entschlossenheit ausgekommen. Viele Gruppen, die keine Kader besitzen, verschwinden unweigerlich in den Tiefen der Geschichte und geraten in Vergessenheit.« ( JSMG, S472) Oder noch kürzer: »Mit dahergelaufenen Amateuren lässt sich das avisierte Gesellschaftssystem nicht errichten.« (Gilgameschs Erben 1 / GE1, S528)

Öcalan ist nicht der Auffassung, dass sich der Aufbau demokratischer Selbstverwaltung »spontan« oder von selbst vollzieht. Ein »wahrhafter Frieden und eine wirklich demokratische Lösung sind nur mit einer politischen Kraft zu realisieren, die imstande ist, die nötige Macht, Disziplin und Führung zu entfalten.« (GE2, S125) Er zählt eine Reihe von Aufgaben dieser Kraft auf: Sie entfaltet breite gesellschaftspolitische Aktivitäten, entwickelt Bündnisstrategien, organisiert politische Bildung, aber sie schafft auch »konspirative Strukturen« und errichtet effektive militärische Stellungen. (ebd.) Diese Kraft kann ohne Kader nicht entwickelt werden, die im politischen Kampf den Mittelpunkt ihres Lebens sehen. Nun waren in den Rängen der PKK seit ihrer Gründung stets überzeugte Kader, von denen viele bis in den Tod für den Sozialismus kämpften. Und dennoch gab es, gesteht Öcalan ein, spätestens in den 1990er-Jahren Entwicklungen in Richtung »Bandenwesen« (PfM, S18), Despotismus von Kommandanten, Disziplinlosigkeit und interne Machtkämpfe.

Er bringt diese Fehlentwicklungen in eine Beziehung mit dem »alten« Revolutionsmodell der Machtübernahme im Staat. Aus Öcalans Sicht auf den Sozialismus – und seiner Kritik an Versuchen, ihn über die »Abkürzung« der Diktatur des Proletariats zu erreichen – wird deutlich, worin das systematische Problem besteht: Kader, die zum einen keine sozialistische Persönlichkeitsentwicklung durchgemacht haben, zum anderen als vorrangigstes Ziel die (militärische) Machtübernahme sehen, werden in ihrer Praxis alles diesem Zweck unterordnen und dabei Mittel anwenden, die sich letztlich als nicht nur unwirksam, sondern sogar schädlich für den Demokratisierungsprozess der Gesellschaft erweisen.

Solche Kader entwickeln ein Avantgarde-Verständnis, in dem sie sich über der Gesellschaft stehend sehen, und das sie zur Not mit Gewalt gegen die Gesellschaft durchsetzen. Demgegenüber müssen die Kader vielmehr eine dienende Rolle gegenüber den Prozessen der Demokratisierung der Gesellschaft einnehmen. Die leitende Rolle, die Kader einnehmen, muss sich dabei nicht durch das durchsetzen, was sie sagen, sondern durch eine gelebte Vorbildrolle: »Nicht das, was die PKK propagierte, sollte Sympathien hervorrufen, sondern das, was sie vorlebte.« (GE2, S100)

Dementsprechend sind Kader »diejenigen Militanten, die die Mentalität und programmatischen Grundlagen der Partei am besten verinnerlichen und begeistert versuchen, sie in die Praxis umzusetzen.« ( JSMG, S472) Die »Kaderwerdung erfordert nicht nur Begeisterung bei einem Menschen, sondern auch eine theoretische Voraussicht, eine tiefe Loyalität zum Programm und eine Leidenschaft für die Errichtung des Bauwerkes, welches die Partei ist.« (ebd., S472) Die Kader haben kein persönliches Eigentum und »keinem ihrer Mitglieder werden persönliche Vorteile oder Karriere versprochen« (GE2, S100).

Man kann sagen, die wichtigste Aufgabe des Kaders ist, sich im Aufbau der radikal-demokratischen Gesellschaft selbst überflüssig zu machen, indem die Gesellschaft Schritt für Schritt lernt, sich selbst zu leiten. (…)

Die »Schaffung freier Militanter« bezeichnet Öcalan als »das schwierigste Unterfangen und die größte Herausforderung« (GE2, S356). Der Begriff wird zunächst einmal auffallen: Was soll »frei« sein an Militanten, die rund um die Uhr an die Parteidisziplin gebunden sind? Und ist nicht überhaupt eine »Kaderpartei« das genaue Gegenteil von Freiheit? Kader sind dem Regelwerk der Partei unterworfen. Gleichwohl sind sie »freie Militante«, denn die Entscheidung, zur Erreichung des von ihnen gewählten Zweckes der Partei beizutreten, ist in jedem Fall ihre freie Entscheidung – auch wenn sie die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse einschränkt. Die Willensbestimmung erfolgt aus eigener Einsicht in die Notwendigkeit: Wenn gilt, dass der Sozialismus ohne Kaderpartei nicht zu haben und eine Person sich die Errichtung des Sozialismus zum eigenen Zweck gesetzt hat, bedeutet das Erreichen dieses Zweckes die Aufgabe anderer, untergeordneter Bedürfnisse und Interessen. Die Unterordnung unter das Kollektiv wird hier zur eigentlichen Freiheit, im Unterschied zum Getriebenwerden von den eigenen egoistischen und individualistischen Bedürfnissen.

Ist das aber nicht wiederum elitär und schließt all jene aus dem politischen Prozess aus, die zu diesem Schritt nicht bereit sind? Die Kaderpartei ist nicht das Ein und Alles der Bewegung, sondern ein – wenn auch notwendiges – Element in einem Netzwerk von Institutionen, das unterschiedlichste Weisen der Partizipation ermöglicht. Kadro als Berufsrevolutionär*in ist, wer ein bürgerliches Leben zurückgelassen hat und sich nur noch dem Kampf widmet; aber in lokalen Institutionen tätige Aktivist*innen haben dagegen Familie, gehen einem Beruf nach, andere wiederum übernehmen gelegentlich Aufgaben, bringen sich in konkreten Tätigkeitsfeldern ein . Und so weiter bis zur Sympathisant*in, die vielleicht einmal im Monat an politischer Arbeit teilnimmt. (…)

Wird eine Kaderpartei aber nicht ihrerseits wieder zu einer Kraft, die die Gesellschaft unterdrückt? Diese Gefahr besteht in jeder Revolution; die Frage ist, welche Vorkehrungen eine Bewegung dagegen trifft. Dabei sind es zwei Momente, die in den Mittelpunkt rücken. Zum einen die in der Programmatik festgelegte Abkehr von Staatlichkeit als Zweck, die Öcalan für einen der Gründe auch der Fehlentwicklungen der Kader hält. Damit rückt der Aufbau demokratisch-konföderalistischer Strukturen in der Gesellschaft in den Mittelpunkt der Arbeit der Bewegung. Und diese Strukturen sind es, die der eigentliche Zweck sind, nicht die Partei selbst. In ihr soll die Bevölkerung Entscheidungen treffen, nicht die Kader. Deren Aufgabe ist allein das Empowerment für diesen Prozess, in dessen Verlauf sie sich überflüssig machen. Man kann sagen: Die vollständig organisierte und politisch wie wirtschaftlich sich selbst verwaltende Bevölkerung ist das Ende der Kaderpartei, an dem sie ihre Aufgabe erfüllt hat.

Neben der Programmatik braucht es Mechanismen zur Einhaltung dieser Prinzipien durch die stetige Persönlichkeitsentwicklung innerhalb der Partei im Rahmen von Kritik und Selbstkritik. Da auch die Kader*innen aus der patriarchalen, kapitalistischen, staatlichen Gesellschaft kommen, bringen auch sie selbstredend Bewusstseinsformen mit, die durch den kollektiven Prozess in der Bewegung und also auch der Partei reguliert werden müssen. Disziplin gegenüber der Parteilinie ist hierbei allerdings keine Beschneidung von Freiheit – es sei denn, man versteht unter »Freiheit« so bleiben zu dürfen, wie einen die Klassengesellschaft sozialisiert hat.

Die Kaderpartei ist eine notwendige Bedingung des revolutionären Prozesses, aber keine ausreichende. Nicht die Partei macht die Revolution, sondern das Volk – die Frauen, die unterdrückten Völker, die ausgebeuteten Klassen – als revolutionäres Subjekt. »Kein Frieden und keine demokratische Lösung wären machbar ohne die dafür notwendige Unterstützung des Volkes und seiner politischen Führung.« (GE2, S125) Und dementsprechend soll die Partei auch nicht »herrschen« – sie ist kein Ausschuss zur Vorwegnahme einer künftigen Regierung. Die Aufgabe der Kaderpartei ist die Selbstermächtigung des Volkes und die Organisierung der politischen Bewegung und ihrer seiner Selbstverteidigung auf allen Ebenen.

Strategie und Taktik

Die Wirklichkeit der kapitalistischen Zivilisation, die sich in einem »ständigen Krieg nach innen und außen« befindet (ZuW, S35), ist permanent in der Krise und im Chaos. Das bedeutet zum einen immense Verwerfungen in der gesellschaftlichen Realität, Not und Leid. Zum anderen aber ist Chaos auch immer schöpferisches Chaos – denn in ihm kann sich das Neue herausbilden. Die Momente, die Öcalan »Quantenmomente« oder »Chaosintervalle« (ZuW, S126) nennt, eröffnen einen Möglichkeitsraum, in den organisierte sozialistische Kräfte eingreifen können: »Während struktureller Krisen und in Chaosintervallen können demokratische, ökologische, libertäre und egalitäre (im Sinne von Gerechtigkeit) Bewegungen mit kleinen und wirkungsvollen Eröffnungszügen in kurzer Zeit etwas aufbauen, das langfristig die Zukunft bestimmen wird.« (ZuW, S89)

Um etwas verändern zu können, braucht man allerdings ein klares Programm und muss wissen, wie es umgesetzt werden kann. Die philosophisch-politische Theorie einer Partei oder Bewegung ist zunächst »nur« die »klare Sichtweise« (GE1, S447). Ohne ein theoretisches Fundament gibt es keine Partei. Die weltanschauliche Haltung, die moralischen Prinzipien und die angestrebten Ziele werden Inhalt der Programmatik der Partei. Das Programm »destilliert« aus der Theorie deutlich erkennbare Ziele. Die Strategie ist dann die »Kunst der Entscheidung für einen der vielen Wege, die zum Ziel zu führen scheinen« (GE1, S447). Diese Kunst ist für den revolutionären Aufbau entscheidend, denn von den zahlreichen Wegen, die sich auftun, führen viele in Sackgassen. Und in manchen dieser Sackgassen wird man einfach füsiliert. Die richtige Strategie zu finden, ist also eine überlebenswichtige Aufgabe der »Organisationsleitung, die all die irreführenden Wege auszumachen vermag und, falls nötig, Ziele revidieren kann, die sich nicht realistisch erreichen lassen« (ebd.).

Organisationen, denen es an einer solchen strategischen Leitung mangelt, enden in »Tragödien« und »Misserfolgen«. Die strategische Leitung muss bestimmen können, welche gesellschaftlichen Kräfte tonangebend sind, welche Bündnisse – auch temporäre – zu schließen sind. Sie muss einschätzen, ob die Ziele »im Marsch, im Spurt oder im Marathonlauf« zu erreichen sind (GE1, S448). Wie der als strategischer Weg ausgemachte zu beschreiten ist, ist Sache der »Taktik«.

Hierein fallen Entscheidungen, die stark von der jeweils konkreten Situation abhängen: »Fragen wie nach Gewalt oder Gewaltlosigkeit, Angriff oder Verteidigung, ob wenig oder viel Kraft aufgewandt, schnell oder langsam vorgegangen wird, fallen in den Bereich der taktischen Leitung.« (GE1, S449) Während die philosophisch-politische Linie der Ort größter Prinzipientreue ist, ist der Bereich der Taktik jener der größten Flexibilität. Wer »verschiedene Organisations- und Aktionsformen nicht nach Bedarf miteinander auszuwechseln versteht und neue nicht mit angemessenem Tempo rechtzeitig entwickeln kann«, hat keine »zuverlässige taktische Führung« (ebd.). (…)

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Es gibt ein Foto, auf dem ist ein türkischer Soldat einer Spezialeinheit zu sehen. Aus seinem Mund hängt lässig eine Zigarette, sein Kopf ist an den Seiten kahlgeschoren, das verbliebene Haupthaar ist akkurat frisiert. Sein Blick zeigt ungetrübten Stolz, er streckt den rechten Arm in die Kamera, der die Trophäe zur Schau stellt. Aus dem rechten Arm baumelt ein Menschenkopf, unsauber am Hals abgesägt. Der Menschenkopf sieht stoisch nach unten. Weil der Menschenkopf irgendwann einmal zu einem kurdischen Menschen gehört hat, ist für die Soldaten klar: Hier wurde ein Terrorist gefangen.

Das Bild ist keine Fiktion. Es ist ein Screenshot aus einem Video, das irgendwann nach 2017 in Sirnak, einer Region im kurdischen Südosten der Türkei aufgenommen wurde. Und es ist das Bild, an das ich beim Lesen von Cemile Sahins neuem Roman „Alle Hunde sterben“ eigentlich auf jeder der 237 Druckseiten denken musste.

Sahins Buch ist aufgebaut wie eine Netflix-Serie, aber wie eine der guten, Black Mirror etwa. Es spielt in einem Hochhaus im Westen der Türkei, das 17 Stockwerke hat. Aber eigentlich spielt es in den Köpfen der neun Menschen, die in neun Episoden ihre Geschichten erzählen. Die neun Geschichten handeln aber alle von einer Geschichte und diese Geschichte ist ihrerseits keine Fiktion, sondern sie wird überall auf der Welt jeden Tag wieder und wieder aufgeführt: „Ich schleiche durch die Wohnung mit zwei Paar Socken, und ich verstehe: hinter der Tür kommt ein Zimmer, und hinter einem Zimmer kommt eine Wand. Und vor der Wand hängt eine Fahne, und wenn wir ihre Fahne sehen, wissen wir, in welchem Land wir sind. Wir sind in diesem Land. Und wenn uns ein Soldat hier sieht, dann packt er uns und stellt uns vor ihre Fahne.“

Wenn einer nicht vor der Fahne stehen will, weil die Fahne ihm und seinen Nachbarn, seinen Eltern, Tanten, Onkeln, Kindern, Großeltern und Freunden schon bis zum Ersticken in den Mund gestopft wurde, beginnt die Story. Es gibt dann Terroristen. Und weil diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben, es nicht dulden können, dass es Terroristen gibt, gibt es Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten, Spitzel. Deren Aufgabe ist es, alle zu fangen, die nicht Terroristen sind, sondern sein könnten. Also ziehen sie los und gehen ihrem Beruf als Helden der Nation nach. Für diesen Beruf haben sie Werkzeuge wie jeder Handwerker: Stricke, Fäuste, Gewehre, Pistolen, eine Ratte.

