„Was kommt als nächstes?“ – Die Frage mussten sich tausende von FARC-Guerrillakämpfer:innen nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages im Jahr 2016 stellen. In EL Cauca, einer Region, in der die FARC schon immer sehr präsent war, tauschten die Kämpfer:innen ihre Waffen gegen Kameras. Inmitten des Friedensprozesses, als die Augen der Welt auf sie gerichtet waren, beschlossen sie, ihre Sicht der Dinge zu dokumentieren. Zum ersten Mal auf diese Art wird in „Memorias Guerrilleras“ (Guerrilla-Erinnerungen) der kolumbianische Konflikt von denen erzählt, die ihn erlebt haben.
„Der Film wurde von ehemaligen Kämpfern gedreht und geschrieben, was in der Welt ungewöhnlich war“ sagt uns Boris Guevara, ehemaliger Guerrillero der FARC und Schauspieler in Memorias Guerrilleras. Tanja Nijmeijer, die während des Telefongesprächs neben ihm sitzt, fügt hinzu: „Wir hatten das Gefühl, dass es wichtig war, einen Film mit unserer Vision zu produzieren. Was haben wir erlebt? Was haben wir durchgemacht?“
Die Neiderländerin Tanja hat es zu unfreilliger Berühmtheit gebracht, als ihre Tagebücher im kolumbianischen Dschungel gefunden werden, in denen sie ihre Entwicklung einer FARC-Revolutionärin dokumentiert. Sie begleitete die Dreharbeiten und die Ausbildung für das Verfassen von Drehbüchern und Aufnahmen. „Wir lebten in der Übergangszone für die Wiedereingliederung, als uns ein Filmregisseur, Ricardo Coral, besuchte.“
„Ich glaube, die UNO hätte die Aufnahme des Films nie erlaubt.„ – Dreharbeiten über Krieg inmitten der Entwaffnung
Über 50 Jahre lang befand sich die FARC im Krieg mit dem kolumbianischen Staat. Eine lange Zeit, in der viele Dokumentarfilme entstanden. Warum braucht es noch einen Film? Was macht dieser anders? Tanja antwortet darauf: „Normalerweise haben Filme einen Filter. Es gibt viele Dokumentarfilme über die FARC, aber ich denke, die meisten davon wurden von Leuten außerhalb gemacht. