Am 20. Oktober erscheint im Münsteraner Unrast-Verlag die erste deutschsprachige Einführung in das Gesamtwerk des kurdischen Revolutionärs und Vordenkers einer Erneuerung des Sozialismus im Mittleren Osten, Abdullah Öcalan. Mit Genehmigung des Verlags veröffentlichen wir einen Auszug aus dem 5. Kapitel des Buches( „Die Erneuerung der Kaderpartei„) vorab.
Ein in der Rezeption der aktuellen Entwicklungen der kurdischen Freiheitsbewegung weitgehend ignorierter Aspekt der Theorie Öcalans ist sein Verständnis der revolutionären Partei. Die PKK verstand sich und versteht sich bis heute als revolutionäre Kaderpartei – also als Partei von Berufsrevolutionären, um ein älteres Wort zu gebrauchen.
In einer bemerkenswerten Schrift von 1998, also noch vor seiner Entführung, schreibt Öcalan ausführlich über die Gründe des Scheiterns des sozialistischen Modells. »In den realsozialistischen Ländern war es weder gelungen, eine sozialistische Persönlichkeit noch eine sozialistische Demokratie zu schaffen«, wiederholt er seine zentralen Kritikpunkte am russischen Sozialismus. Die kurdische Bewegung und die Arbeiterpartei Kurdistans seien – weil sie sich anders entwickelt habe, als die gescheiterten Sozialismusversuche – für einen Neuanlauf in Richtung Revolution von besonderer Wichtigkeit. Und unter den eigenen Leistungen hebt er gerade die Art und Weise, wie die Partei organisiert ist, hervor: »Unsere Erfolge hängen vor allem mit der Entwicklung eines neuen Partei- und Führungsmodells zusammen und nicht nur mit unserer militärischen, politischen und diplomatischen Arbeit.«
Die Einschätzung, Partei und Führung seien geradezu im Zentrum der Errungenschaften der kurdischen Bewegung, muss jedem, der sich mit der Entwicklung des Kampfes in Kurdistan empirisch auseinandersetzt, einleuchten. In der Tat wären etwa die Revolution in Rojava oder auch nur das Überleben der kurdischen Bewegung ohne ihr Modell der Kaderpartei kaum vorstellbar.
Aber es ergibt sich sofort die Frage: Von welcher Art von Partei reden wir hier eigentlich? Und wie sieht die Führungsrolle aus, die sie einnimmt? Denn auch auf diesem Gebiet hat Öcalan in den 1990er- und beginnenden 2000er-Jahren harte Selbstkritiken verfasst, die zur Leitlinie auch in der Praxis der Arbeiterpartei Kurdistans wurden. In Jenseits von Staat, Macht und Gewalt kritisiert er zunächst an »klassischen« Parteien, dass sie stets – ob »mit revolutionären Methoden oder mit Wahlen« – den Staat erobern wollen. Auch der PKK attestiert er diesen Makel und warnt, dass ein solches Vorgehen geradezu zwangsläufig Auswirkungen auf »Persönlichkeit, Organisation und Arbeitsweise« habe. ( „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ / JSMG, S436f )
Eine Partei in diesem »klassischen« Sinn aber – »als Ausdruck eines Willens, der auf einen Staat ausgerichtet ist« – laufe »dem Sozialismus zuwider, den wir als Ideal von Freiheit und Gleichheit bezeichnen können; sie widerspricht ihm.« ( JSMG, S438) Das bedeutet, dass revolutionäre Parteien »ihre Programmatik auf Politik- und Gesellschaftsformen ausrichten« müssen, bei denen »der Staat nicht im Mittelpunkt steht« ( JSMG, S441).