Mit den Werkzeugen bearbeiten sie die Gegenstände ihres Handwerkes, die Menschen, von denen sie wissen, sie sind Terroristen. Nur sind diese Gegenstände eben keine Gegenstände, sondern Menschen, also geht in ihnen etwas vor. Was aber in ihnen vorgeht, ist für die Außenstehenden oft egal: Für diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben sowieso, es sind ja Terroristen; für die Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten und Spitzel auch, es sind ja Terroristen; für die Handelspartner des Landes, in dem die Terroristen aufgehangen, zu Tode gequält, erschlagen und in den Wahnsinn getrieben werden auch, weil die Fahne verspricht lukrative Geschäfte; für die Urlauber, die in das Land fahren, in dem die Fahne hängt auch, denn sie machen ja nicht in dem 17-stöckigen Hochhaus Urlaub, sondern in einem hübschen Hotel, in dem es keine Terroristen gibt.

Cemile Sahin hat versucht, die Verheerungen einzufangen, die das Foltern, Bespitzeln, Erschießen und Erniedrigen in denjenigen auslöst, an denen es angewandt wird. Was macht es aus jemandem, wenn sein Großvater mit dünnen Seilen, mit denen man Schaden anrichten kann, an einen Baum gefesselt und abgeknallt wurde wie ein Hund? Was macht es mit Familien, die auseinandergerissen werden, und bei denen die einen nicht wissen, wo die anderen sind? Was macht es mit einem, die Gebeine der toten Mutter in einem Plastiksack herumzuschleppen? Und was kann noch aus jemandem werden, der gezwungen wurde, eine Ratte zu fressen?

„Alle Hunde sterben“ spielt in einem Land, das zu einem Knast geworden ist. Einem Land, in dem nicht nur der wirkliche Knast oder das 17-stöckige Hochhaus, in dem niemand aus freien Stücken lebt, ein Knast sind, sondern jeder Milimeter seines Territoriums. „Die Zukunft ist klein, und das Gefängnis ist groß“, sagt eine der Protagonist*innen.

Ein solches Land muss paranoid sein. „Denn jeder Anzug könnte zu einem Spitzel gehören, da jeder Anzug auf einem Spitzel sitzt. Und jeder Spitzel ist ein Mann im Anzug, der womöglich aus einem Auto gestiegen ist.“ Wo die Spitzel sind, sind die Soldaten nicht weit. Und die kommen dann nachts und treten Türen ein, aber man ist natürlich auch tagsüber nicht sicher, denn wer nachts kommt, kann auch tagsüber kommen. Die Soldaten in dem Roman sind wie eine Plage. Sie fallen ein und zerstören. Sie zerstören Häuser, Dörfer, Gräber, Menschen.

Das zu lesen, ist beklemmend. Es ist eine Qual und was anderes als eine Qual könnte es sein? Es ist eine Qual vor allem deshalb, weil man sich eben nicht daraus retten kann, indem man sich sagt: Es ist ja nur ein Roman. Weil es halt nicht nur ein Roman ist, sondern all das wirklich passiert. Der Nationalismus existiert wirklich, der Faschismus existiert wirklich, seine Soldaten existieren wirklich und die Menschen, die als Terroristen zu Freiwild erklärt werden, existieren auch wirklich.

Insofern ist Sahins Buch nicht einfach eine kunstvoll gemachte Erzählung. Es ist wirklich gute Literatur, aber nicht aus den Gründen, die im bürgerlichen Feuilleton angeführt werden, der immer so tut, als sei Literatur eine Art Rotwein, den man schwenkt, an ihm riecht, den Gaumen runterschüttet und danach sagt: Ah, das hat der Winzer aber vorzüglich gemacht, ich nehme drei Kisten. Die eigentliche Pointe des Buches liegt jenseits der Druckseiten in der Wirklichkeit. Denn das Buch stellt die unausgesprochene Frage: Was hast DU eigentlich getan, damit das aufhört?

#Titelbild: Zehra Dogan; Bildquelle: ANFenglish

Cemile Sahin / Alle Hunde Sterben / Aufbau Verlag / 239 Seiten / 20,00 €

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Vom 5. bis zum 11. September findet der „Lange Marsch“ der kurdischen Bewegung in Deutschland statt – dieses Jahr unter dem Motto „Ji Bo azadiya Rêber APO, bi hev re Serhildan“ („Für die Freiheit Abdullah Öcalans gemeinsam zum Aufstand“). Mehrere hundert Jugendliche werden zu Fuß von Hannover bis Hamburg marschieren und an verschiedenen Stationen Kundgebungen abhalten. Wir haben mit Diyar von der kurdischen Studierendenorganisation Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan (YXK) über die Ziele und Hintergründe der politischen Wanderung gesprochen.

Der jährlich durchgeführte „Lange Marsch“ ist ja seit vielen Jahren eine Institution in der kurdischen Bewegung Deutschlands. Was ist die politische Funktion dieser Veranstaltung? Welche Ziele verbindet ihr mit ihr?

Politische Ziele hat der Meşa Dirêj, der Lange Marsch, viele. Zum einen geht es um die Mobilisierung der Bevölkerung. Das sieht man auch an der diesjährigen Route wieder sehr gut. Wir starten in Hannover, von dort geht es nach Lehrte, dann nach Celle und Unterlüß, Lüneburg, Binsen, Harburg und Hamburg. Da sind einige Gebiete dabei, in denen sehr viele Kurd*innen leben, etwa eine riesige ezidische Gemeinschaft rund um Celle. Wir wollen den Menschen zeigen: Wir sind auf der Straße, ihr könnt daran teilnehmen, wir kommen auch bei euch vorbei. Der Lange Marsch ist auch immer ein Marsch der Bevölkerung aus den jeweiligen Gebieten, die auf der Route liegen. Er soll der Bevölkerung Hoffnung geben.

Zugleich geht es darum, dem Spezialkrieg gegen die kurdische Bewegung entgegenzuwirken. In Rojava wie hier besteht er zum einen in Einschüchterung und Mutlosigkeit, zum anderen aber auch darin, dass man versucht, die Kurd*innen den Ideen Öcalans zu entfremden. Man sagt ihnen: Okay, macht euer Ding, kulturell oder sonstwie, aber haltet euch von der Arbeiterpartei Kurdistans und Abdullah Öcalan fern. Da wird zum einen kriminalisiert und zum anderen werden liberale Integrationsprojekte instrumentalisiert. Damit soll Öcalan als Repräsentant und Ideengeber und die Bevölkerung auseinandergerissen werden. Der Lange Marsch ist traditionell auch gegen diese Art der Kriegführung gerichtet.

Dieses Jahr spielen aber zudem noch andere Themen eine Rolle, die sich auch in der Route widerfinden: In Celle etwa wurde Anfang des Jahres der Jugendliche Arkan Hussein Khalaf ermordet – geflohen vom Genozid des Islamischen Staats, der von der Türkei und den Imperialisten unterstützt wurde und dann ermordet von einem Faschisten in Deutschland. Das ist ein Thema: Die global erstarkenden faschistischen Kräfte, gegen die wir mobil machen wollen. Sengal, als die Heimat der Ezid*innen wird natürlich ein Thema sein – die Region, die zuerst vom IS und jetzt immer noch von der Türkei angegriffen wird.

Und dann natürlich in Unterlüß der ganze Themenkomplex Antiimperialismus und Antimilitarismus. Als Rheinmetall-Standort ist der Ort ein Symbol für deutsche Kriegstreiberei. Hier geht es darum, dem deutschen Staat die Maske herunterzureißen. Auch der kurdischen Bevölkerung wird immer eingebläut: Hier ist alles friedlich, der Krieg ist ja weit weg und hat nichts mit hier zu tun. Dabei ist Deutschland mit seinen Waffenexporten und seiner Weiterentwicklung von Technologien für kriegführende Nationen – aktuell etwa gut sichtbar an den Drohnenprogrammen der Türkei – an vielen Kriegen beteiligt. Da wollen wir da ansetzen, wo die Kampagne „Rheinmetall entwaffnen“ schon viel Arbeit gemacht hat.

Und um eine letzte Station zu nennen: In Lüneburg wollen wir gemeinsam mit den Internationalist*innen dort gegen die Kriminalisierung der Bewegung angehen – wo ja mittlerweile Antifa-Fahnen zu verbotenen Fahnen erklärt werden, nur weil sie kurdischen Symbolen ähneln. Diese Kriminalisierung ist für uns auch ein Symbol für die Verbreitung der Ideen Öcalans. Wo man sieht, es ist nicht mehr so getrennt: Hier die kurdische Bewegung, dort deutsche Solidaritätsstrukturen. Sondern das wächst zusammen und es entsteht ein neuer Internationalismus – und das macht dem deutschen Staat Angst.

Was hat das alles mit Abdullah Öcalan zu tun?

Gerade auch in diesem Entstehen eines neuen Internationalismus zeigt sich, dass die seit Jahrzehnten andauernde Isolationshaft von Öcalan nicht einfach ein Angriff auf eine unliebsame Person ist. Schon in den Umständen seiner Verhaftung – dem internationalen Komplott gegen ihn – spiegelt sich wider, dass es bei seiner Gefangennahme um ein internationales Kräfteverhältnis geht. Aber dieser Angriff ist auch einer gegen sich auf Grundlage seiner Ideen neu entwickelnde internationale Bewegungen – etwas, was vor allem seit der Revolution in Rojava immer mehr aufblüht. Insofern ist die Isolation Öcalans auch ein Angriff auf alle gegen Unterdrückung und Kolonialismus gerichteten Bewegungen.

Für deutsche Linke war die zentrale Position Öcalans für die kurdische Bewegung immer schwer zu verstehen, viele sahen darin eine Art Personenkult. Was für eine Rolle spielt Öcalan eigentlich in der kurdischen Bewegung?

Öcalan selbst betont immer, man soll in ihm nicht die einzelne Person sehen, die eine Organisation leitet. Sondern er wollte in seiner eigenen Biographie immer die kurdische Gesellschaft insgesamt analysieren. Wenn wir zurückschauen in die Zeit, als die PKK entstand, dann waren davor diejenigen Kurd*innen, die sich irgendwie für Kurdistan eingesetzt haben, aus der Mittelschicht oder aus führenden Clans und Stämmen. Öcalans Generation dagegen kam von unten. Öcalan war ein armes Dorfkind, worin sich auch nochmal die Klassenfrage widerspiegelt. Und er wirft dann die Frage auf, wie können wir uns als kurdische Gesellschaft entwickeln, aber nicht einfach dadurch, dass man da ein paar Stromleitungen verlegt, sondern indem man die Frage stellt: Wie können wir eine Gesellschaft, die immer, wenn sie versucht hat, Widerstand zu leisten, geschlagen wurde, wie können wir dieser Gesellschaft wieder ein Selbstbewusstsein geben?

Er war nie jemand, der sich über der Gesellschaft gesehen hat. Er hat in seinem eigenen Leben das Leben der ganzen Bevölkerung gesehen: Als er die eigenen Eltern und ihre Lebenssituation sah, als er zur Schule ging und die kurdische Sprache verboten war. Er ist Teil der Bevölkerung und nicht ein externer Führer. Und was die Bevölkerung in ihm sieht, ist, dass er in dem Kampf, den er führt, nie versucht hat, sich selbst zu bereichern oder nach vorne zu bringen.

Wenn man solche Fragen der Leitung und Führung analysiert, ist es wichtig, zu fragen: Wie wird geführt? Durch Befehlsgewalt oder durch eigene Erfahrung und Vorleben. Weil wenn man – wie Öcalan – sich selbst als Teil einer unterdrückten Bevölkerung sieht und in sich die Prozesse zur Befreiung anstößt, um die dann auch auf die Bevölkerung zu übertragen, dann ist das eine Führung nicht für einen selbst, sondern die der Bevölkerung Kraft geben soll.

Aktuell finden ja wieder schwere Angriffe der Türkei auf die kurdische Bewegung statt, nicht nur in Rojava, wo die Weltöffentlichkeit zumindest gelegentlich noch hinsieht, sondern auch im Grenzgebiet zwischen dem Nordirak, Südkurdistan, und der Türkei. Worum geht es bei diesem Besatzungsversuch?

Um das zu verstehen, ist es wichtig, sich die aktuelle Lage des türkischen Faschismus zu vergegenwärtigen. Seit 2015, als die Friedensgespräche mit der PKK abgebrochen wurden, befindet sich der türkische Staat in einer krassen Krise. Die Wirtschaft bricht ein, die Stabilisierung, die Erdogan versprochen hat, hat nie eingesetzt. Zugleich gibt es eine politische Legitimationskrise, was man etwa bei den Wahlen in Istanbul gesehen hat. Die Allmachtsvorstellungen des AKP-MHP-Regimes bröckeln. Und das kennt man ja aus der Geschichte des Kapitalismus und Faschismus: Dort, wo eine innere Krise nicht mehr lösbar erscheint, setzt man auf Krieg gegen die eigene Gesellschaft, aber eben auch Expansion. Erdogans neoosmanische Kolonisationspolitik soll auch innere Probleme überdecken.

Das ist das eine Moment. Aber es geht natürlich auch um einen gezielten Krieg gegen Kurd*innen, gegen eine organisierte und kämpfende Bevölkerung. Im Moment geht es dabei vor allem um die strategisch bedeutende Region Haftanin, von der aus die Türkei plant, weitere Regionen in Südkurdistan einzunehmen. Vor allem die Guerilla und die Bewegung in den Kandil-Bergen sind das Ziel dieser Operation. Sie sollen umstellt und isoliert werden.

Der Krieg ist dabei derzeit in einer heißen Phase: täglich gibt es Drohnenangriffe, täglich finden Truppenbewegungen statt und täglich findet auch eine ökologische Kriegführung statt, also ganze Wälder, wie etwa am Berg Cudi, werden in Brand gesetzt, um einerseits der Guerilla Bewegungsräume zu nehmen, zum anderen aber auch, um die Bevölkerung zu vertreiben, das Land unbewohnbar zu machen.

Aber wichtig ist auch etwas anderes zu betonen – weil man sich hier oft mit einem allzu realistischen Blick so etwas gar nicht vorstellen kann: Der Guerilla-Widerstand hält. Hier kann man sich oft gar nicht vorstellen, wie so kleine Einheiten von jeweils zwei, drei Leuten gegen Heere von tausenden Soldaten ankommen. Da sieht man einen Wandel weg von der klassischen Guerilla-Kriegführung etwa der 1990er. Wo es vorher große Einheiten, vielleicht in Bataillonsstärke gab, sehen wir heute eher viele Aktionen von sehr kleinen Einheiten, die aber insgesamt zu viel größeren Verlusten bei der türkischen Armee führen. Das schwächt auch die Moral der türkischen Armee. Viele Soldaten wollen da nicht hin, sie haben ein Haftanin-Syndrom, weil sie wissen, die Chance, nicht mehr rauszukommen, ist hoch.

Am Ende nochmal zurück nach Deutschland: Auf welche Bündnispartner*innen setzt ihr für den langen Marsch, wie wollt ihr andere Bewegungen einbinden?

Schon vor dem langen Marsch haben wir als kurdische Jugendbewegung ja die Kampagne „bi hev re serhildan“, gemeinsam zum Aufstand, ausgerufen – das war ja auch als eine Einladung an verschiedene Bewegungen gedacht, mit denen wir in den letzten Jahren zusammenarbeiteten, etwa Fridays For Future oder Migrantifa. Dabei geht es uns um die Schaffung einer gemeinsamen Front gegen die Angriffe des Faschismus weltweit. Im Rahmen dieser Kampagne haben viele gemeinsame Aktionen und Diskussionen über strategische Ziele angefangen.

Wir rufen alle diese Bewegungen dazu auf, auf dem Marsch ihre eigenen Farben zu zeigen, eigene Aktionen, Veranstaltungen einzubringen. Das ist auch jetzt schon geplant, so wird etwa das Programm in Lüneburg von feministischen Organisationen von vor Ort gestaltet werden; oder in Unterlüß eben mit „Rheinmetall entwaffnen“. Es gibt schon eine gute Grundlage und wir rufen die verschiedenen Bewegungen dazu auf, die Chance des Langen Marsches zu nutzen, um auch in der kurdischen Bevölkerung ihre eigenen Ideen stärker zu verbreiten. Denn was wir brauchen, ist ein gemeinsamer kollektiver Lernprozess.

#Titelbild: ANF

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Seit Wochen versucht die türkische Armee, begleitet von massiven Luftangriffen und Drohnenschlägen, in Bergregionen an der Grenze zwischen dem Irak und der Türkei einzudringen. Ihr Ziel: Die Schwächung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Besatzung der kurdischen Gebiete im Nordirak, die man sich in Ankara im Rahmen einer neoosmanischen Vision des Mittleren Ostens einverleiben will. Doch die Besatzungspläne scheitern an dem Widerstand der Volksverteigungskräfte HPG und der Fraueneinheiten YJA-Star und hat hohe Verluste zu beklagen. Unser Gastautor Baz Bahoz über die militärische Lage in der Region und die neue Strategie der kurdischen Guerilla.

Erfolgsmeldungen über die aktuellen Angriffe auf kurdische Gebiete rund um die Gebirgsregion Heftanîn muss man in türkischen Medien mit der Lupe suchen. Das faschistische Regime in Ankara kann nicht einmal die gewöhnlich der eigenen Anhänger*innenschaft aufgetischten Lügen fabrizieren, denn der Angriff läuft aus Sicht der Aggressoren miserabel.

Aber warum eigentlich? Wieso kann eine über modernste Waffentechniken und mittlerweile eine eigene Drohnenflotte verfügende Nation keinen kleinen Landstrich ohne Luftabwehr einnehmen? Die Antwort liegt zum Teil in der Anpassungsfähigkeit der Guerilla, die das Gebiet verteidigt.

Bereits seit Jahren spricht der Oberkommandierende der Guerillakräfte HPG Murat Karayilan, Kampfname Heval Cemal, sowie die gesamte Kommandantur der kurdischen Volksguerilla von der Entwicklung einer „neuen Guerilla“. Oft kam die Frage auf, was genau das denn bedeuten würde. Die Art des Krieges, ihn als Kleinkrieg bzw. als Guerilla-Krieg, zu führen ist im Prinzip seit Jahrhunderten bekannt und findet Anwendung in zahlreichen Befreiungsbewegungen. So stand oft die Frage im Raum, was Heval Cemal mit seiner Theorie der „neuen Guerilla“ genau meinte.

Seitdem in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni die türkische Armee die Operation „Tigerklaue“ startete, mit dem Ziel das Gebiet Heftanîn einzunehmen, können wir in der Praxis sehen, was genau damit gemeint ist. Der Angriff, der Teil des außenpolitischen Planes der türkischen Republik ist, sich auf die ehemaligen osmanischen Grenzen auszubreiten und Teil des innenpolitischen Kalküls des AKP-MHP Regimes ist, von den Krisen im Inneren des Nationalstaates abzulenken, ging nach hinten los. Schnell stellte der türkische Staat seine Propaganda-Maschinerie wieder ein, da es statt großen Geschichten der erfolgreichen Kolonialisierung nur von Toten in ihren Reihen und dem Widerstand der Guerilla zu berichten gab. Die Guerilla 2.0 hat begonnen ihre Bedeutung darzustellen.

Heftanîn ist ein Gebiet, das seit Jahrzehnten umkämpft ist und es wegen seiner strategischen Bedeutung wohl auch bleiben wird. Es ist ein Gebirge, dass das Grenzgebiet zwischen Nord-Ost-Syrien (Rojava), Nordkurdistan (Türkei) und Südkurdistan (Irak) markiert. Die Türkei, die seit Jahren an einer Invasion in Südkurdistan arbeitet, müsste zunächst Heftanîn, welches das Tor dorthin darstellt, besetzen, um sich dort bewegen zu können. Die beiden Berge Xantûr und Qesrok, die beiden höchsten Gipfel des Gebietes, stehen somit im Zentrum der Kampfhandlungen, es finden aber auch genauso intensive Angriffe auf die Gipfel Bektorya, Koordine, Şehîd Adar, Şehîd Bêrîwan, Dûpişk und Şeşdare statt.

Seit dem Beginn der Operation gelang es der türkischen Armee, auf einen Großteil dieser Berge immer wieder Soldaten abzusetzen, die sich jedoch auf fast keinem einzigen halten konnten. Vor dem Beginn der Invasion wurden an den Zugängen zur Region Heftanîn irakische Grenztruppen und mit der türkischen Armee kollaborierende KDP-Peschmerga stationiert.

Die irakische Regierung behauptet, diese Grenzwächter seien dort stationiert worden, um den türkischen Vormarsch zu stoppen. Es ist jedoch mehr als verdächtig, dass diese Truppen begannen, Straßen auszubauen, die eigenen Stellungen zu befestigen und die Wege nach Heftanîn zu kontrollieren, ohne etwas gegen die türkische Armee zu unternehmen. Vielmehr fanden gleichzeitig sehr intensive Gespräche mit dem türkischen Staat statt. Zum Beispiel kam der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu im Vorfeld des Angriffes auf Heftanîn nach Erbil und führte Gespräche mit der irakischen Regierung, der kurdischen KDP-Regionalregierung und turkmenischen Organisationen im Irak, um sich deren Unterstützung zuzusichern. Auch der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan, kam zu geheimen Treffen mit der südkurdischen Regionalregierung nach Erbil, wo es zu letzten Absprachen vor den Angriffen auf zunächst Şengal, Qendîl und Mexmûr und dann auf Heftanîn kam.

Die ganze Weltöffentlichkeit kann aktuell sehr offen sehen, welche Interessen das türkische Regime mit seiner Kriegspolitik verfolgt. Die Türkei führt Krieg in Libyen, in dem sie zum „game-changer“ wurde, sie provoziert auf dem Mittelmeer insbesondere gegen Griechenland und Frankreich, sie greift in Syrien und im Irak an und mischt sich in den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ein – um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Erdogan hat mehrfach vor Landkarten posiert, auf denen griechische Inseln oder Gebiete anderer Staaten als Teile der Türkei eingezeichnet waren. Sowohl daran, als auch an der Praxis des Regimes – etwa an der seit Anfang 2018 anhaltenden Besatzung nordsyrischer Gebiete in Afrin – wird verständlich, welche Pläne der türkische Faschismus verfolgt. Erdogan selbst formulierte das Ziel, die Grenzen von vor dem Vertrag von Lausanne von 1923 wiederzuerlangen.

Der aktuelle Angriff auf Heftanîn ist dabei de facto ein Luftkrieg, denn es wird versucht, das Gebiet mit Luftschlägen unbegehbar zu machen und dann Soldaten aus der Luft abzusetzen. Zum Beispiel wurde der Xantûr-Gipfel zu Beginn der Operation in einer einzigen Nacht 50 Mal bombardiert, mit dem Ziel, dass nichts Lebendiges mehr auf dem Berg existieren würde.

Doch war bereits dies der erste Rückschlag den die zweite größte NATO-Armee wegstecken musste, da die Guerilla bei all diesen Angriffen keine Verluste zu erleiden hatte. Oder auch der Versuch, den Şehîd-Adar-Gipfel einzunehmen wurde viermal gestartet und scheiterte jedes Mal. Zunächst war der Gipfel mehrfach bombardiert worden, dann wurden Truppen abgesetzt, die jedoch immer bereits nach kurzer Zeit unter dem Schutz von „Cobra“-Kampfhubschraubern evakuiert werden mussten.

Tonnenweise Sprengstoff werden über der Region abgeworfen, zehntausende Soldaten, Dorfschützer und Milizionäre beteiligen sich an der versuchten Invasion, „Cobra“ Hubschrauber und Bodenartillerie befinden sich im Dauereinsatz. Es ist kein Angriff, der allein auf die Vernichtung der kurdischen Befreiungsbewegung abzielt, sondern die Ausplünderung der dortigen Natur und Vernichtung jeglichen Lebens in der Region, die sich der türkische Staat auf die Fahne geschrieben hat. Nahezu jeden Tag wird von Zivilist*innen berichtet, die durch die türkische Armee ermordet wurden. Parallel dazu wird von Seiten des türkischen Staates und den Kräften der südkurdischen Autonomieverwaltung noch ein psychologischer Spezialkrieg geführt. Dieser Spezialkrieg richtet sich vor allem gegen die dort lebende Bevölkerung. Sie soll eingeschüchtert werden, aus der Region fliehen und bestenfalls der Guerilla in den Rücken fallen.

Um jedoch wirklich verstehen zu können, was gerade in der Region Heftanîn geschieht, muss man den dortigen Widerstand genauer betrachten. Dieser war bereits vorbereitet gewesen und startete unter dem Motto „Cenga Heftanîn“.

Die Guerillaeinheiten befinden sich überall in der Region verstreut und greifen kontinuierlich in Kleinstgruppen, teilweise mit nur zwei Personen, die eindringenden Soldaten an. Die neu entwickelte Art des Guerillakampfes zeigt seine Wirkungskraft, da die Kleinstgruppen, die sich nur mit sehr leichtem Gepäck bewegen, einen Weg gefunden haben, die Technik der NATO-Armee zu überlisten. Bereits Ende Juli veröffentlichte die HPG-Kommandantur eine Zwischenbilanz der bisherigen Gefechte. Demzufolge seien zwischen dem 17. Juni und dem 17. Juli 236 türkische Soldaten getötet worden, 24 Kämpfer*innen der Guerilla waren gefallen. Begleitet wird die Verteidigung Heftanîns von einer Reihe von Guerilla-Aktionen sowohl auf nordkurdischem Gebiet, also auf dem Territorium der Türkei sowie durch Stadtguerillaaktionen der „Initiative der Kinder des Feuers“ in türkischen Metropolen.

Ohne die Technik steht die türkische Armee, die aus Soldaten bestehen, die für nichts in einem fremden Land kämpfen, in dem Wissen, dass sie der eigenen Regierung nichts bedeuten, einer Volksarmee gegenüber, die entschlossen Seite an Seite mit der dort lebenden Bevölkerung kämpft und jeden Schuss als Rache für all das spürt, was ihnen der Staat in seiner jahrtausenden alten Geschichte angetan hat.

Jeder einzelne Schlag der Guerilla ist einer gegen die Unterdrückung im Bewusstsein der Menschen. Dieser Krieg wird von hochprofessionalisierten Guerilla-Kämpfer*innen geführt, die ihr Paradigma einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft verteidigen. Erdogan sagt, er sei gekommen um zu bleiben und die Bevölkerung Heftanîns antwortete ihm durch ihre Aktionen und sagte: ihr seid gekommen und für euch gibt es kein Entkommen. Es ist nicht die Bevölkerung die flieht, sondern es sind die türkischen Soldaten.

Denn wenn die Soldaten sich von den Gipfel wegen den Angriffen der Guerilla zurückziehen müssen und versuchen in die Täler zu kommen, werden sie dort von Aufständen begrüßt, die sie wissen lassen wo sie sind. Sie sind in Heftanîn, dem Ort an dem die Guerilla mit der Bevölkerung verschmolzen ist. Wenn wir von Heftanîn reden, dann sprechen wir nicht über die Bevölkerung als Opfer zwischen zwei Fronten, sondern reden von einer Bevölkerung, die uns beeindruckt, da sie eine Gesellschaft ist, die sich politisches Bewusstsein geschaffen hat und mit aller Härte gegen die eigene Unterdrückung und Ausbeutung ansteht.

#Bildquelle: ANF

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Am 30.06.1994 wurde kurdische Aktivist Halim Dener im Alter von 16 Jahren von einem deutschen Polizisten beim Plakatieren ermordet. Knapp 26 Jahre nach seinem Tod gibt die Kampagne Halim Dener ein Buch über ihn heraus. Wir veröffentlichen vorab die Einleitung zu Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen. Die Vorstellung des Buches findet am Freitag, 24.Juli 2020 um 16 Uhr auf den Halim-Dener-Platz (30451 Hannover) statt.

Der Name Halim Dener ist heute für viele kurdische Aktivist*innen, aber auch viele deutsche Linke kein unbekannter. Mit dem Schicksal des geflohenen kurdischen Jugendlichen, der in Deutschland Schutz suchte, und stattdessen am 30.06.1994 den Tod durch die Kugel aus der Waffe eines deutschen Polizisten fand, verbinden sich verschiedene politische Entwicklungslinien und Konflikte. Dazu gehört zuvorderst der Konflikt zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und einem faschistisch agierenden türkischen Staatsapparat, der in seinem Krieg gegen Kurdistan und in der Repression kurdischer Aktivist*innen seit Jahrzehnten durch die deutschen Behörden und deutsche Waffen unterstützt wird. Dazu gehört aber auch die Geschichte von Flucht nach Deutschland, in diesem Fall eines unbegleiteten Minderjährigen, der sich allein von Kurdistan bis nach Hannover durchschlug, nachdem türkisches Militär seinen Heimatort angegriffen und ihn und ihm Nahestehende gefoltert hatte. Halims Geschichte endet mit dem Schuss eines deutschen Polizisten, der ihn in den Rücken trifft und wenig später zu seinem Tod führt. Er wurde so zu einem von vielen Opfern rassistischer Polizeigewalt – einem von vielen Todesfällen, die von der deutschen Justiz nie befriedigend aufgeklärt wurden. Halim Dener wurde nur 16 Jahre alt. Er wurde nicht vergessen.

Knapp 20 Jahre nach seinem Tod, im Jahr 2013, gründete sich eine Kampagne mit dem Ziel, in der Stadt Hannover endlich eine angemessene Aufklärung und Erinnerung an den Todesfall und seine Ursachen einzufordern. Diverse Organisationen aus Hannover und darüber hinaus schlossen sich zusammen, um das Gedenken an Halim Dener in die Öffentlichkeit zu tragen. Doch es ging immer um mehr als die Trauer. Es ging auch darum, die politischen Linien und Kämpfe, die sich mit Halims Schicksal verbinden, offensiv zum Thema zu machen und den politischen Status Quo, der sich auch 20 Jahre nach Halims Tod in vielen Punkten nicht verändert hat, anzugreifen. Die Waffenlieferungen an die Türkei, der Umgang mit Geflüchteten, Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung, der PKK-Verbot, rassistische Gewalt und Behördenwillkür – noch immer deutsche Zustände.

Im Jahr 2019, nach dem 25. Jahrestag von Halim Deners Tod, ist es für uns als Kampagne Zeit innezuhalten. 5 Jahre lang haben wir informiert, debattiert, demonstriert und gekämpft. Wir haben auf verschiedenen Ebenen und verschiedenen Wegen versucht, Einfluss auf die Stadt Hannover und die Stadtöffentlichkeit zu nehmen, und sind für die Veränderung der beschriebenen Zustände mit aller Vehemenz und anhaltendem Engagement eingetreten. Längst nicht alle Ziele, die sich mit unserem Kampf verbanden, haben wir erreicht. Auch deswegen scheint es uns an der Zeit, gemeinsam nachzudenken. Diese Broschüre ist ein Ergebnis dieses gemeinsamen Prozesses. Sie dient als Selbstverständigung, weil wir Revue passieren lassen, was seit Halims Tod geschehen ist und uns vor Augen führen, in welchem Zusammenhang sein persönliches Schicksal steht. Und weil wir zurückblicken auf fünf Jahre Kampagnenarbeit, deren Erfolge und Rückschläge. Diese Broschüre entstand aber nicht nur für uns, sie richtet sich auch nach außen. Sie dient – wie auch die anderen Aktivitäten der Kampagne – dazu, Halims Geschichte weiter bekannt zu machen, in dem wir sie erstmals umfassend publizistisch aufarbeiten. Nicht zuletzt dokumentieren und reflektieren wir hier auch unseren politischen Kampf mit dem Ziel, all denjenigen, die ähnliche Gedanken und Motive haben, mahnendes Beispiel und inspirierendes Vorbild zugleich zu sein. Viele Erfahrungen müssen im politischen Aktivismus immer wieder von neuen gemacht werden, und trotzdem können wir voneinander und von unseren vergangenen Kämpfen lernen – das ist unsere Überzeugung.

Aufbau

Diese Broschüre besteht aus zwei Teilen, von denen der erste sich mit der Geschichte Halim Deners und seines Todes, sowie den Verhältnissen und Ereignissen in den 1990er Jahren beschäftigt. Die hier versammelten Beiträge befassen sich mit der historischen und aktuellen Situation in Kurdistan, die Grund für Halims Flucht im Jahr 1994 waren. Ein zweiter Beitrag beleuchtet die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, zu denen auch Halim einst gehörte. Neben den Gefahren auf der Flucht selbst geht es auch um die Rahmenbedingungen in Deutschland und deren Verschlechterung in den letzten Jahren. Über die Repression der kurdischen Bewegung in Deutschland, namentlich das erlassene PKK-Verbot, informiert ein weiterer Artikel. Die überregionalen politischen Proteste, die der Tod Halims bereits 1994 auslöste, und die ersten Initiativen für ein Gedenken und Erinnern, die lang vor der Kampagne Halim Dener entstanden, werden in einem eigenen Beitrag beleuchtet. Den Abschluss des ersten Teils bilden zwei Prozessberichte zum Gerichtsprozess gegen den Polizeibeamten, der Halim 1994 erschoss. In diesen historischen Dokumenten beschreiben Rolf Gössner, der als Anwalt der Nebenklage Halims Familie vertrat, sowie eine anonyme Beobachterin den teils absurd anmutenden Prozessverlauf und ihre Eindrücke vom Geschehen rund um das Verfahren.

Der zweite Teil der Broschüre widmet sich den Aktivitäten und Ereignissen rund um die Kampagne Halim Dener seit 2013. Der erste Beitrag präsentiert Überlegungen zu einer Erinnerungskultur rund um das Schicksal Halim Deners, wobei sowohl kritische Bestandsaufnahme als auch politische Vision Platz finden. Zur Einschätzung der Medienberichterstattung zum Fall Halim Dener findet sich als zweiter Beitrag ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Christian …, der sich in einer Abschlussarbeit mit der Erinnerungskultur zu Halim Dener beschäftigte. Es folgt ein Interview mit einem Aktivsten der Kampagne Halim Dener, in dem die Erfahrungen in der Zusammenarbeit zwischen kurdischer Freiheitsbewegung und deutscher Linker geht, die während der Arbeit in der Kampagne gesammelt wurden. Diese Zusammenarbeit wurde von den deutschen Behörden offenbar äußerst skeptisch beäugt, in einem eigenen Beitrag informieren wir über die diversen Repressionsversuche gegen die Kampagne (und ihr Scheitern). Einen eigenen Beitrag widmen wir ebenfalls einer der einflussreichsten – wenn auch letztlich bisher erfolglosen – politischen Initiativen der Kampagne, dem Kampf um die Benennung eines Platzes in Hannover nach Halim Dener. Den Abschluss dieses Bandes bildet ein Text über die Entstehung und Aktivitäten der Kampagne von 2014 bis 2019, den wir mit einer vorläufigen Bilanz und einem Ausblick beenden.

Dank

Unser Dank gilt allen Gruppen und Aktivst*innen, die Teil der Kampagne Halim Dener waren oder diese in den letzten Jahren unterstützt haben.

Für die Mitarbeit und Unterstützung dieser Broschüre möchten wir uns insbesondere bedanken bei der Roten Hilfe für die umfassende finanzielle und logistische Hilfe, bei Jochen Steiding für ein hervorragendes Layout, sowie bei Rolf Gössner, dem Flüchtlingsrat Niedersachsen, Christian Hinrichs und Wolfgang Struwe für die hier veröffentlichten Textbeiträge.

# Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen | Verlag gegen den Strom, München | 226 Seiten | 10 €

# Titelbild: Kampagne Halim Dener

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In der deutschen Linken über Israel und Palästina zu sprechen, war stets schwierig. Wer sich positiniert, muss mit Angriffen rechnen, bei denen es lange nicht mehr um sachliche Auseinandersetzung geht. Diese Erfahrung macht auch die linke israelische Diaspora in Deutschland. Peter Schaber hat mit Yossi Bartal ausführlich über die ganze Palette umstrittener Themen diskutiert, Teil I erschien gestern.

Yossi Bartal lebt in Berlin und ist in queeren und antirassistischen Zusammenhängen aktiv.

Du hast davon gesprochen, dass seit den jüngsten Annexionsbestrebungen der Begriff „Apartheid“ in Israel gängig geworden ist und du ihn selbst verwendest. Kannst du dennoch verstehen, dass es deutschen Linken schwerfällt, das Wort Apartheid in den Mund zu nehmen, wenn es um Israel geht?

Ich glaube da ist erst einmal eine sehr große Unwissenheit, was Apartheid tatsächlich bedeutet. Ich finde den Begriff darüber hinaus gut, weil es auch Hoffnung impliziert. Nicht dass Südafrika heute so traumhaft ist. Aber „Apartheid“ schließt eine gemeinsame Lösung ein. Antikolonialismus hat eher die Konnotation: Wir müssen die Kolonialisten rauswerfen. Und das finde ich schwierig.

Wenn wir die Probleme benennen, dann wollen wir auch die Lösungen benennen. Und das ist am Begriff der „Apartheid“ stark – auch wenn das im deutschen Diskurs schwierig zu verstehen ist. Aber er ist eigentlich der Begriff, der darauf abzielt zu sagen: Wir wollen eine gemeinsame, demokratische Lösung mit gleichen Rechten.

Außerdem ist es derzeit so: Die Orthodoxen werden orthodox bleiben, Israelis werden in ihrer Mehrheit Zionist*innen bleiben. Die Linke ist nicht auf dem aufsteigenden Ast, es ist genau andersrum als in den USA: In Israel gilt, je jünger man ist, desto rechter. Es wird also auf absehbare Zeit keine ideale Lösung geben. Es müssen also Bedingungen geschaffen werden, in denen von Islamist*innen bis religiösen israelischen Nationalist*innen alle irgendwie koexistieren können – nicht, weil sie sich lieben, sondern weil es notwendig ist. Das ist in diesem Sinne auch gar nicht revolutionär.

Eher aus der Situation der völligen Defensive linker Ideen geboren …

Ja genau. Wenn du als Linker in Israel Politik machst, ist aber auch deine normale Praxis so. Man nimmt eine Scharnierfunktion wahr. Man geht auf äthiopische Demonstrationen gegen Polizeigewalt und zeigt Solidarität mit ihrem Kampf. Und dann versucht man, das mit den Araber*innen zusammenzuführen, die gegen das gleiche kämpfen. Und dann versucht man, einander nicht zu provozieren, indem man von den eigenen Inhalten Abstriche macht. Es geht um das Zusammenführen von Gemeinden, die alle in sich halbwegs organisiert sind – und alle sehr unterschiedlich. Als Linke*r will man ja eigentlich alle Menschen einer Gesellschaft davon überzeugen, Kommunist*innen oder Anarchist*innen zu werden, aber hier geht es eher darum, verschiedene Communities miteinander so zu verbinden, dass sie sich gegenseitig respektieren und im besten Fall unterstützen können.

Im Grunde ist ja auch das sehr ähnlich mit der Situation in Kurdistan. Auch da ging es ja darum, verschiedene, zum Teil Jahrhunderte verfeindete Gemeinschaften zusammenleben zu lassen, einen demokratischen Rahmen dafür zu schaffen und ihnen ihre Selbstbestimmung zu garantieren.

Ich glaube auch, dass Israelis und Palästinenser*innen viel von der kurdischen Erfahrung lernen können. Interessant finde ich auch, was die kurdische Bewegung in jenen Gebieten gemacht hat, die gar nicht zu Kurdistan gehören, den arabischen Gebieten: Wie sie zum Beispiel da mit den familiären Strukturen zusammengearbeitet haben. Sie haben ja nicht versucht, ihnen Marxismus beizubringen.

Naja, es gibt natürlich ideologische Debatten und Versuche, die Mentalität zu ändern …

Ja, aber zunächst geht man zum Familienvertreter und macht einen Deal. Man sagt: Ihr dürft das und das, wir stören euch nicht, ihr stört uns nicht, und dann sollte es Frieden geben. Das funktioniert auch nicht wunderbar.

Ein Modell für extrem verhärtete Fronten. Es sind ja Stämme, die einander zum Teil seit Jahrtausenden befehden – und man hat sie dennoch unter ein Dach gebracht. Und Öcalan sagt ja explizit, das Modell des Demokratischen Konföderalismus wäre wie gemacht für Israel und Palästina. Und viele Einwände der bedingungslosen Israel-Fans ziehen hier einfach nicht: Etwa der, dass ohne Staat, Jüdinnen und Juden keine Selbstverteidigungsmöglichkeit hätten. Das ist ja bei jeder Gemeinschaft im Rahmen des Demokratischen Konföderalismus gegeben – sie alle haben ihre eigenen Verteidigungsformationen. Vielleicht nicht grade als Atommacht, aber immerhin.

Das Problem ist, dass das nationalstaatliche Denken tief verankert ist. In Israel ist es weit verbreitet und warum sollen die Leute umdenken? Den Israelis geht es ja nicht so schlecht. Für jüdische Israelis, vor allem aus den mittleren und oberen Schichten funktioniert dieser Staat ganz gut.

Aber soziale Proteste gab es ja dennoch in den letzten Jahren immer wieder.

Aber ehrlich gesagt, wenn es Frieden gäbe, gäbe es dann keinen Kapitalismus? Die Kosten des Militärs und der Besatzung schaden zum Teil, ja, aber sie sind für die Mittelklasse auch ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Der Hightech-Sektor, der da dran hängt, ist profitabel. Die Besatzung nur als Last zu sehen, was einige Linke in Israel sagen, ist etwas schief. Es gab seit den 80er-Jahren die Parole „Geld für die armen Nachbarschaften, nicht für die Siedlungen“ – aber die Menschen aus den armen Nachbarschaften sind nicht selten in Siedlungen eingezogen. Die Misrachi in Jerusalem haben eine größere Wohnung, weil sie in den besetzten Gebieten wohnen. Die Kriegssituation ist auch nützlich, um die Gesellschaft und die sozialen Probleme immer unter Kontrolle zu halten.

Und der Krieg hilft, um ein Volk zu kreieren. Es kommen ja Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt – und man muss eine gemeinsame Identität stiften. Da gibt es auch viele Kulturkämpfe, viel Rassismus und so eine Konfliktsituation ist da sehr nützlich.

Wenn es da kein Interesse an Änderung gibt, was sollte man dann dort als ein Linker tun?

Ich meine, ich kann es ja auch persönlich sagen. Das ist einer der Gründe, warum ich weggegangen bin und warum viele weggehen, die die Situation realistisch betrachten. Man sieht da keine Alternative mehr. Das einzige, was als möglicher positiver Faktor in Erwägung gezogen wird, ist dass der internationale Druck wachsen würde. Und diese BDS-Idee hat sich dann internationalisiert. Da war die Idee: Die liberale Welt wird sich gegen diese Apartheid vereinigen. Aber umgekehrt hat sich auch Israel international Bündnispartner dagegen gesucht. Israel ist ein Bezugspunkt für viele Staaten, die Autoritarismus und antimuslimischen Rassismus vereinen, man nehme Indien oder Brasilien.

Überhaupt für einen großen Teil der Neuen Rechten.

Das ist ein wichtiger Punkt. Jüdinnen und Juden waren gezwungen, sehr lange mit Antisemitismus zu leben. Und die jüdischen politischen Formationen sind nicht nur im Kampf gegen Antisemitismus, sondern auch im Zusammenleben mit Antisemitismus zustande gekommen. Der Zionismus hat von Anfang an gesagt, die Antisemiten können uns nützlich sein. Auf eine Art und Weise ist diese Idee, Juden brauchen einen Nationalstaat auch ein Reflex des Antisemitismus: Jüd*innen müssen „verbessert“ werden, sie sind ja „entwurzelt“, „Luftmenschen“. Wer den Zionismus kennt, kennt diese Einflüsse. Bei den Antisemit*innen war es die These: Jüd*innen sind verkommen und deshalb müssen sie weg. Bei den Zionist*innen die These: Sie sind verkommen und wir müssen sie durch einen Nationalstaat reformieren. Und ähnlich in Teilen der sozialistischen Bewegung: Der städtische Jude wurde auch von vielen jüdischen Bewegungen als eine regressive mittelalterliche Figur, irgendwie als parasitisch angesehen.

Für den Zionismus war es also auch lange Zeit notwendig, irgendwie mit dem Antisemitismus zurecht zu kommen. Balfour – der Namensgeber der Balfour-Deklaration, nach dem überall in Israel Straßen benannt sind – zum Beispiel war ein großer Antisemit. Der Mann hat jüdische Migration nach Großbritannien unterbunden, denn er wollte ja nicht mehr Jüd*innen haben. Aber er wollte Jüd*innen nach Palästina schicken. Ich will dieses Zusammenspiel von Antisemitismus und Zionismus nicht verteufeln, also nicht sagen: Der Zionismus hätte den Antisemitismus bewusst befeuert. Es waren primär praktische Überlegungen. Aber sachlich gibt es diesen Zusammenhang zwischen beiden.

Als eine Überlebensstrategie …

Genau. Aber als eine Überlebensstrategie, die ich falsch finde. Und aktuell ist das auch ein strittiger Punkt. Der israelische Präsident Reuven Rivlin ist da sehr klar und sagt: Ich arbeite nicht mit Faschisten. Aber die Netanjahu-Regierung macht das systematisch: Orban und Bolsonaro etwa sind enge Partner. Das spiegelt sich auch in den Antisemitismus-Debatten. Auf den Staat Israel bezogener Antisemitismus nimmt eine zentrale Rolle ein, etwa christlich-fundamentalistischer nicht. In der Antisemitismus-Definition ist keine Rede vom Beschneidungsverbot oder dem Verbot des Schächtens. Also Regeln, die jüdisches Leben fast unmöglich machen, gehören nicht zur offiziellen Definition von Antisemitismus.

Oder nehmen wir Trump. Um Trump herum gibt es sehr viele rechtskonservative Jüdinnen und Juden. Und gleichzeitig verbreitet Trump klar Antisemitismus. Und das sehe ja nicht nur ich so, sondern das sieht auch der Mainstream der jüdischen Gemeinde so. Mit der Trump-Regierung kam es zu einem dokumentierbaren, großen Anstieg antisemitischer Straftaten in den USA – der größte Teil durch weiße Nationalisten.

Er landete aber nicht auf der Top-Ten-Antisemiten-Liste des Simon-Wiesenthal-Center …

Nein, natürlich nicht. Und das hat auch etwas mit dieser neuen IHRA-Definition von Antisemitismus zurück. Die wurde damals übrigens sehr stark durch das Simon-Wiesenthal-Center gepushed, also durch die, die jetzt in den USA für die Illegalisierung der Antifa eintreten. Peter Ulrich hat für die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Kritik an der IHRA-Definition geschrieben. Das ist eine sehr gemäßigte Kritik, aber sie weist nach, dass diese Definition einfach ungeeignet ist. Und dass sie strukturell vor allem gegen linke und migrantische Politik eingesetzt werden kann.

Was ich in Deutschland erstaunlich finde ist, dass die Debatte so wenig lebendig ist. Es gibt eine sehr starke Beamtenmentalität: Wir haben jetzt eine staatliche Definition und dann haken wir ab, ob die drei „D“ erfüllt sind und so erkennen wir Antisemitismus. Wobei selbst in der staatlich unterstützten IHRA-Definition klar ist, dass man Kontext berücksichtigen muss. Und wenn Palästinenser*innen Israel hassen, ist der Kontext ja nicht so schwer herauszufinden. Wenn deine Familie bombardiert wird, wahrscheinlich hasst du dann Israel. Das hat nicht notwendig damit zu tun, dass du Antisemit*in bist. Aber soetwas wird komplett ausgeblendet in der Breite des Diskurses.

Wobei mich ja weniger wundert, dass der Staat seine Staatsräson in Bezug auf Israel dann in solchen Definitionen ausdrückt. Was mich wundert, ist, dass das dann auch in großen Teilen der Linken – natürlich allen voran die sogenannten „Antideutschen“, aber auch darüber hinaus – als verbindliche und gar nicht mehr zu diskutierende Grundlage gilt.

Ganz erklären kann ich mir das auch nicht, aber ein Teil der Erklärung dürfte sein, dass wir in Deutschland nicht so viele Jüd*innen in der Linken haben. In den USA, wo jüdische Menschen einen größeren Teil der Linken und radikalen Linken darstellen, gibt es tatsächlich eine eigenständige Beschäftigung mit Antisemitismus und Judentum. Wir beobachten da eine große Renaissance von linken jüdischen Ideen und einer wirklichen Antisemitismuskritik von links. Das ist total interessant.

In Deutschland sind die meisten Antisemitismusexpert*innen nicht-jüdische Deutsche. Und oft gibt es in der linken Szene gar keine Jüdinnen und Juden, mit denen man sprechen kann. Das sehen wir übrigens auch, wenn wir Berlin – wo es doch eine Community gibt -, mit anderen Städten etwa im Osten vergleichen. Da laufen Diskussionen auch schon anders.

Anders ist das nochmal, wenn wir uns die offizielle Position der Jüdischen Gemeinde ansehen. Die Mehrheit der Jüd*innen in Deutschland hat einen tiefen Bezug zu Israel. Heute sind ja kaum mehr religiöse Jüd*innen hier. Sie sind wirklich eine Minderheit. Ich kenne hier selbst Rabbiner, die nicht mal an Gott glauben. Aber den Platz, den Gott hatte, hat der Staat Israel eingenommen. Er ist das, woran man glaubt. Es gab in den letzten 50 Jahren so eine Zionisierung – das, was wirklich identitätsstiftend wurde, ist der Bezug auf den Staat Israel. Und natürlich sehen diese Jüd*innen, die so denken, Angriffe auf diesen Staat – zurecht oder zu Unrecht – als Angriffe auf sie. Dadurch ist die jüdische Gemeinde tatsächlich in die Position gekommen, Israel zu verteidigen – was ich für einen sehr gefährlichen Prozess halte. Auf der anderen Seite gibt es ja keine Alternative zur Beschäftigung mit Israel, also auch nicht für uns als kritische Jüdinnen und Juden. Auch mein kritisches Verhältnis zu Israel ist Teil meiner jüdischen Identität.

Was schlägst du dann vor, um diese Debatte voranzubringen?

Um die staatliche Definition von Antisemitismus zu widerlegen, müsste man eigene Definitionen auf den Tisch legen. Und da bin ich dafür, Antisemitismus als eine Form von Rassismus zu begreifen – aber dann muss man, wie bei anderen Formen auch, herausstellen, was das Spezifische an ihm ist. Das ist ja an der deutschen Debatte sehr besonders, dass Antisemitismus als das „ganz Andere“, das mit Rassismus gar nicht zu Vergleichende dargestellt wird. Da spielt zugleich auch ein sehr reduzierter und verharmlosender Begriff von Rassismus eine Rolle. Da wird immer so getan als sei Rassismus das ganz Einfache, über das man nicht nachdenken muss, und Antisemitismus ganz kompliziert. Das führt auch dazu, dass man strukturelle Ähnlichkeiten zur Islamophobie gar nicht mehr diskutieren will – obwohl sie so offensichtlich sind.

Und klar, das ist auch für uns Linke immer eine Gratwanderung. Wenn wir über Israel sprechen, müssen wir über Antisemitismus sprechen, genauso wie, wenn wir den politischen Islam kritisieren, wir Islamophobie im Blick haben müssen. Aber um da zu recht zu kommen, muss man Debatten führen. Und obwohl ich kein Anhänger dieser Theorie der Sprecher*innenposition bin, müssen wir auch das bedenken. Weil bestimmte Dinge klingen eben unterschiedlich. Ich spreche auch nicht über den Islam wie meine muslimisch sozialisierten Freund*innen. Das hat vielleicht nichts mit dem Wahrheitsgehalt einer Aussage zu tun, aber auf jeden Fall mit so etwas wie Common Sense und Höflichkeit.

Ich knüpfe da mal kurz an. Wir haben in der Redaktion keinen allgemeinen Konsens zur BDS-Kampagne, aber persönlich würde ich sagen: ich teile die Auffassung nicht, dass sie antisemitisch ist und ich würde mich ungefähr der Position anschließen, die von den 240 israelischen und jüdischen Intellektuellen zum Anti-BDS-Beschluss der Bundesregierung formuliert wurde. Nur: Ich habe trotzdem nie BDS unterstützt. Und ich bin mir bis heute nicht sicher, ob das eher Zurückhaltung aus einem deutschen Kontext ist oder einfach Feigheit, weil man sich den erwartbaren Angriffen nicht aussetzen will.

Ja, ich finde, das ist tatsächlich ein bisschen Feigheit. Ich meine, dieses „das dürfen wir nicht als Deutsche“, da sollte man eher damit anfangen, zu sagen, als Deutsche dürften wir kein Militär oder keinen Stacheldraht und so weiter haben. Eine zivile Boykottkampagne gegen Firmen, das geht nicht „als Deutsche“, aber ein deutsches Militär, eine deutsche Polizei, die deutsche Schäferhunde auf Migrant*innen hetzt, da sagt keiner, „das dürfen wir nicht als Deutsche“.

Gut, aber das sind ja dann verschiedene Personenkreise, weil Linke sind ja im Normalfall nicht fürs Militär und die Schäferhunde.

Ja, aber die Diskussion wird ja nicht nur von Linken betrieben, sondern eben auch von denen, die nichts gegen deutschen Krieg und deutsche Schäferhunde haben.

Schau mal, ich habe auch viel Kritik an BDS. Es ist ein liberales Konzept. Und eigentlich ein Zeichen der Ohnmacht. Weil der Widerstand im Inland so schwach ist, bezieht man sich auf den guten Willen der Konsument*innen im Ausland. Ich meine, Firmen zu schaden, die in Menschenrechtsverletzungen investieren – da kann ich nichts Schlechtes finden und das ist auch nicht besonders neu: Boykott war immer ein Mittel linker Politik. Und auch diese Differenzierung, die da wichtig ist, Institutionen und nicht irgendwelche Privatpersonen zum Ziel zu nehmen, macht BDS ja, wenn auch nicht jeder beliebige BDS-Aktivist in der Welt das wahrhaben will

Also ich würde sagen, dass die fehlende Unterstützung von deutschen Linken da nichts mit der Sprecher*innenposition als Deutsche zu tun hat. Ich denke eher, dass es damit zu tun hat, dass man so klein und so geschlagen in Deutschland ist, dass man dauernd fürchtet, wenn man BDS unterstützt, dann wird man als Antisemit*in abgestempelt und dann kann man selbst in den kleinen Zirkeln, die es gibt, nicht mehr agieren oder sprechen.

Wir machen oft die Erfahrung, dass selbst die Diskussion darüber, ob BDS antisemitisch sei oder nicht schon als antisemitisch abgestempelt wird.

Das finde ich auch perfide und schädlich. Die eigentlich interessanten Fragen wären dabei ja gar nicht spezifisch für Israel, weil auch in Türkei-Boykottkampagnen muss man sich ja fragen: Wie mach ich das, ohne dass es gegen Türk*innen als Türk*innen geht, genauso wie man sich eben bei BDS fragen muss, wie macht man das, ohne dass es gegen Israelis als Israelis oder sogar als Jüd*innen geht. Und die BDS-Leute hier machen das auch. Die gehen ja nicht vor einen x-beliebigen jüdischen Einkaufsladen hier, der koschere Waren aus Israel verkauft. Die machen Kampagnen gegen Adidas oder deutsche Firmen. Israelische Künstler*innen oder Akademiker*innen werden ja auch nicht als solche boykottiert.

Aber das ganze geht ja auch über BDS hinaus. Immer wenn wir über Palästinasolidarität in Deutschland sprechen, passiert das unter der Überschrift: „Ist das Antisemitismus?“ nicht unter dem Stichwort Menschenrechte oder Friedensaktivismus. Und das zielt darauf ab, Diskussionen gleich ganz zu unterbinden. Und Teil dieses Versuchs sind eben auch bestimmte Antisemitismusdefinitionen.

Welche Änderungen erwartest du denn im Diskurs?

Das wird sich in naher Zukunft nicht großartig ändern. Israel ist ein militärisch starker Staat, der weiter bestehen wird. Die Besatzung, Apartheid, Kolonialsituation, wie immer man das nennen wird, wird auch weiter bestehen. Dagegen wird es weiter Widerstand geben. Und Unterdrückte hassen ihren Unterdrücker, genauso hassen umgekehrt Unterdrücker die von ihnen Unterdrückten, also wird die Debatte auch weiterhin feindselig sein. Gleichzeitig wird es auch in Deutschland so sein, dass die jüdische Gemeinde weiterhin Israel als ihren wichtigsten Bezugspunkt sieht und ein großer Teil der deutschen Gesellschaft den Bezug zu Israel als schützenswert als Teil ihrer Identität.

Und die Debatte in der Linken wird auch so weitergehen. Die Linke wird weiter an einer Zwei-Staaten-Lösung festhalten. Aber die ist tot. Wer heute noch auf der Position einer Zwei-Staaten-Lösung verharrt, drückt sich vor der Debatte, weil einfach jeder weiß, das ist keine Option mehr.

Aber zugleich will man nicht über das „Existenzrecht Israels“ debattieren, weil man unterstellt, dabei ginge es immer darum, dass die Jüd*innen das Land verlassen sollen. Diese Position gibt es sicherlich. Es gibt sicher Palästinenser*innen, die gerne keine Jüd*innen mehr im Land sehen würden, so wie es Jüd*innen gibt, die gerne keine Palästinenser*innen mehr im Land sehen wollen. Aber wogegen mit diesem sinnentleerten Begriff „Existenzrecht“ gekämpft wird, sind Linke wie ich zum Beispiel die eine Debatte führen, um eine Änderung des Staates zu einem demokratischen Staat für alle, die dort leben. Man muss die Leute, die ständig das Existenzrecht beschwören, fragen, was sie eigentlich meinen: Das Recht, dass alles so bleibt, wie es ist – also inklusive Apartheid, Besatzung, wie man diese Situation auch nennt? Oder nicht. Weil als Linke ist es natürlich ein sehr wichtiger Punkt darauf zu beharren, zu sagen: Jüdische Israelis haben ein Selbstbestimmungsrecht in Palästina. Das ist ein wichtiger Punkt und das haben sowohl viele Palästinenser*innen wie auch Linke in den 60er- und 70er-Jahren nicht klar gesagt. Darauf kann man bestehen. Aber das ist etwas anderes als das, was als „Existenzrecht des Staates Israel“ verhandelt wird.

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Trotz aller Kritik und Proteste der von den Auswirkungen betroffenen Gemeinden entlang des Tigris geht die Befüllung des umstrittenen Ilisu-Staudamms – ein Großprojekt der türkischen Regierung – weiter. Seit Neujahr hat der Stausee die 12.000 Jahre alte Stadt Hasankeyf (kurdisch: Heskîf) erreicht, die zu den großartigsten Kultur- und Naturschätzen unseres Planeten gehört.

Seit Juli 2019 sind mindestens 50 Dörfer durch den Ilisu-Stausee überflutet worden. Die Bewohner des Tigris-Tals sind nicht darauf vorbereitet und werden aus ihrer Heimat vertrieben. Eines der überfluteten Dörfer in Hasankeyf ist das Dorf Ewtê.

Der Dokumentarfilm „Siya Avê“ erzählt die Geschichte zweier Frauen, die in Ewtê aufwachsen sind. Die Dreharbeiten für den Dokumentarfilm, der von der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) produziert und vom Journalisten Metin Yoksu geleitet wurde, begannen im August 2019 und dauerten etwa 3 Monate. Der Trailer wurde im Januar veröffentlicht. Auf die Frage, welche Sprache der Doku sein wird, antwortet der Regisseur Metin Yoksu: “In einer Geschichte, die in Kurdistan spielt, kann die Sprache keine andere als kurdisch sein.“ Untertitel wird es auf Türkisch, Englisch und Deutsch geben.

Dilan Karacadag hat mit dem Journalisten und Regisseur Metin Yoksu über die den Dokumentarfilm gesprochen.

Wie ist der Dokumentarfilm „Siya Avê“ entstanden? Was hat dich dazu motiviert, das Thema aufzugreifen?

Seit fast zwei Jahren berichten wir als Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) über den Fall in Hasankeyf. Seit August 2019 werden die Menschen aus Hasankeyf herausgeholt. Mehr als 50 Dörfer sind durch den Stausee überflutet worden – nach unseren Schätzungen, da die türkische Regierungen keine offiziellen Angaben veröffentlicht.

Das Dorf Ewtê, in der meine Mutter aufgewachsen ist, gehört zu den vom Ilisu-Staudamm überfluteten Dörfern in Hasankeyf. Als meine Mutter Firyaz Yoksu das erfahren hat, hat sie aus Trauer ein kurdisches Klagelied (kurdisch: şîn) gesungen. Später erfuhr ich, dass eine andere Frau namens Habibe Saçık, die ebenso ihre Kindheit im selben Dorf verbracht hat, auch ein Klagelied gesungen hat. So begann die Idee diesen sowohl traurigen als auch interessanten Zufall zu thematisieren. Meine Mutter sagte mir, dass sie ihr vor dem Überfluten ihr Dorf zum letzten Mal sehen wollte; so begannen die Dreharbeiten für „Siya Avê“.

Ich hatte nicht die Absicht, einen Dokumentarfilm zu drehen. Wenn es so wäre, hätte ich viel früher mit den Dreharbeiten anfangen. Nach dem Klagelied habe ich mich aber zum Drehen gezwungen gefühlt. Mit diesem Dokumentarfilm will ich mich dem Kampf, Hasankeyf zu retten, anschließen. Auch das war meine Motivation.

Als Journalist berichtest du auch immer wieder über Hasankeyf. Ist Hasankeyf denn überhaupt noch zu retten?

Trotz der Zerstörung im Tigris-Tal können wir die Katastrophe noch stoppen. Auch jetzt noch bedeutet die Aufgabe des Ilisu-Projekts einen Gewinn für uns und die kommenden Generationen. Es muss dazu aufgefordert werden, die Flutung des Ilisu-Staudamms zu beenden. Die Situation ist sehr dringend, wir haben keine Zeit zu verlieren.

Eines muss gut verstanden werden; auch wenn der Stausee die historische Stadt Hasankeyf erreicht hat, ist es immer noch nicht zu spät, den Kampf gegen die Zerstörung zu führen. Deswegen sollten wir auf keinen Fall aufgeben; wir müssen mit Entschlossenheit den Kampf um den freien Fluss Tigris, kurdisch: Dicle, und Botan fortführen.

Welche Schwierigkeiten hattet ihr beim Dreh der Doku?

Das größte Problem war natürlich die technische Ausstattung. Wir haben mit Kameras, Mikrofonen und Stativen aufgenommen, die wir täglich für unsere journalistische Arbeit gebrauchen. Manchmal mussten wir Drohnenaufnahmen durchführen, da an manchen Orten der Zugang gesperrt oder es nicht möglich war, Aufnahmen zu machen. Doch viel schwieriger war die emotionale Situation; Hasankeyf ist einer der schönsten Orte in Kurdistan. Daher war es schwierig, über die Zerstörung einer 12.000 Jahre alten Geschichte zu drehen. Man muss sich das so vorstellen; wenn wir von Hasankeyf ins Tigris-Tal und von dort aus zum Botan-Tal schauen, sprechen wir von einer Fläche von fast einem Drittel Nordkurdistans.

Metin Yoksu wurde 1987 im Dorf Bêlek im Stadtteil Kurtalan in Siirt geboren. Zuletzt arbeitete er in der Nachrichtenagentur Mezopotamya als Korrespondent in Istanbul, Batman und Siirt.

Was hat dich während den Dreharbeiten am meisten beeindruckt?

Seit zwei Jahren erlebe ich viel mit und habe mir unzählige Geschichten angehört. Die Gräber meiner Vorfahren wurden vor meinen Augen geöffnet. Die Werte meines Volkes wurde vor meinen Augen geplündert. Ich musste zusehen, wie die schönsten Flüsse Kurdistans zerstört wurden. Die wunderschönen Bäume Kurdistans wurden vor meinen Augen durch die Überflutung unter Wasser gesettzt. Manchmal kamen mir die Tränen hoch.

Auf was hast du bei den Dreharbeiten geachtet?

Hauptsächlich achte ich darauf, nur das aufzuzeichnen, was ich sehen, ohne etwas vorher zu planen. Drauf los zu drehen und ohne am Natürlichen etwas zu ändern. Leider muss ich hier einige Filmemacher kritisieren, die versuchen, ihre eigene Vorstellung von der Sache zu drehen. Das Zerstörte sollte man nicht als Projekt ansehen. Denn das wäre eine gefährliche Haltung.

Kannst du das detaillierter erklären?

Die meisten „Dokumentarfilmer“ sind vor kurzem hierher gekommen, um ein Projekt aus Hasankeyf zu produzieren. Sie betrachten es als Projekt. Noch gefährlicher ist, dass einige wie ein hungriger Wolf darauf warten, dass die Stadt durch die Überflutung untertaucht, damit sie ein „großes Projekt“ erstellen können. Ich könnte sagen, dass sie sich fast freuen würden, denn denen geht es nicht um Werte, die vernichtet werden und für die man kämpfen sollte. Geschichte und Natur Hasankeyfs brauchen einen Kampf, kein Projekt.

Wer hat außer Ihnen an der Produktion mitgewirkt?

Der Dokumentarfilm ist Ergebnis einer kollektiven Arbeit. Hinter der Kamera stand Akif Özalp, Fiktion und Montage gehört Erhan Karahan, der Berater des Doku-Films ist Ali Ergül. Abgesehen von ihnen gibt es natürlich noch mehrere, die mich unterstützt und geholfen haben.

Wann ist die erste Vorführung? Und wird der Film auch in Europa gezeigt?

Die erste Vorführung findet am 16. Februar um 19:00 Uhr im Ahmet Güneştekin Kulturzentrum der Gemeinde Batman statt. Wir ziehen natürlich die europäischen Filmvorführungen in Betracht. Aber eigentlich ist es unsere Priorität, ihn in kurdischen Städten zu zeigen. Wir wollen Vorführungen von Rojava bis Hewler organisieren. Da der Damm auch Kurden in Südkurdistan betrifft, würden wir uns auf eine Einladung aus Südkurdistan besonders freuen.

Die Vorführungen sowohl in Europa als auch auf der ganzen Welt sind uns aber auch wichtig, da wir diese Grausamkeit der ganzen Welt zeigen wollen. Wir möchten die Stimme Hasankeyfs werden, damit wir es noch retten können.

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Ein Diskussionsbeitrag von kollektiv aus Bremen

Seit einigen Monaten flammt weltweit eine neue Welle von Massenprotesten auf: Ob im Sudan, Haiti, in Ecuador, Chile, Kolumbien, Guinea, dem Irak, Libanon, dem Iran, Frankreich oder anderswo. Überall gehen Massen von Menschen auf die Straßen. Sie kämpfen gegen ständig steigende Preise von Bustickets und Benzin, gegen die permanente Verteuerung von Grundnahrungsmitteln und das unaufhörliche Steigen der Mieten, sie protestieren gegen Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne und sie prangern die unzureichende Gesundheitsversorgung und die teuren Bildungssysteme an. Ihre Wut richtet sich dabei auch gegen eine korrupte politische Elite, die als verlängerter Arm von Unternehmen und einer kleinen Oberschicht agiert, an ihrer Macht unbeirrt festhält und in die eigene Tasche wirtschaftet, während die Masse der Menschen in Armut versinkt. Kurz gesagt: Die Proteste in den unterschiedlichen Ländern richten sich gegen die Auswirkungen von über 30 Jahren neoliberaler Politik der gezielten Verarmung der Massen, sie richten sich gegen Korruption und Unterdrückung. Hinzu kommen wachsende Mobilisierungen von Frauen*, zum Beispiel in der Türkei, die nicht nur gegen patriarchale Unterdrückung und Gewalt kämpfen, sondern häufig auch eine zentrale Rolle in den Massenprotesten einnehmen. Die Antwort der Regierungen auf die Proteste ist überall die selbe: Tränengas, Schlagstöcke, Massenverhaftungen, Folter, Vergewaltigung, das Verschwindenlassen bis hin zur gezielten Ermordung von Demonstrant*innen1.

Die Ähnlichkeit der Proteste ist kein Zufall, sondern macht deutlich, dass sich das gesamte kapitalistische System in einer tiefen Krise befindet, von der die Länder des Globalen Südens am stärksten betroffen sind. Aber nicht nur sie. Was bedeuten also die Proteste für linke Kräfte in den kapitalistischen Zentren?

Aktiver Internationalismus

Internationalismus ist über viele Jahre in der radikalen Linken – abgesehen von einigen Ausnahmen – eher in Vergessenheit geraten. Es schien als sei internationale Solidarität (als auch Anti-Imperialismus) ein Relikt aus alten Zeiten, das für die eigene Praxis kaum noch eine Rolle spielt. In den letzten Jahren hat sich dies erfreulicherweise verändert. Mit den Krisenprotesten von 2010/2011, dem sogenannten Arabischen Frühling, den Entwicklungen in Rojava und den jüngsten Massenaufständen richtet sich auch der Blick vieler Linksradikaler wieder stärker in die Welt.

Dabei stellt sich die Frage, was wir eigentlich unter Internationalismus und internationaler Solidarität verstehen. Und: Wie kann diese Solidarität hier praktisch gelebt und organisiert werden?

Wir denken, dass in der Gleichzeitigkeit und der Ähnlichkeit der aktuellen (oder zukünftiger) Massenproteste eine Möglichkeit liegt, hierzulande die Grundlagen für einen neuen lebendigen Internationalismus zu schaffen. Einen Internationalismus, der aus einer Dynamik von unten entsteht, der eine langfristige Perspektive entwickelt und der strategisch mit der Frage der Gesellschaftsveränderung verbunden ist. Dieser Internationalismus, den wir als „aktiven Internationalismus“ bezeichnen, umfasst vor allem zwei wesentliche Aspekte: die Solidaritätsarbeit mit emanzipatorischen Bewegungen und Massenprotesten weltweit einerseits2 und anderer seits die Entwicklung und Stärkung von internationalistisch geprägten Kämpfen von unten in den und gegen die imperialistischen Zentren selbst. Beide Aspekte sind dabei miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Was meinen wir damit?

Internationalismus als strategische Notwendigkeit

Die gängige internationale Solidaritätsarbeit erschöpft sich häufig in der bloßen Solidarität mit und der Unterstützung von emanzipatorischen Bewegungen oder Massenprotesten weltweit. Sie wird entweder von denjenigen getragen, die sich speziell als Solidaritätsgruppen einer bestimmten Bewegung verstehen, oder von Gruppen/Einzelpersonen, die sich anlassbezogen damit beschäftigen. Internationalismus wird jedoch häufig auf diese Form der Solidaritätsarbeit reduziert oder mit ihr gleich gesetzt. Fast immer wird sie lediglich als ein weiteres politisches Feld betrachtet, das relativ getrennt von der eigenen lokalen Praxis und den Kämpfen vor Ort steht.

Internationalismus ist aber mehr. Im zunehmend global organisierten Kapitalismus und vor dem Hintergrund der weltweit erlebbaren Auswirkungen imperialistischer Politik ist Internationalismus keine bloße ‚moralische‘ Verpflichtung oder ein zusätzliches politisches Prinzip oder Aktionsfeld, sondern vielmehr strategische Notwendigkeit für eine tägliche Praxis der Gesellschaftsveränderung. Denn die Lebensbedingungen in Ländern des Globalen Südens aber auch die Unterdrückung von emanzipatorischen Bewegungen und Massenprotesten kann nicht getrennt von der Politik der kapitalistischen Zentren und ihrer Interessen betrachtet werden3. Deshalb ist die Entwicklung von antikapitalistischen und internationalistischen Kämpfen innerhalb dieser Zentren selbst ein wichtiger Bestandteil einer globalen revolutionären Perspektive4.

Eine „aktive“ internationalistische Praxis sollte sich daher an der Frage orientieren, wie die potentiellen Subjekte in den Zentren selbst gegen die kapitalistische und imperialistische Herrschaft mobilisiert und damit entfaltet werden können. Wichtige potentielle Subjekte im Kampf für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung sind in der BRD ebenjene Menschen, die aus anderen Ländern geflüchtet oder migriert sind und/oder in zweiter, dritter Generation hier leben. Sie sind strukturell am stärksten von prekären Arbeits- und Lebensbedingungen betroffen: sie stellen die Mehrheit derjenigen, die in Leiharbeit oder mit deregulierenden Werkverträgen schuften, in schlechten Wohnverhältnissen leben oder in abgehängten Stadtteilen wohnen, in denen es kaum noch öffentliche Infrastruktur gibt. Gleichzeitig sind sie vom zunehmenden Rassismus und Nationalismus der Dominanzgesellschaft betroffen und damit – alltäglich und strukturell – diversen Diskriminierungs- und Exkludierungserfahrungen ausgesetzt. Ihre Einbindung in den nationalen Klassenkompromiss ist daher schwieriger. Aus diesen Gründen sind (Post)Migrant*innen, Geflüchtete, (Black) Persons of Colour und andere Markierte/Exkludierte wichtige potentielle Subjekte in der Entwicklung von anti-imperialistisch, anti-rassistisch und internationalistisch ausgerichteten Kämpfen gegen die kapitalistische Herrschaft5.

Wenn wir davon ausgehen, dass für einen strategisch ausgerichteten Internationalismus beide Faktoren – die Solidaritätsarbeit und die Entwicklung von Kämpfen vor Ort – unerlässlich sind, stehen wir vor folgenden Fragen: Wie kann eine organische Verbindung von internationalistischer Solidaritätsarbeit auf der einen mit der Entwicklung von Kämpfen von unten in den/gegen die kapitalistischen Zentren selbst auf der anderen Seite aussehen? Was bedeutet eine solche Verbindung für die Form und Ausrichtung von Solidaritätsarbeit?

Klassische Solidaritätsarbeit

Klassische Solidaritätsarbeit folgt meist der auf- und wieder abflammenden Dynamik der weltweiten Proteste und Bewegungen. Breite Aufmerksamkeit und Beteiligung erfährt sie häufig vor allem dann, wenn die Situation an den jeweiligen Orten akut und die Repression hoch ist oder wird. Aus diesen Gründen umfasst klassische Solidaritätsarbeit vor allem öffentlichkeitswirksame Aktionen, die die Aufmerksamkeit – leider häufig nur für begrenzte Zeit – auf die so skandalisierten Verhältnisse in einem internationalen Kontext lenken. Diese sind wichtig und notwendig, um die von den Mainstream-Medien meist ignorierten oder verzerrt dargestellten Bewegungen sichtbar und verstehbar zu machen und Anknüpfungspunkte aufzuzeigen. Außerdem haben Solidaritätsaktionen das Potential, den konkret Kämpfenden vor Ort eine wichtige Stärkung zu sein.

In der gängigen Solidaritätsarbeit liegt der Fokus der Öffentlichkeitsarbeit jedoch häufig darin, bürgerliche und zivilgesellschaftliche Teile der Gesellschaft erreichen und zu einer Positionierung bewegen zu wollen, um so indirekten Druck auf die politisch Verantwortlichen auszuüben oder eine Diskursverschiebung „von oben“ zu erreichen6. Die Methoden sind daher dieselben, die auch in anderen politischen Aktionsbereichen der radikalen Linken verbreitet sind: Kampagnen, öffentlichkeitswirksame Aktionen und Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Parteien, Gewerkschaften etc. Das birgt zum einen die Gefahr, dass die Argumentationen und Begründungen an den bürgerlichen Diskurs angepasst werden, was klassischerweise zu dem Appell an die Bundesregierung führt, wahlweise die Menschenrechte, die Demokratie, das Völkerrecht etc. zu achten oder ihre NATO-Partner zur Räson zu bringen. Dabei wird die Rolle der Bundesregierung bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Ursachen weltweiter Missstände sowie der Unterdrückung von widerständigen Bewegungen verschleiert. Zudem werden falsche Hoffnungen an eine „richtige“, weil moralische Politik geweckt bzw. das Zerrbild der guten westlichen Demokratie verfestigt – gerne auch im Gegensatz zu den autoritären Regierungen in den Ländern, in denen die Proteste / Bewegungen stattfinden und unterdrückt werden. Zum anderen bleibt diese Form der Solidaritätsarbeit meist auf linksradikale und maximal intellektuell-bürgerliche oder zivilgesellschaftliche Kreise der Mehrheitsgesellschaft begrenzt.

Zwei Aspekte der Solidaritätsarbeit im Rahmen eines aktiven Internationalismus

Aus dieser Kritik lassen sich zwei Aspekte benennen, die für die Verbindung von konkreter Solidaritätsarbeit mit einer weiterreichenden internationalistischen Perspektive wichtig sind: 1) die kritische Vermittlung der Rolle der BRD im jeweiligen Kontext und 2) die Ausrichtung auf eine Solidaritätsbewegung „von unten“.

Anstatt Forderungen oder Appelle an politische Verantwortliche oder die Bunderegierung als Ganzer zu formulieren, halten wir es für zielführender in der Solidaritätsarbeit die Rolle der Bundesregierung bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der skandalisierten Verhältnisse sowie der erlebten Unterdrückung heraus zu arbeiten und zu vermitteln. Dadurch kann der Tendenz entgegen gewirkt werden, dass die jeweiligen Verhältnisse in anderen Ländern isoliert von der hiesigen Politik (der Metropolländer) betrachtet werden und das Entsetzen über die Verhältnisse „dort“, die Zufriedenheit mit der guten Demokratie „hier“ stärkt. Diese Tendenz besteht gleichermaßen bei Personen, die keinerlei Verbindungen zu anderen Ländern haben als auch bei Menschen, welche die Unterdrückung offen autoritärer Staaten selbst oder über Familienverbindungen erlebt haben oder noch miterleben. Denn nicht selten wird auch von „fortschrittlich“ denkenden Personen aus Ländern wie dem Irak, Iran, Äypten etc. die Errichtung einer bürgerliche Demokratie am Beispiel der Bundesrepublik als Ziel ihrer widerständigen Bestrebungen definiert. Um diese Illusionen zu zerstören und der bürgerlichen Demokratie ihre humanistische Maske zu entreißen, ist eine wichtige Aufgabe revolutionärer Kräfte in der internationalistischen Solidaritätsarbeit, die direkten Verbindungen zwischen der Politik/den Interessen der Bundesregierung und den unterdrückenden Verhältnissen andernorts aufzuzeigen. Darüberhinaus bietet sich insbesondere in Phasen weltweiter Massenproteste die Möglichkeit, die zugrundeliegenden politischen und wirtschafltichen Ursachen heraus zu arbeiten und Verbindungen zu den Folgen derselben Politik auch innerhalb der Bundesrepublik zu ziehen.

Auf der anderen Seite erachten wir es als notwendig, die Solidaritätsarbeit in den „akuten“ Phasen (ebenso wie allgemein die eigene lokale Praxis7) darauf auszurichten, eine Dynamik „von unten“ zu erzeugen, anstatt primär auf zivilgesellschaftliche Bündnisse und die Intervention in den bürgerlichen Diskurs zu fokussieren. Das bedeutet konkret, vorwiegend („fortschrittlich“ denkende) Menschen aus den jeweiligen Communities zu mobilisieren und für die Solidaritätsarbeit zusammen zu bringen. Zeiten weltweiter Aufstände und Massenproteste bieten hierfür eine gute Möglichkeit. Denn durch die Flucht- und Migrationsbewegungen der letzten sieben Jahrzehnte leben in der Bundesrepublik eine Vielzahl von Menschen, die direkte Bezüge zu den jeweiligen Massenprotesten in Ländern wie Irak, Iran, Libanon, Chile, Ecuador, Kolumbien, Sudan, Guinea und möglichen zukünftigen Protesten haben und von deren Dynamiken beeinflusst werden. Viele von ihnen verfolgen die Entwicklungen vor Ort über soziale Medien und stehen in direktem Kontakt mit Angehörigen und Freund*innen, um deren Wohl und Leben sie fürchten (müssen). Die Dynamik der Proteste bewegt und politisiert also.

Gleichzeitig macht der herrschende alltägliche Rassismus und die strukturelle Ausgrenzung es Exil-Linken und politisch bewegten Einzelpersonen schwer, in der bundesdeutschen Dominanzgesellschaft politisch aktiv zu werden und so ihrer Solidarität mit den Aufständen in den Herkunftsländern – aber auch der eigenen Wut über die unhaltbaren Zustände – einen öffentlichen Ausdruck zu geben. Die wenigen Solidaritätsaktionen, die organisiert werden, bleiben meist auf die eigene Community beschränkt und werden darüber hinaus kaum wahrgenommen.

Aufbau internationalistischer Plattformen

Eine Möglichkeit, diese Isolation und Trennung aufzubrechen, sehen wir darin, gezielt Orte zu schaffen, an denen Aktivist*innen sowie politisch unorganisierte, aber bewegte Einzelpersonen aus den unterschiedlichen Communities zusammenkommen, ihre Erfahrungen mit den und Wissen über die jeweiligen Massenprotesten austauschen und gemeinsam Solidarität organisieren können. Diese Orte bezeichnen wir als internationalistische Plattformen.

Damit so eine internationalistische Plattform lebendig und dynamisch wird, reicht es nicht, ein Bündnis aus politischen Organisationen oder linken Gruppen ins Leben zu rufen. Dieses läuft Gefahr, sich in ideologischen Auseinandersetzungen zu verlieren und abstrakt oder hohl zu bleiben. Vielmehr geht es darum, innerhalb der einzelnen Communities zu mobilisieren und dadurch auch eine Vielzahl von Menschen zu erreichen, welche die Ereignisse erstmal „nur“ wegen der direkten oder indirekten Betroffenheit bewegen8. Das ist, was wir als Dynamik „von unten“ bezeichnen. Einen Ausgangspunkt hierfür kann zum Beispiel die Organisation einer internationalen Podiumsdiskussion bilden, auf der Menschen aus den unterschiedlichen Communities über die jeweiligen Proteste berichten. (In Bremen gelang es uns, Menschen aus oder mit Bezug zu Kolumbien, Chile, Irak, Iran und Guinea zu einer gemeinsamen Podiumsveranstaltung einzuladen. In den Vorträgen wurden die Ähnlichkeiten der Situation in den unterschiedlichen Ländern sichtbar gemacht – sowohl was die Zusammensetzung, die Methoden und die Forderungen der Massenproteste angeht, als auch die massive Repression und Unterdrückung.) Diese geteilte Erfahrung und erlebte Gemeinsamkeit kann als Bezugspunkt für einen weiteren Austausch und Kennenlernprozess genutzt werden. Eine weitere Möglichkeit ist die Organisation von gemeinsamen Solidaritätsaktionen wie beispielsweise Kundgebungen oder Demonstrationen, bei der die unterschiedlichen Communities zusammen kommen. So kann ein gemeinsamer Raum gestaltet werden, an dem eine emotional-politische Verbindung zu den konkret Kämpfenden hergestellt, den Getöteten gedacht und dem Schmerz wie auch der Wut ein kollektiver, öffentlicher Ausdruck verliehen wird.

Der Aufbau einer internationalistischen Plattform ist ein langfristiger Prozess. Ziel ist es, einen kontinuierlichen Ort zu schaffen, der in der Lage ist Menschen aus verschiedenen Communities in einer Stadt zusammen zu bringen. Durch die gemeinsame Solidaritätsarbeit können Kontakte geknüpft, Verbindungen geschaffen und Vertrauen aufgebaut werden. Gleichzeitig entsteht dadurch ein Raum, in dem über die gemeinsamen Ursachen der unterschiedlichen Proteste diskutiert, Verbindungen zur eigenen Lebenssituation hergestellt und ein Verständnis über die Notwendigkeit gemeinsamer Kämpfe in der hiesigen Gesellschaft geschaffen werden kann. Im besten Fall wird die gemeinsam organisierte Solidaritätsarbeit dadurch zum Ausgangspunkt für eine weitergehende Beteiligung auch am Aufbau von kämpferischen Strukturen rund um Lohnarbeit, Wohnen, Reproduktion, Rassismus und so weiter. In diesem Sinne ist der Aufbau internationalistischer Plattformen strategisch und organisch mit revolutionärer Basisarbeit wie der im Stadtteil oder Betrieb als lokaler Praxis verbunden.

#Titelbild: ROAR Magazine/P2P Attribution-ConditionalNonCommercial-ShareAlikeLicense

1 Im Irak wurden in den ersten zwei Monaten der Proteste schätzungsweise über 450 Personen von Sicherheitskräften erschossen, über 20.000 teilweise schwer verletzt. Im Iran werden erst mit der Zeit die Ausmaße der Unterdrückung bekannt, Schätzungen reichen von 500 bis über 1000 Toten. In Chile verloren über 350 Menschen durch Tränengaskartuschen, die in die Demonstrationen gefeuert wurden, ihr Augenlicht. Mehr als 23 Menschen starben während der Proteste.

2 Sowie der Austausch und die konkrete Vernetzung

3 Sowohl die Durchsetzung und Verschärfung kapitalistischer Ausbeutungsbedingungen wird verstärkt von diversen imperialistischen Staaten vorangetrieben (wie z.B. über bi- oder multinationale Freihandelsabkommen, Aufrechterhaltung postkolonialer Abhängigkeitsstrukturen wie z.B. dem Franc CFA, Durchsetzung von günstigen Bedingungen der Rohstoffausbeutung sowie des Zugangs zu Rohstoffen etc) als auch die Durchsetzung direkter imperialistischer Methoden und Interessen (militärische Interventionen, direkte oder indirekte Kriegsführung, etc.). Auch die Unterdrückung wird zunehmend globalisiert (Polizeiabkommen, Ausbildungsprogramme, Transfer von Sicherheits- und Überwachungstechnologien, Rüstungsexporte etc.).

4 Diese Verbindung gilt selbst innerhalb der EU, in der die Bundesregierung eine zentrale Rolle einnimmt. So beeinflusst die Abwesenheit von größeren Kämpfen gegen die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft innerhalb der BRD direkt die Lebens-, Arbeits- und Kampfbedingungen in Ländern wie Griechenland und Frankreich.

5 Auch wenn natürlich der Einfluss nationalistischer und rassistischer Kräfte und Ideologien auch bei migrantischen Communities ein wichtiges Problem sind.

6 Obwohl die Erfahrung zeigt, dass selbst breite Mobilisierungen wie z.B. die Demonstrationen und vielfältigen Aktionen nach den Angriffen der türkischen Armee auf Rojava, den Kurs und die Politik der Bundesregierung nicht zu ändern vermögen.

7 Siehe ausführlicher dazu 11 Thesen über Kritik an linksradikaler Politik, Organisierung und revolutionäre Praxis von kollektiv aus Bremen, u.a. zu lesen bei https://de.indymedia.org/node/9708

8 Wenn es darum geht, Menschen zu solchen Plattformen einzuladen, gibt es dennoch Grenzen: So würden wir z.B. Personen mit starken nationalistischen oder politisch religiösen Einstellungen oder Verbindungen zu ebensolchen Organisationen nicht einladen.

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Im Norden und Osten Syriens hat sich in den vergangenen Jahren ein basisdemokratisches, sozialistisches Rätesystem etabliert. Die kurdische, arabische, christliche und assyrische Bevölkerung erkämpfte sich ein Zusammenleben auf demokratischen Prinzipien, Gleichberechtigung der Frauen und kooperativer Wirtschaft. Doch die Türkei, zusammen mit islamistischen Terrorgruppen bedroht dieses Zusammenleben. Felix Anton hat den Prozess im Norden Syriens lange begleitet. Derzeit lebt und arbeitet er in Til Temer. Wir haben mit ihm gesprochen und ihm Leser* innenfragen gestellt.

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Pünktlich zum derzeitigen vom türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdogan in Nordsyrien geführten Krieg gegen das selbstverwaltete Rojava zeigen deutsche Behörden, was sie dem Diktator aus Ankara noch anzubieten haben: die Kriminlisierung und Verfolgung der kurdischen Freiheitsbewegung.

Am 25.10.2019 begann in Berlin Schöneberg der Prozess gegen eine feministische kurdische Politikerin, angeklagt wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129b, konkret der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Die ganze Nummer wirkt wie abgesprochen – als würde das BKA seine Verfolgung von Kurd*innen hierzulande direkt an die Bedürfnisse der AKP-Diktatur anpassen.

Getroffen hat es Yildiz Aktaş, eine 51jährige kurdische Aktivistin, welche schon in der Türkei und auch in Deutschland gegen Gewalt an Frauen und Mädchen und für deren Recht auf Selbstbestimmung, Bildung und finanzielle Unabhängigkeit kämpfte. Dass sie den türkischen Repressionsbehörden deswegen ein Dorn im Auge war und ist, liegt auf der Hand. Deswegen wurde sie stetig verfolgt, saß das erste Mal mit 12 Jahren im Knast in Dyarbakir und wurde gefoltert. 2012 entschied sie sich deswegen, die Türkei zu verlassen und floh nach Deutschland. Sie erhielt Asyl, lebt seitdem in der BRD und führt die Kämpfe, welche sie in der Türkei führte, hier weiter.

Yildiz wurde wegen Mitgliedschaft in der PKK angeklagt. Seit 1993 ist für die PKK in der BRD ein Betätigungsverbot verhängt. Jede*r, der*die innerhalb der PKK aktiv ist, macht sich dementsprechend nach deutschen Recht strafbar. Zusätzlich wird die PKK auf der EU-Terrorliste geführt. Die Grundlage für die Kriminalisierung von PKK-Aktivist*innen ist dementsprechend schon lange gegeben. Die Verfolgung betrifft vor allem angebliche Führungskader der PKK. Sie erstreckt sich aber beispielsweise auch auf Demonstrationen, wenn übermotivierte Bullen kurdische Aktivist*innen mit PKK Fahnen angreifen, verprügeln und manchmal auch in Knäste stecken. Der Prozessauftakt gegen Yildiz untermauerte diese Verfolgung und Kriminalisierung noch einmal mit einer anderen Intensität.

Am ersten Prozesstag beantragten die Verteidiger*innen eine Unterbrechung des Verfahrens. „Die Begründung hierfür liegt im ihrem an das Bundesjustizministerium gerichteten Brief, in dem sie darlegen, warum dieses die sogenannte Verfolgungsermächtigung gegen Yildiz zurücknehmen sollte. Erst diese Ermächtigung erlaubt es den Behörden, in solch einem 129b-Verfahren umfassend zu ermitteln, zu überwachen und zu verfolgen. Gegen die PKK gibt es eine generelle Verfolgungsermächtigung, in Yildiz´ Fall wurde noch eine ‚Einzelverfolgungsermächtigung` ausgestellt. Die Begründung der Verteidiger*innen bezieht sich auch auf den aktuellen Angriffskrieg der Türkei gegen die selbstverwalteten Gebiete in Nordost-Syrien (Rojava), sowie auf die Menschenrechtslage in der Türkei.“, so die Soligruppe von Yildiz. Die Beweisaufnahme solle „bis zur Entscheidung des Bundesjustizministeriums darüber, ob die von ihm erteilte Verfolgungsermächtigung gegen angebliche Führungskader der PKK, noch angemessen und politisch haltbar sei, unterbrochen werden“.

Reaktion des Gerichtes am 29.10.19? Antrag abgelehnt! Begründung: es wäre wohl unklar, ob solch ein Antrag gegen die Einzelverfolgungsermächtigung gegen Yildiz Erfolg haben könnte. Und bevor eine Entscheidung des Bundesjustizministeriums abgewartet wird, heißt es dann im Gerichtssaal: weitermachen mit der Verfolgung! Das bedeutet, dass der Prozess mindestens bis zur Entscheidung des Bundesjustizministeriums mit der gängigen antikurdischen und pro-türkisch-faschistischen Haltung geführt wird.

Das zeigte sich dann am zweiten Prozesstag auch insofern, als kaum ein Wort über türkische und IS-Angriffe auf Gebiete der Kurd*innen und insbesondere Rojava fällt. Geladen ist Michaela Müller, Kriminalhauptkommissarin des BKA – eine alte Bekannte aus PKK-Prozessen.

Hier ist sie seit 1994 angestellt, seit 2008 für „politisch motivierte ausländische Kriminalität“ und deswegen auch für die Verfolgung vermeintlicher Mitglieder der PKK zuständig. 2012 – 2017 erstellte sie wohl eine Chronologie über die PKK, wobei sie wohl „Anschläge und Aktionen“ dokumentierte. Ihre selbsternannte „Recherche“ bezog sich dabei fast ausschließlich auf die Internetseite der HPG (Verteidigungskärfte der PKK). Von der Struktur der kurdischen Bewegung habe sie, selbstredend, keine Ahnung. Sie würde lediglich Anschläge zählen. Im Endeffekt kann man sich ihre Arbeit nach ihren Aussagen so vorstellen, dass sie 2013-2017 vorm Computer saß, Bekenner*innenschreiben las, übersetzen ließ und mit der Maus auf einer Homepage hoch und runter scrollte.

In dem dreistündigen Prozess wird dann ausschließlich von „Angriffen“ von Kurd*innen gesprochen. Zwar wird erwähnt, dass es in der Zeit von 2013-2017 auch „Gefechte“ gab, diese würden im Prozess aber wohl nicht einbezogen werden. Bei den sogenannten „Gefechten“ handelt es sich wohl um türkische Angriffe, bei welchen „sich die HPG verteidigte“ , so Müller.

Schon die Ablehnung des Antrages der Verteidigung durch das Gericht stand symbolisch für die deutsche Unterstützung und Legitimation des von Erdogan geführtes Krieges gegen die Kurd*innen, der Sprech der BKA Angestellten Müller verdeutlicht diese noch einmal mehr. Zur Erinnerung: im gesamten Zeitraum von 2013-2017 griffen der Islamische Staat und die Türkei immer wieder gezielt kurdische Gebiete an, um einen gemeinsamen Genozid an den Kurd*innen zu begehen. Inwiefern dementsprechend ein angeblicher „Angriff der Kurd*innen“ auch eine „Verteidigung gegen den Faschismus“ darstellt, wird natürlich nicht diskutiert. Im Gegenteil: durch die juristische Verdreherei eines realen Krieges wird Erdogan geschützt, kurdische Strukturen kriminalisiert.

Um natürlich aber auch die Hexenjagd nicht zu vergessen, fragt die Staatsanwaltschaft gezielt danach, ob sich Frauengruppen der HPG in der Zeit von 2013-2017 auch zu Anschlägen bekannt haben, was Müller bejaht.

Die gezielte faschistische Prozessführung seitens Richter, BKA-Beamtin und Staatsanwaltschaft gegen kurdische Frauengruppen der PKK wird dann schlussendlich mit der Aussage Müllers getoppt, dass laut ihrer Recherche die HPG mehr Verletzte und Getötete vorweisen könne als die türkische Regierung. Logisch ist das allemal: nach der Türkei wird ja auch nicht gefahndet, die Mordzahlen in ihrer Verantwortung also auch nicht gezählt.

Auch am vierten Prozesstag wurde ein Zeuge des BKA vernommen, Kriminalhauptkommisar Herr Becker. Er hat sich wohl jahrelang durch die Strukturakten der PKK gewühlt, aber auch er scheint „erstaunlich wenig Hintergrundwissen zu haben“, so die Soligruppe in einer Pressemitteilung. Von 2003 bis 2018 „schien er eigentlich nur zu wissen, wann sich welche Organisation wie umbenannt hatte und wie sie strukturiert war. In dem gesamten Zeitraum hat er sich weder mit der inhaltlichen Ausrichtung der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, (Stichwort Paradigmenwechsel) noch mit der politischen Einordnung in die Situation vor Ort beschäftigt.“ Bei der Frage, wer den Anschlag von Suruç 2015 verübt hat, überlegt er zunächst länger und antwortet dann nicht konkret mit den Verantwortlichen, sondern mit: „Die PKK vermutete eine Komplizenschaft der Türkei mit dem IS.“ Weiterhin sagen ihm die Begriffe „Zwangsumsiedlungen“ und „Verschwindenlassen“ nichts.

Und so wird auch an diesem Prozesstag verleugnet, dass die Türkei in Zusammenarbeit mit dem IS einen Krieg gegen die Kurd*innen führt, wieder wird die PKK verantwortlich für alles Übel gemacht.

Die Verleugnung eines von der Türkei geführten Krieges und gleichzeitiges absolutes Desinteresse für Betroffene, wie zum Beispiel Yildiz Aktaş, charakterisieren das gesamte Verfahren. Am dritten Prozesstag wird von den Verteidiger*innen der Angeklagten der erste Teil ihrer Prozesserklärung vorgelesen. In dieser schildert sie ihre Lebensgeschichte, welche „von Gewalt und Folter, Kriminalisierung als Kurdin und Unterdrückung als Frau durch die Familie geprägt ist – sowie von feministischen Kämpfen und Solidarität durch andere Frauen“, fasst die Soli-Gruppe zusammen. Was die Prozessbeobachter*innen berührt, erschüttert und bei ihnen Gänsehaut auslöst, lässt das Gericht offensichtlich eiskalt. „Die Richter*innen blicken zu Yildiz, schauen weg, schauen in die Luft, machen sich Notizen. Die Situation wirkt grotesk.“, so die Soligruppe.

Während Yildiz über die Grausamkeiten des Putschregimes, über ihre Inhaftierungen, Gewalterfahrungen, Folterungen und die feudal-patriarchale Gesellschaft in der Türkei der 1980er sowie der darauffolgenden Jahre bis zu ihrer Flucht nach Deutschland spricht, muss es den Beobachter*innen grotesk vorkommen, dass ausgerechnet sie die Angeklagte im Raum ist. „Für uns drängt sich die Frage auf: Wer sind hier eigentlich die Terrorist*innen, wer wird so bezeichnet und warum?, so die Soligruppe.

# Solidaritätsaktionen für Yildiz werden immer noch von viel zu wenigen Aktivist*innen besucht und getragen. Informiert euch hier über den Fortgang des Prozesses und Termine: https://freiheit-yildiz.com/

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