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Die deutsche Journalistin Marlene F. und der slowenische Journalist Matej K. wurden am 20. April im Şengal auf dem Rückweg vom êzîdischen Neujahrsfest Çarşema Sor vom irakischen Militär festgenommen. Seitdem sind sie vermutlich in einem Gefängnis in Bagdad und können keinen Kontakt zu Anwält:innen oder der Öffentlichkeit aufnehmen. Die Festnahme steht im Zusammenhang mit der militärischen Eskalation gegen die êzîdische Selbstverwaltung im Şengal, wo sowohl die irakische als auch die türkisch Regierung unabhängige Berichterstattung verhindern wollen.

Die beiden jüngst festgenommenen Journalist:innen Marlene F. und Matej K. sind seit mehreren Monaten zu Recherchezwecken im Norden des Iraks. Sie dokumentieren die aktuelle gesellschaftliche Situation von Ezid:innen im Şengal vor dem Hintergrund des Genozid-Feminizids, den der „IS“ seit 2014 an den Ezid:innen begeht. Aktuell ist nicht bekannt, wohin die beiden verschleppt wurden, auch das Auswärtige Amt hat nach eigenen Angaben keine Informationen über den Verbleib der beiden Journalist:innen.

Für ihre Recherche besuchten Marlene und Matej zivilgesellschaftliche Institutionen und Projekte. Sie erarbeiteten Dossiers über die aktuelle Lebenssituation in der êzîdischen Selbstverwaltung im Şengal, mit dem Ziel, Menschen in Deutschland darüber zu informieren. Gerade hier sollte die Situation im Şengal von besonderem Interesse sein, ist Deutschland doch das Land, in dem ein großer Teil der êzîdischen Diaspora lebt. Mit ihrer Berichterstattung darüber, wie sich die Bevölkerung nach dem traumatischen Krieg organisiert, um sich der immer noch drohenden Gefahr eines Genozids zu verteidigen leisten die beiden Medienschaffenden einen wesentlichen Beitrag für Menschenrechte und Frieden.

Dass Marlene und Matej gerade am Tage des Neujahrsfests Çarşema Sor, einer der wichtigsten kulturellen êzîdischen Feierlichkeiten, festgenommen wurden, und ihre journalistische Arbeit damit kriminalisiert wird, ist kein Zufall. Denn die êzîdische Bevölkerung ist aktuell bedroht.

Schon letzte Woche kam es immer wieder zu Provokationen des irakischen Militärs in der Autonomieregion im Şengal, vor allem gegen die êzîdischen Selbstverteidigungseinheiten (YBŞ), die nach der Befreiung der Region vom „IS“ zum Schutz der Bevölkerung aufgebaut wurden.

Die YBŞ ordnen diese aktuellen Eskalationen der irakischen Armee gegenüber den autonomen Selbstverteidigungsstrukturen als Versuch ein, das sogenannte „Şengal – Abkommen“ Stück für Stück durchzusetzen. Dieser Vertrag wurde von der irakischen Zentralregierung und der südkurdischen Regionalregierung beschlossen und legt im Wesentlichen die Zuständigkeiten von Behörden und Verwaltung der Region Şengal fest. In der Fassung dieses Abkommens nahm die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) des Barzani-Clans, gestützt durch die Türkei, eine Führungsrolle ein. Die êzîdische Selbstverwaltung, die einen Großteil der Region verwaltet, wurde von diesen Verhandlungen komplett ausgeschlossen. Dabei ist die Selbstverwaltung in Şengal für Êzîd:innen vor Ort aber auch in einem globalen Kontext, wichtiger Bezugspunkt, um an ihre Geschichte zu erinnern, für Leben in Freiheit, ihre Kultur und ihre Widerstandsfähigkeit.

Dass der Vertrag über die Region ohne die Beteiligung der Selbstverwaltung abgeschlossen wurde, ist der Versuch der irakischen Zentralregierung, vor allem aber auch der PDK, Kontrolle über das Gebiet zu erlangen und die Autonomie der Êzîd:innen einzuschränken und zu entmachten. Denn vor dem Genozid-Feminizid 2014 – bei dem sich bewaffnete Einheiten der PDK vor den vorrückenden Kräften des „IS“ zurückzogen, statt die Êzîd:innen zu verteidigen–, hatte die PDK komplette Kontrolle über die Region.

Die êzîdische Autonomieregierung steht den Machtansprüchen der südkurdischen Regionalregierung im Wege.

Der Angriff auf die Slebstverwaltung ist dabei über die Frage von territorialer Kontrolle hinaus eine ernsthafte existenzielle Bedrohung für die Êzîd:innen. Es gibt noch immer noch viele „IS“-Anhänger*innen im Irak, Syrien und anderen Ländern, die eine Bedrohung für das Leben der êzîdischen Bevölkerung insgesamtsind. Gerade vor dem Hintergrund des schändlichen Verhaltens der PDK-Truppen 2014 wäre eine Eroberung des Şengal katastrophal. Eine Entwaffnung der Selbstverteidigungskräfte würde die vollständige Schutzlosigkeit der êzîdischen Bevölkerung bedeuten.

Der militärische Angriff ist aber nur eine von vielen Maßnahmen, die der irakische Staat gegen die Selbstverwaltung unternimmt. Neben der Umsetzung des Şengal-Abkommens, ist der irakische Staat zurzeit dabei, zwischen Şengal und Rojava eine Mauer zu bauen, wogegen die êzîdische Gemeinschaft Widerstand leistet. Die befreiten Gebiete in Rojava waren während des Angriffs des „IS“ 2014 der einzige Ort, an den sich die Bevölkerung in Sicherheit bringen konnte.

Gleichzeitig ist der Angriff auf Şengal nicht losgelöst von den Angriffen der türkischen Armee sowohl auf die Medya-Verteidigungsgebiete in den Bergen Südkurdistans als auch auf Rojava zu sehen, die zurzeit stattfinden. Denn Rojava und die Medya-Verteidigungsgebiete stehen in enger Verbindung mit der Autonomieverwaltung im Şengal: die kurdische Selbstverwaltung unterstützt den Aufbau eines freien Lebens und es waren ihre Einheiten, die jene Region vom „IS“ befreit haben. Der Versuch der türkischen Regierung, die eng mit der PDK zusammenarbeitet, durch Lufschläge und Chemiewaffeneinsatz auch die kurdische Selbstverwaltung zu zerstören, ist offensichtlich zusammen mit der Eskalation im Şengal koordiniert.

Es ist politisches Kalkül der irakischen Zentralregierung, genau zu diesem Zeitpunkt der Provokationen und Attacken, internationale Medienschaffende durch das irakische Militär festnehmen zu lassen und sie damit daran zu hindern, über genau diese Eskalationen zu berichten. Es geht darum, ein Signal zu senden und die Presse in ihrer Freiheit einzuschränken und damit die Stimmen, die sich für Gerechtigkeit für die êzîdische Bevölkerung einsetzen, zum Verstummen zu bringen. Bereits im Januar diesen Jahres hatte das irakische Militär drei Journalist*innen festgenommen, die in Şengal die zunehmenden Militärbewegungen beobachtet hatten. Ihre Ausrüstung wurde beschlagnahmt, ihr Aufenthalt war zunächst unbekannt.

Marlene F. und Matej K. gefangen zu nehmen und damit an ihrer wichtigen Arbeit für Frieden, Sicherheit und Menschenrechte zu hindern, ist ein Skandal und sollte auch die gebührende politische Aufmerksamkeit bekommen. Auf der Straße, in den Medien aber auch von der Regierung. Außenministerin Annalena Baerbock hat bereits einen offenen Brief erhalten, indem sie und andere Politiker:innen der Regierung dazu aufgefordert werden, sich für die Freilassung von den beiden Journalist:innen einzusetzen. Sie sollte ihrem Versprechen, eine „feministische Außenpolitik“ zu betreiben, nachkommen und alles in Bewegung setzten, damit die beiden frei gelassen werden.

Es geht dabei auch um ein Zeichen für Pressefreiheit und darum, zu verdeutlichen, dass es von politischem Interesse ist, dass die êzîdische Bevölkerung selbstbestimmt und in Frieden leben kann – genau die Werte, für die sich Marlene und Matej einsetzten.

#Bilder: eigenes Archiv.

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Interview mit Uli, 24 Jahre alt, Student aus Berlin. Uli ist organisiert in verschiedenen Strukturen und Teil der Initiative „PKK Verbot aufheben“.

#Dieter Oggenbach

LCM: Hi Uli, grüß dich. Die deutschen Repressionsbehörden haben mal wieder zugeschlagen. Diesmal gegen dich, unter anderem wurden dein Personalausweis und dein Reisepass eingezogen. Kannst du uns den Vorgang etwas genauer schildern?

Ende Januar 2022 erhielt ich einen Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich innerhalb von vier Werktagen meine beiden Ausweisdokumente abzugeben habe. Hierfür wurde keine Widerspruchsfrist eingeräumt, das hieß konkret, dass es zu Beginn keine rechtlichen Mittel gab, diese Maßnahme zu verhindern. Begründet wurde diese Maßnahme, dass laut Informationen des Berliner Landeskriminalamts (LKA), bekannt gewurden sein sollte, dass ich in der vergangenen Zeit mehrmals Anmelder von Versammlungen und Demonstrationen war. Weitergehend dass einigem einer Auslandsaufenthalte, unter anderem Urlaubsreisen, dem Zweck des Besuchs eines „terroristischen Ausbildungscamps“ in Griechenland gedient haben sollen bzw. in Verbindung stehen könnten. Mit den Maßnahmen gegen mich soll jetzt verhindert werden, dass ich aus der BRD ausreise, da das LKA mir unterstellt an etwaigen Kampfhandlungen im Nordirak/Südkurdistan bzw. der Förderation in Nord-Ost-Syrien teilnehmen zu wollen. Bis zum heutigen Tage sei laut LKA nicht auszuschließen, dass ich in Griechenland ein Ausbildungslager besucht hätte, in welchem ich den Umgang mit Schusswaffen und Sprengstoff trainiert haben könnte.

In den letzten Jahren können wir ja in der BRD einen steigenden Druck auf verschiedene teile der revolutionären Bewegungen feststellen, häufig unter der Konstruktion von vermeintlichen kriminellen oder terroristischen Vereinigungen im Rahmen des § 129a oder § 129b. Wie würdest du das aktuelle Verfahrne gegen dich einordnen in die generelle politische Lage in der BRD bzw. Politik des Deutschen Staates?

Die aktuellen Maßnahmen gegen mich, schätze ich als politisches Kalkül ein. Der deutsche Staat hat einerseits eine langanhaltende Tradition, revolutionäre Bewegungen anzugreifen. Wir können sehen, dass vor allem auch wieder seit 2020 die Repressionsschläge sich häufen, auch gegen Menschen die mit der kurdischen Freiheitsbewegung zusammenarbeiten. Von der Internationalistin Maria und ihrer faktischen Ausweisung und einem Einreiseverbot für die kommenden 20 Jahre (LINK), einem Mitarbeiter des Rojava Information Centers, dem auf Initiative der BRD die zukünftige Einreise in den Schengen Raum verwehrt wurde. Natürlich bezieht sich diese Repression aber insgesamt auf alle Menschen die in revolutionären Bewegungen aktiv sind. Von der Antifaschistin Lina und den Angeklagten im Antifa-Ost-Verfahren, über die Verfahren gegen die Genossen und Genossinnen in Stuttgart oder Hamburg. Dieser steigende Verfolgungsdruck legt nahe, dass die Kapazitäten der Verfolgungsbehörden deutlich erhöht wurden. Unter der neuen Bundesregierung wird, trotz ihres liberalen Erscheinungsbildes, der Repressionsdruck gegen uns alle massiv steigen.

Du hast die Auslandsaufenthalte angesprochen. Unter anderem nehmen die Behörden Bezug auf eine Reise von dir nach Südkurdistan im Sommer 2021 im Rahmen einer internationalen Friedensdelegation gegen den Krieg in Südkurdistan, an welcher ja auch Mitglieder des Deutschen Bundestags teilnehmen wollten. Kannst du uns dazu nochmal etwas mehr sagen?

Diese Friedensdelegation fand wie du sagtest im vergangenen Sommer statt. Gemeinsam mit ungefähr 80 weiteren Genossen und Genossinnen, sind wir nach Südkurdistan gereist, um für eine friedliche Lösung des Kriegs in Südkurdistan zu werben. Für einen innerkurdischen Dialog zu werben, und diejenigen die vom Krieg profitieren zu demaskieren. Der Krieg in Südkurdistan ist ein Krieg in dem ideologische Widersprüche, der faschistische Charakter des türkischen Staates und ökonomische Interessen einzelner Staaten massiv wirken. In diesem Kontext wollten auch wir Internationalisten und Internationalistinnen unseren Platz einnehmen und zeigen, dass wir nicht wegschauen was dort passiert.

Seit der Revolution in Rojava/Föderation Nord-Ost-Syrien, können wir vom Aufkommen einer neuen Phase des Internationalismus sprechen. Viele Genossen und Genossinnen weltweit sind dorthin gereist und haben sich in den verschiedensten Bereichen an der Revolution beteiligt, sich eingebracht, gelernt und sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Damit stieg aber ja auch bereits der generelle Repressionsdruck gegen diese Menschen. Unser Redakteur Peter Schaber war ja, mit anderen gemeinsam, auch von einem § 129 Verfahren betroffen (LINK). Dieser Aufbau von Drohszenarien und der Versuch die Beziehungen zwischen deutscher revolutionärer Linker und kurdischer Freiheitsbewegung zu sabotieren ist hingegen ja nichts neues. Worin begründet sich diese Politik deiner Meinung nach?

Für mich ist das Verhältnis dieser Kräfte eine politisch-historisch gewachsene Verbindung. Schon in den 1990er Jahren begannen Internationalisten und Internationalistinnen sich auf den verschiedensten Ebenen am kurdischen Freiheitskampf zu beteiligen, eine sind in diesem auch gefallen. Wenn wir von der kurdischen Gesellschaft in der BRD sprechen, sprechen wir auch von einer esellschaft die in hohem Maße politisch ist, die in nahezu allen größeren Städten Vereinsstrukturen aufgebaut hat, politisch wirkt. Es gibt hier ein großes Potential, gegenseitig über den eigenen Tellerrand zu schauen. Deutschland spielt im Krieg in Kurdistan seit jeher eine zentrale Rolle. Deshalb ist die Zusammenarbeit der kurdischen Bewegung und den revolutionären Kräften in Deutschland auch eine politisch-ideologische logische Schlussfolgerung. Nur der gemeinsame Kampf kann unsere gemeinsamen Interessen verteidigen, öffentlich machen, durchsetzen und weiterentwickeln.

Jetzt gibt es ja zwei Ebenen in diesem Ganzen Vorgang. Die Verwaltungsrechtliche Ebene mit dem Passentzug und auch eine vermutlich strafrechtliche Ebene. Wie willst du mit dieser Herausforderung umgehen?

Wichtig ist zuallererst, diesen Fall, genau wie alle andere in die Öffentlichkeit zu stellen, zu skandalisieren und sich nicht isolieren zu lassen. Andernfalls bieten wir den Repressionsbehörden immer die Möglichkeit, Präzedenzfälle zu schaffen, die in Zukunft gegen andere Genossen und Gneossinnen verwendet werden können. Druck aufzubauen und Öffentlichkeit auf allen Ebenen ist aktuell das wichtigste. Es ist schon absurd, dass diesen Maßnahmen stattgegeben wurde, da der einzige Vorwurf der zutrifft der ist, dass ich Tatsache einige Demonstrationen angemeldet habe.

Wie gehst du persönlich nun mit dieser Situation um? Wie hat sich dein Alltag verändert? Welche Erfahrungen hast du gemacht mit Solidarität?

Zu Beginn fiel es mir schwer mit diesen Maßnahmen einen Umgang zu finden. Als dieser Brief eintrudelte, hatte ich mehrmals Besuch von Zivilpolizisten des LKA, die versucht haben über meine Mitbewohner und meine Angehörigen Druck auf mich auszuüben und Informationen zu erhalten. Das angeblich schützenswerte Grundrecht der freien Meinungsäußerung in der BRD führt diese Praxis natürlich offensichtlich ad absurdum, letztlich sind diese Aussagen immer eine große Heuchelei. Das Anmelden einer Demonstration und Reisen werden umgedeutet zu einer Art Terrorismus. Natürlich heißt das alles für mich, dass ich mir bewusst werden musste, dass ich nun im Fokus der Ermittlungsbehörden stehe. Unabhängig davon, welche Vorwürfe das LKA versucht zu konstruieren, unabhängig von falschen und wahren Tatsachen, ist es aktuell erst einmal so das gilt was auf dem Papier steht. Was mir vorgeworfen wird, und die vermeintliche Planung von Anschlägen, sind natürlich Dinge, die erstmal schwer wiegen. Auch im Rahmen privater Beziehungen. Dem eigenen Umfeld und auch der eigenen Familie das alles zu erklären, war stellenweise nicht so einfach, denn nicht alle haben den Kontext in dem das alles stattfand nicht direkt verstanden. Oft wird ja das Drohszenario aufgebaut, wenn einen solche Repression trifft, isoliert dazustehen. Ich habe allerdings eine unglaubliche Wärme gespürt. Meine Genossen und Genossinnen sind eine große Unterstützung für mich aktuell. Mir ist wichtig, aber auch heruaszustellen, dass auch wenn Repression natürlich ein Problem ist, sie uns nicht davon abhalten sollte, dass zu tun was notwendig ist, für das Einzustehen von dem wir überzeugt sind. Für uns, die deutsche Ausweispapiere haben, kann das auch sein zum Beispiel eine Demonstration auf unseren Namen anzumelden, da wir aufgrund unseres Passes andere Privilegien erhalten.