Kaderpartei und revolutionäre Führung
Was meint diese Neuausrichtung nun für die Art und Weise, wie eine Partei organisiert ist? Um es vorwegzunehmen: Keine Abkehr vom Kadermodell. Jede Bewegung, die geschichtsmächtig sein will, braucht einen Kaderkern: »Durch die gesamte Geschichte hindurch ist kein parteiähnlicher Zusammenschluss ohne Kader mit fester Überzeugung und Entschlossenheit ausgekommen. Viele Gruppen, die keine Kader besitzen, verschwinden unweigerlich in den Tiefen der Geschichte und geraten in Vergessenheit.« ( JSMG, S472) Oder noch kürzer: »Mit dahergelaufenen Amateuren lässt sich das avisierte Gesellschaftssystem nicht errichten.« (Gilgameschs Erben 1 / GE1, S528)
Öcalan ist nicht der Auffassung, dass sich der Aufbau demokratischer Selbstverwaltung »spontan« oder von selbst vollzieht. Ein »wahrhafter Frieden und eine wirklich demokratische Lösung sind nur mit einer politischen Kraft zu realisieren, die imstande ist, die nötige Macht, Disziplin und Führung zu entfalten.« (GE2, S125) Er zählt eine Reihe von Aufgaben dieser Kraft auf: Sie entfaltet breite gesellschaftspolitische Aktivitäten, entwickelt Bündnisstrategien, organisiert politische Bildung, aber sie schafft auch »konspirative Strukturen« und errichtet effektive militärische Stellungen. (ebd.) Diese Kraft kann ohne Kader nicht entwickelt werden, die im politischen Kampf den Mittelpunkt ihres Lebens sehen. Nun waren in den Rängen der PKK seit ihrer Gründung stets überzeugte Kader, von denen viele bis in den Tod für den Sozialismus kämpften. Und dennoch gab es, gesteht Öcalan ein, spätestens in den 1990er-Jahren Entwicklungen in Richtung »Bandenwesen« (PfM, S18), Despotismus von Kommandanten, Disziplinlosigkeit und interne Machtkämpfe.
Er bringt diese Fehlentwicklungen in eine Beziehung mit dem »alten« Revolutionsmodell der Machtübernahme im Staat. Aus Öcalans Sicht auf den Sozialismus – und seiner Kritik an Versuchen, ihn über die »Abkürzung« der Diktatur des Proletariats zu erreichen – wird deutlich, worin das systematische Problem besteht: Kader, die zum einen keine sozialistische Persönlichkeitsentwicklung durchgemacht haben, zum anderen als vorrangigstes Ziel die (militärische) Machtübernahme sehen, werden in ihrer Praxis alles diesem Zweck unterordnen und dabei Mittel anwenden, die sich letztlich als nicht nur unwirksam, sondern sogar schädlich für den Demokratisierungsprozess der Gesellschaft erweisen.
Solche Kader entwickeln ein Avantgarde-Verständnis, in dem sie sich über der Gesellschaft stehend sehen, und das sie zur Not mit Gewalt gegen die Gesellschaft durchsetzen. Demgegenüber müssen die Kader vielmehr eine dienende Rolle gegenüber den Prozessen der Demokratisierung der Gesellschaft einnehmen. Die leitende Rolle, die Kader einnehmen, muss sich dabei nicht durch das durchsetzen, was sie sagen, sondern durch eine gelebte Vorbildrolle: »Nicht das, was die PKK propagierte, sollte Sympathien hervorrufen, sondern das, was sie vorlebte.« (GE2, S100)
Dementsprechend sind Kader »diejenigen Militanten, die die Mentalität und programmatischen Grundlagen der Partei am besten verinnerlichen und begeistert versuchen, sie in die Praxis umzusetzen.« ( JSMG, S472) Die »Kaderwerdung erfordert nicht nur Begeisterung bei einem Menschen, sondern auch eine theoretische Voraussicht, eine tiefe Loyalität zum Programm und eine Leidenschaft für die Errichtung des Bauwerkes, welches die Partei ist.« (ebd., S472) Die Kader haben kein persönliches Eigentum und »keinem ihrer Mitglieder werden persönliche Vorteile oder Karriere versprochen« (GE2, S100).
Man kann sagen, die wichtigste Aufgabe des Kaders ist, sich im Aufbau der radikal-demokratischen Gesellschaft selbst überflüssig zu machen, indem die Gesellschaft Schritt für Schritt lernt, sich selbst zu leiten. (…)
Die »Schaffung freier Militanter« bezeichnet Öcalan als »das schwierigste Unterfangen und die größte Herausforderung« (GE2, S356). Der Begriff wird zunächst einmal auffallen: Was soll »frei« sein an Militanten, die rund um die Uhr an die Parteidisziplin gebunden sind? Und ist nicht überhaupt eine »Kaderpartei« das genaue Gegenteil von Freiheit? Kader sind dem Regelwerk der Partei unterworfen. Gleichwohl sind sie »freie Militante«, denn die Entscheidung, zur Erreichung des von ihnen gewählten Zweckes der Partei beizutreten, ist in jedem Fall ihre freie Entscheidung – auch wenn sie die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse einschränkt. Die Willensbestimmung erfolgt aus eigener Einsicht in die Notwendigkeit: Wenn gilt, dass der Sozialismus ohne Kaderpartei nicht zu haben und eine Person sich die Errichtung des Sozialismus zum eigenen Zweck gesetzt hat, bedeutet das Erreichen dieses Zweckes die Aufgabe anderer, untergeordneter Bedürfnisse und Interessen. Die Unterordnung unter das Kollektiv wird hier zur eigentlichen Freiheit, im Unterschied zum Getriebenwerden von den eigenen egoistischen und individualistischen Bedürfnissen.
Ist das aber nicht wiederum elitär und schließt all jene aus dem politischen Prozess aus, die zu diesem Schritt nicht bereit sind? Die Kaderpartei ist nicht das Ein und Alles der Bewegung, sondern ein – wenn auch notwendiges – Element in einem Netzwerk von Institutionen, das unterschiedlichste Weisen der Partizipation ermöglicht. Kadro als Berufsrevolutionär*in ist, wer ein bürgerliches Leben zurückgelassen hat und sich nur noch dem Kampf widmet; aber in lokalen Institutionen tätige Aktivist*innen haben dagegen Familie, gehen einem Beruf nach, andere wiederum übernehmen gelegentlich Aufgaben, bringen sich in konkreten Tätigkeitsfeldern ein . Und so weiter bis zur Sympathisant*in, die vielleicht einmal im Monat an politischer Arbeit teilnimmt. (…)
Wird eine Kaderpartei aber nicht ihrerseits wieder zu einer Kraft, die die Gesellschaft unterdrückt? Diese Gefahr besteht in jeder Revolution; die Frage ist, welche Vorkehrungen eine Bewegung dagegen trifft. Dabei sind es zwei Momente, die in den Mittelpunkt rücken. Zum einen die in der Programmatik festgelegte Abkehr von Staatlichkeit als Zweck, die Öcalan für einen der Gründe auch der Fehlentwicklungen der Kader hält. Damit rückt der Aufbau demokratisch-konföderalistischer Strukturen in der Gesellschaft in den Mittelpunkt der Arbeit der Bewegung. Und diese Strukturen sind es, die der eigentliche Zweck sind, nicht die Partei selbst. In ihr soll die Bevölkerung Entscheidungen treffen, nicht die Kader. Deren Aufgabe ist allein das Empowerment für diesen Prozess, in dessen Verlauf sie sich überflüssig machen. Man kann sagen: Die vollständig organisierte und politisch wie wirtschaftlich sich selbst verwaltende Bevölkerung ist das Ende der Kaderpartei, an dem sie ihre Aufgabe erfüllt hat.
Neben der Programmatik braucht es Mechanismen zur Einhaltung dieser Prinzipien durch die stetige Persönlichkeitsentwicklung innerhalb der Partei im Rahmen von Kritik und Selbstkritik. Da auch die Kader*innen aus der patriarchalen, kapitalistischen, staatlichen Gesellschaft kommen, bringen auch sie selbstredend Bewusstseinsformen mit, die durch den kollektiven Prozess in der Bewegung und also auch der Partei reguliert werden müssen. Disziplin gegenüber der Parteilinie ist hierbei allerdings keine Beschneidung von Freiheit – es sei denn, man versteht unter »Freiheit« so bleiben zu dürfen, wie einen die Klassengesellschaft sozialisiert hat.
