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“Was kommt als nächstes?” – Die Frage mussten sich tausende von FARC-Guerrillakämpfer:innen nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages im Jahr 2016 stellen. In EL Cauca, einer Region, in der die FARC schon immer sehr präsent war, tauschten die Kämpfer:innen ihre Waffen gegen Kameras. Inmitten des Friedensprozesses, als die Augen der Welt auf sie gerichtet waren, beschlossen sie, ihre Sicht der Dinge zu dokumentieren. Zum ersten Mal auf diese Art wird in “Memorias Guerrilleras” (Guerrilla-Erinnerungen) der kolumbianische Konflikt von denen erzählt, die ihn erlebt haben.

“Der Film wurde von ehemaligen Kämpfern gedreht und geschrieben, was in der Welt ungewöhnlich war” sagt uns Boris Guevara, ehemaliger Guerrillero der FARC und Schauspieler in Memorias Guerrilleras. Tanja Nijmeijer, die während des Telefongesprächs neben ihm sitzt, fügt hinzu: “Wir hatten das Gefühl, dass es wichtig war, einen Film mit unserer Vision zu produzieren. Was haben wir erlebt? Was haben wir durchgemacht?”

Die Neiderländerin Tanja hat es zu unfreilliger Berühmtheit gebracht, als ihre Tagebücher im kolumbianischen Dschungel gefunden werden, in denen sie ihre Entwicklung einer FARC-Revolutionärin dokumentiert. Sie begleitete die Dreharbeiten und die Ausbildung für das Verfassen von Drehbüchern und Aufnahmen. “Wir lebten in der Übergangszone für die Wiedereingliederung, als uns ein Filmregisseur, Ricardo Coral, besuchte.”

“Ich glaube, die UNO hätte die Aufnahme des Films nie erlaubt. – Dreharbeiten über Krieg inmitten der Entwaffnung

Über 50 Jahre lang befand sich die FARC im Krieg mit dem kolumbianischen Staat. Eine lange Zeit, in der viele Dokumentarfilme entstanden. Warum braucht es noch einen Film? Was macht dieser anders? Tanja antwortet darauf: “Normalerweise haben Filme einen Filter. Es gibt viele Dokumentarfilme über die FARC, aber ich denke, die meisten davon wurden von Leuten außerhalb gemacht. Es geht immer durch ihren Filter.”

Tatsächlich belegen mehrere Studien die Propaganda der kolumbianischen Regierung gegen die FARC. Ein Medienkrieg, der die FARC für alles Schlimme im Land verantwortlich macht, und darauf abzielt, die Guerrilla zu einem unpolitischen Subjekt zu machen. Tanja fügt hinzu: “Wir wollten unsere Geschichte erzählen; wir wollten, dass die Leute wissen, warum wir uns der FARC angeschlossen haben. Es wurde so viel über die FARC gesagt, und 80 % davon ist nicht wahr, einfach nicht wahr. Wir hatten ein Leben im Dschungel, ein Leben in der Guerrilla, und wir haben das Recht, auf dieses Leben zurückzublicken und den Menschen zu erzählen, was wir erlebt haben.”

Der Spielfilm erzählt fünf parallele Geschichten aus der Zeit, als die FARC ihre Waffen an die Vereinten Nationen übergab. Der Drehort in El Cauca ist geprägt von kargen Bergen und dichtem Dschungel. Die Menschen, die hier leben, kämpfen mit Armut, Chancenlosigkeit und Gewalt durch rechte Paramilitärs und die Armee. Das führt unweigerlich dazu, dass sich viele den Reihen der Guerrilla anschließen. Eine Storyline befasst sich mit den Gefühlen neuer Mitglieder der FARC: Was bedeutete es, seine Familie zurückzulassen, um in der Guerrilla eine Zukunft zu finden? Eine andere Storyline handelt von Guerrillakämpfer:innen, die mit der Angst und der Ungewissheit der Waffenübergabe an die UNO und dem Ende des Guerrillalebens zurechtkommen müssen.

Boris Guevara erzählt am Telefon: “Der Film wurde aufgenommen, als wir unsere Waffen abgaben. Er basiert auf der Realität, auf dem, was wir in diesem Moment fühlten. Für die meisten Menschen war es ein beängstigender Moment, denn unsere Waffen bedeuteten unser Leben. Sie wurden benutzt, um unser Leben zu verteidigen. Es war nicht leicht, sie an die Vereinten Nationen zu übergeben. Viele fragten sich: Was wird mit uns geschehen? Ich denke, der Film spiegelte diesen Moment des Zweifels und der Angst perfekt wieder. “

Der Film ist in vielerlei Hinsicht der erste seiner Art, den man als fiktive Autobiografie bezeichnen kann. Es gibt wenige vergleichbare Beispiele für die Drehbedingungen und das Team, das hinter der Produktion steht. Vom Guerrillakämpfer zum Schauspieler, mehr oder weniger über Nacht. Wie ist das möglich? Boris antwortet: “Wir haben ein Casting unter den 400 Menschen gemacht, die in der Zone leben, und die Leute mussten einfach so tun, als wären sie sie selbst, und Geschichten aus ihrem eigenen Leben aufschreiben. Man brauchte nicht viel Fachwissen, um ein Schauspieler zu sein, denn sie waren einfach sie selbst.”

Die Produktion hat ein Budget von nur 15.000.000 kolumbianischen Pesos, umgerechnet etwa 3303 Euro. In dem gesamten Produktionsteam sind nur acht Professionelle. Das bedeutete viel und schnelles Arbeiten: “Wir hatten nur einen Monat Zeit für die Aufnahmen, also mussten wir Tag und Nacht aufnehmen. Wir waren also ständig am Arbeiten.”

Die Dreharbeiten fanden während eines Abrüstungsprozesses statt. Tatsächlich wurden anfangs die echten Waffen der FARC als Requisiten verwendet. Doch dann wurden sie, wie im Friedensvertrag vorgeschrieben, der UNO übergeben. Mehr als 8000 Waffen und etwa 1,3 Millionen Kugeln Munition. Boris Guevara sagt uns, dass dies die größte Herausforderung für die Produktion war. Leute aus dem Camp werden in die Städte geschickt, um Waffenattrappen als Requisiten zu kaufen. Doch damit sind nicht alle Probleme gelöst. Der Friedensvertrag ist von der UNO an strenge Bedingungen geknüpft; die Guerrillakämpfer:innen dürfen ihre Lager nicht einmal ohne Waffen verlassen.

Boris erzählt uns, dass die UNO eigentlich nie von der Produktion des Films gewusst hat: “Ich glaube, die UNO hätte die Aufnahme des Films nie erlaubt.” Er erzählt uns von der Aufnahme einer Szene, bei der es riskant wird: “Wir haben eine Szene aufgenommen, in der einige Guerrillakämpfer einen Zivilisten treffen, dann kamen einige Bauern vorbei und sahen die bewaffnete Gruppe. Daraufhin riefen sie die UNO an, um ihnen mitzuteilen, dass eine bewaffnete Gruppe anwesend war. Wir mussten also schnell ins Lager zurückkehren und uns normal verhalten. Die Vereinten Nationen fragten, was los sei, und wir antworteten: “Hier ist nichts los. Wir waren alle innerhalb des Camp. Nichts passiert.” Tanja und Boris lachen, als sie das am Telefon erzählen. “Es gab einen Moment, in dem das ein heikles Thema war, aber der ist schon vorbei, also können wir darüber reden”, sagte Boris.

Das Filmkollektiv trägt den Namen eines ihrer ermordeten Genossen, David Marin, Schauspieler bei Memorias Guerrilleras. Er wurde im Juni 2019 getötet und erlebt die Veröffentlichung des Films nicht mehr. Er war lange Mitglied der FARC, davor der kolumbianischen kommunistischen Jugendorganisation, und ein einflussreicher sozialer Führer. Boris beschreibt ihn als einen “geborenen Anführer”. “Es ist nicht ganz klar, warum er getötet wurde. Er wurde in einer komplexen Zone getötet.” In der FARC ist es seit langem Tradition, dass Fronten oder Projekte den Namen ihrer gefallenen Kameraden annehmen.

“Als der Film aufgenommen wurde, waren bereits einige Ex-Kämpfer ermordet worden. Gleichzeitig gab es viele Attentate auf soziale Führungspersönlichkeiten.” Seit dem Friedensabkommen werden mehr als 300 ehemalige FARC-Kämpfer:innen getötet. Meistens ist es schwierig, die Motive für die Morde zu verstehen. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass es sich um rechte paramilitärische Strukturen handelt, die sich die Verwundbarkeit durch die Entwaffnung zunutze machen.

Der Friedensprozess ohne Frieden – Rückblick auf Befürchtungen die sich bewahrheitet haben

Es ist unmöglich, über den Film zu sprechen, ohne auch über Politik zu sprechen. Der Film spricht aus der Perspektive eines sehr jungen Friedensvertrags. Heute ist er über fünf Jahre alt. Viele der Zweifel und Zukunftsängste, die im Film angesprochen werden, haben sich bewahrheitet. Der ehemalige Optimismus wird von der existierenden Gewalt überschattet. Tanja und Boris sind Teil der Friedensdelegation gewesen, die über vier Jahre lang mit der kolumbianischen Regierung auf Havanna verhandelt hat. Der Friedensvertrag soll einen der langwierigsten bewaffneten Kämpfe der Welt beenden. Das war die Idee auf dem Papier.

Boris erzählt, dass nur fünf Prozent des 310-seitigen Friedensvertrags umgesetzt worden sind. “Was wir uns vor fünf Jahren erträumt haben, ist heute eine traurige Realität der Nicht-Umsetzung” sagt er. In der Tat hat sich sehr wenig entwickelt, einiges sogar ins Negative. Während beispielsweise die extreme Armut im Jahr 2019 noch 9,6 Prozent ausmacht, liegt sie 2020 bei über 15 Prozent. Mittlerweile gelten 42,5 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung als arm.

2016 wird der Friedensvertrag von der Santos Regierung unterschrieben, welche von Tanja als „inkompetent und langsam“ bei der Umsetzung des Vertrages beschrieben wird. Aktuell ist Iván Duque Präsident, der einer sehr rechten Partei angehört, die bei ihrem Wahlsieg angekündigt hatte, den Friedensvertrag in Stücke zu reißen. Tanja und Boris hoffen auf zumindest einige Änderungen von der neuen Regierung nach den kommenden Wahlen. „Wir haben sehr gute Chancen, die Wahlen zu gewinnen und mit den rechten Parteien zu konkurrieren.“ – erzählt Boris am Telefon.

Tanja beschreibt es so: “Viele Dinge wurden nicht umgesetzt. Sie haben wirklich versucht, das Friedensabkommen in Stücke zu reißen. Es gibt immer noch Armut. Kolumbien ist immer noch ein sehr ungleiches Land und eine Klassengesellschaft. Das ist es, was wir jeden Tag erleben. Für die meisten von uns ist es ein ständiger Kampf. Wir sind in eine Gesellschaft integriert, die sich nicht wirklich verändert hat. – Ich denke, es ist wichtig, der Welt zu zeigen, dass der Konflikt nicht vorbei ist, und dass die Umsetzung sehr wichtig ist.”

Der kolumbianische Konflikt ist trotz des Friedensvertrags noch nicht beendet. Er ist ein andauernder Prozess, der immer komplexer wird und sich tendenziell verschärft. Das Filmkollektiv will ihn weiterhin dokumentieren. Trotz der schwierigen Situation blickt das Kollektiv David Marin nach vorne; es gibt bereits Pläne für Memorias Guerrilleras II. “Leider ist es in Kolumbien schwierig, einen Film zu machen. Es gibt keine Mittel, die Regierung unterstützt die Filmindustrie nicht sehr gerne. Wir sind also auf der Suche nach einer Finanzierung. – Es hängt vor allem davon ab, dass die Leute den Film kaufen und ihn sich ansehen. Es ist also aus vielen Gründen wichtig für uns, dass die Leute den Film sehen. “

# Memorias Guerrilleras lässt sich auf der Plattform für memoriasguerrilleras.indyon.tv für 5 Euro mieten. 30 Prozent des Geldes geht an die Ex-Kombattanten, die in dem Film geschauspielert haben. 70 Prozent geht in die Produktion von Memorias Guerrilleras II. Der Film ist mit englischen Untertiteln verfügbar.

# Alle Bilder: Memorias Guerrileras

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24. November 2016: Vor genau fünf Jahren unterzeichnete der kolumbianische Staat ein Dokument, welches einen 50 Jahre langen aufständischen Bürgerkrieg beenden sollte. Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, besser bekannt als FARC-EP, setzten sich mit ihren jahrzehntelangen Feinden zusammen an den Verhandlungstisch.

Während 7.000 Guerrilerxs der FARC-Guerilla ihre Waffen in der aufrichtigen Hoffnung auf Frieden abgaben, hatte der Staat seine ganz eigene Motivation. Die kolumbianische Elite erkannte: Ein Krieg gegen Kommunisten ist schlecht fürs Geschäft.

Das Abkommen machte den Menschen Hoffnung auf Frieden und Wandel, gleichzeitig badete sich der derzeitige Präsident Juan Manuel Santos im Rampenlicht der internationalen Presse; Santos wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Jetzt, 2021, ist am vergangenen Montag der UN-Generalsekretär im Land eingetroffen, um sich mit den Opfern des bewaffneten Konfliktes, Regierungsdelegierten und ehemaligen hochrangigen Führern der FARC-EP zu treffen. Am Mittwoch, dem 24. November, dem fünften Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensabkommens, wird es einen großen Festakt geben. Was genau gefeiert wird ist unklar, denn Frieden gibt es in Kolumbien keinen.

Im Jahr 2016 war die FARC-EP bereit, ihre Waffen abzugeben. Jetzt werden unbewaffnete, ehemalige FARC-Veteranen erschossen. Systematische Morde an ehemaligen FARC-Guerilleros erschüttern das Land. Wenn der derzeitige Trend der gezielten Tötungen anhält, werden etwa 1.600 ehemalige FARC-Gueriller@s bis Ende 2024 ermordet werden, teilte das kolumbianische Tribunal für Übergangsjustiz am 28. April 2021 mit. Bereits jetzt wurden seit dem Friedensvertrag über 260 ehemalige FARC Mitglieder ermordet. Ehemalige FARC-EP-Gueriller@s fürchten um ihr Leben, während die Überzeugung, dass das so genannte Friedensabkommen auf einer Illusion beruht, immer mehr an Popularität gewinnt.

Nicht alle fügen sich diesem Schicksal. Der bittere Verrat am Friedensvertrag seitens des Staates war für viele ehemalige Mitglieder, Kommandeur:innen und Gueriller@s der FARC-EP und der mit ihrem verbundenen Kommunistischen klandestinen Partei Kolumbiens (PCCC) der Anlass, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. Derzeit sind die Strukturen der “neuen” FARC-EP landesweit in 138 Gemeinden präsent, was auf ein enormes Wachstum seit 2016 hinweist, dem Jahr, in dem der Friedensprozess zwischen der “alten” FARC-EP und der kolumbianischen Regierung abgeschlossen wurde.

Tausende zerrissen den Vertrag in zwei Teile und griffen wieder zu den Waffen. Die “Partei der Rose”, die legale Partei aus ehemaligen FARC Mitgliedern, verlor viele ihrer Mitglieder. Die einflussreichsten FARC-Kommandeure Jesus Santrich und Iván Márquez kehrten in die Berge zurück, um die Gründung der FARC-EP bekannt zu geben: Die Zweite Marquetalia. Fast täglich gibt es Gefechte. Frieden in Kolumbien eine Illusion.

Frieden gibt es in dem Land schon allein deswegen keinen, weil die FARC und der Staat nicht die einzigen Parteien im Krieg sind, und rechte Paramilitärs, die für die überwiegende Anzahl an politischen Morden verantwortlich sind, Kartelle und der Staat selbst immer noch einen bewaffneten Kampf gegeneinander und das Volk führen. Wie instabil der Status Quo aktuell ist, wurde während des Nationalstreiks 2021 und dem anschließenden Volksaufstand als Reaktion auf Polizei- und paramilitärischer Gewalt deutlich. Mindestens 84 Menschen wurden getötet, über 1.790 verwundet und 3.274 verhaftet. Dazu kommen 106 geschlechtsspezifische Gewaltakte.

Der Besuch von dem UN-Generalsekräter António Guterres findet inmitten einer Welle der Gewalt statt. Allein 2021 wurden  mehr als 150 Aktivisten und seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1270 sozialen Aktivisten ermordet. In Kolumbien gibt es das Sprichwort: “Es ist weniger gefährlich in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen.“ Die kolumbianische Bevölkerung und vor allem die Revolutionäre Bewegung ist sich bewusst, dass über die verfaulte bürgerliche Demokratie die korrupte Herrschaft der Oligarchen nicht überwunden werden kann. Aus diesem Grund sind die einzigen konstanten Kriegsparteien in dem über 50 Jahre dauernden Bürgerkrieg die Kommunistischen Guerilla und der Staat. 

# Titelbild: Juan Manuel Santos, ehem. Präsident von Kolumbien und Rodrigo Londoño Echeverri, alias «Timoleón Jiménez” von den FARC, 2016

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Wenn man Aktivitäten von Aufständischen verfolgen möchte, sind die Sozialen Medien eines der stärksten Werkzeuge. Bei meiner Recherche nach kolumbianischen Guerill@s auf Facebook bin ich auf etwas Außergewöhnliches gestoßen.
Ich konnte es selbst nicht glauben: Sind diese ELN-Guerill@s offen im Gefängnis organisiert?
Was, sie hosten gerade einen Facebook-Livestream?
Warte, hat dieser Typ eine AK-47, die an seiner Zellenwand lehnt?
Ich stieß auf das Profil eines Guerilleros in einem kolumbianischen Gefängnis, der die typische ELN-Uniform trug und Bilder mit seiner Waffe online postete.

Dieser Typ ist nicht die Ausnahme. Die ELN-Guerilla ist in kolumbianischen Gefängnissen stark und prahlt damit in den sozialen Medien. Auf zentralen ELN-Kanälen werden unter anderem Live-Streams gesendet und Aufnahmen von großen Paraden militanter Gefangener unter ihrer Flagge gepostet.

Was bisher von keiner Fernsehkamera aufgezeichnet werden konnte, wird nun von den Häftlingen selbst über geschmuggelte Smartphones öffentlich gemacht: Der kolumbianische Staat hat wenig Kontrolle über das Geschehen in seinen Gefängnissen, während die Guerilla-Opposition landesweit Häftlingskollektive organisiert.

Ich habe einen Insassen des “Sicherheitsgefängnisses” in El Cauca interviewt.

Wer sind Sie und warum sitzen Sie im Knast?

Ich bin Andres „El Indio“ (der Inder), so nennt man mich in der Familie der „Ejercito de Liberación Nacional“ (ELN – Nationale Befreiungsarmee). Ich verbüße eine Haftstrafe für die Verbrechen der organisierten Rebellion und der schweren Erpressung. Derzeit bin ich bereits fünf Jahre im Hoch- und Mittelsicherheitsgefängnis in der Provinz Cauca.

Mit welchen Bedingungen sind Sie im Gefängnis konfrontiert?

Ich sag mal so, die Bedingungen eines Häftlings in Gefängnissen des kolumbianischen Staates sind ziemlich prekär. Aus dem einfachen Grund, dass in Gefängnissen Grundrechte verletzt werden. Ein Gefängnis sollte kein Ort außerhalb des Gesetzes sein, die Menschen, die in einer Justizvollzugsanstalt festgehalten werden, sollten nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Jede Person, der die Freiheit entzogen ist, sollte menschlich und mit der Achtung vor der Menschenwürde behandelt werden. Aber hier in Kolumbien stehen die verfassungsmäßigen Rechte nur auf dem Papier, in Wirklichkeit werden sie nicht umgesetzt.

Droht ihnen eine andere Behandlung, weil Sie ein Revolutionär sind?

Als Revolutionäre in kolumbianischen Gefängnissen werden wir wie einfache gewöhnliche Kriminelle behandelt, es gibt keinen Unterschied zwischen einem „einfachen“ Gefangenen und einem Revolutionär. Die Arbeit eines Revolutionärs ist Vollzeit, für uns Revolutionäre gibt es keine Grenzen, Kerker können kein Grund sein, unsere revolutionären Ziele aufzugeben. Dieses Regime kümmert sich nicht um die universelle Erklärung der Menschenrechte oder das Recht auf Meinungs- und Kommunikationsfreiheit, es verstößt gegen Artikel 19, der da lautet: „Jeder Mensch hat das Recht auf Meinungsfreiheit, dieses Recht beinhaltet das Recht, sich nicht wegen seiner Meinungen beunruhigen zu lassen und sie zu verbreiten, ohne Begrenzung und mit jedem Ausdrucksmittel.”

Ein Revolutionär hat die Aufgabe, Initiativen zu ergreifen und von jedem Ort aus, an dem wir uns auf dieser beschwerlichen Reise befinden, weiterzukämpfen. Von diesen Gefängnissen aus arbeiten wir weiterhin für die Gefängnisinsassen, denn wir werden Tag für Tag wie Tiere behandelt. Es gibt keinen Respekt für unser Leben, es gibt kein Programm oder keine Politik, die die Rehabilitation von Gefangenen unterstützt. Wir gehen, wie wir gekommen sind. Einige werden vielleicht nachdenken, aber die meisten anderen werden den gleichen kriminellen Weg einschlagen und keine Alternativen sehen. Man kann sagen, dass dieses Gefängnis nicht zur Resozialisierung des Einzelnen beiträgt.

Die Gefängnisse sind nur für die Armen da, denn die korrupten Anzugträger, die Verbrechen aus Machtkreisen begehen, befinden sich in 5-Sterne-Hotels oder auf privaten Grundstücken, mit allem erdenklichen Komfort. Genauso wie die „Catedra“, das selbst entworfene Gefängnis des Narco Pablo Emilio Escobar Gaviria.

Können Sie uns mehr über das Leben eines Guerilleros im Gefängnis erzählen?

Die Mission eines Revolutionären ist es, weiterhin für die Bürgerrechte zu kämpfen, die das Regierungssystem weiterhin verletzt. Als Gefangene werden alle unsere Rechte verletzt, die auf Gesundheit, Ernährung, Diskriminierung, kurz viele lebenswichtige Dinge für den Menschen Einfluss nehmen. Von den Kollektiven übermitteln wir schriftliche Forderungen mit Hilfe von Genoss*innen, die über zivil- und strafrechtliche Kenntnisse verfügen.

Das Leben eines Gefangenen ist nicht dasselbe, wenn er Geld hat. Freiheit ist unbezahlbar, aber einige, die eine stabile wirtschaftliche Position haben, genießen den Luxus, mehr Komfort zu haben, weil es keine aufrichtigen Beamten mit ethischen Werten gibt, ja sie sind in der Lage, sogar die Seele ihrer Mütter zu verkaufen. Ein Revolutionär mit reinem Gewissen behält immer eine hohe Moral, standhaft, während er die Jahre durchsteht, die ihm das System auferlegt.

Revolutionäre sind nur in ihrer körperlichen Freiheit eingeschränkt, weil wir in unserem Gewissen frei sind und unserer Fantasie freien Lauf lassen und träumen, ein Revolutionär durchbricht jeden Tag diese körperlichen Grenzen der Gefangenschaft.

Viele Bilder und Videos zeigen die offene Organisation der ELN-Guerilla in Gefängnissen. Wie ist das möglich?

Die ELN organisiert landesweit politische Häftlingskollektive. Überall, wo ein Revolutionär ins Gefängnis geht, muss gemeinsam mit den anderen Gefangenen eine Bewusstseinsentwicklung für unseren Kampf stattfinden. Es gibt keine verbotenen Orte für uns, wir müssen uns den Unterdrückern überall stellen. Heute trennen uns vier Wände, aber unser Kampfwille bleibt intakt, denn wenn die Menschen das gleiche Ideal in ihren Köpfen tragen, kann sie nichts isolieren, weder die Mauern eines Gefängnisses noch die Erde eines Friedhofs. Von den Friedhöfen werden unsere Ideen wie Wasser sprudeln sowie Quellen nach dem Winter.

Das Gefängnissystem verbietet den revolutionären Organisationen jegliche politische Aktivität, aber durch unsere Initiativen haben wir viele Wege gefunden, um die Propaganda unserer Organisation zu verbreiten. In einem Land, in dem Korruption herrscht, ist es nicht schwer, Zugang zu verbotenen Dingen zu haben. Wie Sie gerade sehen, führe ich dieses Gespräch mit einem Smartphone.

Es ist auch möglich, dass Hochsicherheitsgefängnisse Zentren des Handels von psychoaktiven Substanzen wie Crack, Kokain, Marihuana und Schnaps sind. Auch zur Zeit der ultra-rechten Uribe-Regierung kam es im Picota-Gefängnis von Bogota zu großen Auseinandersetzungen zwischen Guerillas und Paramilitärs mit allen Arten von Schusswaffen. Das ist in einem von Korruption durchdrungenen Land nichts Neues.

Auch Fotos von Waffen im Gefängnis scheinen da kein Problem zu sein…

Waffen sind Mittel zur Selbstverteidigung, wie ich in einem vorherigen bereits Absatz sagte. Die Guerilla und die Paramilitärs befinden sich in denselben Abteilungen und es ist nicht selten, Waffen zu tragen, sei es ein Messer oder eine Schusswaffe. Wir haben aus den Geschichten der Gefängnisse in Picota, Modelo oder Bogota gelernt. (Anm. d. Autors: Dort gab es Zusammenstöße zwischen linken Guerril@s und rechten Paramilitärs.)

Ich hoffe, ich konnte Ihnen die besten Antworten auf Ihre Fragen geben, aber es ist nicht einfach, in einer Justizvollzugsanstalt angemessen zu schreiben. Wir müssen sehr wachsam sein, um nicht von den Kameras oder den Augen der Wachen entdeckt zu werden, die uns gerne jagen. Wachen verdienen Geld, wenn sie uns erwischen. Es wird sicherlich Vergeltungsmaßnahmen des Gefängnissystems für diese Anschuldigungen geben.

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Es ist der 28. April 2021, erster Tag des Nationalstreikes in Kolumbien. In Medellín liegt der 17 jähriger Jugendliche Marcelo Agredo auf der Straße. Aus einem Loch in seinem Kopf fließt das Blut, genau dort wo ihn die Kugel aus dem Lauf der Pistole eines Polizisten getroffen hat. Er ist tot.

Das Video dazu ging auf Social Media viral, genau wie unzählige andere in denen staatliche Sicherheitskräfte auf Demonstrant:innen schossen.

Wie weit kann man ein Volk terrorisieren, bis es zurückschlägt? Der kolumbianische Narco-Staat befindet sich seit ungefähr einer Woche im Krieg mit dem streikenden Volk. Auslöser für den Konflikt war ein Nationalstreik gegen bevorstehende Steuer-Reformen, doch die Bilder der farbenfrohen und solidarischen Massenproteste werden überschattet von der Reaktion der kolumbianischen Oligarchie. Kolumbien ist ein Land, in dem eine winzige korrupte Elite ihre Interessen um jeden Preis durchsetzt, sei es mit Gewalt. Die derzeit andauernden Proteste sind die größten, militantesten und radikalsten seit Jahren. Gibt es die Chance auf eine Renaissance?

Generalstreik in Kolumbien gegen neoliberale Reformen

Das nationale Streikkomitee (Comité Nacional de Paro, CNP) rief zu erneuten Protesten gegen neoliberale Wirtschaftsreformen der ultrarechten Regierung von Präsident Iván Duque auf. Der 28. April war der Startschuss für eine Landesweite Mobilisierung unter dem Motto “Für Leben, Frieden, Demokratie und gegen das neue Schwindelpaket Duques und die Steuerreform”.

In circa 600 Städten und Gemeinden hat es Kundgebungen, Hafen- und Straßenblockaden und riesige Demonstrationen gegeben. Getragen werden die Proteste von allen Gesellschaftsgruppen, besonders ist aber die militante Präsenz der Jugend erkennbar. Auch Indigene Organisationen mobilisieren tausende Menschen. Die ultrarechte Regierung versucht den Volksaufstand mit paranoiden Theorien zu erklären: Verantwortlich sein angeblich die kommunistischen Guerillas FARC-EP und ELN. Am 5. Mai „verwechselte“ der Kriegsverbrecher und ex-Präsident Álavro Uribe die Flagge der indigenen Organisation Minga mit der der ELN Guerilla auf Twitter. Nach ein paar Minuten war der Tweet wieder gelöscht.

Anstatt mit den Demonstrierenden in den Dialog zu treten, eröffnete der Staat das Feuer. Seit dem 28. April tötete der Staat 35 Menschen innerhalb von 4 Tagen. Zusätzlich gibt es Opfer von Vergewaltigung und massiver Polizeigewalt. Fast 100 Menschen werden derzeit vermisst.

Trotz der massiven Gewalt kapitulierten die Massen nicht und die Reformen mussten zurückgenommen werden – so zumindest die Ankündigung des Staates. Dieser Erfolg gehört den Kolumbianer:innen, doch er ist ein kleiner Sieg in einem Jahrelangen blutigen Klassenkampf. Das Volk hat noch viele Rechnungen mit dem Staat offen. Deutlich bei den Statistiken der Polizeigewalt wird die Kontaktlosigkeit der Oligarchie mit der rebellierenden Arbeiter*innenklasse. Der Frieden auf den Straßen Kolumbiens ist grade keine Perspektive. Der Kampf geht weiter.

Klassenkampf in Kolumbien hat eine lange Geschichte, die nicht mit dem Nationalstreik anfing und mit ihm auch nicht enden wird. Die Regierung tut alles, was der US-Imperialismus ihr befielt und bekämpft jeden, der sich dieser Sache in den Weg stellt. Seit über 50 Jahren ist der Staat im Krieg mit der aufständischen marxistischen Guerilla FARC-EP und ELN. Es gibt ein Sprichwort in Kolumbien: Es sei ungefährlicher in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen. Laut offiziellen Zahlen sind 96.000 Zivilist:innen in den letzten sechs Jahrzehnten durch die rechtsextremen Paramilitärs getötet worden.

 „Die Polizei greift unsere Leute an. OMG ich habe Angst.“

In den letzten Tagen konnte ich mein Handy nicht mehr aus der Hand legen. Ich war im ständigen Kontakt mit Freund:innen in Kolumbien. In einer Nacht bekam ich eine Nachricht aufs Handy. Ein Freund aus der Hauptstadt Bogota schrieb mir: “Die Polizei greift unsere Leute an. OMG ich habe Angst. Mein Freund, hier in Kolumbien töten die Cops die Menschen. OMG, sie schießen gegen das Volk. Der Präsident befahl gegen alle streikenden Menschen zu schießen.” Ich fragte ihn, ob er Schießereien miterlebt hat. “Ja, in meiner Stadt. Sie schossen aus einem Auto als sie durch die Menschenmassen fuhren.” Dann in der nächsten Nacht wieder: „Die Situation ist jetzt so viel schlimmer. Die Cops töten unsere Leute, OMG Ich habe so viele Videos gesehen. In Cali, Valle del Cauca sind Sie jetzt ohne Strom und es wird das Militär eingesetzt, welches scharf schießt.“

In dem paranoiden Blutrausch der kolumbianischen Cops wurden selbst eine UNO Beobachtungsmission am 3. Mai unter Beschuss genommen. Einzelne Polizisten und Armeesoldaten kündigten auf Social Media an, dass sie nicht auf die Proteste schießen werden. Ihre Beiträge gehen allerdings in der Flut von unzähligen Videos unter, welche den Terror dokumentieren. Cops die von fahrenden Motorrädern in Menschenmengen schießen, Cops die auf sich nicht mehr bewegende Körper einschlagen, ja teilweise sind ganze Straßenabschnitte ein Blutbad.

Bilder aus den Großstädten können an einen Bürgerkrieg erinnern. In den Straßen hängt der Nebel von Tränengas.  Militär und Polizeihubschrauber kreisen 24/7 über den Barrios. Regelmäßig sind Schüsse zu hören. Ausgebrannte Busse als Barrikaden. Ausgeräumte Banken und geplünderte Geldautomaten. Viele trauen sich seit Tagen nicht mehr auf die Straße. Der reguläre Alltag ist derzeit unmöglich. Trotz alledem gehen Hunderttausende auf die Straße zum Protestieren. Viele haben nichts mehr zu verlieren, 42 % der Kolumbianer:innen leben in Armut.

„Gebt ihr uns kein Brot, geben wir euch kein Frieden!“

Am Anfang des Textes steht die Frage „Wie weit kann man ein Volk terrorisieren, bis es zurückschlägt?“. Neben den unzähligen Bildern der Gewalt des Staates gibt es auch heldenhafte Szenen, die mit den Handykameras hinter den Barrikaden aufgenommen wurden.

 Zu sehen sind meist Jugendliche, die bis ans Äußerste ihrer Grenzen gehen und selbst vor Schüssen nicht Halt machen. Videos aus der Sicht der Primera Linea, wie sie in Formation auf Polizeieinheiten stürmen.  Es kursieren auch bereits mehrere Videos wie Demonstrant:innen die staatlichen Sicherheitskräfte mit Handfeuerwaffen unter Beschuss nehmen. Am 6. Mai durchbrachen Demonstrant:innen die Absperrungen zum Nationalkapitol. Nur durch Sondereinheiten der Polizei konnte der Sitz des Kongresses verteidigt werden. Im Land herrscht eine große Wut, manche würden dies als revolutionäre Stimmung beschreiben, so etwa die kolumbianische marxistische Guerilla:

„Die Tage der Straflosigkeit der Determinanten des staatlichen Völkermords sind gezählt. Duque und Uribe, Zapateiro und Vargas, müssen sich für diese Toten verantworten. Wir rufen alle bolivarischen und patriotischen Militärs auf, die Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten der Luftwaffe, der Armee und der Marine, um den Nationalstreik zu unterstützen“, heißt es in einem Comunique der aufständischen FARC-EP Zweites Marquetalia. Ein weiteres Comunique einer FARC-EP Front in der ländlichen Region Cauca erklärt, wie sie mit den Menschen auf der Straße Seite an Seite stehen werden.

Ich bat noch eine weitere Genossin, die jede Nacht auf den Straßen Kolumbiens ist, um letzte Worte für diesen Artikel. Sie schrieb mir: “Meine Erfahrung aus dem Protest ist ein Gemisch der Gefühle von Nostalgie, Adrenalin, bis zu Wut und Hoffnung. Denn dieser ganze Kampf gemeinsam mit meinen Freund:innen, die hier zu meiner Familie geworden sind, wird in einem besseren Land gipfeln. Es ist genau diese Empathie, mit der ich hoffe, zusammen mit allen anderen einen Weg zu schaffen, wo nie wieder einem Menschen mit Gleichgültigkeit begegnet werden wird… ¡Mi nación es mi gente! (Meine Nation ist mein Volk!)”

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In den kolumbianischen Bergen sprach der britische Journalist Oliver Dodd mit Villa Vazquez, einem Oberbefehlshaber der kürzlich wiederhergestellten FARC (Segunda Marquetalia). Es ist das erste Interview mit einem Vertreter der Guerilla seit Scheitern des sogenannten Friedensprozesses. Sein Text liegt Lower Class Magazine exklusiv auf Deutsch vor.

Trotz der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr 2016, mit dem der 53-jährige Krieg mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) beendet wurde, haben sich die herrschenden Klassen Kolumbiens, einschließlich der rechten Regierung, geweigert, die Bedingungen des Abkommens umzusetzen.

Stattdessen sahen der Staat und die Kapitalisten den Frieden als wirtschaftliche Chance: Mit dem Ende der größten Bedrohung für die Kapitalakkumulation, der Guerilla, sind ehemalige von der FARC kontrollierte Gebiete zu den Adern geworden, durch die multinationale Unternehmen jetzt versuchen, zu expandieren. Das nun ungeschützte Land und diejenigen die auf ihm und von ihm leben, leiden unter den damit einhergehenden Umweltschäden und der Unterdrückung.

Bergbau, Rodung, Ölbohrungen, Palmölgewinnung, Privatisierung von Trinkwasserquellen, Wilderei und Drogenhandel haben ehemalige Hochburgen der FARC verwüstet und Millionen von Bauern aus ihren Häusern in die Slums Kolumbiens vertrieben, wo sie soziale Unsicherheit und ein Mangel an Arbeitsplätzen erwartet.

Gleichzeitig wurden seit 2016 mehr als 1200 Führer der sozialen-fortschrittlichen Bewegung, insbesondere Gewerkschafter und ehemalige FARC- Kombattanten, von Paramilitärs ermordet.

Kolumbianische Gerichte haben es sich zur Aufgabe gemacht, ehemalige linke Aufständische zu verurteilen und strafrechtlich zu verfolgen, die im Rahmen des Friedensabkommens ihre Waffen niederlegten, Hingegen wurden staatliche Akteure und ihre Kriegsverbrechen ignoriert. Zum Beispiel bezeichnen sie die Inhaftierung durch linke Rebellen als Kriegsverbrechen, betrachten die politische Inhaftierung durch den kolumbianischen Staat jedoch als vollkommen legal und gerecht.

Die großen Hoffnungen der FARC, die ihre Reformation als legale politische Partei unter demselben Akronym – der Kolumbianischen Alternativen Revolutionären Kräfte – ankündigten, bevor sie sich in “Comunes” (Die Einheitlichen) umbenannten, wurden zunichte gemacht, da sie keine ernsthaften Land- oder politischen Reformen vorsahen. Jetzt unbewaffnet sind sie dem bereits bestehenden Ausmaß parastaatlicher Gewalt ausgesetzt.

Es überrascht daher nicht, dass am 29. August 2019 zahlreiche historisch wichtige FARC-Führer, von denen einige plötzlich und dramatisch aus dem öffentlichen Leben verschwanden, sich neu formierten und die Wiederherstellung einer kommunistischen Partei ankündigten, die einen legalen politischen Kampf in sozialen Bewegungen und Gewerkschaften zusammen mit einem bewaffneten Kampf in ländlichen und städtischen Gebieten verbinden würde.

In ihrem politischen Manifest erklärte diese Fraktion, die als FARC (Segunda Marquetalia) bekannt ist, um sich von ihrem Vorgänger zu unterscheiden, dass es ein strategischer Fehler gewesen sei, ihre Waffen vor der Umsetzung des Friedensabkommens aufgegeben zu haben. Sie kamen zu dem Schluss, dass dies der einzige Weg ist, welche den Peace-Deal garantieren würde, denn sie leben in einem Land welches seit langem am konsequentesten auf dem lateinamerikanischen Kontinent unterdrückerisch handelt.

Um die politische Situation besser zu verstehen, reiste ich in die ländliche Region Catatumbo in Kolumbien, um die FARC bei der Wiederbelebung ihres politisch-militärischen Kampfes zu beobachten und eine ihrer führenden Persönlichkeiten, Comandante Villa Vazquez, zu interviewen, der für das Danilo-Garcia-Kommando verantwortlich ist und Mitglied ist von FARCs Äquivalent zu einem Zentralkomitee, bekannt als “Nationale Direktion”.

Als Teenager trat Vazquez der Young Communist League bei, einem Flügel der legalen Kommunistischen Partei. Als Mitte bis Ende der 1980er Jahre mehr als 5000 unbewaffnete linke Aktivisten, hauptsächlich aus der Partei der Patriotischen Union, die aus den Friedensverhandlungen von La Uribe hervorgegangen war, von Todesschwadronen massakriert wurden, nahm er die Waffen auf und war seitdem Mitglied der FARC Guerilla.

Viele der Getöteten wurden mit den grausamsten Methoden abgeschlachtet, die man sich vorstellen kann. Oft ist es eine beliebte paramilitärische Taktik, die Gliedmaßen der Sozialist:innen mit Kettensägen und Macheten abzutrennen, bevor die Leichen in den Fluss geworfen oder in den Dörfern und Städten zum verrotteten gelassen werden – als Warnung an die Bevölkerung.

Das Gemetzel geht weiter: Im Dezember 2020 wurde Rosa Mendoza, eine ehemalige FARC-Guerillera, zusammen mit fünf Familienmitgliedern ermordet, darunter eine nur wenige Monate alte Tochter. Am 13. Februar wurde der 23-jährige Leonel Restrepo der 258. ehemalige FARC-Guerillero, der im “Friedensprozess” ermordet wurde. Die Zahl ist seitdem auf 259 gestiegen, nachdem Jose Paiva Virguez am 19. Februar getötet wurde.

Der FARC Kommandant Vazquez bestand darauf, dass die FARC Unterzeichner:innen an dem Friedensabkommen festhielten und ihre Seite des Abkommens erfüllten und trotzdem missachtet der kolumbianische Staat das Abkommen und tötet weiterhin Ex-FARC-Militante, andere Aktivist:innen und begeht konsequent Verrat “auf Kosten des kolumbianischen Volkes, der internationalen Community und ex-FARC Guerilla”.

Der Kommandant argumentierte, dass die FARC und das kolumbianische Volk das Recht auf Rebellion und den bewaffneten Kampf haben, denn die “Segunda Marquetalia ist das Ergebnis des Bruchs des Friedensabkommens von 2016 durch die kolumbianische Regierung und Oligarchie”.

Vazquez wies auf die Zunahme der paramilitärischen Tötungen sozialistischer Aktivist:innen hin und kam zu dem Schluss: „Alle unsere Hoffnungen waren auf das Abkommen gerichtet, aber das Abkommen wurde von der Regierung und anderen dominierenden Klassen verraten. Deshalb mussten wir zu den Waffen zurückkehren. Aber es ist nicht die FARC, die zu den Waffen zurückgekehrt ist – es sind die Menschen selbst. Heute können wir sagen, dass 60 Prozent der Guerilla der FARC neu sind und keine Ex-Mitglieder. “

Als Reaktion darauf, dass Kolumbien die Segunda Marquetalia als unpolitische kriminelle Einheit abgetan hatte, beschrieb Villa Vazquez mir FARCs Strategie ausführlich.

Die Segunda Marquetalia kombiniert drei wichtige Organisationsstrukturen als Teil ihrer Gesamtstrategie: bewaffnete Guerilla-Streitkräfte, bewaffnete und unbewaffnete Milizeinheiten und eine völlig unbewaffnete Partido Comunista Clandestino de Colombia (klandestine Kommunistische Partei).

Guerilla-Streitkräfte sind in erster Linie, aber nicht ausschließlich, für offensive bewaffnete Operationen gegen den Staat und die herrschende Klasse verantwortlich. Die Miliz hat hauptsächlich die Aufgabe, die Ziele der FARC in einem bestimmten Gebiet wie einer Stadt oder einem Dorf zu fördern – insbesondere in den Zonen, die von den Guerillas eingenommen wurden, während die klandestine kommunistische Partei unbewaffnet ist: Wie konventionelle kommunistische Parteien arbeiten diese Militanten innerhalb von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Universitäten und lokalen Gemeinschaften, müssen aber aufgrund ihrer Beziehung zu der FARC verdeckt bleiben.

Villa Vazquez bestand darauf, dass die Farc hauptsächlich eine politische Partei im Gegensatz zu einer bewaffneten Gruppe sei, und sagte, dass „Waffen Teil der Kombination der Kampfmethoden sind und die eigenen Ideen beschützen“ und „es nicht so ist, dass wir die Macht durch eine bewaffnete Bewegung erreichen werden – bewaffneter Kampf findet statt, weil es keine Garantie gibt, Ideen zu manifestieren. “

Der Kommandant regte sich fluchend über die Charakterisierung der FARC als Bauernaufstand auf. Die drei organisatorischen Komponenten – Guerilla, Miliz und kommunistische Partei – spiegeln die historisch besonderen Bedingungen des Klassenkampfes in Kolumbien wider.

“Wo entwickelt sich der revolutionäre Kampf?”, fragte er mich. “Er wird dort entwickelt, wo sich die Menschen befinden, nicht in der Isolation des Dschungels, sondern dort, wo sich die Massen von Menschen befinden – und die meisten Menschen leben heute in den Städten, und dort wird sich der revolutionäre Kampf und Guerillakrieg entwickeln.”

Durch die Ausführung von Schlüsselfunktionen eines Staates – Steuern, Sicherheit und Instandhaltung der Infrastruktur – in den Basisgebieten und Hochburgen der FARC proklamiert diese die Führung als legitime Regierung, die durch ein umfassendes politisches Programm und einen Gesellschaftsvertrag gestützt wird.

Obwohl die Gruppe erst am 29. August 2019 wieder gegründet wurde, verfügt die FARC in den von mir besuchten Gemeinden bereits über eine bedeutende Basis an ziviler Unterstützung. Ich beobachtete, wie ihre Truppen ungehindert durch Dörfer zogen und ihre Mitglieder offen arbeiteten, mit den Menschen auf den Straßen interagierten und sogar öffentliche Versammlungen abhielten, ohne Angst zu haben, dass ihre politische Präsenz an das kolumbianischen Militär verraten werden könnte.

Eine einheimische Frau, die auf einer Farm in einem FARC Gebiet lebte und sich nicht als Sozialistin oder politische Aktivistin sah, sagte mir: „Die Gemeinde hier zieht die FARC der Polizei und dem Militär vor.“ Denn: „Sie sind immer da, um sofort zu helfen, wenn sie gefragt werden. Sie sind Teil von uns und unterstützen uns bei Grundbedürfnissen in einer schwierigen Situation. Sie helfen uns auch, die Community hier zu organisieren. “

Die jüngsten Behauptungen der größten kolumbianischen Zeitschrift Semana, dass die FARC 5000 Kombattant:innen hat und mit Zustimmung von Caracas systematisch venezolanisches Territorium ausbeutet, sind jedoch eindeutig ungenau. Obwohl es für pro-staatliche Medien kontraproduktiv erscheinen mag, den Erfolg ihrer Feinde zu übertreiben, dient es dazu, die Verstärkung der bereits umfangreichen militärischen Hilfe, die Kolumbien erhält, zu rechtfertigen – und den USA einen Vorwand für Interventionen gegen Venezuela zu geben.

In Wahrheit befindet sich die FARC in einem Erneuerungsprozess und obwohl sie es schafft, in Gemeinden die Unterstützung des Volkes zu gewinnen, ist die Anzahl der Kombattanten erheblich geringer als die der FARC, die den Peace-Deal unterschrieben haben.

Trotzdem wird es nicht lange dauern, bis die USA tatsächlich beginnen, ihre Unterstützung für die bedrängte kolumbianische Oligarchie zu verstärken, da neue Militante in die Reihen der Guerilla eintreten und ihr Leben der Organisation verpflichten, zusammen mit einer sehr erfahrenen politischen Führung, die jahrzehntelangen Kampf hinter sich.

Für die Regierung ist dies eine Situation, die sie selbst geschaffen hat. Indem sie nicht in der Lage oder nicht bereit war, die Sicherheit von demobilisierten Guerilla und der Zivilgesellschaft zu gewährleisten, haben sie den Rebellen keine Wahl gelassen. Die Guerilla-Verhandlungsführer werden in Zukunft zögern, den Vertretern des kolumbianischen Staates bei künftigen Friedensgesprächen zu vertrauen – und die FARC hat viel zu verhandeln.

Die “Revolutionssteuern” an denjenigen, die natürliche Ressourcen ausbeuten, also die multinationalen Unternehmen und Rohstoffindustrien, sowie die Nutzung des Schwarzmarkts, ermöglichen es der FARC ihre Guerillakämpfer mit drei Mahlzeiten am Tag zu versorgen, für Kleidung zu sorgen und Sie mit modernen Waffen & Transportmitteln auszurüsten.

Im Gegensatz zur westlichen Linken verfügt die FARC über das Geld und die Ressourcen, um es allen Mitgliedern zu ermöglichen, sich 365 Tage im Jahr 24 Stunden am Tag der revolutionären Sache zu widmen. Und dort geht das Geld hin; das Leben der FARC jeden Ranges war immer ein bescheidenes – getreu allen linken kolumbianischen Guerilla-Bewegungen, die ich in den letzten 10 Jahren studiert habe, als ich zum ersten Mal in Kolumbien an der Front war.

Ich ging mit Villa Vazquez durch eine kleine Farm, auf der die Guerillas ihr eigenes Essen anbauten und Vieh züchteten. Jeden Tag wechseln sie sich ab, um die Ernte zu verwalten und die Tiere zu füttern, eine Methode der Eigenständigkeit, auf die Vazquez stolz war. “Die Kosten für eine Organisation wie unsere sind signifikant”, erklärte er. “Als Revolutionäre kultivieren wir, wir erfinden Dinge, so wie die Schaffung landwirtschaftlicher Kollektive mit der Bevölkerung. Wir entwickeln wirtschaftliche Aktivitäten, einschließlich der Herstellung unserer eigenen Lebensmittel.”

Der Staat versagte darin, systematische Reformen durchzuführen, die sich gegen die Großgrundbesitzer und andere Kapitalisten richten. Gleichzeitig wird eine wichtige Forderung der FARC im Friedensabkommen von 2016, die Zwangsumsiedlung von Bauern zu bekämpfen, vom Staat ignoriert. Dies garantiert beinahe, dass die FARC die Möglichkeit hat schrittweise zu expandieren.

Als ich mein Interview mit Vazquez beendet und die FARC über einen Zeitraum von einer Woche beobachtet hatte, wurde mir klar, dass der „Friedensprozess” durch den kolumbianischen Staat missbraucht wurde und ihm die Möglichkeit bietet, die FARC als ihre akuteste Bedrohung zu entwaffnen und zu demobilisieren. Dies wird sich wahrscheinlich als Fehler herausstellen. Von jetzt an sind die revolutionären Streitkräfte dazu gezwungen, ihre Banner noch hartnäckiger als zuvor zu hissen.

Wieder einmal geht ein Gespenst in Kolumbien um: Es ist das Gespenst der FARC.

# Oliver Dodd ist Doktorand an der Universität von Nottingham und arbeitet zu dem Bürgerkriegs- und Friedensprozessen in Kolumbien. Er kann auf Twitter @olivercdodd verfolgt werden. Übersetzt wurde der Artikel in Absprache mit dem Autor von K. Nazari.



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Ein Europäer in den Tiefen des kolumbianischen Dschungels, bewaffnet, ausgebildet im Guerillakampf und im Krieg gegen einen rücksichtslosen Feind. Wir hatten die Möglichkeit, einen Internationalisten aus dem kolumbianischen Ejército de Liberación Nacional (ELN) zu interviewen.

Die Nationale Befreiungsarmee, die in Castellano das Akronym ELN trägt, befindet sich seit über 50 Jahren im Krieg mit dem kolumbianischen Staat und hat das Ziel, diesen zu stürzen. Eine marxistisch-leninistische Guerilla, inspiriert von der kubanischen Revolution und kommunistischen befreiungstheologischen Priestern. Während des jahrzehntelangen Krieges mit der Armee, rechten Paramilitärs, Narco-Kartellen und multinationalen Kooperationen hat die ELN gelernt, fast jede politische Situation zu überleben, und wächst nun wieder rasant. Die ELN ist nicht nur eine militärische Organisation, sondern de facto eine Regierung für die Menschen, die die kolumbianische Regierung vernachlässigt hat. Nachdem die zweite große kolumbianische Guerilla FARC-EP einen „Friedensvertrag“ unterzeichnet hat, ist die ELN nun Staatsfeind Nummer eins in Kolumbien. Das südamerikanische Land befindet sich immer noch im Krieg, auch wenn die Massenmedien diese Tatsache verschweigen.

Wir hatte die seltene Möglichkeit, einen internationalistischen Freiwilligen in der ELN zu interviewen. Wenn die Behörden von seiner Anwesenheit wüssten, wären sie außer sich, wie damals, als sie den Ursprung der berühmten FARC-EP-Guerillera und niederländischen Internationalistin Tanja aufdeckten. Die Sicherheitsvorkehrungen für dieses Interview waren hoch, die wahre Identität unseres Interviewpartners bleibt geheim. Zum ersten Mal gibt dieses Gespräch einen Einblick in das Leben eines freiwilligen europäischen Internationalisten, der in der ELN diente.

Um anzufangen, wo in Kolumbien warst Du stationiert?

Kolumbiens Llano-Region und die umliegenden Gebiete Arauca, Meta und Boyacá. Ich war größtenteils auf dem Land und in den Bergen stationiert, anstatt ein „Urbano“ zu sein – ein Stadtguerillero.

Wie kam es dazu, dass Du Dich der ELN angeschlossen hast? Was war Dein Ziel?

Ich hatte Freunde durch staatliche Repression in Kolumbien verloren, bevor ich überhaupt daran gedacht hatte, der ELN beizutreten. Meine Entscheidung, mich anzuschließen, beruhte auf meinen Erfahrungen in Kolumbien und wurde natürlich von meiner revolutionären Einstellung angetrieben. Der ganze Prozess verlief organisch. Ich bin nicht aus dem Westen aufgebrochen, um mich anzuschließen. Obwohl, ich würde sagen, dass ich als Marxist-Leninist natürlich meine Sympathien mit den Rebellen und auch der legalen politischen Bewegung hatte.

Ich habe lange und gründlich studiert und nachgedacht, und mir war klar, dass es sehr starke strategische Gründe gibt, Kolumbien als schwaches Glied in der imperialistischen Kette, die die gesamte Welt erstickt, zu priorisieren. Kolumbien ist für die Interessen der USA in Lateinamerika von entscheidender Bedeutung. Und das Land hat auch eine lange und bedeutende Geschichte marxistischen Widerstands, die diese Tatsache bestätigt. Die USA betrachten das Land als ihre Hochburg, als ihren wichtigsten Verbündeten auf dem Kontinent, daher wäre ein Sieg hier ein massiver Erfolg im Kampf gegen den Imperialismus für die ganze Welt. Es wäre unglaublich transformativ – auf dem gesamten südamerikanischen Kontinent würde nach Jahrzehnten der Einmischung, die oft von Kolumbien selbst ausgerichtet wurde, ein Stiefel vom Hals gehoben. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, an diesem Kampf teilzunehmen, so bescheiden meine Beiträge auch gewesen sein mögen.

Wie war dein tägliches Leben als internationaler Guerillero?

Ich war Mitglied eines offensiv ausgerichteten Bataillons. Unsere Operationsbasis war hauptsächlich in den Bergen, aber manchmal befanden wir uns auch in zivilen Communities. Unser Hauptziel war es, den Feind in dieser Region in kleinen Gefechten anzugreifen und wir zielten auf die Infrastruktur großer multinationaler Konzerne ab. Unsere Existenz als Einheit in der Region, die sich zwischen sicheren Gebieten in den Bergen bewegt und die lokalen ländlichen Communities schützt, zwingt den Staat dazu, viel Zeit, Geld und Arbeitskräfte zu investieren. Wir betrachten dies als eine Errungenschaft für unsere Bewegung, komme was wolle.

Unser Tagesablauf beinhaltete viel Marschieren und körperliches Training, das Aufspüren des Feindes, Waffentraining – im Grunde alles, was man als Vorbereitung auf offensive Aktivitäten in Betracht ziehen könnte. Jeder verbringt zwei Stunden am Tag im Wachdienst und jeder kocht und putzt, wenn er an der Reihe ist. Wann immer möglich, findet auch politische Bildung statt.

Ich werde ehrlich sein – das Leben in den Bergen ist sehr hart. Du bist extrem isoliert, Hunger und Unterernährung sind keine Seltenheit, und das kolumbianische Militär ist ständig mit Drohnen und Flugzeugen über Dir und sucht nach Anzeichen Deiner Anwesenheit, eine Tatsache, an welche die Armee Dich ständig erinnern möchte. Der Umgang mit diesen Bedingungen ist selbst für die hartgesottensten Veteranen in diesem Kampf schwierig.

Hast Du andere internationale Freiwillige in der ELN getroffen?

Mir sind keine anderen westlichen Internationalist:innen bekannt, die derzeit bei der ELN sind. Davon abgesehen gab es in der Vergangenheit eine Reihe von Internationalist:innen aus Spanien, darunter Manuel Perez, der die ELN bis zu seinem Tod 1998 leitete. Es gibt jedoch viele Internationalist:innen aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, wie beispielsweise aus Venezuela und Ecuador. Zu Kolumbiens FARC-EP gesellte sich eine Niederländerin, Tanja Nijmeijer, die sich über viele Jahre als große und engagierte Revolutionärin bewährt hat. Ich bin sicher, Tanja hat sich für den kolumbianischen Revolutionskampf als weitaus nützlicher erwiesen, als wenn sie in den Niederlanden geblieben wäre.

Ich wollte ursprünglich nicht der ELN beitreten. Die Gelegenheit ergab sich spontan, nachdem ich einige Zeit in Kolumbien verbracht hatte. Die Klandestinität, die die Rebellen aufgrund der Gewalt des kolumbianischen Staates benötigen, macht es schwierig, eine bewaffnete Bewegung in Kolumbien aus dem Ausland zu kontaktieren, insbesondere wenn man ein Außenseiter mit geringen Kenntnissen der lokalen Realität ist. Darüber hinaus muss man von einem vertrauenswürdigen Mitglied einer lokalen Community bestätigt werden, bevor man überhaupt für eine Mitgliedschaft in Betracht gezogen wird.

Die ELN sind offen für den Beitritt von Internationalist:innen, aber es ist kein einfacher Prozess.

Wenn Du an Deine Zeit in Kolumbien zurückdenkst, welche Momente kommen Dir als erste in den Kopf?

Das erste Mal als ich meine Uniform trug war ein sehr wichtiger Moment, aufgrund dessen, was sie darstellt und impliziert. Die Uniform repräsentiert die Verpflichtung des Widerstands gegen Kapitalismus und Imperialismus, eine Akzeptanz, dass man an einem Krieg teilnimmt, in dessen Verlauf man möglicherweise sein Leben verliert.

Die besten Zeiten waren die kleinen Momente unter Genoss:innen. Ich erinnere mich, wie wir zusammen gelacht haben, einige der Gespräche, die wir geführt haben – die einfachen Dinge. Wir unterhielten uns zur Mittagszeit oder bei einem Abendkaffee. Die Bäuerinnen und Bauern (die natürlich die große Mehrheit der ländlichen Guerilla-Reihen der ELN ausmachen) haben einen brillanten Sinn für Humor und versuchen, sich nicht zu ernst zu nehmen. Während der Trainingseinheiten wird viel gelacht, wenn Genoss:innen dazu neigen, sich auf die eine oder andere Weise zu blamieren.

Es tut sehr weh, wenn deine Genoss:innen getötet werden. Von Zeit zu Zeit erhalte ich immer noch Nachrichten über den Tod von Genoss:innen, mit denen ich gedient habe. Es tut noch mehr weh zu wissen, dass meine Genoss:innen oft vom venezolanischen Militär getötet wurden. Einige der bemerkenswertesten Kommunist:innen, die ich je kennengelernt habe, wurden vom venezolanischen Militär getötet. Andere haben die ELN mit Erlaubnis und bei guter Stimmung verlassen, wie es nach einer gewissen Zeit der Mitgliedschaft üblich ist.

Eine andere Sache, an die ich mich immer erinnern werde, ist das Gefühl wahrer Genoss:innenschaftlichkeit – eine wahre, tiefe und natürliche Wertschätzung für einander und jeden in ihrer Einheit. Sie alle bringen die gleichen Opfer, sie sind Mitglieder des gleichen Kampfes und sie sind den gleichen Risiken ausgesetzt. Dies schafft natürlich eine tiefere Bindung als die, welche man in legalen, städtischen politischen Bewegungen finden könnte. Wir beweisen uns selbst, beweisen unser Engagement füreinander und den Kampf jeden Tag, an dem wir weiterkämpfen. Es ist schwierig, ein vergleichbares Beispiel zu finden.

Das venezolanische Militär bekämpft die ELN, obwohl die Mainstream-Medien argumentieren, Venezuela unterstütze die Guerilla?

Es ist nicht wahr, dass das venezolanische Militär die Rebellen unterstützt – dies ist eine Lüge, um eine Aggression gegen den venezolanischen Staat zu rechtfertigen. Venezuela wird von den USA als sozialistisches Land und Bedrohung für den Imperialismus, als Feind, angesehen. Die Aussage, dass sie “Terroristen” in einer fremden Nation unterstützen, ist ein alter Trick im Handbuch, um die Zustimmung für einen möglichen zukünftigen Krieg und für “Intervention” herzustellen. Beweise für diese Art von Haltung gibt es überall – sieh Dir nur die Guiado-Saga und die fehlgeschlagenen Putschversuche im letzten Jahr an und wie der Irak und Afghanistan 2003 als „staatliche Sponsoren des Terrorismus“ galten.

Die Ermordung kolumbianischer Kommunist:innen durch das venezolanische Militär ist unter kolumbianischen Revolutionär:innen bekannt, aber die Medien berichten nicht darüber und es wird international totgeschwiegen. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum Venezuela kolumbianischen Rebellen feindlich gegenübersteht. Vielleicht aus Angst, echte Beweise für die Behauptung „Sponsoren des Terrors“ zu liefern. Eventuell versteht das venezolanische Militär seine Souveränität auf eine rechte und reaktionäre Weise und sieht in dem Tod von kolumbianischen Kommunist:innen die Sicherung ihrer Grenzen gegenüber ausländischen bewaffneten Gruppen, welche dort Schutz vor Luftschlägen und Angriffen im Morgengrauen suchen.

Ich weiß jedoch nur Folgendes: Das venezolanische Militär tötet routinemäßig kolumbianische Kommunist:innen, die es innerhalb seiner Grenzen findet. Sie arbeiten nicht mit der ELN zusammen – so sehr wir uns das alle wünschen.

Wie gefährlich ist das Leben als Guerilla? Wie gefährlich war es für Dich?

Eines Nachmittags, kurz bevor es völlig dunkel wurde – es wird gegen 18 Uhr in den Bergen pechschwarz und man kann nichts sehen -, wurde unsere Einsatzbasis durch das ohrenbetäubende Geräusch mehrerer Arten von Militärflugzeughubschraubern und Sturzkampfflugzeugen alarmiert, welche direkt auf uns zukamen, als ob sie wussten, dass wir da waren. Feindliche Bodentruppen machten sich auf den Weg zu unserer provisorischen Küche, in der wir den Tag verbracht hatten (wir nutzten sie oft als Treffpunkt während des Tages), aber wir hatten sie glücklicherweise erst zwanzig Minuten zuvor geräumt, um zu unseren Hängematten zu gehen und dort zu schlafen. Wir waren jedoch nicht in Sicherheit, da das Militär nur zehn Minuten entfernt war und schnell näherkam. Die gesamte Soundkulisse wurde vom Dröhnen der Motoren dominiert. Wir dachten das wär’s mit uns.

Ich ging hinter einem Baum in Deckung, wie es mir beigebracht worden war, aber es schien fast sinnlos, als der Feind von allen Seiten auf uns zukam – sie hatten uns flankiert und ihre Operation war eindeutig gut organisiert. Zum Glück haben der Anführer unserer 14-köpfigen Gruppe und mein engster Genosse bis zu seinem Tod durch das venezolanische Militär beschlossen, uns vom Berg herunterzuführen. Man konnte die Spannung in der Einheit spüren, es war eine schwierige Situation.

Ihre Hubschrauber hatten unsere üblichen Wege, Ein- und Ausgänge entdeckt. Soldaten hatten ihre Fahrzeuge in unserer Küche geparkt, um nach Beweisen für unsere Anwesenheit zu suchen, und wir wussten, dass es nicht lange dauern würde, bis sie unseren genauen Standort lokalisiert hätten, es sei denn, wir überlegten uns eine unberechenbare Lösung. Das kolumbianische Militär hatte Nachtsichtgeräte, welche wir nicht hatten, und die Nacht war pechschwarz. Wir waren umzingelt und die Zeit, um zu fliehen, wurde knapper. Wir beschlossen, dass unsere einzige Chance darin bestand, den steilen, überwucherten Berghang hinunterzusteigen, indem wir ihn hinunterrutschten und auf unserem Rückzug einen völlig neuen Weg einschlugen.

Wir brauchten ungefähr eine Stunde, um von der Spitze des Berges abzusteigen, gefolgt von einem 8-stündigen Marsch flussabwärts und einen anderen Berg hinauf, um genügend Abstand und Deckung für etwas Schlaf zu gewinnen. Wir haben am steilen Hang eines weiteren Berges geschlafen. Ich schlief mit meinen Beinen um einen Baumstamm, um zu verhindern, dass ich den Berghang hinunterfiel. Wir brauchten ungefähr zwei Tage, mit dem Militär immer dicht auf den Fersen, um in die Ebene zu gelangen, wo uns eine lokale indigene Gruppe die Unterstützung anbot, die wir dringend brauchten.

Manchmal konnten wir sogar das Geräusch ihrer Drohnen über unseren Köpfen hören. Am Ende jedoch, trotz der intensiven Operation gegen uns konnte unser Wissen über das Terrain, kombiniert mit unserer Erfahrung des Überlebens in den Bergen und der Umsetzung von Guerillataktiken, uns das Leben retten – und wir haben einen gut geplanten Hinterhalt zur Aufstandsbekämpfung ausmanövriert, der von dem militärisch gefährlichsten Staat finanziert und ausgerüstet wurde, den die Welt je gesehen hat, den USA.

Was würdest Du zur Perspektive zukünftiger internationaler Freiwilliger sagen? Wie war es, der einzige Westler zu sein?

Als ich der ELN beitrat, wurde ich von mehreren hochrangigen politischen Kommandeur:innen begrüßt, die eine Rede hielten, die ich nicht so schnell vergessen werde. Sie erklärten, dass die ELN „dem internationalen Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden“ sei und von der internationalen Unterstützung stark profitieren würde, vor allem der aus den Ländern des Westens. Die Kommandeur:innen legten großen Wert darauf, zwischen den Regierungen und dem Proletariat in den imperialistischen Nationen zu unterscheiden. Sie erkannten, dass die Arbeiter:innen im Westen trotz der geopolitischen Stärke von ihrer herrschenden Klasse immer noch bösartig ausgebeutet werden.

Es gibt einige Marxist:innen, die in Bezug auf Revolution übermäßig dogmatisch und starr sind und glauben, dass man als Franzose nur in Frankreich für den Sozialismus kämpfen muss, ein Mexikaner in Mexiko, ein Deutscher in Deutschland und so weiter. Ja, jemand, der selbst aus einer Nation stammt, wird die Bedingungen in dieser Nation besser und tiefer verstehen, aber das bedeutet nicht immer, dass er nur dort kämpfen kann, wo er herkommt. Das bedeutungsvolle Erbe von Che Guevara zeigt deutlich den Nutzen internationaler Freiwilliger. Ein jüngeres Beispiel ist Tanja Nijmeijer der FARC-EP. Ich vermute, dass sie im kolumbianischen Kampf wahrscheinlich wirksamer war als in den Niederlanden. Das Internationale Freiheitsbataillon in Kurdistan war maßgeblich an der Befreiung von Minbij und Raqqa während des antifaschistischen Krieges gegen ISIS beteiligt, und ich habe bereits Manuel Perez von der ELN erwähnt. Obwohl Perez einst unter dem Verdacht gefangen genommen wurde, ein ausländischer Spion zu sein, stieg er zum höchsten politischen Führer der ELN auf und bewies sich während mehrerer Jahrzehnte bewaffneter Kämpfe als ein großer Revolutionär. Viele andere Internationalist:innen in der Geschichte haben bewiesen, dass es manchmal nicht immer die beste Strategie für Kommunist:innen ist, dort zu bleiben, wo sie gerade geboren wurden.

Manuel Marulanda, Gründer der FARC-EP und ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kolumbiens, argumentierte einmal: „Auf 100 Kommunist:innen kommen nur etwa 30, die bereit sind, für ihre Überzeugung zu sterben. Und von diesen 30 werden nur etwa 10 bereit sein, das Opfer und den Kampf im bewaffneten Kampf zu ertragen.“ Es gibt immer viele städtische Aktivist:innen auf der ganzen Welt, die sich an legalen Kämpfen beteiligen, insbesondere im Westen, mit der romantischen Vorstellung, eines Tages an einem glorreichen bewaffneten Kampf teilzunehmen – aber es gibt normalerweise einen Mangel an Kommunist:innen, die bereit sind, wirklich zu kämpfen, die bereit sind, sich für ein solches Leben mit all seinen Schwierigkeiten zu entscheiden, besonders in Ländern wie Kolumbien, in denen der Feind aufgrund jahrzehntelanger Bürgerkriege sehr erfahren ist.

Wenn jemand wirklich bereit ist, diesen Weg zu gehen, wenn jemand demütig akzeptieren möchte, dass vielleicht niemand jemals von seinen Erfahrungen erfahren wird und dass er leicht sein Leben verlieren könnte, wenn er bereit ist, die Risiken, Verantwortlichkeiten und das ständige Lernen zu akzeptieren und selbstkritisch zu sein, wie es im Guerilla-Leben verlangt wird, dann würde ich sagen, dass diese Person für den bewaffneten Kampf wahrscheinlich wertvoller ist als in dem städtischen, legalen Kampf.

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Es war ein langer Prozess, die in den Städten Kolumbiens kämpfende Guerilla der ELN, die Frente de Guerra Urbano Nacional (FGUN) zu kontaktieren. Das Auftreten der Stadtguerilla in Kolumbien ist um einiges verdeckter als das der im Dschungel und auf den Bergen operierenden Guerilla.

Die Ejército de Liberación Nacional (ELN) ist die größte kämpfende kommunistische Organisation im Land, in den von ihnen kontrollierten Gebieten können sie es sich erlauben, sich öffentlich zu präsentieren. In den Städten sieht die Realität für die Bewegung jedoch anders aus. Der kolumbianische Staat konnte in den Barrios und Städten Kolumbiens ein Netzwerk von Informant:innen gegen die Guerilla aufbauen.

Trotz alledem zwingt die Perspektivlosigkeit des kolumbianischen Kapitalismus immer mehr Menschen in die bewaffnete Opposition gegen den Staat zu gehen. In Kolumbien gibt es eine Redewendung: Es sei sicherer, in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen oder in dieser aktiv zu sein. Die ständige Bedrohung durch die Willkür der Polizei und des Militärs, die ständige Gefahr durch die grausamen paramilitärischen Todesschwadronen und der bewaffneten Narcos sind der Grund für eine Allianz von Bäuer:innen, Arbeiter:innen und Student:innen – vor allem Jugendliche und ca. die Hälfte weiblich -, welche in die Stadtguerilla der ELN eintreten.

Die FGUN ist dazu gezwungen, im Untergrund zu arbeiten. Die Frente Urbano ist mit Zellen in den meisten größeren Städten Kolumbiens organisiert, vor allem aber in der Hauptstadt Bogota. Durch einen langen Prozess der Kontaktaufnahme online konnte erstmals ein Interview mit der Stadtguerilla FGUN geführt werden, welches einen kleinen Einblick in die politisch-militärischen Strukturen der ELN in den städtischen Teilen des Landes ermöglicht und versucht, ein Verständnis für den berechtigen Widerstand des kolumbianischen Volkes zu schaffen.

Wie unterscheidet sich die Stadtguerilla von der Guerilla auf den Bergen und im Dschungel? Was sind ihre Aufgaben?

Die Geschichte des Kampfes der ELN beinhaltet die Erfahrung des städtischen und ländlichen Kampfes seit ihrem Ursprung, als Student:innen und junge Revolutionär:innen in den 1960er-Jahren die Aufgabe der Organisation von ersten Guerilla-Gruppen in städtischen Zentren übernahmen.

Deshalb wird auf den Feldern und in den Städten der bewaffnete Kampf geführt – zwei Gebiete mit unterschiedlichen Möglichkeiten, aber integriert in eine Strategie des poder popular (der „Volksmacht“) und der Konstruktion des Sozialismus. Der Hauptunterschied zwischen der Stadtguerilla und der ländlichen Guerilla ist gekennzeichnet durch das Gebiet und die materiellen Bedingungen. Die Stadtguerilla entwickelt ihre militärische und politische Aktivität in den Städten Kolumbiens unter den Bedingungen, welche vom Feind und den Werkzeugen des Imperialismus geschaffen sind. Der Kampf der städtischen Guerilla ist im Untergrund, unterteilt, und mit Sicherheitsmethoden, die es ermöglichen, dass Aktionen unsichtbar sind. Die Stadtguerilla führt viele unterschiedliche logistische militärische und politische Aufgaben im Rücken des Feindes aus.

Die ländliche Guerilla ihrerseits bewegt sich und handelt in verschiedenen vorstädtischen und ländlichen Gebieten, in denen die feindlichen Aktionen und Kontrollmittel anders als die der Guerilla sind. Die ländliche Kraft bringt eine Strategie zusammen, die zum Aufbau von Volksmacht, Legitimität und politischer Kraft sorgt, während sie gleichzeitig militärische Konfrontation mit den feindlichen Streitkräften führt. Sowohl der städtische als auch der ländliche Kampf ist Teil des Widerstandskampfes.

Die städtische Guerilla entwickelt einen Plan auf umfassender Weise, politisch, militärisch, logistisch usw. in der Stadt. Im Rahmen des Widerstandskampfes hat der Stadtkampf die erste Aufgabe zum Aufstand des Volkes beizutragen, wobei er versteht, dass der bewaffnete Kampf der ELN Teil der Kämpfe der Menschen des Landes ist. Die Waffen der ELN zielen darauf ab, den Kampf der Menschen zu stärken und den politischen Kampf voranzutreiben.

Wie hat sich die Stadtguerilla im Laufe der Jahre entwickelt?

[Auf die Frage antworteten unsere Dialogpartner:innen der Frente Urbano nicht direkt, sondern mit einem Dokument der Führung der FGUN-ELN (Dirección Frente de Guerra Urbano Nacional – ELN, deutsch: Führung der nationalen Stadtkrieg-Front – ELN). Das Dokument werden wir im Folgenden in seiner Gesamtheit übersetzen:]

„Seit ihrer Gründung hat die ELN die entschlossene Beteiligung der in den Städten lebenden Genoss:innen. Bei der Bildung der José-Antonio-Galán-Brigade und in den ersten Guerillakernen gibt es die Eingliederung von Militanten, die mit ihrem Engagement und Einsatz viel beigetragen haben, insbesondere unser Oberbefehlshaber Camilo Torres Restrepo ist das deutlichste Beispiel dafür. Daher trägt die FGUN seinen Namen als Anerkennung für einen der größten Revolutionäre unseres Mutterlandes und Lateinamerikas.

Es war kein einfacher Prozess, eine nationale Stadtkrieg-front zu bilden. Die Geschichte der städtischen Kämpfe und der in den Städten geborenen Militanz ist voll unsterblicher Erinnerungen an Genoss:innen, viele von ihnen anonyme Revolutionäre, die ihren Beitrag geleistet haben. Sie gaben ihr Bestes für eine menschliche und inklusive Gesellschaft. Im Prozess der Reifung und des Lernens, wie er für jede Organisation typisch ist, hat die ELN zunehmend die entscheidende Bedeutung der Beteiligung der in Städten lebenden Volksmassen für den revolutionären Kampf verstanden.

In den ersten Lebensjahren der ELN war die Arbeit in den Städten von grundlegender Bedeutung für die logistische Unterstützung, die Aufnahme von mutigen Militanten für die Entwicklung des Guerillakerns sowie für militärische Aktionen und die Beschaffung wirtschaftlicher Ressourcen. Der unschätzbare Beitrag unseres Oberbefehlshabers Camilo Torres und die wertvolle Erfahrung der „Vereinigten Front“ (eine Theorie formuliert von Camilo Torres), lehrte die ELN, dass es notwendig war, im gesamten Ausmaß zu analysieren, wie sich die städtische Arbeit im Land repräsentiert.

Auf diesem Weg wurde in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre der Schritt unternommen, regionale Strukturen zu bilden, die eher städtischer Natur waren, was der ELN-Organisation auf einer gesamten nationalen Dimension geholfen hat. Für das Jahr 1989 erarbeitete die ELN auf dem II. Kongress „Volksmacht und neue Regierung“ eine tiefere Vorstellung der städtischen Arbeit in den sogenannten revolutionären Massenbasen und skizzierte, was heute eine territoriale Strategie sein könnte. Wie jede revolutionäre Aktivität blieb die städtische Arbeit nicht von Schwierigkeiten verschiedenster Art verschont, doch gleichzeitig hat sie Momente der Entwicklung und der Planung und Orientierung erlebt. Die neunziger Jahre sind ein Beispiel für beide Dimensionen. Sie waren eng verbunden mit der Komplexität des Kampfes, den repressiven Auswirkungen der verschiedenen Regierungen und dem Staatsterrorismus, welcher sich in diesem Jahrzehnt in der Barbarei der paramilitärischen Armeen ausdrückte.

Bereits für die Jahre 2000-2001 wurde eine Koordinierungsarbeit für städtische Strukturen entwickelt, die von Mitgliedern der nationalen Direktion unterstützt wurde. 2004 skizziert die nationale Organisation Ziele, um die Wiederzusammensetzung und Aufnahme der Arbeit zu erreichen und Prozesse der Eingliederung der verschiedenen städtischen Arbeiten in den verschiedenen Städten zu entwickeln und diese zu vereinheitlichen. Man beginnt, eine nationale urbane/städtische Koordination zu strukturieren, was mit der Zeit zu einer größeren Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den urbanen/städtischen Gruppen führt.

Der 4. Kongress der ELN bestätigte diese Definitionen als Prioritäten der politischen Arbeit und der organisatorischen Aktion in den Städten, einhergehend mit den Kämpfen der Massen. Außerdem plant die ELN diesen Wiederaufbauprozess im strategischen Sinne, und bewegt die Führung zu der Schaffung einer Kriegsfront, die eine einzigartige Struktur aufbauen soll, indem sie die Beziehungen zu und die Interaktionen mit den ländlichen Strukturen aufrechterhält und verbessert. Der Kongress richtet sich darauf aus, einen urbanen/städtischen nationalen Rat zu bilden, um sich mit verschiedenen Themen der städtischen Realität und der Organisierung der Arbeit in den Städten auseinanderzusetzen.

Von 2006 bis 2014 schritt die Arbeit an der Schaffung einer Kriegsfront voran, wobei das Augenmerk vorrangig darauf liegt, sich in die politische Dynamik des Landes einzufügen und sich einen Platz bei den Arbeiter:innen, Studierenden und Bewohner:innen der Städte zu verschaffen. Eine bedeutende Zahl an Städten wird in die Arbeit integriert, die Arbeit wird städteweise organisiert. Unter Berücksichtigung der Definitionen und Pläne findet 2014 die konstitutive Versammlung der nationalen Stadtkrieg-Front statt, bei der eine Präsentation zur städtischen Arbeit genehmigt, ein Arbeitsplan verabschiedet und eine städtische Führung gewählt wird.

Der Fünfte Kongress bestätigt die Existenz der Front, ihr Fortbestehen und ihren Namen Städtisch-Nationale Kriegsfront Oberbefehlshaber Camilo Torres Restrepo“

Welche Rolle spielt die Guerilla im antikapitalistischen Kampf weltweit?

Che Guevara definierte die Guerilla so: “Die Guerilla ist eine bewaffnete, disziplinierte und politisch bewusste Avantgarde der Arbeiter:innen.”

Wir betrachten uns als Teil des guevaristischen Erbes und die Theorie leitet uns in seinen antiimperialistischen Kampfstrategien. Die Guerillas sind Ausdruck des antikapitalistischen und antiimperialistischen Widerstands des kolumbianischen Volkes. Es liegt in der Verantwortung der Guerilla, den Kampf für eine politische Lösung des bewaffneten Konflikts in Richtung der Progressivität, die das Land braucht, fortzusetzen. Diese Veränderungen sind eine wirtschaftliche, politische und soziale Alternative für die nationalen Mehrheiten, d. h. eine neue Regierung, die die einfache und bedürftige Bevölkerung auf dem Land und in der Stadt in den Mittelpunkt stellt und solidarische Beziehungen zu den Völkern Amerikas und der Welt aufbaut.

Es braucht eine neue Regierung für die Förderung der demokratischen und revolutionären Transformationen, die das seit der Kolonialzeit etablierte oligarchische Stadium des Staates überwindet. Die ELN identifiziert sich mit dem proletarischen Internationalismus und sympathisiert mit den antiimperialistischen Kämpfen der Völker Amerikas und der auf der gesamten Welt. Wir sind daher der Ansicht, dass unsere Rolle darin besteht, zu diesem antikapitalistischen Kampf mit unseren Praktiken der Theorie der Volksmacht beizutragen, mit dem täglichen Kampf um die Errichtung neuer Solidaritätsstrukturen, dem entschlossenen Kampf gegen den Paramilitarismus und die staatlichen Streitkräfte, die den Staatsterrorismus als offizielle Politik durchführen.

Wir werden angetrieben durch unsere Verpflichtung für die Revolution und unser Klassenbewusstsein. Die Revolutionäre dieser Welt können sich darauf verlassen, dass die ELN dem Widerstand und dem Kampf gegen den Kapitalismus und den Gringo-Imperialismus Kontinuität verleiht.

Wie wird Ihr täglicher Alltag vom revolutionären Leben beeinflusst?

Für die Elenos, die Mitglieder der ELN, ist das revolutionäre Leben das tägliche Leben, da es ein Leben ist, welches ganztägig darauf ausgerichtet ist, die Aufgaben der Revolution zu erfüllen. Im Rahmen des Kampfes führen wir unser Familienleben und unser tägliches Leben. Es gibt keine Unterschiede. Das revolutionäre Leben ist kein Leben, das einen täglichen Zeitplan hat, sondern alles, was wir als Rebellen tun, ist Teil der revolutionären Aufgabe. Eleno zu sein ist ein Projekt des revolutionären Lebens, in dem wir alles auf andere Weise aufbauen müssen, wir müssen die Kollektivität und Volksmacht in den verschiedenen Lebensbereichen aus einer revolutionären und antikapitalistischen Perspektive aufbauen. Unser tägliches Leben ist das gleiche wie das der Mehrheit der Menschen, die in den großen Nachbarschaften die Mängel erleben und den Widerstand leben, um die Probleme zu lösen, während sie gegen den Feind handeln und zur Organisation beitragen. Es ist ein Kampf, der in das Leben der Nachbarschaft, der Gemeinde, der Bevölkerung und ihrer Gebiete integriert ist. Wir sind Kinder des Volkes, wir leben wie das Volk und wir kämpfen mit dem Volk.

Wie wichtig ist die Jugend im revolutionären Kampf?

Die Jugend hat im revolutionären Kampf in Kolumbien und insbesondere im bewaffneten Kampf eine zentrale Rolle gespielt. Die ELN bestand von Anfang an aus jungen Menschen, Student:innen und Bäuer:innen, die am 4. Juli 1964 den ersten Marsch und am 7. Januar 1965 die anschließende politisch-militärische Gründungsaktion in Simacota Santander organisierten. Die revolutionäre Jugend hat verstanden, dass der revolutionäre Kampf ein Volkskampf ist, und hat zu den verschiedenen Szenarien beigetragen, sowohl im militärischen als auch im politisch-sozialen Bereich. Die Massenkämpfe von Student:innen und Arbeiter:innen in den 1960er-Jahren bildeten den Hintergrund für den bewaffneten Aufstand der Guerillas in Kolumbien. Die Jugend hat dann in allen Aspekten einen Beitrag geleistet, und ihr Engagement und ihre Bereitschaft zur Arbeit haben die Geschichte der kolumbianischen Revolution geprägt. Die gleiche Rolle haben junge Menschen in ganz Lateinamerika gespielt, sei es in der Guerilla oder in legalen und parteipolitischen Kampfmodalitäten. Der Beitrag ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Geschichte des kontinentalen Widerstands gegen den Imperialismus, von dem Süden des Rio Grande in Mexiko bis nach Patagonien in Argentinien.“

Was raten Sie den Revolutionär:innen in imperialistischen Ländern?

Als ELN respektieren wir die revolutionären Prozesse anderer Völker und die Wege und Optionen, die in der Hitze des Kampfes in Europa und anderen Gebieten gewählt wurden. Wir schätzen die Beiträge und die Bereitschaft, Wege der Solidarität und des gemeinsamen Kampfes im Kampf gegen die Feinde der Menschheit zu schaffen. In dieser Reihenfolge begrüßen und gratulieren wir den Kämpfen der Brudervölker der Welt und fordern sie auf, die Arbeit für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, die den Bedürfnissen des Planeten entspricht, nicht aufzugeben und fortzusetzen.

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Ein Diskussionsbeitrag von kollektiv aus Bremen

Seit einigen Monaten flammt weltweit eine neue Welle von Massenprotesten auf: Ob im Sudan, Haiti, in Ecuador, Chile, Kolumbien, Guinea, dem Irak, Libanon, dem Iran, Frankreich oder anderswo. Überall gehen Massen von Menschen auf die Straßen. Sie kämpfen gegen ständig steigende Preise von Bustickets und Benzin, gegen die permanente Verteuerung von Grundnahrungsmitteln und das unaufhörliche Steigen der Mieten, sie protestieren gegen Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne und sie prangern die unzureichende Gesundheitsversorgung und die teuren Bildungssysteme an. Ihre Wut richtet sich dabei auch gegen eine korrupte politische Elite, die als verlängerter Arm von Unternehmen und einer kleinen Oberschicht agiert, an ihrer Macht unbeirrt festhält und in die eigene Tasche wirtschaftet, während die Masse der Menschen in Armut versinkt. Kurz gesagt: Die Proteste in den unterschiedlichen Ländern richten sich gegen die Auswirkungen von über 30 Jahren neoliberaler Politik der gezielten Verarmung der Massen, sie richten sich gegen Korruption und Unterdrückung. Hinzu kommen wachsende Mobilisierungen von Frauen*, zum Beispiel in der Türkei, die nicht nur gegen patriarchale Unterdrückung und Gewalt kämpfen, sondern häufig auch eine zentrale Rolle in den Massenprotesten einnehmen. Die Antwort der Regierungen auf die Proteste ist überall die selbe: Tränengas, Schlagstöcke, Massenverhaftungen, Folter, Vergewaltigung, das Verschwindenlassen bis hin zur gezielten Ermordung von Demonstrant*innen1.

Die Ähnlichkeit der Proteste ist kein Zufall, sondern macht deutlich, dass sich das gesamte kapitalistische System in einer tiefen Krise befindet, von der die Länder des Globalen Südens am stärksten betroffen sind. Aber nicht nur sie. Was bedeuten also die Proteste für linke Kräfte in den kapitalistischen Zentren?

Aktiver Internationalismus

Internationalismus ist über viele Jahre in der radikalen Linken – abgesehen von einigen Ausnahmen – eher in Vergessenheit geraten. Es schien als sei internationale Solidarität (als auch Anti-Imperialismus) ein Relikt aus alten Zeiten, das für die eigene Praxis kaum noch eine Rolle spielt. In den letzten Jahren hat sich dies erfreulicherweise verändert. Mit den Krisenprotesten von 2010/2011, dem sogenannten Arabischen Frühling, den Entwicklungen in Rojava und den jüngsten Massenaufständen richtet sich auch der Blick vieler Linksradikaler wieder stärker in die Welt.

Dabei stellt sich die Frage, was wir eigentlich unter Internationalismus und internationaler Solidarität verstehen. Und: Wie kann diese Solidarität hier praktisch gelebt und organisiert werden?

Wir denken, dass in der Gleichzeitigkeit und der Ähnlichkeit der aktuellen (oder zukünftiger) Massenproteste eine Möglichkeit liegt, hierzulande die Grundlagen für einen neuen lebendigen Internationalismus zu schaffen. Einen Internationalismus, der aus einer Dynamik von unten entsteht, der eine langfristige Perspektive entwickelt und der strategisch mit der Frage der Gesellschaftsveränderung verbunden ist. Dieser Internationalismus, den wir als „aktiven Internationalismus“ bezeichnen, umfasst vor allem zwei wesentliche Aspekte: die Solidaritätsarbeit mit emanzipatorischen Bewegungen und Massenprotesten weltweit einerseits2 und anderer seits die Entwicklung und Stärkung von internationalistisch geprägten Kämpfen von unten in den und gegen die imperialistischen Zentren selbst. Beide Aspekte sind dabei miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Was meinen wir damit?

Internationalismus als strategische Notwendigkeit

Die gängige internationale Solidaritätsarbeit erschöpft sich häufig in der bloßen Solidarität mit und der Unterstützung von emanzipatorischen Bewegungen oder Massenprotesten weltweit. Sie wird entweder von denjenigen getragen, die sich speziell als Solidaritätsgruppen einer bestimmten Bewegung verstehen, oder von Gruppen/Einzelpersonen, die sich anlassbezogen damit beschäftigen. Internationalismus wird jedoch häufig auf diese Form der Solidaritätsarbeit reduziert oder mit ihr gleich gesetzt. Fast immer wird sie lediglich als ein weiteres politisches Feld betrachtet, das relativ getrennt von der eigenen lokalen Praxis und den Kämpfen vor Ort steht.

Internationalismus ist aber mehr. Im zunehmend global organisierten Kapitalismus und vor dem Hintergrund der weltweit erlebbaren Auswirkungen imperialistischer Politik ist Internationalismus keine bloße ‚moralische‘ Verpflichtung oder ein zusätzliches politisches Prinzip oder Aktionsfeld, sondern vielmehr strategische Notwendigkeit für eine tägliche Praxis der Gesellschaftsveränderung. Denn die Lebensbedingungen in Ländern des Globalen Südens aber auch die Unterdrückung von emanzipatorischen Bewegungen und Massenprotesten kann nicht getrennt von der Politik der kapitalistischen Zentren und ihrer Interessen betrachtet werden3. Deshalb ist die Entwicklung von antikapitalistischen und internationalistischen Kämpfen innerhalb dieser Zentren selbst ein wichtiger Bestandteil einer globalen revolutionären Perspektive4.

Eine „aktive“ internationalistische Praxis sollte sich daher an der Frage orientieren, wie die potentiellen Subjekte in den Zentren selbst gegen die kapitalistische und imperialistische Herrschaft mobilisiert und damit entfaltet werden können. Wichtige potentielle Subjekte im Kampf für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung sind in der BRD ebenjene Menschen, die aus anderen Ländern geflüchtet oder migriert sind und/oder in zweiter, dritter Generation hier leben. Sie sind strukturell am stärksten von prekären Arbeits- und Lebensbedingungen betroffen: sie stellen die Mehrheit derjenigen, die in Leiharbeit oder mit deregulierenden Werkverträgen schuften, in schlechten Wohnverhältnissen leben oder in abgehängten Stadtteilen wohnen, in denen es kaum noch öffentliche Infrastruktur gibt. Gleichzeitig sind sie vom zunehmenden Rassismus und Nationalismus der Dominanzgesellschaft betroffen und damit – alltäglich und strukturell – diversen Diskriminierungs- und Exkludierungserfahrungen ausgesetzt. Ihre Einbindung in den nationalen Klassenkompromiss ist daher schwieriger. Aus diesen Gründen sind (Post)Migrant*innen, Geflüchtete, (Black) Persons of Colour und andere Markierte/Exkludierte wichtige potentielle Subjekte in der Entwicklung von anti-imperialistisch, anti-rassistisch und internationalistisch ausgerichteten Kämpfen gegen die kapitalistische Herrschaft5.

Wenn wir davon ausgehen, dass für einen strategisch ausgerichteten Internationalismus beide Faktoren – die Solidaritätsarbeit und die Entwicklung von Kämpfen vor Ort – unerlässlich sind, stehen wir vor folgenden Fragen: Wie kann eine organische Verbindung von internationalistischer Solidaritätsarbeit auf der einen mit der Entwicklung von Kämpfen von unten in den/gegen die kapitalistischen Zentren selbst auf der anderen Seite aussehen? Was bedeutet eine solche Verbindung für die Form und Ausrichtung von Solidaritätsarbeit?

Klassische Solidaritätsarbeit

Klassische Solidaritätsarbeit folgt meist der auf- und wieder abflammenden Dynamik der weltweiten Proteste und Bewegungen. Breite Aufmerksamkeit und Beteiligung erfährt sie häufig vor allem dann, wenn die Situation an den jeweiligen Orten akut und die Repression hoch ist oder wird. Aus diesen Gründen umfasst klassische Solidaritätsarbeit vor allem öffentlichkeitswirksame Aktionen, die die Aufmerksamkeit – leider häufig nur für begrenzte Zeit – auf die so skandalisierten Verhältnisse in einem internationalen Kontext lenken. Diese sind wichtig und notwendig, um die von den Mainstream-Medien meist ignorierten oder verzerrt dargestellten Bewegungen sichtbar und verstehbar zu machen und Anknüpfungspunkte aufzuzeigen. Außerdem haben Solidaritätsaktionen das Potential, den konkret Kämpfenden vor Ort eine wichtige Stärkung zu sein.

In der gängigen Solidaritätsarbeit liegt der Fokus der Öffentlichkeitsarbeit jedoch häufig darin, bürgerliche und zivilgesellschaftliche Teile der Gesellschaft erreichen und zu einer Positionierung bewegen zu wollen, um so indirekten Druck auf die politisch Verantwortlichen auszuüben oder eine Diskursverschiebung „von oben“ zu erreichen6. Die Methoden sind daher dieselben, die auch in anderen politischen Aktionsbereichen der radikalen Linken verbreitet sind: Kampagnen, öffentlichkeitswirksame Aktionen und Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Parteien, Gewerkschaften etc. Das birgt zum einen die Gefahr, dass die Argumentationen und Begründungen an den bürgerlichen Diskurs angepasst werden, was klassischerweise zu dem Appell an die Bundesregierung führt, wahlweise die Menschenrechte, die Demokratie, das Völkerrecht etc. zu achten oder ihre NATO-Partner zur Räson zu bringen. Dabei wird die Rolle der Bundesregierung bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Ursachen weltweiter Missstände sowie der Unterdrückung von widerständigen Bewegungen verschleiert. Zudem werden falsche Hoffnungen an eine „richtige“, weil moralische Politik geweckt bzw. das Zerrbild der guten westlichen Demokratie verfestigt – gerne auch im Gegensatz zu den autoritären Regierungen in den Ländern, in denen die Proteste / Bewegungen stattfinden und unterdrückt werden. Zum anderen bleibt diese Form der Solidaritätsarbeit meist auf linksradikale und maximal intellektuell-bürgerliche oder zivilgesellschaftliche Kreise der Mehrheitsgesellschaft begrenzt.

Zwei Aspekte der Solidaritätsarbeit im Rahmen eines aktiven Internationalismus

Aus dieser Kritik lassen sich zwei Aspekte benennen, die für die Verbindung von konkreter Solidaritätsarbeit mit einer weiterreichenden internationalistischen Perspektive wichtig sind: 1) die kritische Vermittlung der Rolle der BRD im jeweiligen Kontext und 2) die Ausrichtung auf eine Solidaritätsbewegung „von unten“.

Anstatt Forderungen oder Appelle an politische Verantwortliche oder die Bunderegierung als Ganzer zu formulieren, halten wir es für zielführender in der Solidaritätsarbeit die Rolle der Bundesregierung bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der skandalisierten Verhältnisse sowie der erlebten Unterdrückung heraus zu arbeiten und zu vermitteln. Dadurch kann der Tendenz entgegen gewirkt werden, dass die jeweiligen Verhältnisse in anderen Ländern isoliert von der hiesigen Politik (der Metropolländer) betrachtet werden und das Entsetzen über die Verhältnisse „dort“, die Zufriedenheit mit der guten Demokratie „hier“ stärkt. Diese Tendenz besteht gleichermaßen bei Personen, die keinerlei Verbindungen zu anderen Ländern haben als auch bei Menschen, welche die Unterdrückung offen autoritärer Staaten selbst oder über Familienverbindungen erlebt haben oder noch miterleben. Denn nicht selten wird auch von „fortschrittlich“ denkenden Personen aus Ländern wie dem Irak, Iran, Äypten etc. die Errichtung einer bürgerliche Demokratie am Beispiel der Bundesrepublik als Ziel ihrer widerständigen Bestrebungen definiert. Um diese Illusionen zu zerstören und der bürgerlichen Demokratie ihre humanistische Maske zu entreißen, ist eine wichtige Aufgabe revolutionärer Kräfte in der internationalistischen Solidaritätsarbeit, die direkten Verbindungen zwischen der Politik/den Interessen der Bundesregierung und den unterdrückenden Verhältnissen andernorts aufzuzeigen. Darüberhinaus bietet sich insbesondere in Phasen weltweiter Massenproteste die Möglichkeit, die zugrundeliegenden politischen und wirtschafltichen Ursachen heraus zu arbeiten und Verbindungen zu den Folgen derselben Politik auch innerhalb der Bundesrepublik zu ziehen.

Auf der anderen Seite erachten wir es als notwendig, die Solidaritätsarbeit in den „akuten“ Phasen (ebenso wie allgemein die eigene lokale Praxis7) darauf auszurichten, eine Dynamik „von unten“ zu erzeugen, anstatt primär auf zivilgesellschaftliche Bündnisse und die Intervention in den bürgerlichen Diskurs zu fokussieren. Das bedeutet konkret, vorwiegend („fortschrittlich“ denkende) Menschen aus den jeweiligen Communities zu mobilisieren und für die Solidaritätsarbeit zusammen zu bringen. Zeiten weltweiter Aufstände und Massenproteste bieten hierfür eine gute Möglichkeit. Denn durch die Flucht- und Migrationsbewegungen der letzten sieben Jahrzehnte leben in der Bundesrepublik eine Vielzahl von Menschen, die direkte Bezüge zu den jeweiligen Massenprotesten in Ländern wie Irak, Iran, Libanon, Chile, Ecuador, Kolumbien, Sudan, Guinea und möglichen zukünftigen Protesten haben und von deren Dynamiken beeinflusst werden. Viele von ihnen verfolgen die Entwicklungen vor Ort über soziale Medien und stehen in direktem Kontakt mit Angehörigen und Freund*innen, um deren Wohl und Leben sie fürchten (müssen). Die Dynamik der Proteste bewegt und politisiert also.

Gleichzeitig macht der herrschende alltägliche Rassismus und die strukturelle Ausgrenzung es Exil-Linken und politisch bewegten Einzelpersonen schwer, in der bundesdeutschen Dominanzgesellschaft politisch aktiv zu werden und so ihrer Solidarität mit den Aufständen in den Herkunftsländern – aber auch der eigenen Wut über die unhaltbaren Zustände – einen öffentlichen Ausdruck zu geben. Die wenigen Solidaritätsaktionen, die organisiert werden, bleiben meist auf die eigene Community beschränkt und werden darüber hinaus kaum wahrgenommen.

Aufbau internationalistischer Plattformen

Eine Möglichkeit, diese Isolation und Trennung aufzubrechen, sehen wir darin, gezielt Orte zu schaffen, an denen Aktivist*innen sowie politisch unorganisierte, aber bewegte Einzelpersonen aus den unterschiedlichen Communities zusammenkommen, ihre Erfahrungen mit den und Wissen über die jeweiligen Massenprotesten austauschen und gemeinsam Solidarität organisieren können. Diese Orte bezeichnen wir als internationalistische Plattformen.

Damit so eine internationalistische Plattform lebendig und dynamisch wird, reicht es nicht, ein Bündnis aus politischen Organisationen oder linken Gruppen ins Leben zu rufen. Dieses läuft Gefahr, sich in ideologischen Auseinandersetzungen zu verlieren und abstrakt oder hohl zu bleiben. Vielmehr geht es darum, innerhalb der einzelnen Communities zu mobilisieren und dadurch auch eine Vielzahl von Menschen zu erreichen, welche die Ereignisse erstmal „nur“ wegen der direkten oder indirekten Betroffenheit bewegen8. Das ist, was wir als Dynamik „von unten“ bezeichnen. Einen Ausgangspunkt hierfür kann zum Beispiel die Organisation einer internationalen Podiumsdiskussion bilden, auf der Menschen aus den unterschiedlichen Communities über die jeweiligen Proteste berichten. (In Bremen gelang es uns, Menschen aus oder mit Bezug zu Kolumbien, Chile, Irak, Iran und Guinea zu einer gemeinsamen Podiumsveranstaltung einzuladen. In den Vorträgen wurden die Ähnlichkeiten der Situation in den unterschiedlichen Ländern sichtbar gemacht – sowohl was die Zusammensetzung, die Methoden und die Forderungen der Massenproteste angeht, als auch die massive Repression und Unterdrückung.) Diese geteilte Erfahrung und erlebte Gemeinsamkeit kann als Bezugspunkt für einen weiteren Austausch und Kennenlernprozess genutzt werden. Eine weitere Möglichkeit ist die Organisation von gemeinsamen Solidaritätsaktionen wie beispielsweise Kundgebungen oder Demonstrationen, bei der die unterschiedlichen Communities zusammen kommen. So kann ein gemeinsamer Raum gestaltet werden, an dem eine emotional-politische Verbindung zu den konkret Kämpfenden hergestellt, den Getöteten gedacht und dem Schmerz wie auch der Wut ein kollektiver, öffentlicher Ausdruck verliehen wird.

Der Aufbau einer internationalistischen Plattform ist ein langfristiger Prozess. Ziel ist es, einen kontinuierlichen Ort zu schaffen, der in der Lage ist Menschen aus verschiedenen Communities in einer Stadt zusammen zu bringen. Durch die gemeinsame Solidaritätsarbeit können Kontakte geknüpft, Verbindungen geschaffen und Vertrauen aufgebaut werden. Gleichzeitig entsteht dadurch ein Raum, in dem über die gemeinsamen Ursachen der unterschiedlichen Proteste diskutiert, Verbindungen zur eigenen Lebenssituation hergestellt und ein Verständnis über die Notwendigkeit gemeinsamer Kämpfe in der hiesigen Gesellschaft geschaffen werden kann. Im besten Fall wird die gemeinsam organisierte Solidaritätsarbeit dadurch zum Ausgangspunkt für eine weitergehende Beteiligung auch am Aufbau von kämpferischen Strukturen rund um Lohnarbeit, Wohnen, Reproduktion, Rassismus und so weiter. In diesem Sinne ist der Aufbau internationalistischer Plattformen strategisch und organisch mit revolutionärer Basisarbeit wie der im Stadtteil oder Betrieb als lokaler Praxis verbunden.

#Titelbild: ROAR Magazine/P2P Attribution-ConditionalNonCommercial-ShareAlikeLicense

1 Im Irak wurden in den ersten zwei Monaten der Proteste schätzungsweise über 450 Personen von Sicherheitskräften erschossen, über 20.000 teilweise schwer verletzt. Im Iran werden erst mit der Zeit die Ausmaße der Unterdrückung bekannt, Schätzungen reichen von 500 bis über 1000 Toten. In Chile verloren über 350 Menschen durch Tränengaskartuschen, die in die Demonstrationen gefeuert wurden, ihr Augenlicht. Mehr als 23 Menschen starben während der Proteste.

2 Sowie der Austausch und die konkrete Vernetzung

3 Sowohl die Durchsetzung und Verschärfung kapitalistischer Ausbeutungsbedingungen wird verstärkt von diversen imperialistischen Staaten vorangetrieben (wie z.B. über bi- oder multinationale Freihandelsabkommen, Aufrechterhaltung postkolonialer Abhängigkeitsstrukturen wie z.B. dem Franc CFA, Durchsetzung von günstigen Bedingungen der Rohstoffausbeutung sowie des Zugangs zu Rohstoffen etc) als auch die Durchsetzung direkter imperialistischer Methoden und Interessen (militärische Interventionen, direkte oder indirekte Kriegsführung, etc.). Auch die Unterdrückung wird zunehmend globalisiert (Polizeiabkommen, Ausbildungsprogramme, Transfer von Sicherheits- und Überwachungstechnologien, Rüstungsexporte etc.).

4 Diese Verbindung gilt selbst innerhalb der EU, in der die Bundesregierung eine zentrale Rolle einnimmt. So beeinflusst die Abwesenheit von größeren Kämpfen gegen die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft innerhalb der BRD direkt die Lebens-, Arbeits- und Kampfbedingungen in Ländern wie Griechenland und Frankreich.

5 Auch wenn natürlich der Einfluss nationalistischer und rassistischer Kräfte und Ideologien auch bei migrantischen Communities ein wichtiges Problem sind.

6 Obwohl die Erfahrung zeigt, dass selbst breite Mobilisierungen wie z.B. die Demonstrationen und vielfältigen Aktionen nach den Angriffen der türkischen Armee auf Rojava, den Kurs und die Politik der Bundesregierung nicht zu ändern vermögen.

7 Siehe ausführlicher dazu 11 Thesen über Kritik an linksradikaler Politik, Organisierung und revolutionäre Praxis von kollektiv aus Bremen, u.a. zu lesen bei https://de.indymedia.org/node/9708

8 Wenn es darum geht, Menschen zu solchen Plattformen einzuladen, gibt es dennoch Grenzen: So würden wir z.B. Personen mit starken nationalistischen oder politisch religiösen Einstellungen oder Verbindungen zu ebensolchen Organisationen nicht einladen.

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Der Friedensprozess in Kolumbien ist weit davon entfernt Frieden zu bringen. Oft tödliche staatliche und parastaatliche Gewalt sind an der Tagesordnung. Unsere Autorin war im Rahmen einer Menschenrechtsbegleitung im Norden Kolumbiens und plädiert dafür, sich auch an solchen Aktionen zu beteiligen.

Am Donnerstag den 7. März war der 18-jährige Landarbeiter Coco mit seinen Nachbarn und Kollegen nach Feierabend zum Fußballspielen in der Nähe der Gemeinde Micoahumado, im Norden Kolumbiens, verabredet. Noch vor dem Anpfiff wurde von einem nahe gelegenen Hügel das Feuer eröffnet. Als er wegrennen wollte, traf Coco ein Schuss in die Seite. Er starb noch am gleichen Ort. Eine weitere Kugel verletzte den 27-jährige Henry Sarabina so schwer am Arm, dass er seine Hand wohl nie wieder bewegen können wird.

Die Angreifer waren Soldaten des kolumbianischen Militärs, die unter den Fußballern zwei Guerilleros des marxistischen Nationalen Befreiungsheers ELN erkannt haben wollen. Doch obwohl alle auf dem Sportplatz Versammelten unbewaffnet und sogar mehrere Kinder anwesend waren, griff das Militär die Gruppe mit drei Helikoptern und einem Dutzend vermummter Soldaten mit Maschinengewehren an. Die beiden vermutlichen ELN-Kämpfer konnten fliehen, doch die Soldaten zwangen mit gezogenen Waffen die Arbeiter über Stunden auf dem Boden zu liegen, verhörten Einzelpersonen und drangen in die Wohnhäuser ein, wo sie Handys und Bargeld klauten.

Mit dem Militär ist kein Staat zu machen

Der Mord an Coco und die massive Repression der Anwohner*innen sind kein Einzelfall, sondern reihen sich ein in den seit Jahrzehnten andauernden bewaffneten Konflikt in der Region. Der Süden des Bundesstaates Bolívar gilt seit den 1970er Jahren als Stammgebiet des ELN. Die Guerilla profitierte lange vom Rückhalt in der Bevölkerung und den bewaldeten Bergen als Rückzuggebiet. Der Staat ist hier vor allem in Form des Militärs präsent, paramilitärische Gruppen können von diesem unbehelligt agieren. Bisher scheiterten allerdings alle Versuche die Region gewaltsam einzunehmen. 2001 besetzten Paramilitärs das Dorf Micoahumado und vertrieben die Menschen. Erst als es nach dreimonatigen Kämpfen dem ELN gelang das Dorf zu befreien, konnten die geflüchteten Familien aus den umliegenden Bergen in ihre von den Paras geplünderten Häuser zurückkehren. Die Menschen in Micoahumado wissen: Auf den Staat ist kein Verlass. Es ist daher die Bevölkerung selbst, die in Selbstverwaltung die soziale Infrastruktur wie Bildung und Gesundheitsversorgung aber auch den Straßenbau umsetzt und sich dadurch eine beachtliche Unabhängigkeit geschaffen hat.

Allerdings ist die Region reich an Bodenschätzen und das Gold unter den Bergen ruft internationale Konzerne auf den Plan. Zuletzt versuchte 2001 der kanadische Bergbaukonzern Braeval Mining Corporation mit staatlicher Unterstützung die Kleinbauern und den traditionellen Bergbau zu verdrängen. Doch die Bevölkerung wehrte sich erfolgreich. Auch die Anwesenheit des ELN hat dazu sicher ihren Teil beigetragen: Nachdem der Staat dem Braeval-Konzern bereitwillig die notwendigen Bergbaulizenzen ausgestellt hatte, entführte der ELN kurzerhand den für die Grabungen verantwortlichen Vizepräsidenten des Unternehmens. Erst als das Braeval-Management zusagte, alle geplanten Aktivitäten abzusagen und die Region zu verlassen, kam der Verantwortliche wieder frei. Der Konzern zog sich 2003 aus der Region zurück.

Friedensprozess? Militarisierung des Alltags!

Nach Jahrzehnten im bewaffneten Konflikt sind die Menschen müde von der alltäglichen Gewalt. Es gibt immer wieder Schießereien im Dorf, die Militarisierung betrifft den Alltag der Bewohner*innen massiv. Zudem leiden sie wirtschaftlich unter den steigenden Abgaben an den ELN und sorgen sich um ihre Jugendlichen, die mangels beruflicher Perspektiven nicht nur vom Militär, sondern auch vom ELN leicht rekrutiert werden.

Gleichzeitig hält die staatliche Repression an: Militär und Polizei stellen die lokale Bevölkerung unter den Generalverdacht, mit dem ELN zu kooperieren. Schon wer Gummistiefel oder dunkle Kleidung trägt, gilt als Terrorist. Die Schikane reicht von Einschüchterungsversuchen durch das plötzliche Auftauchen bewaffneter Einheiten, willkürlichen Anzeigen, ungerechtfertigten Haftstrafen bis hin zum Mord von sozialen Aktivist*innen oder sogar Unbeteiligten wie Coco. Das alles geschieht weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Und der viel beredete Friedensprozess? Von einem Ende des Konflikts kann man nicht reden. Stattdessen schützt ein Deckmantel des Schweigens die Machenschaften des Militärs. Und genau deswegen sind wir hier.

Was wir tun können

Eine Woche nach dem Mord an Coco durch das Militär besuchen wir den Tatort, treffen die Anwohner*innen, dokumentieren ihre Berichte, machen Fotos. Wir kommen zu zweit aus Deutschland und begleiten die kolumbianische Menschenrechtsorganisation Corporación Sembrar. Möglich ist unser Einsatz dank des internationalistischen Netzwerks Red der Hermandad y Solidaridad, kurz RedHer. „Internationale Begleitung“ und „Menschenrechtsbeobachtung“ heißt unsere Arbeit – eine unangenehme Bezeichnung. Wie begleitet man einen bereits geschehenen Mord? Was bringt es, nur daneben zu stehen und das Unrecht zu beobachten? Klimaproteste, Mietendemos, AfD-Blockaden – unsere Erfahrungen der politischen Kämpfe in Deutschland scheinen plötzlich sehr weit weg. Es fühlt sich an, als wären wir hier fehl am Platz – mindestens nutzlos, wenn nicht gar eine zusätzliche Last für unsere Genoss*innen.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Für die Aktivist*innen vor Ort ist unser Besuch nicht nur eine menschliche Wertschätzung und eine politische Anerkennung ihrer Situation, sondern auch ein ganz konkreter Schutz: Gleich an unserem ersten Tag in Micoahumado kommen Soldaten ins Dorf und führen einen der sozialen Aktivisten ab. Sofort bilden die Dorfbewohner*innen eine Traube um die Militärs. Als wir dazu stoßen, fühlt sich deren Kommandant gezwungen, sich namentlich vorzustellen und schüttelt uns die Hand, lächelt, sagt: „reine Routinekontrolle“. Seine Rolle als good cop kostet ihn eine Dreiviertelstunde Diskussion mit den empörten Dorfbewohner*innen. Als er mit seiner Einheit schließlich unverrichteter Dinge wieder gehen muss, sagt uns einer der Aktivisten: Wenn ihr nicht gewesen wärt, hätten sie den Genossen einfach ohne Haftbefehl festgenommen. Aber unter den Augen der Gringos trauen sie sich solche schmutzigen Spielchen nicht.

Auch wenn es sich komisch anfühlt, sich als Antirassistin solcher postkolonialen Machtstrukturen

als strategisches Mittel zu bedienen – es funktioniert. Und es ist vielleicht die beste, wenn nicht gar die einzige Möglichkeit, wie wir uns solidarisch und auf Augenhöhe für emanzipatorische Kämpfe weltweit einsetzen können. Für uns, ausgestattet mit einem deutschen Pass und einem europäischen Aussehen, ist es nicht schwer, diese Privilegien strategisch einzusetzen. Mit nur einem kleinen Schritt raus aus der Komfortzone der imperialistischen Zentren bekämpfen wir die rassistischen und imperialistischen Machtstrukturen dieser Welt mit ihren eigenen Mitteln. Unsere Anwesenheit zeigt den staatlichen Autoritäten: Was ihr hier tut geschieht unter den Augen einer internationalen Öffentlichkeit. Und unseren Verbündeten zeigen wir: Ihr seid nicht allein, wir stärken euch den Rücken. Im Gegenzug dafür haben uns die Menschen in Micoahumado und anderswo viel zu geben: Von ihrer Unabhängigkeit gegenüber allen bewaffneten Gruppen, von ihrer Widerständigkeit und ihrem Willen, dem Militär nicht das Feld zu überlassen und ihrer Beharrlichkeit, sich auch unter den widrigsten Bedingungen selbst zu organisieren – davon können wir noch viel lernen.

Sophie ist aktiv bei der Interventionistischen Linken (iL) und war mit dem Red de Hermanidad y Solidaridad (RedHer) und dem Congreso de los Pueblos in Kolumbien. Sie hat mit RedHer vom 11.-14. März 2019 an einer Menschenrechtsbegleitung im kolumbianischen Bundesstaat Bolívar teilgenommen.

Kontakt zu Internationalist*innen in Kolumbien und mehr Informationen über menschenrechtliche Begleitung gibt es hier https://www.redcolombia.org/ und bei der kolumbianischen Menschenrechtsorganisation http://corporacionsembrar.org/. Im August findet eine vom RedHer organisierte Caravana statt, bei Interesse kann Kontakt über die Homepage aufgenommen werden.

# Bild: Policía Nacional de los colombianos CC BY-SA 4.0

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In Kolumbien sind die Studierenden seit zwei Monaten im Ausstand. Einstürzende Universitätsgebäude und unbezahlbare Studiengebühren will hier niemand. Endlich reagiert die Regierung mit einem Finanzierungsvorschlag. Unsere Autorin berichtet aus Bogotá.

Donnerstag, 13. Dezember, der 64. Tag des nationalen Bildungsstreiks in Kolumbien. Wieder versammeln sich Studierende in ganz Kolumbien mit Flaggen und Parolen enthusiastisch auf den Hauptplätzen ihrer Universitäten um zusammen zu demonstrieren. Nicht nur Studierende sind anwesend. Große Teile der Bevölkerung unterstützen mittlerweile ihre Forderungen. Den Streikenden ist anzusehen, dass sie erschöpft sind. Es sind nicht mehr die gleichen Menschenmassen, wie bei den ersten Demonstrationen, aber die Motivation hält weiter an. Sie sehen Hoffnung in den wöchentlich organisierten Protesten. (mehr …)

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