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„Serê cîlo çarçella
Benda te me ey Zagros
Baranek hûr hûr barî
Mervanê’m şehîd ketî“

Wenn Genossen und Genossinnen fallen tut das weh. Tausende Emotionen, Erinnerungen, Versatzstücke kommen hoch, ziehen an den Augen vorbei. Und heute ist genau so ein Tag.

Heval Serfiraz Nîdal ist am 10. April 2022 in Rojava nach Kampf gegen eine Krebserkrankung von dieser Welt gegangen.

Wenn ich mich mit Genossen und Genosssinnen über Gefallene unterhalte kommt manchmal die Frage auf, ob man viel Zeit gemeinsam verbracht habe, sich besonders intensiv kennen würde. Denke ich an Heval Serfiraz müsste ich auf den ersten Blick wohl beide Fragen verneinen. Gerade einmal vier Wochen begegneten wir uns, kannten uns nicht aus unseren Kindheitstagen oder gemeinsamer politischer Organisierung.

Revolutionen sind mächtig. Sie bringen tausende Dinge hervor, das Gute, das Schlechte und das Unbestimmte. Und die Revolution in Kurdistan hat ihren Beitrag dazu geleistet, dass sich die Wege von mir und Heval Serfiraz in Rojava kreuzten, für 28 Tage. Und 28 Tage gemeinsam in einer Revolution zu kämpfen, zu leben, zu lachen und zu weinen sind intensiv, lehrreich und unvergesslich.

Die Märtyrer sterben nicht. All diejenigen, die länger mit der kurdischen Freiheitsbewegung und revolutionären Organisationen weltweit zusammengearbeitet haben kennen diesen Satz. Er ist weit mehr als eine Floskel oder pathetisches Gerede, denn der Satz drückt eine grundlegende philosophische Annäherung an das Leben selbst aus. Denn Märtyrer sterben deshalb nicht, weil die Militanten sie weiterhin in ihren Herzen tragen und in ihren Handlungen, Werte und Prinzipien repräsentieren. Dabei geht es nicht um einen Todeskult. Denn wie es viele Revolutionär:innen bereits gelebt haben, lieben wir das Leben so sehr, dass wir bereit sind dafür das eigene Leben zu geben.

Heval Serfiraz war unser Kommandant für den Frontabschnitt an welchem wir im Februar 2021 eingesetzt waren. Wir waren drei Freunde, Internationalisten, welche im Februar noch etwas unsicher in dem Dorf eintrafen, in welchem Serfiraz uns in Empfang nahm und welches für die kommenden Wochen unser Zuhause wurde.

Was uns allen direkt auffiel war die Wärme und der unglaublich gute Humor unseres Verantwortlichen und das in einer Situation in der uns zuerst nicht zu Lachen zu Mute war. Die türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldnertruppen hatten sich seit ein paar Wochen wortwörtlich auf das kleine Dorf festgeschossen, welches von kurdischen, assyrischen und arabischen Kämpfern verteidigt wurde.

Eines Abends war ich zur Nachtwachse gemeinsam mit Serfiraz eingeteilt. Meine erste an diesem Abschnitt und es lag ein Schleier dichten Nebels über dem Gebiet. Kein gutes Wetter, sofern man davon ausgeht ein Angriff könnte stattfinden. Meine Hände waren schwitzig, mein Körper angespannt und ich versuchte Krampfhaft die tausenden Geräusche zu unterscheiden. Serfiraz legte seine Hand an meine Schulter und sagte, dass Angst ein normales Gefühl sei, es ginge aber darum sie steuern zu können. Heval Serfiraz schaffte es mit nur wenigen Worten genau die Ruhe zu erzeugen die es an einem Ort wie der Front braucht, unterschätzte die Lage aber auch nicht. Er verstand es sehr gut eine militante Führung im Alltag und organisatorisch zu entwickeln. Das notwendige Gleichgewicht aus Zärtlichkeit, Zugewandtheit und notwendiger Härte. Allen und vor allem auch sich selbst gegenüber.

Es regnete viel in diesen Tagen, das Dorf glich einem Moor, so tief sanken wir teilweise in den Schlamm ein. Er ließ es sich dennoch nie nehmen, einen tägliche Rundgang zu machen, jede Position und jeden Freund einmal am Tag zu sehen und sich nach deren Befinden zu erkundigen. Serfiraz war zwar unser Kommandant, aber er delegierte nicht nur arbeiten, sondern packte selbst da an wo es notwendig war, für keine Arbeit war er sich zu schade.

Er hatte das große Talent militärische Disziplin mit menschlicher Art und Weise zu leben. Es gab kaum einen Abend, an welchem wir nicht zusammen saßen, Tawla spielten, dutzende Teegläser leerten, an manchen Tagen gemeinsam aßen an anderen gemeinsam nichts aßen oder in der feuchten Erde froren. Serfiraz sprach drei Sprachen, kurdisch, türkisch, arabisch. Denn auch für ihn war die Sprache ein Schlüssel zur Welt, zumal in unserer Einheit wirklich die gesamte Sprachbreite Rojavas repräsentiert war, und die Sprache des Gegenübers zu erlernen bzw. zu sprechen war für ihn eine wichtige Geste des gegenseitigen Respekts. Für mich legte er damit eine große Wertschätzung den eigenen Genossen gegenüber an den Tag, da er selbst bereit war neues zu lernen um sie zu verstehen, er ging nicht davon aus, dass alle ihn verstehen müssten.

Heval Serfiraz war ein sehr neugieriger Mensch, er wollte alles Wissen, über die Lage der revolutionären Kräfte in Europa, über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Vor allem aber begrenzte sich sein Interesse nicht lediglich auf die „harten“ politischen Fragen. Wir diskutierten über den Einfluss von Mode, Popkultur und Musik auf die jeweiligen Gesellschaften. Und Heval Serfiraz hatte eine Eigenschaft, die uns allen als Militante leitend sein sollte: Er schämte sich nicht zu fragen, wenn er etwas nicht wusste oder verstand. So saßen wir teilweise Abende zusammen und übersetzten gemeinsam die Bedienungsanleitungen notwendiger Gerätschaften vom englischen ins kurdische und anschließend ins arabische oder türkische. In all diesen Erinnerungen bleibt für mich immer besonders prägend, dass er bei weitem kein Dogmatiker war. Unsere Diskussionen reichten von Lenins Imperialismustheorie, der Rolle Stalins, Neuerungen in den Programmen der weltweiten kommunistischen Parteien, Diskussionen mit einem anarchistischen Genossen über die Ukraine und Machno, über unsere Lieblingsrezepte unserer jeweiligen Küchen bis hin zur zentralen Rolle der LGTBIQ-Bewegung bei den Gezi-Protesten in der Türkei.

Er war ein wandelnder Erzähler, konnte seine Werdung zu einem militanten der MLKP mit Leben füllen, erzählte auch von seinen eigenen Erfahrungen in der Türkei, Kurdistan oder den türkischen Gefängnissen. Er machte diese Entwicklung greifbar. Ein lebendes Vorbild.

Als wir nach mehreren Worten aufbrachen, erinnere ich mich noch an unseren Händedruck des Abschieds und unser Versprechen, uns wiederzusehen, die feste Umarmung und unser gemeinsames herzliches Lachen.

Lieber Freund, heute habe ich den Namen kennengelernt, den dir deine Mutter bei deiner Geburt gab. Welat. Dein Familienname Yildiz. Land der Sterne. Serfiraz yoldaş, ich werde dich vermissen, genau wie hunderte Andere dich vermissen und in ihren Herzen tragen werden. Und auch ich werde dich bei mir tragen, unabhängig davon wo ich mich befinde und in den Sternenhimmel schauen werde. In meinem oder in deinem Land. Welat.

#Deniz Nîdal

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Obwohl ihm Inhaftierung, politische Verfolgung, Folter und im schlimmsten Fall sogar der Tod drohen, soll der 33-jährige Muhammed Tunç morgen, am 7. April, in die Türkei abgeschoben werden. Zwei Versuche der deutschen Behörden sind aufgrund seiner Wehrhaftigkeit, sowie des Engagements seines Anwalts und einer aktivistischen Öffentlichkeit bereits gescheitert. Doch nun scheint die Landesregierung Baden-Württemberg ernst zu machen: Laut Tunç wurde eigens ein Charter-Flug gemietet, welcher vom Stuttgarter Flughafen gen Diktatur abheben soll. 

Der Ausreisebescheid gegen Muhammed Tunç wurde schon im Jahr 2015 in Folge einer Verurteilung zu einer vierjährigen Jugendstrafe aus dem Jahr 2012 ausgestellt, welche er nach einer Auseinandersetzung mit türkischen Nationalisten absitzen musste. Doch Tunç, dessen Eltern schon aufgrund politischer Verfolgung nach Deutschland kamen, blieb. 2018 wurde er noch einmal verurteilt, diesmal wegen einer Auseinandersetzung mit der heute verbotenen türkisch-nationalistischen Rockergruppe Germanen-Osmania und sogar vorzeitig aus der Haft entlassen. Es ist also völlig unklar, warum ausgerechnet jetzt so vehement seine Abschiebung erzwungen werden soll.

Nicht nur, dass die Menschenrechtslage in der Türkei für linke politische Aktivist*innen und Kurd*innen weiterhin katastrophal ist – ihnen drohen in vielen Fällen aufgrund oppositioneller Äußerungen und Aktivitäten Inhaftierung und Folter. Muhammed Tunç wird zusätzlich von türkischen faschistischen Gruppierungen und Einzelpersonen mit dem Tode bedroht. So postete beispielsweise ein Instagram Account, von dem zuvor schon Drohungen gegen die Linke-Politiker*innen Cansu Özdemir, Gökay Akbulut sowie Civan Akbulut und den Referenten für Migration und Flucht bei medico international Kerem Schamberger abgesetzt wurden, dass er auf die Rückkehr des Fluges von Muhammed Tunç warte. Inklusive Flugnummer. Dahiner findet sich der Hashtag #jitemturkey. JİTEM bedeutet auf Deutsch soviel wie „Geheimdienst und Terrorabwehr der Gendarmerie“ – ein informeller Zusammenschluss von Sicherheitskräften, dessen Existenz zwar im Laufe türkischer Gerichtsverfahren in der Vergangenheit bestätigt wurde, die genaue Organisationsweise und der Zeitraum der Aktivitäten sind jedoch bis heute nicht bekannt. Sucht man im Internet und auf Social-Media-Plattformen nach dem Begriff, begegnen einem nicht nur Schilderungen von Einschüchterungsversuchen gegenüber Oppositionellen, sondern auch massenhaft Fotos und Videos von türkischen Nationalisten, in denen hauptsächlich Panzer, Gewehre und bewaffnete Männer in Uniform zu sehen sind, sowie Berichte über Morde an überwiegend kurdischstämmigen Aktivist*innen, die der JİTEM zugerechnet werden. 

Hinzu kommt, wie Muhammed Tunç im Gespräch mit dem LCM erzählt, dass in seinem Fall mittlerweile nicht mehr nur das Wort „Abschiebung“ sondern auch „Auslieferung“ fällt – denn als Mann in seinem Alter mit einer türkischen Staatsangehörigkeit wäre er dazu verpflichtet einen Wehrdienst in der Türkei abzuleisten. Seiner Schilderung nach, wurde ihm das bei einem Besuch im türkischen Konsulat am 23. März 2022, bei dem er einen Pass beantragte, nahegelegt. Das würde bedeuten, dass er neben einer absehbar schlechten Behandlung innerhalb des Militärs, auch in Gebiete geschickt werden könnte, in denen die türkische Armee aktuell einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt: beispielsweise in Nordsyrien gegen die Kurden. Die einzige Möglichkeit, den Dienst zu umgehen, ist eine Zahlung von mehreren tausend Euro. Muhammed Tunç soll also in ein Land abgeschoben werden, in dem ihm schlimmste Verbrechen drohen. Und falls er das überlebt, soll er sich an ihnen beteiligen – eine perfide Logik.

Und die grüne Landesregierung in Baden-Württemberg? Im letzten Jahr wurden über 1.300 Personen aus dem Bundesland abgeschoben. Unter anderem in Türkei und vor dem Abschiebestop im August 2021 sogar nach Afghanistan. Und dann gibt es noch jene Fälle, in denen die Abschiebung vorerst verhindert werden konnte: Heybet Sener beispielsweise, ebenfalls ein kurdischer Aktivist, der erst vor vier Jahren nach Deutschland geflohen war, weil er in der Türkei verfolgt wurde. Oder Veli I. ein 66-Jähriger, der schon seit 30 Jahren in Deutschland lebt und krank ist. Es gibt viele solcher Fälle. Auch wenn das Ministerium für Justiz und Migration von der CDU geführt wird – die dominante Partei in der Landesregierung ist Bündnis90/die Grünen. Gleichzeitig bezeichnen diese sich selbst auf ihrer Webseite als „ökologisch, ökonomisch und sozial“ und werben für Feminismus und Ukraine-Solidarität. Blanker Hohn für die tausenden Betroffenen grüner Realpolitik.

Muhammed Tunç erzählte dem LCM von seinen Erfahrungen mit der Grünen Partei. Nachdem seine Abschiebung bereits im Februar zweimal verhindert werden konnte, meldete sich der Grüne Landtagsabgeordnete Daniel Lede Abal bei ihm. Er versprach seine Unterstützung und unterbreitete ihm sogar die Möglichkeit, freiwillig in ein Drittland auszureisen. Dem stimmte Herr Tunç zu – denn er weiß, was ihm in der Türkei droht – hatte jedoch immer mehr das Gefühl, dass die notwendigen Schritte für seine Ausreise wieder und wieder verschleppt werden. Bis das Angebot plötzlich am 02. April 2022 zurückgezogen wird. Warum ist unklar. Auf Anfrage äußerte der grüne Landtagsabgeordnete und Sprecher für Migration Lede Abal:

„Politische Verfolgung steht in der autoritär geführten Türkei auf der Tagesordnung. Es ist allgemeinhin bekannt, dass insbesondere politisch aktive Kurdinnen und Kurden in den Fokus des Erdogan-Regimes geraten. Wie andere Betroffene werden auch sie wegen fingierten Gründen willkürlich verhaftet, tyrannisiert, teilweise auch gefoltert. Der Fall Muhammed Tunç löst bei uns daher große Besorgnis aus. Wir halten die Abschiebung des in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Herrn Tunç für falsch. Dies teilten wir bereits vor mehreren Wochen dem Justizministerium mit. Wir haben uns heute erneut mit verschiedenen Fragen an das Justizministerium gewandt und um Stellungnahme gebeten.“

Auf die Frage nach der unterbreiteten Ausreise in einen alternativen Drittstaat, gab er jedoch keine Antwort. Auch das Ministerium für Justiz und der Migration Baden-Württemberg äußerte sich weder zu der Frage, warum Muhammed Tunçs Ausreise plötzlich forciert wird, noch dazu, ob der für morgen geplante Flug trotz seiner aktuellen Covid-19-Erkrankung wie geplant stattfinden soll. Es teilte lediglich mit, dass „Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse […] durch das dafür zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geprüft und verneint“ wurden. Und das, obwohl selbst das Auswärtige Amt in seinen Reise- und Sicherheitshinweisen zur Türkei vor „Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperren“ aufgrund von „regierungskritischen Stellungnahmen“ warnt und betont, dass dies in besonderem Maße Personen betreffe, die unter anderem eine türkische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie dass „die türkischen Strafverfolgungsbehörden […] umfangreiche Listen mit Wohnsitz in Deutschland (führen), die […] zum Ziel von Strafverfolgungsmaßnahmen werden können.“ 

Und auch die Haftbedingungen in der Abschiebungshaft unterscheiden sich laut seiner Aussage nicht wirklich von denen, der ebenfalls in Pforzheim untergebrachten Strafgefangenen: „Hier ist alles gleich geblieben, nicht einmal die Farbe von den Türen hat sich verändert“ – Muhammed Tunç kennt das Gefängnis noch von früher. Schon 2019 stand die Haftanstalt in der Kritik, die Arbeitsgemeinschaft Abschiebehaft warf der Leitung damals fehlende Fürsorge und eine unnötige Reglementierungen der ehrenamtlichen Beratungsangebote in der Anstalt vor. Tunç berichtet in Folge seiner Öffentlichkeitsarbeit und des Anprangerns der Haftbedingungen auch von Schikane seitens der Justizvollzugsangestellten. So wurde ihm zum Beispiel im März sein eigenes, offiziell zugelassenes, Handy abgenommen worden – stattdessen bekam er eine Sim-Karte, bei der die Minute 0,33€ kostet und seine Telefonzeit wurde auf zehn Minuten pro Tag beschränkt. 

Betrachtet man die Abschiebepraxis der grün-schwarz geführten Landesregierung im Allgemeinen und den Fall Muhammed Tunç im Besonderen, stellt man wieder einmal fest, dass die Grüne Partei so gar nicht das umsetzt, wofür sie angeblich wirbt. Einen Charterflug in die Türkei zu mieten, um eine Person abzuschieben, die dort mit ziemlicher Sicherheit politischer Verfolgung von staatlichen und staatsnahen Gruppen ausgesetzt sein wird, ist weder ökonomisch noch ökologisch, geschweige denn sozial. 

#Foto: pixabay

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Am 16. März jährte sich der Giftgasangriff irakischer Truppen auf die kurdisiche Stadt Halabdscha zum 34. Mal. Unsere Autor:innen Lea Steding und Wanja Musta waren zu den Gedenfeierlichkeiten in Halabdscha und schreiben über die Hintergründe des Massenmordes und die Rolle Deutschlands bei seiner Durchführung.

Es gibt eine Metapher in Kurdistan für das, was am 16. März 1988 in der Stadt Halabdscha passiert ist: „elmar kokosu“, der „Geruch von Äpfeln“. Nach einer Bombardierung, beim Verlassen der Schutzräume stieg den Überlebenden dieses Aroma in die Nase. Ein Zeitzeuge berichtet: „Anfangs roch es wie vergorener Müll, dann entfaltete sich ein Duft wie von süßen Äpfeln“. Innerhalb der nächsten Stunden starben über 5.000 Menschen an den Folgen des Giftgases. 10.000 weitere wurden durch schwerste Verbrennungen und Verätzungen dauerhaft geschädigt.

Der erste Journalist, der Halabdscha nach dem Angriff erreichte, war der türkische Fotograf Ramazan Öztürk. In einem Interview beschrieb er: „Wir kamen 24 Stunden nach dem Angriff in die Stadt. Es war geradezu lautlos. Keine Vögel, keine Tiere. Nichts Lebendiges war zu sehen. Die Straßen waren mit Leichen bedeckt. Ich sah Säuglinge, die in den Armen ihrer toten Mutter lagen. Ich sah Kinder, die im Todeskampf ihren Vater umarmt hatten. Während des Fotografierens habe ich die ganze Zeit geweint und zu Gott gebetet, dass es ein Traum sei und ich gleich aufwache. Ich erinnerte mich an Berichte aus dem jüdischen Holocaust, wie die Opfer in den deutschen Gaskammern übereinander nach oben geklettert wären, um voller Verzweiflung dem Gas zu entkommen. In Halabdscha sah ich viele, die in Gruppen gestorben waren und so wirkten, als hätten sie gemeinsam versucht das Gift nicht einzuatmen.

Ein Blick in die Vergangenheit

Vor dem Giftgasangriff hatte am Morgen die irakische Luftwaffe unter Saddam Hussein die Stadt bombardiert. Halabdscha war unmittelbare Frontlinie und wenige Tage zuvor waren iranische Truppen in der Stadt gewesen. Die Kurd*innen selbst wurden von irakischer Seite als Verbündete von dem Kriegsgegner Iran bezeichnet. „Vernichtet sie“, lautete einer der Befehle des Regimes Saddam Husseins.

Die Zentralregierung Iraks hatte zu diesem Zeitpunkt ein besonderes Augenmerk auf Halabdscha. Die Autonomiebestrebung der Kurd*innen hatten sich bis ins Jahr 1987 zu Anti-Regierungsprotesten zugespitzt. Die Antwort durch das irakische Militär waren Hinrichtungen von Demonstrant*innen, zahlreiche Verhaftungen und das Einreißen der Häuser derer, die den Widerstand gegen die Regierung unterstützten.

Bereits zu der Zeit war bekannt, dass die irakische Luftwaffe Giftgasangriffe gegen dutzende kurdische Dörfer durchführte. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker berichtete in deutschsprachigen Medien darüber.

Ein Tag vor dem großen Giftgasangriff gegen Halabdscha war die Stadt von kurdischen Rebell*innen der PUK (Patriotic Union of Kurdistan) mit Hilfe der Iranischen Armee eingenommen worden. Die PUK ist auch heute noch hier die dominante politische Partei.Als Antwort darauf flogen ab 11 Uhr morgens Kampfflugzeuge der irakischen Luftwaffe über die Stadt und die Bombardierungen begannen.

Die deutsche Verstrickung

Auch deutsche Akteur*innen waren an diesem unfassbaren Verbrechen beteiligt. Doch auch diese Verwicklungen geraten zu leicht in Vergessenheit. Unkrautvernichtungsmittel sollen es gewesen sein, deren Zutaten deutsche Firmen in Unmengen an den Irak verkauften. Über zwei Drittel der irakischen Giftgasanlagen kamen, laut Berichten von Medico international, von deutschen Firmen. „Später wurde bekannt, dass in den Firmen zahlreiche Mitarbeiter des BND arbeiteten. Deutsche arbeiten an der Weiterentwicklung der SCUD-Raketen und am irakischen Atomprogramm.“, heißt es weiter in dem 2013 veröffentlichten Bericht „Halabdscha – In Erinnerung an den Giftgasangriff auf irakische KurdInnen“.

Der Menschenrechtsanwalt Gavriel Mairone vertritt die Überlebenden in einem Prozess gegen die Täter. Aufgrund der ihm vorliegenden Beweismittel hält er drei Firmen aus Deutschland für die wichtigsten Akteure im Bau der Giftgasalagen unter Saddam Hussein: Das ist zum einen die Preussag AG, die ihren Namen 2002 in TUI umgeändert hat und heute ihre Geschäfte als Tourismusunternehmen macht; zum zweiten die Firma Karl Kolb und das Subunternehmen Pilot Plant – sie haben die Chemiewaffenfabriken entworfen und geliefert. Mit dabei war auch die Konstruktionsfirma Heberger Bau, welche Bunker und Untergrund-Fabriken errichtet hat.

So lieferten diese Firmen doch nicht nur Unkrautvernichtungsmittel, sondern gleich die ganze Infrastruktur zur Massenvernichtung dazu. Auch Kühlhäuser und Gaskammern, um das Gift zu testen, gehörten dazu. Der US-amerikanische Anwalt Gavriel Mairone gibt an: „Zwei riesige Inhalationskabinen haben Karl Kolb und TUI bei der deutschen Firma Rhema Labortechnik bestellt. Diese waren drei mal drei Meter groß, was viel zu groß ist, um Tests an kleinen Insekten durchzuführen. Die waren entworfen worden, um zunächst Tests an Hunden durchzuführen und später an Eseln. Es gibt Berichte, dass auch iranische Kriegsgefangene benutzt wurden, um die Chemiewaffen an ihnen zu testen.“

Das alles ist den deutschen Behörden schon weit vor dem Anschlag bekannt gewesen. So berichtete der US-Geheimdienst bereits in den frühen 80er-Jahren dem Kölner Zollkriminalinstitut, mit hunderten Dokumenten, über die Unterstützung der Firmen des Saddam-Regimes. Trotz dieser Informationen und den gesammelten Beweisen blieb eine tiefgehende rechtliche Aufarbeitung von deutscher Seite aus.

In einer späteren Anfrage des SWR2 wiesen die Firmen die Vorwürfe zurück. Die TUI AG berief sich darauf, dass ihr Firmenname und der Zweck sich seit 2002 geändert habe und sie sich komplett aus der industriellen Sparte zurückgezogen habe. Dadurch kann, laut Gericht in Darmstadt, kein Zusammenhang mehr zu den Ereignissen im Irak 1988 hergestellt werden. Karl Kolb versucht, den Transport der Materialien nicht zu leugnen, sondern nur das Wissen um dessen Nutzung. Doch war die deutsche Botschaft in Bagdad wohl schon Anfang der 80er-Jahre von einem Mitarbeiter der Firmen darauf Aufmerksam gemacht worden, dass es sich bei den Geschäften nicht um Ungezieferbekämpfung handelt. Dieser Mitarbeiter wurde einen Monat später gekündigt. Als der deutsche Ingenieur Fritz-Willi Dörflein ein Jahr später die Anlage besuchte und einen der Arbeiter fragte, was sie dort machten, soll ihm dieser geantwortet haben: „Wir stellen Mittel gegen Ungeziefer her – gegen Wanzen, Flöhe, Heuschrecken, Perser, Israelis“.


Auch auf politischer Ebene ging die Übernahme von Verantwortung nicht weiter, ganz im Gegenteil. Die Frage ist, inwieweit die deutsche Regierung Reparationszahlungen an die Hinterbliebenen und die Stadt Halabdscha zahlen muss. Im Jahr 2021 lehnte hierzu der Menschenrechtsausschuss den dazu vorliegenden Antrag ab. Dabei stimmten vor allem CDU/CSU, SPD, FDP und AfD dagegen. Die Grünen enthielten sich. Von Seiten der Grünen-Fraktion bezog Kai Gehring Stellung. „Auch wenn wir grundsätzlich das Anliegen teilen, kritisieren wir die Art der Befassung mit derart schweren Verbrechen und die unzureichende Einordnung der ‚Anfal Operation‘ in den historischen Gesamtkontext“, heißt es in seiner schriftlichen Aussage dem SWR2 Wissen gegenüber.

Die Zurückhaltung der deutschen Regierung mit der Aufarbeitung des Giftgasangriffs auf Halabdscha muss auch im größeren Zusammenhang gesehen werden. Berlin zeigt hier nämlich vor allem seine Haltung gegenüber den Kurd*innen. Diese Haltung hat eine Kontinuität. So wurde nach dem Überfall auf Afrin 2018 durch das türkische AKP/MHP-Regime bekannt, dass hier auch deutsche Waffen eingesetzt wurden. Doch statt Waffenexporte zu stoppen, bzw. klare Sanktionen auszusprechen, wurde dem treuen Kunden der deutschen Waffenindustrie die Fortsetzung seines Angriffskriegs gewährt.

Die türkische Regierung bombardiert in Permanenz vermeintliche Stellungen „terroristischer“ Gruppen in kurdischen Gebieten. Gemeint ist damit die Guerilla der PKK. Eine historische Parallele zu Halabdscha ist dabei auch nicht weit entfernt. Erdogan behauptet, er würde „nur“ die PKK bombardieren, genauso wie Saddam Hussein behauptete, er würde „nur“ die iranische Armee bombardieren, aber tatsächlich werden Zivilist*innen und Geflüchteten Lager die Opfer dieser Angriffe. Doch die deutsche Regierung sieht keinen Grund einzugreifen. Dabei spielt die sogenannte deutsch-türkische Freundschaft eine große Rolle. Diese bekommt die Bevölkerung vor allem dadurch mit, dass deutsche Parlamentarier*innen an ihrer Ausreise in kurdische Gebiete gehindert werden, wie im Juni 2021 als Hamburgs Linken-Fraktionschefin Cansu Özdemir zu einer Friedensdelegation in die Autonome Region Kurdistan reisen wollte; oder dadurch, dass selbst Kurd*innen in Deutschland ständiger Gefahr einer Abschiebung durch die Bundesregierung in die Türkei ausgesetzt sind. Was sie dort erwartet ist eine Verurteilung wegen „Terrorpropaganda“ – gemeint sind damit kritische Social-Media-Beiträge für Grundrechte von Kurd*innen, wie es beispielsweise im Fall von Heybet Sener in München aktuell passiert.

Klar ist, dass Saddam Hussein bis zum 2. Golfkrieg durch unklar formulierte Außenwirtschaftsgesetze und durch verdrehte Freiheitsprinzipien seitens Deutschlands unterstützt wurde. So wurden durch die sogenannte Dual-use-Regel, also wenn Geräte sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können, die Firmen durch die deutsche Gesetzgebung freigesprochen. Aber auch die deutsche Politik selbst versucht, sich der Verantwortung – damals wie heute – zu entziehen. Wie einst der Sprecher der Kolb-Pilot-Plant sagte: „Für die Leute in Deutschland ist Giftgas eine ganz furchtbare Sache, Kunden im Ausland stört das nicht“.

Damals wie Heute

Heute, 34 Jahre später, sind die Spuren des Anschlags verdeckt. Die Häuser wurden platt gemacht, Keller versiegelt und neue Gebäude darauf errichtet. Nur wenige Ruinen, die Gedenkstätte und ein Park erinnern an das Verbrechen. Doch das Trauma steckt tief in der Gesellschaft und die Gespräche mit den Bewohner*innen führen immer wieder zu dem Ereignis am 16.März.

Auch die Gedenkstätte und die alljährliche Gedenkveranstaltung wird nicht gut von der Bevölkerung angenommen. Ganz im Gegenteil. Während bei der diesjährigen Gedenkveranstaltung an der offiziellen Gedenkstätte sich für kaum mehr als eine halben Stunde Politiker*innen ablichten lassen, formiert sich am Basar eine spontane Gegendemonstration. Die Menschen sind voller Zorn. Ohne Transparente, Fahnen oder Schilder versammeln sie sich und schreien. Wen sie anschreien scheint dabei fast egal. Ob es nun das Militär ist, das die umliegenden Straßen absperrt, oder die Journalist*innen die heran geeilt kommen oder vorbei gehende Passant*innen. Ihnen wird so oder so das Gefühl gegeben, nicht gehört zu werden. Dabei sind die Inhalte ganz klar. Jeder Mensch, der hier wohnt, hat nahe Verwandte durch den Anschlag verloren und dazu oftmals die komplette eigene Existenz. Während schöne Worte jedes Jahr wiederholt werden, übernimmt niemand wirklich Verantwortung. Weder hier im Inland, noch im Ausland.

Dass das den Menschen nicht reicht macht auch Kak Narshirwan klar. Er ist Lehrer an einer staatlichen Schule in Halabdscha. Mit ausländischen Medien spricht er eigentlich nicht, außer er hat das Gefühl, dass sie nicht nur kurz einmal im Jahr über das Leid der Menschen aus seiner Stadt berichten wollen. Er möchte, dass die Perspektive der Leute nach außen kommen. Kak Narshirwan spricht von Verantwortungslosigkeit der Regierung, als er die wenigen verbliebenen zerbombten Teile des alten Basars anschaute. Eigentlich müssten diese in den letzten Jahrzehnten schon längst wieder aufgebaut worden sein, meinte er, aber weder dieser Teil noch die anderen Häuser, die zum Großteil durch die Bevölkerung selbst wieder aufgebaut worden sind, wurde durch die Regierung unterstützt. Der Konflikt zwischen der kurdischen Regierung und den Regierungen der Zentralstaaten, die Kurdistan besetzt halten, im speziellen der irakischen, seinen dabei in den letzten Jahren ein zentraler Punkt gewesen. Die kurdische Regionalregierung in der Autonomen Region Südkurdistan kann sich dabei nicht auf Zuständigkeiten mit dem Irak einigen. Dabei leiden nicht nur die Reparationszahlungen und der Umgang mit Halabdscha darunter, sondern auch alle staatlich organisierten Stellen. So sagt der Lehrer fast beiläufig, dass er seit fast zwei Monaten kein Gehalt bekommt und deswegen seit gut 2 Wochen mit seinen Kolleg*innen fast überall in der Autonomen Region in Streik getreten ist. Auch hier sind sich die zwei Regierungen nicht einig. Es herrscht Perspektivlosigkeit und Frust, erklärt er. Nicht nur Deutschland gegenüber, oder der irakischen Zentralregierung, sondern auch gegenüber den zwei größten Parteien der kurdischen Regierung, die sich immer wieder dem Westen und kapitalistischen Denkweisen anbiedern.

„Die Menschen in Halabja haben vor allem einen Wunsch. Sie wollen gesehen werden. Sie wollen, dass ihr ‚Schicksal‘ als solches anerkannt wird – und nicht als x-beliebiges Kriegsverbrechen in der Menschheitsgeschichte“, wie der Überlebende Omid Hama Ali Rashid sagt. Der „Geruch von Äpfeln“ erinnert noch heute viele Menschen aus der Region an dieses grauenhafte Verbrechen. Doch liegen die Missstände nicht ausschließlich in der Vergangenheit. Sowohl die Suche nach Verantwortlichen und Wiedergutmachung, als auch die Fortführung der Unterdrückung der Kurd*innen zieht sich bis heute fort. Deutschland hat dabei eine wichtige Rolle. Aktuell sieht diese Rolle so aus, dass wechselnde Regierungen die Unterdrückung unterstützen und die Aufarbeitung behindern. So liegt es gerade an der kurdischen Community und deren Unterstützer*innen in Deutschland weiter darum zu streiten, dass die deutsche Bundesregierung ihre Verantwortung anerkennt und ihre „Freundschaft“ mit dem türkischen AKP/MHP-Regime beendet.

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Eine Gruppe an den Ideen des kurdischen Revolutionärs Abdullah Öcalan orientierter Aktivst:innen hat ein Akademie-Projekt begonnen. Wir haben mit ihnen über ihre Ziele gesprochen.

Vor kurzem habt ihr die Akademie der Demokratischen Moderne ins Leben gerufen. Was können wir uns darunter vorstellen? Wer seid ihr und was sind eure Ziele?

Wir sind eine Gruppe von AktivistInnen, die aus unterschiedlichen Kontexten und sozialen Kämpfen zusammengekommen sind. Wir sehen unsere Aufgabe im Aufbau der Demokratischen Moderne, in der Bildungsarbeit zur Schaffung eines neuen Verständnisses von demokratischer Politik, gesellschaftlicher Aufklärung und für ein neues politisch-moralisches Bewusstseins, welche die Grundlagen einer freien Gesellschaft bilden. Gleichzeitig betrachten wir das Schaffen von neuen Netzwerken und Verbindungen zwischen demokratischen Kräften als grundlegende Voraussetzung für den Aufbau der Demokratischen Moderne. Über die Schaffung von Foren und Plattformen wollen wir zur Stärkung des internationalen Erfahrungsaustausches beitragen und bestehende Kämpfe verbinden.

Wenn ihr von „Demokratischer Moderne“ sprecht, was meint ihr damit?

Die Demokratische Moderne, basierend auf einer demokratischen Gesellschaft, einer ökologischen Industrie und dem politischen Systems des Demokratischen Konföderalismus, begreifen wir als Gegensystem zur existierenden Weltordnung, der Kapitalistischen Moderne. Dabei stützen wir uns auf die Theorie und das politische Denken Abdullah Öcalans, welcher den meisten wohl eher als Repräsentant und Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung bekannt ist.

Abdullah Öcalan analysiert in seinen Schriften die Geschichte der Zivilisation, als Kampf zwischen zwei Linien welche immer parallel zueinander aber im ständigen Widerstreit miteinander existiert haben. Auf der einen Seite der Geschichte stehen dabei die Widerstände der Gesellschaft, der Ausgebeuteten und Unterdrückten, der Frauen und der Jugend sowie alle Versuche eines selbstbestimmten und freien Lebens. Diese Geschichte reicht von den antiken Sklavenaufständen bis zu den Klassenkämpfen, Revolutionen und nationalen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts. Auf der anderen Seite finden wir die Geschichte der Herrschenden, der Staaten und Imperien, der Könige und Despoten.

Wir gehen davon aus, dass auch heute zwei „Modernen“ nebeneinander existierenden und der Kapitalismus gar nicht so fest im Sattel sitzt, wie das manchmal scheinen mag. Die Intensität der Krise der Kapitalistischen Moderne nimmt für die Menschen weltweit spürbar zu und die Ablehnung wächst. Die Frage nach Alternativen wird mittlerweile in breiten Kreisen gestellt und diskutiert. In den Massenprotesten und Aufständen der vergangenen Jahre, dem Neuerwachen einer globalen Frauenbewegung, der jungen Klimagerechtigkeitsbewegung, den Protestbewegungen gegen Rassismus und weiße Vorherrschaft, aber auch den Massenstreiks in Industrie und Landwirtschaft vor allem im globalen Süden, wird die Demokratische Moderne fassbar und nimmt Gestalt an.

Die alte und die neue Welt, also die Kapitalistische Moderne und die Demokratische Moderne existieren heute schon nebeneinander und ineinander verschränkt. Doch während die Kapitalistische Moderne ein hochorganisiertes und weltumspannendes System darstellt, ist die Alternative bis heute unorganisiert, zersplittert und ohne einen strategischen und vereinigenden Vorschlag der gemeinsamen Organisation. Unter der Demokratischen Moderne verstehen wir auch den Vorschlag, die voneinander isolierten Kämpfe unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen.

Wir nehmen mal an es ist kein Zufall, dass ihr eure Seite am 18. März, dem Jahrestag der Ausrufung der Pariser Kommune 1871, vorstellt, oder?

Das ist richtig. Das ist natürlich kein Zufall. Wir finden es wichtig, an die Geschichte demokratischer und revolutionärer Bewegungen anzuknüpfen und von den Kämpfen, Erfolgen und auch Niederlagen der Vergangenheit zu lernen. Daher hat das Datum natürlich eine besondere Bedeutung für uns. Die Pariser Kommune hat in der Epoche der Kapitalistischen Moderne als einer der ersten und der konkretesten Versuche eine andere Welt aufzubauen, Symbolcharakter gewonnen. Die Kommune mit ihrer basisdemokratische Organisationsform, durch welche sich die Menschen selbst ermächtigen ihr Leben in die eignen Hände zu nehmen, ist für uns das konkrete Modell wie eine Gesellschaft sich selbst verwalten kann. Im Demokratische Konföderalismus, welchen wir als politisches System gesellschaftlicher Verwaltung und Alternative zum Nationalstaat liberaler oder autoritärer Prägung, vorschlagen, ist die Kommune die kleinste Zelle gesellschaftlicher Selbstorganisation. Ganz praktisch findet dieses Modell heute seine Anwendung in der autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens und anderen Teilen Kurdistans.

In eurem Selbstverständnis, sprecht ihr von einer Krise revolutionärer und demokratischer Bewegungen, aber auch von einer globalen Suche nach Alternativen. Wie seht ihr eure Rolle in der Suche nach neuen Ansätzen?

Wir konzentrieren uns vor allem auf Bildungsarbeit und wollen eine Plattform bieten, um Lösungsansätze für lokale Probleme als auch die grundlegenden Widersprüche des herrschenden Systems zu diskutieren. Wir sind davon überzeugt, dass eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung nicht ohne den Aufbau der nötigen Organisation denkbar ist. Und dass eine Organisation nichts ist, ohne eine kohärente und solide theoretische Grundlage. Gleichzeitig betrachten wir es als unsere strategische Aufgabe, die bestehenden Kämpfe zu verbinden und globale Netzwerke des Austausches und der Solidarität zu schaffen.

Durch Erfahrungsaustausch und Dialog kann gegenseitiges Verständnis und kollektives Bewusstsein geschaffen werden. Dabei geht es uns darum, ideologische Gräben zu überwinden und unsere geteilten Werte und Interessen in den Vordergrund zu stellen. Wir wollen ein Bewusstsein für die historische und globale Verbundenheit aller Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung schaffen, um so unseren Kämpfen weltweit zu neuer Stärke zu verhelfen. Die Lösung der dringendsten Menschheitsprobleme verlangt heute mehr denn je zuvor die Schaffung globaler Plattformen und Strukturen. Allein die ökologische Katastrophe macht deutlich, dass einzelne isolierte Lösungsansätze zum Scheitern verurteilt sind. Erst die Verbindung der lokalen Arbeit mit einer globalen Perspektive, kann einen Ausweg aus der Krise eröffnen.

Also geht es euch um mehr als Theorieproduktion …

Ja, unsere Ideen bringen schließlich nichts, solange sie nur schöne Worte bleiben. Zur Überwindung der Kapitalistischen Moderne braucht es auch konkreter lokaler und globaler Strukturen. In diesem Sinne betrachten wir unsere Arbeit als einen Beitrag zum Aufbau des Demokratischen Weltkonföderalismus. Mit der Verbreitung von Ideen, der Erarbeitung einer theoretischen Basis und der Mobilisierung und Vernetzung des bestehenden organisatorischen Potentials wollen wir den Weg dafür bereiten, die Demokratische Moderne aufzubauen. Wenn es gelingt, demokratische Politik im Alltag auszuweiten – durch Bündnisse, Räte, Kommunen, Kooperativen, Akademien –, wird sich die Kraft der Gesellschaft entfalten und für die Lösung gesellschaftlicher Probleme zum Einsatz kommen. Letztendlich geht es darum im Weltmaßstab die nötigen, Plattformen, Netzwerke und Organisationen zu schaffen, die es braucht, um im 21. Jahrhundert das kapitalistische System tatsächlich herauszufordern. Wir denken, dass wenn die Herrschenden über unzählige Gremien, Plattformen und Orte der Koordination verfügen, dann muss auch unsere Seite der Geschichte sich global organisieren und Orte der gemeinsamen Planung und Aktion schaffen. Auch wenn in den letzten Jahren viele vielversprechende Versuche unternommen worden sind, so spüren wir doch, ganz besonders in Zeiten in denen der imperialistische Krieg weite Teile der Welt heimsucht, die dringende Notwendigkeit internationale Strukturen und Organisationen revolutionär-demokratischer Kräfte zu schaffen.

Klingt ambitioniert. Aber was wollt ihr kurzfristig machen um dem Ganzen näher zu kommen?

Wir fangen im Kleinen an. Ein erster ist Schritt die Website mit der wir in Zukunft eine Plattform für den Diskurs über die Demokratische Moderne bieten wollen. Gleichzeitig wollen wir dort ideologische Schriften, Übersetzungen und eigene Perspektiven veröffentlichen. Es geht zuallererst auch darum, in bestehende Diskurse zu intervenieren und neue Horizonte aufzuzeigen. Über gesellschaftliche Bildungsarbeit, Konferenzen und Publikationen können Inhalte vermittelt und die theoretische Grundlage für eine erfolgreiche Praxis gelegt werden. Durch diese Arbeit erhoffen wir uns Möglichkeiten mit möglichst vielen revolutionär-demokratischen Kräften in Austausch zu kommen und gemeinsam die Diskussion über das was zu tun ist, vertiefen.

#Foto: ANF

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Die PalästinenserInnen schrieben sich zur Kommunikation gegenseitig Notizen, die sie an Steine banden und zwischen den Baracken hin und her warfen. Dort wo sie auf den Boden fielen, wurden sie gelesen, wenn sie an jemanden aus dieser Baracke adressiert war, wurde die Notiz übergeben, wenn sie aber an andere adressiert war, wurde sie einfach weiter geworfen. Diese Methode haben auch wir ausprobiert.

Das Interview ist ursprünglich in türkischer Sprache erschienen auf Yeni Özgür Politika: https://www.ozgurpolitika.com/haberi-israil-esir-kampindan-kurdistan-a-154645. Für leichtere Verständlichkeit wurde die deutsche Übersetzung an einigen Stellen leicht angepasst. (Teil 3 von 3, Teil 2 findet ihr hier)

Von EMRULLAH BOZTAŞ
Übersetzt von Tekoşin Şoreş & Kerem

Während des Gesprächs erzählte uns Xalid Çelik, dass es vom ersten bis zum 26. Tag der Gefangenschaft intensive Folter gegeben hat. Jene, die besonders zur Vernehmung ausgesucht wurden, kamen nie wieder zurück. Sie waren komplett verschollen. Er berichtet uns über die zwei Jahre, die er in Gefängnissen in Israel und Syrien verbracht hat und wie er schließlich in die Berge Kurdistans und in Freiheit gelangt ist.

Hatten die israelischen SoldatInnen erfahren, wer ihr wart?

Die Israelis wussten nicht, dass wir von der PKK waren. Am ersten Tag hatten sie uns gefragt, wer wir waren. Wir hatten diese Ausweise. Die haben wir ihnen dann gezeigt. Später haben wir erfahren, dass es auch andere solcher Camps gab und dass auch dort GenossInnen waren. Wir wussten bis dato nichts über die anderen FreundInnen. Dass die Freunde auf der Burg Arnon gefallen waren, haben wir erst dort erfahren und dann auch ein Gedenken organisiert. Unter den Gefallenen war auch mein Bruder Kemal. Die Freunde Abdullah Kumral, Irfan Ay und Mustafa Marangoz waren auch darunter. Sie waren aktive Militante der PKK. Ich kann mich an die Gesichter von allen erinnern.

Irgendwann begannen die Vernehmungen unter Folter. Zahlreiche PalästinenserInnen überlebten diese nicht. Viele waren danach behindert. Von denen, die „speziell ausgesucht“ wurden, mal ganz zu schweigen. Diese waren danach komplett verschollen.

Wir hatten unter uns einen Beschluss gefasst, den uns ein junger Mann aus Qamishlo, der auch bei uns war, vorgeschlagen hatte. Er lebt noch und er möge hoffentlich noch lange leben. Er meinte, dass wir nicht sagen sollten, dass wir Fedais sind (Menschen, die ihr ganzes Leben dieser Sache gewidmet haben und bis zum Tod kämpfen), sondern arme Menschen aus Qamishlo, die hier zum Arbeiten wären. Wir sollten sagen, dass es in unserem Land Arbeitslosigkeit gebe, wir keine Schulen besucht hätten und deshalb auch die arabische Sprache nicht sprechen. Außerdem sollten wir ihnen vorwerfen, dass wir ihretwegen nicht mehr arbeiten könnten, weil sie uns gefangen hielten. Dieser junge Mann aus Qamishlo war selbst syrischer Soldat und geriet so in Gefangenschaft. Auf diese Aussage hatten wir uns geeinigt. Ein, zwei von uns haben dann bei der Vernehmung gesagt, dass wir aus Syrien sind. Einer von diesen war Mehmet Teşk, der später dann in Mazgirt (Anm. d. Red.: Kreisstadt in Dêrsim in Nordkurdistan) gefallen ist. Wir sagten “Wir sind Syrer, aus dem Dorf X, ihr könnt die anderen fragen“. Wir sagten das zwar, aber jedes Mal schickten sie uns mit schlimmer Folter, Schlägen und Beleidigungen wieder zurück in unsere Baracken. So vergingen 26 Tage.

Wir blieben bei der Vernehmung konsequent und änderten nichts an unseren Aussagen. Drei weitere Freunde sagten, dass sie irakische Kurden seien, weil sie sich nicht sicher waren, ob sie „syrische Kurden“ sagen sollten, da Syrien und Israel im Krieg waren. Deshalb behaupteten sie, sie seien irakische Kurden. Ein paar andere erzählten, dass sie iranische Kurden seien und dass sie in ihrer Heimat Unterdrückung erfahren hatten. Von dem verletzten Freund wussten wir zu dem Zeitpunkt nichts, erst später haben wir von ihm erfahren.

Die Zeit verging, der Herbst kam. Währenddessen wurden die Plätze der Palästinenser ständig gewechselt. Sie haben dort Schlimmes durchgemacht. Derweil hatten auch wir ein wenig Arabisch gelernt. Einmal brachten sie einen neuen ins Camp, den wir fragten, ob es in seinem früheren Lager irgendwelche Kurden gegeben hatte. Als er sagte, dass er auf PKKlerInnen getroffen war, fühlte es sich so an, als hätte er uns die Welt geschenkt. Es reichte uns, dass wir „Hizb al Umaal al Kurdistan“ (Anm. d. Red.: Arabisch für Arbeiterpartei Kurdistans) aus seinem Mund verstanden. Wir waren in dieser Sache also nicht allein. Es waren jeweils fünf, vier und drei Freunde. Nach gründlicher Recherche fanden wir heraus, dass sogar der Freund Seyfettin Zoğurlu, einer der bekanntesten FreundInnen, unter ihnen war.

Wir fragten uns durch und brachten in Erfahrung, wer sich in welchem Camp befand. Unsere PalästinenserInnen nutzten ihre bekannte Steinwurfmethode. Wir probierten das auch. Der Freund Seyfettin hieß Selim. Wir hatten einen Brief geschrieben und ihn von unserer Situation informiert. Nach kurzer Zeit kam schon eine Antwort. Er informierte uns über Gefallene und Gefangene. So bekamen wir einen besseren Überblick über die Situation. Später besuchte das Rote Kreuz die Gefangenenlager. Ab Winterbeginn konnten wir auch über das Rote Kreuz Briefe an andere Lager schicken. Diese Briefe waren ausführlicher. Die Israelis hatten nichts dagegen und erlaubten das. Vereinzelt ließen sie manche von uns frei. Zum Beispiel, wenn sie erfuhren, dass jemand irgendein libanesischer Händler war. Ihr Ziel war, alle Fedais zu versammeln, um mehr Klarheit zu schaffen. Ähnlich wie in türkischen Kerkern, wurden auch dort täglich die Gefangenen gezählt. Wir erfuhren, dass bei diesen Zählungen auch der türkische MIT-Geheimdienst immer dabei war. Wenn sie bekannte Gesichter sahen, nahmen sie die Leute mit. Deshalb verhielten wir uns nach Erlangung dieser Information besonders vorsichtig. Aufgrund seiner Position und auch seines Alters schickten wir unsere Berichte immer an den Freund Seyfettin. Wir berichteten ihm, was passiert und wie die Situation und unsere Haltung im Gefangenenlager war. Für uns war das wie eine Rückkehr. Er bewertete unsere Haltung positiv, was uns ein wenig erleichterte. An Newroz kam von ihm eine Notiz mit der Info, dass er eine Newroz-Erklärung auf Arabisch vorbereitet hätte und dass wir in unseren Camps die PalästinenserInnen versammeln und ihnen diese Erklärung vorlesen sollten. Darin ging er auf die Bedeutung von Newroz, dem Wert, den die PKK dem Fest beimisst und was es für das arabische Volk bedeutet, ein. In manchen Camps waren bis zu vierhundert Personen. Wir versammelten alle und lasen ihnen die Erklärung vor.

Es gab im Lager einen Kurden aus Kobanê, der wirklich zum Arbeiten gekommen war. Er sprach gut Arabisch. Im Lager waren zwar viele Kurden, aber keiner von ihnen sprach wirklich gut Arabisch. Diesem Jungen sagte ich, dass er diese Erklärung lesen  und den Leuten sagen solle „Ey Şebab (Anm. d. Red.: Junge Menschen auf Arabisch), heute ist der Newroz-Feiertag der Völker im Mittleren Osten, allen voran des kurdischen Volkes“. Es wurde auch vom Schmied Kawa erzählt (diese Geschichte ist Teil der Newroz-Legende). Die Erklärung wurde verlesen und gab den PalästinenserInnen Motivation, sodass alle gemeinsam klatschten. Wir hatten gemeinsam mit den PalästinenserInnen ein Theaterstück vorbereitet, das die Geschichte von Newroz erzählte. Fünfzehn Tage lang bereiteten wir uns vor. Junge AraberInnen hatten dieses Theaterstück gespielt. Als die Szene kam, an der Kawa den Hammer auf den Kopf von Dehak schlägt, entbrannten Applaus und Jubel. Die israelischen SoldatInnen beobachteten uns von weitem. Als die Szene des Hammers begann, dachten sie, dass drinnen jemand hingerichtet würde und stürmten zu uns. Am Anfang gab es Gerangel, bis einer von den inhaftierten KommandantInnen der DFLP ihnen erklärte, was Sache war und warum diese Szene inszeniert wurde. Danach gingen sie und wir waren erleichtert, unsere Aufgabe erfüllt zu haben.

Wie sind Sie aus dem Gefangenenlager freigekommen? Können Sie uns über ihre Gefühlslage berichten, als Sie freikamen?

Wir sind nicht alle gleichzeitig freigekommen. Bei mir ging es ein wenig schneller und es kam unerwartet. Eines Tages wurde an der Tür mein Name ausgerufen. Ich fragte mich, was nun wohl geschehen würde. Dann sah ich, dass vor der Tür ein paar MitarbeiterInnen vom Roten Kreuz standen. Als ich sie sah, sagte ich zu mir selbst: „Keine Vernehmung“. Sie öffneten die Tür und bedeuteten mir, ich solle rauskommen. Alles was ich besaß, hatte ich bei mir. Was hatte ich denn schon? Eine Uhr, ein wenig Geld, mehr nicht. Das Geld war nicht meins, sondern gehörte der Gruppe, das mir anvertraut worden war. Im Lager war auch ein anderer Kurde aus Kobanê, der Muhammed Avareş hieß. Er war von der Baracke nebenan. Ein paar Mal hatten wir laut hin und her gerufen und gesprochen. Ich wusste noch nicht was los war, da sagte er schon auf Kurdisch: „Bruder, Gratulation, du kommst jetzt auch frei“. Da hatte ich verstanden, dass ich nun aus dem Camp entlassen werden würde. Doch dann kam das nächste Problem. Weil wir gesagt hatten, dass wir aus Syrien wären, wollten sie uns an Syrien übergeben. Wir stiegen in einen Jeep und wurden weggefahren. Ich warf ein Blick zurück, sah das Camp und die Freunde und wurde emotional.

„Bei der Vernehmung erklärte ich, dass ich Mitglied einer revolutionären Organisation aus Nordkurdistan sei. Der Begriff Kurdistan erzürnte diese Männer sehr.“

Da ich wieder mit einer Vernehmung gerechnet hatte, hatte ich mich nicht mal von den FreundInnen verabschiedet. Wir konnten uns nicht jedes Mal, wenn wir zur Vernehmung gingen, verabschieden. Jedes Mal verpassten uns die Israelis ordentliche Schläge, beleidigten uns und schickten uns wieder zurück. Letztendlich hatten wir verstanden, dass wir freikamen. Sie brachten uns an eine Grenze, wahrscheinlich irgendwo in der Gegend von den Golanhöhen an der israelisch-syrischen Grenze. Mit dem Kurden habe ich während der Fahrt ein paar Sachen besprochen, wobei wir auch dabei nicht in Ruhe gelassen wurden und ständig irgendwelche Tritte abbekamen, damit wir schwiegen.

Der Geheimdienst des syrischen Militärs holte uns ab und fuhr uns direkt nach Damaskus in ein Gefängnis. Dort wurden wir wieder vernommen. Sie steckten uns beide in einen kleinen Raum und verhörten uns anschließend separat. Zuerst kam der Alte dran. Er sagte, dass er alt und krank sei und deswegen das Roten Kreuz seine Freilassung erreicht hat, sein Sohn sei dort aber immer noch in Gefangenschaft. Sein Sohn war wirklich noch dort. Nach der ersten Vernehmung ließ der Geheimdienst ihn frei. Er kam, packte seine Sachen und ging. Mir sagten sie, dass ich noch warten solle. Eine Nacht verbrachte ich in dieser Zelle. Am nächsten Tag fragten sie, wer ich sei. Ich sagte ihnen, dass ich kein Arabisch könne, woraufhin sie mich fragten, warum ich kein Arabisch gelernt hatte. Ich antwortete: „Wenn ihr mir einen Dolmetscher bringt, dann erkläre ich euch das.“ Sie brachten einen jungen Mann aus Efrîn. Der Arme, er zitterte regelrecht vor Angst. Ich versuchte ihn ein bisschen zu beruhigen und sagte ihm, dass er nur zu übersetzen habe. Egal was geschehen würde, es werde nur mir etwas geschehen. Bei der Vernehmung erklärte ich den Mukhabarat (Anm. d. Red.: Bezeichnung für den syrischen Geheimdienst), dass ich kein Syrer, sondern Mitglied einer revolutionären Organisation aus Nordkurdistan sei. Der Begriff Kurdistan erzürnte diese Männer sehr. Um es klarer zu machen, nutzte ich dann die Worte „Hizb El Ummal El Kurdistan“ Das schockierte sie und sie fragten mich, wie das möglich sei und was ich hier zu suchen hätte. Worauf ich versuchte ihnen zu erklären, dass ich bei der Vernehmung in Israel gesagt hatte, ich sei Syrer. Der eine war für eine Sekunde still und fragte mich dann: „Komisch, und was sollen wir nun machen?“. Ich erwiderte: „Wallah, ich bin in eurer Hand, ihr könnt mich weiterhin hier festhalten, ihr könnt mich auch in den Irak schicken, oder mich den Türken oder Israelis übergeben. Das liegt in eurer Hand. Aber ich weiß, dass meine Freunde sich in Damaskus aufhalten, und dass es meine Partei sowohl im Libanon als auch im Bekaa-Tal gibt. Besser wäre es also, wenn ihr mich meiner Partei übergibt. Der Mann widersprach und akzeptierte nicht, dass es im Bekaa-Tal eine „Hizb El Ummal El Kurdistan“ oder sonst eine andere solche Partei gäbe und er hätte auch nie von einer solchen Partei gehört. Daraufhin sagte ich verwundert, wie es sein könne, dass er als Geheimdienstler nie von meiner Partei gehört habe. Ich bestand darauf, dass er meine Partei kennen müsste, worauf er mir mitteilte, dass wir uns später nochmal sehen würden. Dann schickte er mich wieder weg.

Sie brachten mich in einen engen Raum, in dem sich dreißig Personen aufhielten. Das war der Raum der Muslimbrüder. Sie waren bei den Konflikten in Hama und Homs 1981 verhaftet worden. Der, der mich in den Raum brachte, deutete auf mich und sagte zu ihnen, ich sei ein Gast und nicht wie sie. Dann zeigte er mir einen Platz, wo ich mich hinsetzen sollte. „Er wird hier bei euch bleiben, gebt ihm ein Kissen und drei Decken, sein Platz muss gemütlich sein“. Ich glaube, dass ich für Palästina gekämpft hatte, verschaffte mir Respekt bei ihm, aber da ich Kurde war, blieb ich weiterhin eingesperrt. Seiner Meinung nach tat er mir etwas Gutes, indem er mir in einem kleinen Raum, der allein durch den Atem von dreißig Personen erhitzt war, drei Decken und ein Kissen gab. Wer braucht da schon drei Decken, um sich zuzudecken? Sie brachten mich dann noch einmal zu einer Vernehmung, wo sie mir vorwarfen, dass ich ein israelischer Agent sei. Das regte mich natürlich sehr auf, weil wir gegen den Zionismus gekämpft hatten. Deshalb sagte ich, dass sie einen Dolmetscher holen sollten. Wieder kam der Junge aus Efrîn, den ich fragte, was der da zu mir sagte und dass ich Worte wie „Agent“ verstanden hatte. Dasselbe übersetzte mir dann auch der Junge ins Kurdische. Ich könnte von den Israelis geschickt worden sein.

Daraufhin habe ich dem Geheimdienstler alles ausführlich erklärt: „Ich bin ein Kämpfer, ein Guerilla der PKK. Ich befand mich in palästinensischen Lagern, um dort ausgebildet zu werden. Ich habe auch gegen den Zionismus gekämpft und bin dann in Gefangenschaft geraten. Vielleicht sagst du jetzt, dass die Israelis mich in Gefangenschaft zu einem Agenten gemacht haben. Ich kenne weder ihre Sprache, noch etwas anderes. Was könnte ich denn in deinem Land überhaupt anrichten?“ Er zeigte mit der Hand auf seine Schulter und sagte sehr erbost: „Hier sind 3-4 Sterne!“ (die seinen Rang im Geheimdienst deutlich machten). Er nahm einen Schlagstock und verpasste mir einen ordentlichen Schlag auf den Rücken, natürlich zusammen mit zahlreichen Beleidigungen. Wie könne ich bloß so sprechen. Daraufhin erwiderte ich: „Und du hast mich einen Agenten genannt“. Der Junge aus Efrîn zitterte vor Angst. Ich hatte ihm gesagt, dass er weiter übersetzen solle. Er sollte ihm sagen, dass ich diese Vorwürfe nicht akzeptieren würde. Danach brachten sie mich wieder zu den Muslimbrüdern.

„Nach ein paar Tagen kam wieder derselbe Hochrangige und sagte mir: „Schau, für dich ist die Entscheidung getroffen worden, dich den Türken zu übergeben.“

Nach circa einem Monat setzten sie mich in einen Minibus. Sechs oder sieben bewaffnete Personen überwachten mich während der ganzen nächtlichen Fahrt. In der Früh bemerkte ich auf einmal, dass wir in Qamishlo waren. Während der Fahrt in die Stadt sagte einer von den Wachen, dass sie mich an der Grenze der Türkei übergeben werden. Ich wusste bis dahin nicht, dass sie entschieden hatten, mich den TürkInnen zu übergeben. Dann brachten sie mich ins Gefängnis von Qamishlo, wo es nur Einzelzellen gab. Sie warfen mich in eine Zelle. Ich hörte die Stimmen von Leuten, auch von manchen, die Türkisch sprachen. Ein paar Tage später kam ein hochrangiger Militär und brachte mich in sein Zimmer. Er bat mich, Platz zu nehmen und ich setzte mich hin. Nachdem er mich fragte, ob ich Kurde sei oder einer kurdischen Organisation angehörte, sagte ich, dass ich von der „Hizb El Ummal El Kurdistan“ sei. Auch dieser Offizier sagte, dass es bei ihnen keine Organisation mit diesem Namen gebe. Jedes Mal, wenn er das beteuerte, wurde ich angespannter. Als er sagte, dass es hier die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) und die YNK (Patriotische Union Kurdistans) gäbe, denen man mich übergeben könne, wollte ich nicht gleich drauf eingehen. Ich erwiderte: „Ich habe eine Partei, warum übergebt ihr mich einer anderen Partei?“. Wir konnten uns nicht einigen und deshalb kam ich erneut in die Zelle. In der Zelle nebenan war einer von der türkischen Linken. Während seines Wehrdienstes war er mit seiner Waffe über die Grenze nach Syrien geflohen. Sie hatten ihn gefasst und eingesperrt. Irgendwie schaffte er es, in die Wand ein kleines Loch zu machen. Als ich Geräusche von nebenan hörte, rief ich rüber und fragte auf Kurdisch, wer da sei. Er antwortete auf Türkisch und sagte „Sprech Türkisch, sprech Türkisch“. Ich war von der PKK und er von Dev-Genc (Föderation der Revolutionären Jugend in der Türkei).

Nach ein paar Tagen kam wieder derselbe Hochrangige und sagte mir, „Schau, für dich ist die Entscheidung getroffen worden, dich den Türken zu übergeben. Ich will das aber nicht machen und ich habe dem Gouverneur auch noch nicht mitgeteilt, dass du da bist.“ Er fragte mich, ob ich irgendjemanden von der PKK vor Ort kennen würde. Diese Frage beunruhigte mich. Er war ein Mitglied des Baath-Regimes und die Baath-Partei war sehr gefährlich. Ich weiß nicht, ob er unsere Freunde enttarnen wollte oder andere Ziele hatte, aber er hat mir zwischen den Zeilen immer irgendwelche Zeichen geben wollen.

Ich sagte ihm, dass ich nicht genau wüsste, wo PKKlerInnen seien, da sie nicht an einem festen Ort blieben. Ich glaube, dass das eine gewisse Vertrauensbasis aufgebaut hat, denn dann fragte er mich plötzlich, ob ich Heci Zinar kannte. Heci Zinar war ein Freund aus Mardin, der zusammen mit seiner Familie nach Syrien gekommen war und auch an unseren Aktionen teilnahm. Er wollte, dass ich ihn ihm beschriebe. Als ich sagte, dass Heci hellhäutig sei und einen blonden Schnurrbart habe, lachte er. Dann fragte er mich, ob ich Heci Ömer kennen würde. Auch ihn kannte ich. Das war Mehmet Emin Sezgin. Ich stimmte zu und beschrieb ihn. „Femi, femi“ (Anm. d. Red.: Arabisch für „ich verstehe, ich verstehe.“) sagte er und lachte. Das beruhigte mich. Er schloss die Tür und ging.

Dieser Offizier hatte sich mit den FreundInnen getroffen und mich ihnen beschrieben. Diese bestanden darauf, mich zurückzubekommen. Sie einigten sich. Ich kannte den Offizier zwar nicht, aber er sei solidarisch mit den KurdInnen und hätte schon früher auch an der Grenze unseren FreundInnen geholfen. Einmal kam er und sagte, dass ich sietreffen würde. Das freute mich. Eines Abends stand er wieder vor der Tür: „Raus und lass nichts zurück!“ Er brachte mich in sein eigenes Haus. Es war sehr viel los und es wurde Arabisch gesprochen. Er gab mir neue Kleidung und zeigte mir das Bad. Ich weiß nicht, ob er die Kleidung selbst gekauft hatte oder die FreundInnn mir diese geschickt hatten.

Voller Aufregung wusch ich mich und zog mich an. Meine Sachen, also meine Uhr und mein Geld, waren bei ihm. Die gab er mir auch., Es wurde ein hastig vorbereitetes Essen serviert, das ich ebenso hastig aß. Da saßen wir und warteten. Ich wusste nicht, was jetzt passieren würde, aber ich war erleichtert. Neue Kleider und die Tatsache, dass er mich in sein eigenes Haus gebracht hatte, all das waren gute Zeichen. Bis spät am Abend saßen wir da und tranken Tee. Irgendwann, ganz spät, kam Heci Zinar durch die Tür. Nach Jahren sah ich zum ersten Mal wieder FreundInnen. Diese erste Begegnung hat mich gerührt. Mir flossen Tränen über die Wangen. Heci Zinar kam und umarmte mich. Er sagte „Komm, es ist nun vorbei“. An dieser Stelle möchte ich ihm hochachtungsvoll gedenken. Danach kam auch Heci Ömer und es hieß: „Auf geht’s, lasst uns nach Hause gehen!“ Wir standen auf, ich trat aus der Tür heraus und ging.

#Fotos: via Yeni Özgür Politika

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Alle Kräfte der PKK standen zu dem Entschluss zu kämpfen und Widerstand zu leisten. Somit verband sich die Entschlossenheit der GenossInnen mit dem Beschluss der Partei. Es sollte zu einem großen Krieg kommen und wir würden bereit sein.

Das Interview ist ursprünglich in türkischer Sprache erschienen auf Yeni Özgür Politika: https://www.ozgurpolitika.com/haberi-arnon-kahramanlari-154614. Für leichtere Verständlichkeit wurde die deutsche Übersetzung an einigen Stellen leicht angepasst. (Teil 2 von 3, Teil 1 findet ihr hier)

Von EMRULLAH BOZTAŞ
Übersetzt von Tekoşin Şoreş & Kerem

Es war der 2. Juni 1982, die Uhr zeigte 17:00 Uhr an. Im Radio wurde verkündet, dass Israel vom Boden, aus der Luft und vom Meer eine Offensive zur Besetzung des Südlibanons begonnen hatte. Ariel Sharon war damals der Verteidigungsminister Israels. Aufgrund der Luftangriffe auf die Burg Arnon (Burg Beaufort), für deren Verteidigung eine Gruppe von PKKlerInnen bereitstand, war auch zuvor schon klar, dass es zu dieser Besetzungsoffensive kommen würde. Der Lärm der Schüsse in der Ferne kam immer näher. Xalid Çelik, der selbst an der Nebatiye-Front im Südlibanon gekämpft hat, berichtet uns, wer am Kampf alles beteiligt war und wie er verlaufen ist.

An welche revolutionäre Organisationen vor Ort erinnern Sie sich?

Von der türkischen Linken sah ich selbst nicht viele dort. Vor uns soll Dev-Yol (deutsch: Revolutionärer Weg) dort gewesen sein. Zu unserer Zeit waren nicht mehr viele von ihnen da. Türkische Organisationen nutzten Palästina in der Regel als Stufe zum Übergang nach Europa. Auch bei KurdInnen kam dies individuell vor. Ansonsten waren dort jeweils eine Gruppe von Sami Abdurrahman und der DDKD („Devrimci Doğu Kültür Ocakları“, Deutsch: Revolutionäre Kulturstätte des Ostens). Diesen bin ich selbst begegnet. Aus Eritrea und Haiti waren RevolutionärInnen da. Mit den HaitianerInnen befanden wir uns am selben Ort. Es waren diese HaitianerInnen, die auch später zurück in ihre Heimat sind und eine Revolution vollbracht haben. Die Restlichen waren zum Großteil individuell vor Ort; viele ArbeiterInnen. Ihre Zahl überschritt die Zahl derer, die für die Revolution vor Ort waren. Für viele unorganisierte Individuen fand sich dort eine Möglichkeit, Unterhalt zu verdienen.

Wie war die Situation des palästinensischen Volkes? Was war Ihr Eindruck unter den Umständen des Krieges? Wo waren Sie, als der Krieg im Südlibanon begann?

Vom Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila erfuhren wir erst, als wir dorthin gingen. Das war im Südlibanon einer der Hauptzufluchtsorte von PalästinenserInnen, die ins Exil gehen mussten. Israel hatte hier mehrmals mit Luftangriffen Massaker durchgeführt. Als Vergeltung schlugen palästinensische Organisationen mit Mörsern und Raketen zurück. In der Grenzregion kam es zu solchen Angriffen. Manchmal gingen sie auch für Aktionen nach Israel rein. Am 2. Juni änderte sich schließlich alles. Davor hatten die palästinensischen Gruppen Informationen erhalten. Man hatte den Krieg erwartet. Zwar hatte niemand vorhergesehen, dass der ganze Südlibanon besetzt werden würde; in der Grenzregion jedoch hatten sich auch die PalästinenserInnen einigermaßen vorbereitet und positioniert.

Unter dem Dach der Fatah wurden auch wir, eine Gruppe von PKKlerInnen, in den ländlichen Regionen von Nebatiye in Stellung gebracht. Nebatiye ist eine schöne Stadt am Mittelmeer. Es wachsen dort viele Zitrusfrüchte. Ihre Menschen sind sehr respektvoll und gutmütig. Die Stadt liegt nah am Ort Sayda. Auch wenn viele aufgrund der Wahrscheinlichkeit, dass es zum Krieg kommt, die Stadt verlassen hatten, waren dennoch zahlreiche ZivilistInnen in ihren Häusern und auf ihren Feldern geblieben, da sie nicht mit einem derart brutalen Angriff rechneten.

Es wurde intensiv Propaganda betrieben und behauptet, dass es einen israelischen Angriff geben würde. Bereits zehn Tage waren sind manche GenossInnen aus der Führung zu uns ins Camp gekommen. Genosse Sabri hatte damals gesagt: „Wir werden als Partei, entsprechend unserer Stärke, an der Seite der PalästinenserInnen im Krieg kämpfen.“ Die Partei hatte zwar diesen Beschluss gefasst, aber es wurde den GenossInnen überlassen, ob sie kämpfen wollten oder nicht. Die kranken GenossInnen wurden nach Beirut geschickt. Von acht Personen waren sechs geblieben. Auch ich hatte mich entschlossen zu kämpfen. Der Beschluss zum Krieg war gefasst und er sollte umgesetzt werden. Auch unsere andere Gruppe, die unter der Führung von Sari Ibrahim ebenfalls unter dem Dach der Fatah kämpfte, hatte beschlossen zu kämpfen.

In der als Burg Arnon bekannten Qalat el Şaqif waren noch ein paar weitere Gruppen von GenossInnen. Die eine befand sich unter dem Kommando der DFLP, die andere unter dem Kommando der PFLP. Dort waren wir stärker. Auch diese Gruppen fasste den Beschluss zur Kriegsbeteiligung und teilte diesen der Partei mit. Die Entschlossenheit zum Kampf und zum Widerstand wurde in der gesamten Basis der PKK akzeptiert. Der Beschluss der Parteiführung wurde mit der Entschlossenheit der FreundInnen gefestigt. Der große Kampf stand bevor und wir standen bereit.

Ich will hier auch ein wenig auf Qalat el Şaqif eingehen. Wir waren schon eine Weile dort. Unser Stützpunkt war strategisch auf einem Hügel direkt gegenüber der Grenze errichtet worden. Die grundlegenden Vorbereitungen waren getroffen. Im Untergrund gab es breite Tunnel. Auch wir hatten an diesen Tunneln gearbeitet. Sie lagen strategisch günstig. Deshalb arbeiteten wir zwei bis drei Tage die Woche an diesen Tunneln. Es hatte also schon eine Vorbereitung auf den bevorstehenden großen Krieg gegeben. Diese Vorbereitungen stärkten auch unser Selbstbewusstsein und gaben uns Vertrauen. Wir dachten, dass nach so viel logistischer und allgemeiner Vorbereitung die israelische Armee spätesten hier gestoppt werden würde. Ein Teil der PalästinenserInnen war aber zwiegespalten.

Als der Genosse Sabri mit uns eine Sitzung abhielt, sagte er offen, dass wir andere Sachen, die uns zu Ohren kämen, nicht beachten sollten und dass der Krieg zu hundert Prozent bevorstand. In derselben Sitzung fragte er nach den Kranken und denjenigen, die nicht in diesen Krieg wollten. Außer den kranken FreundInnen hatte sich niemand vor dem Krieg gedrückt. Sabri betonte, dass niemand verpflichtet sei, zu kämpfen. Auch das hatte die Parteiführung bei ihrem Beschluss berücksichtigt. Das war die Haltung der Partei. Wir, sechs FreundInnen, haben daraufhin beschlossen, in Nebatiye zu kämpfen.

Der Krieg begann am 2. Juni mit intensiven Luftangriffen. Die Israelis hatten die Grenze zwar überquert, dann jedoch angehalten. Auch sie bewegten sich je nach Situation. Auf unserem Stützpunkt war ein hochgelegener Aussichtspunkt. Einmal sind wir hochgeklettert, um Ausschau zu halten. Die berüchtigten israelischen Spähflugzeuge kreisten über unseren Köpfen. Auch die Kampfjets bombardierten uns. Dennoch war der Kampf ausgeglichen. Schwere Waffen waren im Einsatz. Harte Gefechte fanden statt. Die PalästinenserInnen antworteten mit Mörsern und Granaten. Wir kämpften mit kleineren Waffen. Da wir mit der Zeit auch ein wenig ihre Sprache gelernt hatten, bekamen wir wage mit, dass auf der Burg ein großes Gefecht stattfand. Die israelischen Kräfte hätten nicht in die Qalat el Şaqif eindringen können. Diese Information gab uns viel Kraft und Motivation. Es fand ein großer Krieg statt. Nicht ein oder zwei, sondern dutzende Flugzeuge griffen uns gleichzeitig an. Unsere Gruppe auf der Burg bestand aus neun Personen, zusammen mit der der DFLP. Die andere Gruppe von uns war in der Defensiv-Formation. Bei ihnen fiel keiner, aber alle neun Freunde, die die Burg verteidigten, sind gefallen.

Festung Arnon (Qalat eş Şaqif)

Wann und wie habt ihr davon erfahren, dass die Freunde gefallen sind?

Ich glaub es war der siebte oder achte Tag. Bis dahin hatte sich von den palästinensischen Einheiten keine zurückgezogen. Sie verwendeten das Wort Şehit (Märtyrer) nicht und sagten stattdessen einfach „gestorben“. Sie sagten uns, dass in den Kämpfen „manche Kurden“ gestorben sind. Es war Krieg und der Tod war unumgänglich. Deshalb konnten wir verstehen, dass es auch zu Gefallenen kommen konnte. Wir wussten aber nicht wer gefallen war und wer noch lebte.

In unserer Gruppe war niemand gefallen. Wir befanden uns in einer Höhle. All unsere Waffen samt Munition waren bei uns. Wir nahmen alles, was wir brauchten, aus der Höhle. Unsere Aufgabe war, die Einfahrtsstraße nach Nebatiye zu halten, über die die Panzer kommen konnten. Die Straße war aus fester Erde und nicht aus Asphalt. Von dort kamen dann die Panzer. Jeder von uns hatte eine Biswing (B7-Raketenwerfer). Was hätte uns denn die Kalaschnikow gegen diese Panzer gebracht? Wir schlugen mit Biswings zu. Wenn ein Panzer getroffen wurde, blieb er stehen, die anderen zogen sich dann eine Ebene zurück und bewegten sich nach einer Weile wieder vorwärts. Wir ließen nicht zu, dass die israelische Armee auf dieser Linie vorwärtskam. Hin und wieder kam der palästinensische Kommandant und versuchte uns mit einem „Bravo“ oder „Wenn ihr nicht wärt, wären wir verloren“ zu motivieren. Die Gefechte hielten tagelang an. Zwar stand unsere Front sehr unter Druck, aber wir haben uns dennoch nicht zurückgezogen. Sie konnten nicht an uns vorbei. Das Schlechte war, dass andere Fronten zum Teil zusammenbrachen oder durchbrochen wurden. Dort konnte die israelische Armee vordringen und uns dann umzingeln. Wir hatten nicht mitbekommen, dass ganz Nebatiye schon besetzt worden war. Irgendwann am neunten oder zehnten Tag des Krieges merkten wir, dass um uns herum keine PalästinenserInnen mehr waren. Wir hörten auch keine Fahrzeuge mehr in unserer Nähe. Aus der Stadt selbst kam aber sehr starker Fahrzeug- und Gefechtslärm. Derweil hielten die Luftangriffe weiterhin ununterbrochen an. Auch der palästinensische Kommandant war seit einer Weile nicht mehr gekommen. Dann wurde uns klar, dass sich alle zurückgezogen hatten und nur wir immer noch diese Straße hielten. Die israelische Armee hatte an einem anderen Punkt schon längst ihr Glück versucht und die Front durchbrochen. Unsere Position war zwar nicht sehr hoch, befand sich aber dennoch auf einer höhergelegenen Gebirgskette. Vor uns war die israelische Armee, hinter uns die Stadt. Wir verteidigten in gewissem Sinne den Durchgang zur Stadt. Als es Nacht wurde haben wir uns zusammengesetzt und beschlossen, dass auch wir uns zurückziehen würden. Wir dachten uns, dass wir uns am besten, so weit es geht, Richtung Norden begeben sollten. Dort lagen die Berge Südlibanons über die wir uns bis in die Bekaa-Ebene zurückziehen konnten. Wir brachen nachts auf und erreichten im Morgengrauen Nebatiye.

Die Stadt brannte komplett. Überall waren zerstörte Gebäude; die Straßen voller Leichen; umgestürzte Bäume, durchlöcherte Fassaden. Allein auf der ersten Straße, die wir betraten, lagen acht bis zehn Leichen auf dem Boden, die unkenntlich waren. Nur anhand ihrer Fedai-Kleidung (Widerstandstracht) sahen wir, dass es palästinensische KämpferInnen gewesen sein mussten. Wir hätte in diesem Zustand nicht mal unsere eigenen GenossInnen erkennen können.

In jenem Moment habe ich etwas erlebt, das ich unbedingt mit euch teilen muss. Die Vorderfassaden der meisten Gebäude in der schönen libanesischen Kleinstadt Nebatiye waren aufgrund der Gefechte zum Großteil eingestürzt. Die Einschusslöcher waren offensichtlich von Panzern. Die Straßen waren voll von umgestürzten tragenden Säulen der Gebäude. Überall lagen Tote und Verletzte. Inmitten dieses Tumults sahen wir einen alten Mann. Das war äußerst komisch. Auf den Straßen war außer den Verletzten sonst kein Anzeichen von Leben zu sehen. Er saß vor der eingestürzten Mauer eines Hauses. In Nebatiye gab es kleine Hocker, ähnlich, wie die in Amed. Auf einem solcher Hocker saß er, hatte neben sich seine Wasserpfeife aufgestellt und zog daran. Ich hielt für einen Moment an und beobachtete ihn. Er war wie tot, zog aber dennoch weiter daran. Was er wohl gesehen haben muss, um sich in einen lebendigen Toten zu verwandeln? Wir konnten nicht verstehen, ob er sich im Schock befand oder all die Erlebnisse ihn einfach gleichgültig gemacht hatten. Dann zogen wir weiter. Jahre später haben auch wir uns in manchen schwierigen Momenten immer wieder gedacht: „Eine Wasserpfeife wäre jetzt gut“.

Wir mussten uns beeilen. Weiter vorne floss in einem flachen Tal ein kleiner Bach. An manchen Stellen des Mäanders war Schilf. Wir waren weiterhin dabei unseren Plan umzusetzen, auf dem schnellsten Wege Richtung Norden, in die Berge Südlibanons zu gelangen. Als wir am Schilf standen, merkten wir, dass da jemand war. Auch sie hatten uns bemerkt. Unsere Finger waren am Abzug unserer Waffen. Jeden Moment konnte ein Gefecht ausbrechen. Dann sahen wir, dass wir dieselben Kleider anhatten. Sie waren PalästinenserInnen von der zusammengebrochenen Front. Wie wir, versuchten auch sie in den Norden zu gelangen. Wir konnten uns nur schwer mit Händen und Füßen verständigen und beschlossen dann, uns gemeinsam mit ihnen zu bewegen. Die FreundInnen auf der Burg Arnon und die anderen, die nicht in unserer Gruppe waren, konnten sich sicherer zurückziehen. Wir wussten das aber nicht. Das haben wir erst später erfahren. Wir waren die letzte PKK-Gruppe; es herrschte unter uns ein kurdischer, apoistischer Stolz. So einfach wollten wir unsere Position nicht verlassen. Für die Gefallenen auf der Burg Arnon nennen manche FreundInnen den 18. Juni als Todesdatum. Aber zu dieser Zeit war der Krieg schon lange zu Ende und die Freunde bereits gefallen. Dieses Datum stimmt also nicht.

Abdullah Kumral (1955-Cibin-Halfeti), Mehmet Atmaca (1957-Cibin-Halfeti), Mustafa Marangoz (1961-Çermik),
İsmet Özkan (1962-Suruç), Şahabettin Kurt (1962-Nusaybin), Kemal Çelik (1956-Keban), İrfan Ay (1963-Bismil),
Şerif Aras (1957-Derik), Emin Yaşar (1960-Kozluk), Veli Çakmak (1960-Dersim),

Kennen Sie das genaue Datum?

Nicht das genaue, aber es muss so circa zwischen dem 10. und 12. Juni gewesen sein. So wie wir das gesehen haben, gab es nämlich nach diesem Datum keine Luftangriffe mehr auf die Burg. Nachdem niemand mehr auf der Burg am Leben war, fiel sie.

Wir sind mit den Palästinensern weitergelaufen. Während dieses Marsches begegneten wir zufällig einer Gruppe israelischer Panzer. Vielleicht wurden wir verraten, vielleicht auch ausgespäht. Es ist nicht möglich, das genau herauszufinden. Sie griffen uns an. Es kam auch dort zu einem ernsthaften Gefecht. Zahlreiche palästinensische KämpferInnen sind dort gefallen. Auch das Bein eines Genossen von uns wurde von fünf Kugeln getroffen. Wir wussten nicht, ob die israelische Armee mit der BKC (Maschinengewehr) schoss oder eine andere Waffe nutzte. Unser Genosse war zu Boden gefallen. Das Gefecht wurde immer intensiver. Den verletzten Freund haben wir nicht zurückgelassen. Einerseits kämpften wir, andererseits zogen wir uns in Richtung der Berge zurück. Den Freund konnten wir eine Zeit lang getragen. Nach einer Weile hatten wir uns außerhalb des Gefechtes gebracht. Als die PalästinenserInnen sahen, dass wir unseren Genossen nicht zurücklassen wollten, sagten sie, dass das Haus eines Imams in der Nähe sei, wo auch sie ihre Verletzten hingebracht hätten und wo auch wir unseren Freund unterbringen könnten. Wir haben das nicht akzeptiert. Wir waren entschlossen, unseren Genossen so weit auf unseren Rücken zu tragen, wie es ging. Obwohl sie uns dazu drängten, ließen wir ihn nicht zurück.

Eine Nacht lang liefen wir durch eine bergige Region. In uns entstand die Hoffnung, dass wir die Umzingelung durchbrechen könnten. An einem Punkt standen wir vor flachem Land, das wir durchqueren mussten. Dort gerieten wir zwar wieder in einen Hinterhalt, konnten uns aber retten. Ich kann mich nicht an den Namen dieser Region erinnern; ich weiß aber, dass dort keine MuslimInnen sondern ChristInnen lebten. Die PalästinenserInnen nannten sie Kelxaliker. Das war ein sehr weiträumiges Gebiet. Auch diese griffen uns an. Zahlreiche PalästinenserInnen sind dort gefallen.

Da wir die Region nicht kannten, mussten wir uns gemeinsam mit den PalästinenserInnen bewegen. Wir hatten keine andere Wahl. Darin sahen wir unsere einzige Hoffnung zum Überleben. Wir liefen hungrig und erschöpft weiter. Es war nachts, als wir durch ein Dorf liefen und einen kleinen Laden sahen. Seit Tagen hatten wir nichts gegessen und dachten uns, dass wir uns etwas zu Essen holen könnten, zumal wir einen Verletzten bei uns hatten. Wir dachten nicht daran, dass die Israelis dort in einem Hinterhalt auf uns warten können. Aufgrund der tagelangen Kämpfe hatten wir auch keine Munition mehr. Wir bemerkten nicht, dass die Israelis uns schon länger beobachteten. Sie brauchten am Ende auch nicht viel Munition. An einem offenen Punkt, wo wir uns nicht zu Wehr setzen konnten, griffen sie uns an. Die PalästinenserInnen waren circa zu zwölft und liefen vor uns. Wir hörten ein Tumult, alle standen still. Sowohl die PalästinenserInnen als auch wir wurden gefangen genommen. Hunderte SoldatInnen hielten uns fest und zwangen uns auf den Boden. Ein paar Stunden lagen wir dort. Unseren verletzten Freund nahmen sie mit.

Ich kann mich noch gut erinnern. Das Mondlicht schien intensiv. Wir sahen alles, was um uns herum passierte. Dann kamen die Fahrzeuge, die eine Art Plane hinten hatten. Unsere Hände und Füße zusammengebunden, warfen sie uns wie bei einem Holzhaufen aufeinandergestapelt auf die Fahrzeuge. Dann ging die Fahrt los. Bis in die Früh fuhren wir. Dann kamen wir an einen absonderlichen Ort in Israel, in eine Art Dorf. Überall waren Graben ausgehoben und diese mit Militärzaun umzäunt. Es gab große Zelte. Es war ein israelisches Gefangenenlager. Dort hatten wir die Möglichkeit, mit PalästinenserInnen zu sprechen und versuchten herauszufinden, was gerade passierte. Sie sagten uns, dass es auch in anderen Lagern PKKlerInnen gebe…

#Fotos: via Yeni Özgür Politika

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Die Reise Abdullah Öcalans in palästinensisches Gebiet war ein historisches Ereignis. Dieser Schritt hatte wichtige Konsequenzen für die kurdische Freiheitsbewegung. Die Ausbildung und Aufstellung einer zweihundert Personen starken Truppe glich unter den damaligen Bedingungen der Aufstellung einer Armee.

Das Interview ist ursprünglich in türkischer Sprache erschienen auf Yeni Özgür Politika: https://www.ozgurpolitika.com/haberi-dersim-daglarindan-filistin-mevzilerine-154563. Für bessere Verständlichkeit wurde die deutsche Übersetzung an einigen Stellen leicht angepasst. (Teil 1 von 3)

Von EMRULLAH BOZTAŞ
Übersetzt von Tekoşin Şoreş & Kerem

Mit der Gründung des Staates Israel 1948 begann in diesem Teil des Nahen Ostens das endlose Dilemma von Aggression und Widerstand (Anmerkung der Redaktion: Koloniale Aggression und Widerstand in Palästina begannen schon deutlich früher, spätestens seit der Balfour-Deklaration 1917, wurden der Weltöffentlichkeit aber erst ab Ende der 40er Jahre bekannt). Palästinensische Organisationen organisierten den Widerstand, indem sie politische Parteien entsprechend der sich entwickelnden politischen Lage in der Welt gründeten. In den 1970er Jahren hatte eine überwältigende Mehrheit der palästinensischen Organisationen eine linkssozialistische Rhetorik und Praxis. Diese Situation brachte eine große internationale Solidarität mit sich und gab dem palästinensischen Kampf den Charakter eines internationalistischen Widerstandes. Viele AraberInnen gingen nach Palästina und in den Libanon, um sich dem Befreiungskrieg anzuschließen.

Der palästinensische Widerstand war sowohl ein Existenzkampf eines Volkes, als auch ein Trainingsplatz für InternationalistInnen geworden. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ging als eine derjenigen sozialistischen Befreiungsbewegungen in die Geschichte ein, die in palästinensischen Lagern eine militärische Ausbildung erhielt. Die PKK ist so zu einer der Parteien geworden, die in den Kriegen und Konflikten im gerechten Kampf des palästinensischen Volkes an vorderster Front ihren Platz einnahmen.

Als das Kalenderblatt den 2. Juni 1982 anzeigte, begann der erwartete Krieg. Die israelischen Streitkräfte überquerten die libanesische Grenze und rückten an drei Fronten nach Norden vor. Neben den libanesischen und palästinensischen Aufständischen waren auch PKK-Guerillas vor Ort. Als der Krieg begann, räumten sie ihr Trainingslager und gingen an die Front. Viele PKK-KämpferInnen, die ihre Stellungen bewahrten, ohne an einen Rückzug zu denken, sind nach Ende der Kämpfe entweder gefallen oder in israelische Gefangenschaft geraten. Dieser Widerstand wurde zur Tradition und für Generationen zum Charakter der apoistischen Bewegung (Anm. d. Red.: Apo bedeutet „Onkel“ auf Kurdisch und ist ein Spitzname Öcalans).

Während des Libanonkrieges schlossen sich PKK-Mitglieder an vielen Orten dem Widerstand an, darunter bei der Burg Arnon, in Sayda, Nebatiye, Sur, Demorda und Beirut, auch bekannt als Burg Şaqif, die einst von Sultan Saladin wieder aufgebaut wurde. Neun PKK-Mitglieder starben allein auf Burg Arnon. Während des gesamten Krieges gab es zwölf Märtyrer. Aufgrund ihrer willensstarken Haltung im Krieg hielten die PalästinenserInnen die PKK-Mitglieder für würdig, die Titel „Löwen von Beirut“ und „Helden von Arnon“ zu tragen. Während dieses Widerstands wurden fünfzehn PKK-Guerillas gefangen genommen, die erst eineinhalb Jahre später freikamen. Xalid Çelik, der an der Verteidigung des Südlibanon beteiligt war und Zeuge der unmenschlichen Behandlung in israelischen Gefangenenlagern ist, erzählte unserer Zeitung über Palästina von damals.

Welche Art von Kampf hat die PKK vor dem Gang in den Nahen Osten in Kurdistan geführt? Wie hat Ihre Partei, die den Widerstand gegen den türkischen Staat begonnen hat, den Anfang gemacht?

Nach der Parteigründung 1978 realisierte der türkische Staat etwas: Eine Gruppe namens ApoistInnen war zu einer Partei geworden und begann, die ArbeiterInnen zu organisieren. Ihm war von Anfang an klar, dass diese organisierte Kraft große Entwicklungen herbeiführen würde. Deswegen griff er auch die junge Bewegung an. Die Freiheitsbewegung führte noch keinen bewaffneten Kampf. Sie erklärte ihre Ideen politisch und arbeitete daran, sich in Kurdistan zu organisieren, während der Staat einige Milieus in Kurdistan, v.a. reaktionäre feudale Großstämme, gegen die PKK mobilisierte.

Einer von ihnen war der Bucak-Stamm in Urfa. Ein anderer war der Süleyman-Stamm in Hilvan. In Batman gab es den Raman-Stamm. Das waren die Hände, Füße und Ohren des türkischen Staates in Kurdistan. Mehmet Bucak war Stammesführer und stand als Abgeordneter stellvertretend für Demirels Partei (Anm. d. Red.: Gemeint ist die Adalet Partisi (Deutsch: Gerechtigkeitspartei, Demirel war insgesamt sieben Mal Ministerpräsident der Türkei und stand für eine neoliberale, nationalistische Politik). Natürlich haben wir damals nicht ganz verstanden, warum sie uns angegriffen haben. Damals gab es, noch vor der Ermordung des Genossen Haki Karer, eine Anti-Guerilla-Organisation, die sich „Sterka Sor“ (Deutsch: Roter Stern) nannte. Es war eine vom türkischen Staat unterstütze, konterrevolutionäre Organisation. Auch sie griff uns an. Auch das Massaker von Maraş (1978) war eine Reaktion des Feindes gegen die PKK. Sein Ziel war es, die Bewegung so schnell wie möglich zu zerstören, indem er sie in einen Konflikt hineinzog.

Die ersten PKK-Kader wurden an verschiedenen Orten militärisch ausgebildet. Welche anderen Maßnahmen wurden angesichts dieser Gefahren ergriffen?

Unsere Partei geriet in einen gefährlichen Prozess. Nachdem die Parteiführung (Abdullah Öcalan) die Risiken gut vorhergesehen hatte, wollte sie einige Vorsichtsmaßnahmen treffen. Unvorbereitet, d.h. irregulär in den Krieg zu ziehen, ohne auch eine starke militärische Kraft zu bilden, bedeutete, sich der staatlichen Vernichtung zu stellen. In Hilvan, Siverek und Batman war bereits Krieg geführt worden, der uns schweren Schaden zugefügt hatte.

Vorsorglich wollte der Parteivorsitzende eine gewisse Ordnung schaffen, um die KaderInnen künftig besser auszubilden und zu organisieren, zu motivieren und zu stärken. Das geeigneteste Gebiet dafür war der Sitz der palästinensischen Bewegung. Es gab keinen besseren Ort. Vielleicht gab es auch in Südkurdistan manche Möglichkeiten, aber dort gab es das schwer einzuschätzende Regime von Saddam Hussein. Es war unklar, ob eine Verlagerung unserer Kräfte nach Südkurdistan von Vorteil gewesen wäre. Auch in Ostkurdistan gab es eine kurdische Bewegung; aber dort waren die iranische PDK und Komala Parteien untereinander in Konflikt geraten. In diesem Fall waren schlussendlich die Gebiete, in denen die PalästinenserInnen kämpften und der Libanon die richtige Wahl.

Der Parteivorsitzende Öcalan ging zuerst mit seinem Freund Etem Akçam, Codename Sait, in das palästinensische Gebiet. Wir waren zu dieser Zeit auch mit organisatorischen Arbeiten beschäftigt, aber um ehrlich zu sein, haben wir dem, was vor sich ging, nicht viel Bedeutung beigemessen. Der Grund war, dass wir alle jeweils in uns zugeteilten Gebieten eingesetzt waren. Wir waren mit den Arbeiten in diesen Gebieten beschäftigt. Die Aktivitäten der Bewegung als Ganzes waren uns nicht bekannt. Ich war damals in der nördlichen Zone. Wir befanden uns in Dersim und Umgebung. Wir hatten nicht so viel Erfahrung, was das Guerilla-Leben anging und versuchten lediglich, uns so gut wie möglich vorzubereiten. Unsere Einheiten wurden bewaffnete Propagandatruppen oder Fedai-Truppen genannt. Jeder gab sich einen Namen und handelte entsprechend. Wir waren AmateurInnen. Gegen die Angriffe des Staates leisteten wir natürlich Gegenwehr. In Hilvan und Siverek schlossen sich bestehende Kräfte unserer Organisation an. Das entwickelte den Widerstand und wurde zu einer Kultur. Es gab keine Macht in Kurdistan, die vor der PKK mit einer so politisierten Widerstandskultur durchdrungen wurde. Eine solche Kriegspraxis ist durch die Bewegung entstanden.

Wie war Ihr Übergang in die palästinensischen Gebiete?

Über den Vorsitzenden hatten wir dort Kontakte zur DFLP, PFLP und PLO. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten hatte der Vorsitzende dort die Anerkennung dieser Gruppen gewonnen, sodass er Stück für Stück die FreundInnen aus Nordkurdistan zu sich holen konnte. In den Jahren 1979/1980 haben wir mehrere Gruppen zusammengestellt, die dann in diese Gebiete entsandt wurden. Bereits vor der Militärjunta vom 12. September 1980 wurde in Nordkurdistan das Kriegsrecht verhängt und es herrschte ein Putschklima. Viele Orte in Kurdistan wurden auf diese Weise regiert. In den Regionen, in denen die Bewegung schon ein wenig organisiert war, wurde auch der Staat aktiver. Das Massaker von Maraş an alevitischen KurdInnen ist aus diesem Grund begangen worden. Der türkische Staat hatte die schlagkräftigsten Kräfte seiner Armee nach Kurdistan geschickt.

Obwohl wir keine richtige Streitmacht hatten, entwickelte der Staat eine Invasionsbewegung in Kurdistan. Schon damals begannen linke Organisationen in der Türkei sich aufzulösen. Auch in Kurdistan passierte das. Angesichts dieser Wiederbesetzungswelle verschwanden sie vom Bild, unter dem Vorwand, sie würden nun im Untergrund agieren. Also haben sich alle zurückgezogen. Nur die ApoistInnen blieben auf dem Feld; genauso, wie es der Staat wollte. Denn er wollte unsere Bewegung im Keim ersticken und zeigen, dass wir zu nichts imstande seien. Die Dinge liefen aber nicht wie geplant. Denn der Widerstand ist Teil der apoistischen Lebenskultur.

Aus diesem Grund trugen sie die Kriegsrechtspraktiken des Ausnahmezustandes, die sie für Kurdistan praktiziert hatten, auch in die türkischen Teile des Landes. Dann, mit dem Militärputsch vom 12. September, konzentrierten sie sich darauf, die Gesellschaft vollständig zu zerschlagen und zum Schweigen zu bringen. Die Massaker von Maraş und Çorum waren zwar der sichtbare Teil dieser Politik, es gab aber auch in Elazığ und Malatya schwere Verbrechen des Staates. Um es klar auszudrücken: Wo immer die PKK die Menschen wachrüttelte und organisierte, verübte der faschistische türkische Staat mit seinen lokalen KollaborateurInnen und seiner Armee Massaker. Diese Orte sind jene, in denen sich die PKK zum ersten Mal organisierte.

Aus diesem Grund ist die Reise Öcalans in die palästinensischen Gebiete ein historisches Ereignis. Es war ein Schachzug um sich zu sammeln und besser auf den Kampf zuhause vorzubereiten. Es war ein Schritt, der durch den Blick in die Zukunft motiviert war. Schon vor der offiziellen Durchführung des Putsches kam es zu Gefallenen unter wichtigen KaderInnen der PKK. Während Freunde wie Salih Kandal und Halil Çavgun fielen, wurden auch viele führende KaderInnen verhaftet, so wie Kemal Pir und Hayri Durmuş. Meiner Meinung nach hat Öcalan diese Entscheidung getroffen, um die eigenen Kräfte zu schützen und auszubilden und um so einen organisierten Guerillakrieg in Kurdistan beginnen zu können.

Der Schritt nach Palästina hatte sehr wichtige Konsequenzen für die Bewegung. Dieser Ort war der Sammelpunkt der verschiedenen Anschlüsse in die Bewegung; dort sammelte sich die Kraft der Bewegung. Die technische Ausrüstung war dort gewährleistet. Dort hatte Öcalan die Möglichkeit Parteitage, Versammlungen und Kongresse abzuhalten. Unter den damaligen Bedingungen war die Ausbildung und Aufstellung einer zweihundert Personen starken Truppe so viel wert, wie heute die Aufstellung einer gesamten Armee. Und tatsächlich wurde dort auch eine Armee aufgebaut.

Wann sind Sie in den Nahen Osten gewechselt? Mit welcher Situation waren Sie dort konfrontiert und mit wem hatten Sie Kontakt?

Ich ging spät in die Region. Wir waren in den Bergen. Öcalan rief die Gruppen vor allem entsprechend ihrer geographischen Nähe auf. Die FreundInnen in Mardin und Umgebung gingen zuerst. Wir waren zwangsläufig die Letzten. Das war dann ungefähr im Jahr 1981. Das war der Plan der Parteiführung und danach richteten wir uns. Der Weg dorthin war natürlich schwierig. Unsere Route ging über Rojava (Westkurdistan), Syrien und Libanon in die Bekaa-Ebene.

Jede Gruppe, die dort ankam, wurde von Öcalan persönlich empfangen. Diese ersten Treffen lagen ihm immer sehr am Herzen, weil sie allen Motivation gaben und auch eine gute Gelegenheit zum Kennenlernen boten. Auf diese persönlichen Empfänge war auch immer die gesamte Basis sehr gespannt. Dort wurde dann jedeR FreundIn seinem/ihrem Arbeitsbereich zugeordnet. Es gab eine Camp-Leitung, die die praktischen Arbeiten verwaltete. Heval Mehmet Karasungur war einer der Wichtigsten in dieser Leitung. Heval Sabri war auch dort, auch viele andere, an deren Namen ich mich jetzt nicht erinnern kann. Sie organisierten diese Dinge.

Diese Freundinnen teilten die KaderInnen in Dreier- oder Fünfergruppen auf und übergaben sie den palästinensischen Gruppen, an deren Ausbildung sie dann teilnahmen. Wir kamen mit einer großen Gruppe – mehr als 25 Menschen– aus dem Norden an und nahmen so an der Ausbildung teil. Dies war nur die Gruppe aus der Region Dersim-Bingöl. Als wir damals dort ankamen, hatten wir kurz zuvor Beziehungen mit der Fatah aufgenommen.

In allen diesen palästinensischen Organisationen hatten wir Gruppen von FreundInnen. Da wir dort blieben, wurde auch für jeden von uns in Beirut ein Ausweisdokument erstellt. Karasungur kümmerte sich um diese Arbeiten. Wir gingen zu ihm. Er sagte uns: „Jeder von euch soll sich einen Namen aussuchen, aber auf Arabisch.“ Ich habe mir damals überlegt, welchen Namen ich mir geben sollte. Er drehte sich zu mir um und sagte: „Mein Name ist Xalid und deiner ist Xalid.“ Unsere Bekanntschaft ging schon auf früher zurück, zu den TÖBDER-Zeiten (Tüm Öğretmenler Birleşme ve Dayanışma Derneği; deutsch: Verein der Vereinigung und Solidarität aller LehrerInnen) in Bingöl. So wurde mein Name Xalid. Ich habe meinen Namen nicht geändert, nachdem mein Freund Karasungur gefallen ist. Ich habe nie daran gedacht, ihn zu ändern. Mein Name ist mir als Erbstück von ihm geblieben. Und dann gingen wir zur Fatah.

ApoistInnen in Palästina

Du bist in das Lager der Fatah gegangen und hast dort deine Ausbildung bekommen. Wie näherten sich euch die PalästinenserInnen? Wie sahen palästinensische Organisationen die PKK?

Dies war für uns ein wichtiges Thema. Schließlich waren sie eine Kraft, die aus der arabischen Gesellschaft hervorgegangen ist, und die PKK aus dem Herzen des kurdischen Volkes. Sie kannten uns nicht sehr gut. Auch der Umgang der arabischen Bourgeoisie mit uns war anders, die wir natürlich von den RevolutionärInnen unterschieden. Der Großteil der palästinensischen Organisationen akzeptierte unseren Vorsitzenden nicht. Er hat dafür lange kämpfen müssen. Wenn sie wüssten, dass Israel kommen und ihre Orte besetzen würde, dann wäre ihre Annäherung an uns vielleicht wohlwollender gewesen. Sie sahen uns, wie auch alle anderen, wie Menschen, die sie arbeiten und kämpfen lassen können. Schließlich brauchten sie KämpferInnen. Auch KurdInnen hatten mehr oder weniger Kriegserfahrung. Allerdings waren die Bedingungen der neuen Welt des Krieges wie ein Flachland, das sie erst noch erkunden müssen. Die Sowjets, China, der gesamte Ostblock und die arabischen Staaten gaben den PalästinenserInnen alle möglichen Hilfestellungen. Ohne sich wirklich anzustrengen, bekamen sie aus großzügigen Händen alles, was sie brauchten. Deshalb nahmen sie niemanden ernst, nicht nur uns.

Sie sahen diese InternationalistInnen entweder als eine Belastung oder als einfache Arbeitsesel. Ein Beispiel: Einmal kamen welche aus Bangladesch. Sie ließen sie wie ArbeiterInnen in Höhlen und Tunneln arbeiten. Diese hatten aber auch nicht wirklich Interesse an einer Revolution und schauten vor allem darauf, was sie verdienten. Ein anderes Mal kamen SudanesInnen und Menschen aus vielen Teilen Afrikas. Sie standen am Rande der Fatah-Bewegung und arbeiteten für sie. Als wir sie ansprachen nannten sie sich „Maschinen“. Mit anderen Worten, sie arbeiteten physisch wie Maschinen. Deshalb sahen die PalästinenserInnen auch uns in dieser Kategorie. Ihre Herangehensweise an uns war schon am Anfang ein Problem. Da unsere Gruppe erst später dort ankam, kamen wir zur „besseren“ Zeit, da die FreundInnen vor uns sich schon, mit harter Arbeit und großen Mühen, Respekt und Akzeptanz verschafft hatten.

Manche wollten uns sogar mit materiellen Dingen für unsere Arbeit entlohnen. Einmal hatte der Freund Kemal Pir in einer solchen Situation zu Ihnen gesagt: „Wir sind Revolutionäre, ihr seid auch Revolutionäre. Wir können euer Geld nicht nehmen“. JedeR hatte dort für seine Arbeiten Geld bekommen: Einzelpersonen, Organisationen, etc. Später haben auch wir Geld akzeptiert, das wir ausschließlich zur Finanzierung der Arbeiten nutzten. Während wir neu waren, hatte die Fatah dort bereits eine große militärische Kraft, eine Guerilla aufgebaut. Sie war aber ungebildet und weit entfernt von Disziplin. Früher nutzten wir für solche Leute das Wort „Lumpenproletariat“. Die ApoistInnen waren aber ideologisch und politisch gebildete, disziplinierte RevolutionärInnen.

Intern bildeten wir uns ideologisch weiter, lasen und diskutierten die Parteianweisungen. Daneben kamen die Kommandeure der Fatah und gaben uns eine militärische Ausbildung. Auch die Freizeit vergeudeten wir nicht, sondern nutzten auch sie für Bildung, weshalb die PalästinenserInnen dachten, dass wir bewusst Sitzungen abhielten, um nicht arbeiten zu müssen. So etwas wie ideologische Bildung gab es bei ihnen ohnehin nicht. Gearbeitet haben die meisten auch nicht wirklich. Sie erwarteten von uns, dass wir ihre Arbeiten erledigen und für sie putzen. Wir sind jeden Tag im Morgengrauen aufgewacht, haben unser Lager geputzt und setzten uns dann zum Frühstück. Während wir dann schon frühstückten, wachten sie gerade auf und kamen einer nach dem anderen zum Frühstück.

Wir konnten dieses Verhalten damals nicht verstehen. Es gab Zeiten, in denen wir wütend wurden. Im Laufe der Zeit wurde uns klar, dass dies ihre Lebensweise war; sie lebten einfach auf diese Weise und ohne Hintergedanken. Diese Verhaltensweisen haben uns natürlich herausgefordert. Wir sagten uns: „Wenn die so sind, was sollen wir tun, wir sind gekommen, um Bildung zu bekommen. Wir müssen sie als solche akzeptieren“ und ließen uns das gefallen. Das ging so bis Juni 1982.

Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Bekaa

Wie war die militärische Ausstattung der Fatah? Wie profitierte die PKK davon? War eure Ausbildung ausreichend?

Angesichts unserer damaligen Situation haben wir sehr davon profitiert. An Individualwaffen bis zu schweren Waffen haben wir alle möglichen Bildungen bekommen. Das beinhaltete das Auseinandernehmen und die Reparatur dieser Waffen. Sie gaben uns die Standardausbildung. Es waren vor allem unsere FreundInnen, die die nötige Willenskraft zum Lernen zeigten. Sie gaben uns zum Beispiel zum Trainieren Handgranaten. Während die Ausbilder uns sagten „schmeißt die Bomben einfach nur weit weg“, stellten unsere FreundInnen Zielscheiben, wie Blechbüchsen und ähnliches auf, um die Würfe zu üben und somit die Ausbildung zu perfektionieren. Wir näherten uns mit einer viel größeren Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit an die Fragen der Zukunft unserer Armee und unseres Volkes. Sie zeigten uns auch, wie Mörser auf Paletten oder Raketen mit 40 Laufrohren genutzt werden. Sie nutzten uns viel für das Schleppen der Munition und der Waffen, aber sie haben uns auch viel beigebracht…

#Fotos: via Yeni Özgür Politika

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Demokratische Opposition wird in der Türkei brutal verfolgt – insbesondere, wenn Kurdinnen ihren Platz im politischen Raum einnehmen wollen. Deutschland unterstützt diese Repression. Ein Gespräch mit der HDP-Politikerin Besime Konca

Kannst du dich zuerst unseren Leser:innen vorstellen?

Mein Name ist Besime Konca. Ich arbeite seit 28 Jahren in der kurdischen Befreiungsbewegung und mit kurdischen Frauen. Ich war lange Zeit politische Gefangene in der Türkei. Man hat mich verhaftet, als ich für die DTB aktiv war, später auch, als ich für die HDP aktiv war. Zuletzt wurde ich vor einigen Jahren als HDP-Parlamentarierin für Sirte gefangen genommen. Ich war zu der Zeit als Gast in Europa, aber weil mir in der Türkei erneut Gefängnis drohte, musste ich bleiben. Derzeit halte ich mich als politische Geflüchtete in Deutschland auf. Ich bin also seit etwa drei Jahren in der Diaspora.

Wie bist du politisch aktiv geworden und zur HDP gekommen?

Die HDP ist ein politisches Projekt, das die in der Türkei seit 100 Jahren bestehende Politik verändert hat. In der HDP gibt es zum einen das System der geschlechterparitätischen Doppelleitung, es gibt autonome Fraueninstitutionen, in denen sich Frauen organisieren. In der HDP haben alle Bevölkerungsgruppen einen Platz gefunden, denen es in der Türkei verboten war, demokratische Politik zu machen – Kurd:innen, Armenier:innen, Syrer:innen, Tscherkess:innen, Alevit:innen. Die HDP ist ein umfassendes Projekt zur Demokratisierung der Türkei. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das demokratisch-ökologische Paradigma und die Freiheit der Frauen zu beschützen. Für mich war entscheidend, dass ich als kurdische Frau, als Feministin und als Demokratin Politik machen wollte. Deshalb bin ich in die HDP eingetreten.

2017 wurde du in der Türkei deines Amtes enthoben. Was war die Vorgeschichte dieses Angriffs?

Im November 2015 ist die HDP ins Parlament eingezogen. Aber vorher schon habe ich für die kurdische Partei BDP gearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt war die HDP vergleichsweise neu aufgebaut worden, die Geschichte der Partei reichte erst 6 Jahre zurück. Damit die kurdische Frage in der Türkei gelöst werden konnte, hatte Abdullah Öcalan das Paradigma der Demokratischen Nation entworfen. Die HDP war zwischen der politischen Sphäre in der Türkei, den Debatten auf Imrali und der kurdischen Befreiungsbewegung in einer Vermittlungsrolle gewesen. Deshalb hatte ich großen Respekt vor ihr und große Hoffnungen, dass sie die kurdische Frage lösen und die Türkei demokratisieren können würde.

Im Juni 2015 schaffte es nun die HDP zum ersten Mal als kurdische Partei über die 10-Prozent-Hürde ins türkische Parlament – zuvor waren immer nur Einzelkandidat:innen eingezogen. Sie erreichte 13 Prozent. Deshalb akzeptierte der türkische Staat diese Wahlen nicht und strebte Neuwahlen an. Und der Staat begann Kriegsoperationen gegen die Kurd:innen. Im Rahmen dieses Krieges kam es auch zu Angriffen auf die HDP. Der türkische Staat akzeptiert die Kurd:innen seit 100 Jahren nicht, also wollte er nicht, dass die Kurd:innen ihren Platz in der Politik einnahmen. 2016 wurden die Co-Vorsitzenden der HDP , Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag, sowie eine große Zahl von Parlamentarier:innen gefangen genommen. Einen Monat später haben sie auch mich ins Gefängnis geworfen.

Man muss dazu sagen, in diesen Jahren kam es auch in Rojava zu einem sehr wichtigen Widerstand. Ganz Rojava erhob sich gegen den Islamischen Staat. Und gleichzeitig griff die Türkei militärisch in ganz Kurdistan Städte an – Cizre, Sur, Nusaybin. Dagegen positionierte sich die HDP. Wir vertraten die Auffassung, dass die kurdische Frage sich nur durch eine Demokratisierung lösen ließe. Wir leisteten auch außerhalb des Parlaments, bei den Unterdrückten im Volk, viel Widerstand – sowohl in Nordkurdistan, wie in Rojava.

Gerade für die weiblichen Abgeordneten im Parlament war der Kampf schwer, denn das Patriarchat ist dort tief verankert. Sie beschnitten die Rechte von Frauen, brachten religiöse, rückwärtsgewandte Gesetze ins Parlament. Dagegen leisteten wir Widerstand. Es gab eine Gruppe von Frauen im Parlament, die sich zum Beispiel dafür einsetzte, dass ein Frauenministerium geschaffen wird. Und gegen die Gesetzesentwürfe der AKP, beispielsweise zur Legalisierung der Verheiratung von Minderjährigen oder zur Zwangsverheiratung von Vergewaltigten mit ihren Vergewaltigern – dagegen haben wir Widerstand geleistet. Das türkische Parlament ist kein klassisches Parlament wie in anderen Ländern. Man muss dort Widerstand leisten und es ist ein wichtiger Kampf um Sein oder Nichtsein der eigenen politischen Existenz.

Du lebst seit 2018 in Deutschland. Wie kannst du von hier aus deine politische Arbeit fortführen?

Als ich im Gefängnis war, habe ich begonnen, mich sehr für die Freiheit der Frauen zu interessieren. Als Parlamentarierin habe ich diese Arbeit fortgeführt. Es geht darum, die Gesellschaft nach dem Paradigma der Freiheit und der Frauenbefreiung zu organisieren. Und auch wenn der türkische Staatdas nicht anerkennt, sieht mich die Bevölkerung, die mich gewählt hat, noch als ihre Abgeordnete. Ich bin ja seit 28 Jahren für die Freiheit des kurdischen Volkes, für jeden Widerstand und alle Kämpfe der Frauen aktiv. Und das möchte ich auch hier fortsetzen. Ich habe dann in der Diplomatie der Frauenbewegung gearbeitet. Und heute arbeite ich in der kurdischen Gesellschaft in Europa, mit den Frauen hier, die viel Widerstand leisten. Es ist auch wichtig aufzuzeigen, dass alle Staaten Europas – Frankreich, Italien, Deutschland – heute Gehilfen des türkischen Staates sind. Sie unterstützen den AKP-Faschismus.

Die Mehrzahl des kurdischen Volkes in der Diaspora ist heute in Deutschland. Mehr als eine Million Kurd:innen sind in der Bundesrepublik. Es ist das Recht der Kurd:innen in Deutschland an der Politik teilzuhaben. Es ist das Recht der Kurd:innen, dass auch die Gesellschaft in Deutschland, die Jugend, die Politik sehen, wie das Leben in Kurdistan ist. Und in der Gesellschaft Deutschlands gibt es viele Freund:innen der Kurden. Gerade wir als Frauen nehmen an vielen Bewegungen teil und haben dort unseren Platz.

Was ist deine Perspektive auf die deutsch-türkischen Beziehungen?

Die Politik Deutschlands hat Einfluss auf die aller europäischer Staaten. Und Deutschland hat nicht erst seit Kurzem, sondern seit dem osmanischen Reich intensive Beziehungen zur Türkei. Die Politik der kapitalistischen Moderne und der Unterdrückerstaaten ist immer an Interessen, am eigenen Nutzen ausgerichtet und das prägt auch diese Beziehungen. Das ist eine falsche und gegen die Völker gerichtete Politik. Eine Politik der Waffenexporte, eine Politik des Profits und eine antidemokratische Politik. Gerade Deutschland will gar keine demokratische Entwicklung in der Türkei. Die Bundesrepublik befürwortet den Krieg.

Das ist eine falsche Politik. Die Länder Europas sehen die Türkei als eine Art Depot für Geflüchtete. Sie fürchten sich vor den politischen Aktionen der Türkei.

Aber die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind nicht erst seit dem AKP-Faschismus von dieser Art. Auch davor gab es ja diese Beziehungen. Die Regierungen in der Türkei wechselten, aber nicht die grundsätzliche Politik des Staates. Und in diesen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei spielten Demokratie oder Menschenrechte nie eine Rolle. Es geht allein um den wirtschaftlichen Nutzen. Und dieser wächst durch Krieg. Und er wächst in Krisen.

Es werden zahlreiche Massaker gegen Kurd:innen verübt, heute werden sogar Chemiewaffen eingesetzt, jeden Tag bombardieren sie mit Drohnen kurdische Wohngebiete, Menschen werden getötet. 5000 Frauen wurden vom IS in Sengal entführt. In Afrin, Kobane, Gire Spi haben die Türken mit Unterstützung Europas angegriffen und die Bevölkerung massakriert. Sie respektieren den Willen der Kurd:innen, den Gesellschaftsaufbau der Kurd:innen nicht. Das verletzt die Kurd:innen.

Ich will auch betonen, dass sich selbst hier der deutsche Staat wie die Türkei gegenüber den Kurd:innen verhält. Er verbietet ihre Organisationen, Jugendliche werden verhaftet, es gibt eine Reihe von Verboten. Die Farben und Fahnen der Kurd:innen werden auf Demonstrationen kriminalisiert. Das, was die Türkei tut, versucht die BRD auch in Europa durchzusetzen. Es ist ja so, dass die Kurd:innen nicht freiwillig ihr Land verlassen haben. Wir haben unsere Geschichte, unsere Zukunft und Vergangenheit dort. Wir wurden durch genau diese Politik vertrieben und mussten nach Deutschland kommen.

Titelbild: ANF

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