Die Kaderpartei ist eine notwendige Bedingung des revolutionären Prozesses, aber keine ausreichende. Nicht die Partei macht die Revolution, sondern das Volk – die Frauen, die unterdrückten Völker, die ausgebeuteten Klassen – als revolutionäres Subjekt. »Kein Frieden und keine demokratische Lösung wären machbar ohne die dafür notwendige Unterstützung des Volkes und seiner politischen Führung.« (GE2, S125) Und dementsprechend soll die Partei auch nicht »herrschen« – sie ist kein Ausschuss zur Vorwegnahme einer künftigen Regierung. Die Aufgabe der Kaderpartei ist die Selbstermächtigung des Volkes und die Organisierung der politischen Bewegung und ihrer seiner Selbstverteidigung auf allen Ebenen.
Strategie und Taktik
Die Wirklichkeit der kapitalistischen Zivilisation, die sich in einem »ständigen Krieg nach innen und außen« befindet (ZuW, S35), ist permanent in der Krise und im Chaos. Das bedeutet zum einen immense Verwerfungen in der gesellschaftlichen Realität, Not und Leid. Zum anderen aber ist Chaos auch immer schöpferisches Chaos – denn in ihm kann sich das Neue herausbilden. Die Momente, die Öcalan »Quantenmomente« oder »Chaosintervalle« (ZuW, S126) nennt, eröffnen einen Möglichkeitsraum, in den organisierte sozialistische Kräfte eingreifen können: »Während struktureller Krisen und in Chaosintervallen können demokratische, ökologische, libertäre und egalitäre (im Sinne von Gerechtigkeit) Bewegungen mit kleinen und wirkungsvollen Eröffnungszügen in kurzer Zeit etwas aufbauen, das langfristig die Zukunft bestimmen wird.« (ZuW, S89)
Um etwas verändern zu können, braucht man allerdings ein klares Programm und muss wissen, wie es umgesetzt werden kann. Die philosophisch-politische Theorie einer Partei oder Bewegung ist zunächst »nur« die »klare Sichtweise« (GE1, S447). Ohne ein theoretisches Fundament gibt es keine Partei. Die weltanschauliche Haltung, die moralischen Prinzipien und die angestrebten Ziele werden Inhalt der Programmatik der Partei. Das Programm »destilliert« aus der Theorie deutlich erkennbare Ziele. Die Strategie ist dann die »Kunst der Entscheidung für einen der vielen Wege, die zum Ziel zu führen scheinen« (GE1, S447). Diese Kunst ist für den revolutionären Aufbau entscheidend, denn von den zahlreichen Wegen, die sich auftun, führen viele in Sackgassen. Und in manchen dieser Sackgassen wird man einfach füsiliert. Die richtige Strategie zu finden, ist also eine überlebenswichtige Aufgabe der »Organisationsleitung, die all die irreführenden Wege auszumachen vermag und, falls nötig, Ziele revidieren kann, die sich nicht realistisch erreichen lassen« (ebd.).
Organisationen, denen es an einer solchen strategischen Leitung mangelt, enden in »Tragödien« und »Misserfolgen«. Die strategische Leitung muss bestimmen können, welche gesellschaftlichen Kräfte tonangebend sind, welche Bündnisse – auch temporäre – zu schließen sind. Sie muss einschätzen, ob die Ziele »im Marsch, im Spurt oder im Marathonlauf« zu erreichen sind (GE1, S448). Wie der als strategischer Weg ausgemachte zu beschreiten ist, ist Sache der »Taktik«.
Hierein fallen Entscheidungen, die stark von der jeweils konkreten Situation abhängen: »Fragen wie nach Gewalt oder Gewaltlosigkeit, Angriff oder Verteidigung, ob wenig oder viel Kraft aufgewandt, schnell oder langsam vorgegangen wird, fallen in den Bereich der taktischen Leitung.« (GE1, S449) Während die philosophisch-politische Linie der Ort größter Prinzipientreue ist, ist der Bereich der Taktik jener der größten Flexibilität. Wer »verschiedene Organisations- und Aktionsformen nicht nach Bedarf miteinander auszuwechseln versteht und neue nicht mit angemessenem Tempo rechtzeitig entwickeln kann«, hat keine »zuverlässige taktische Führung« (ebd.). (…)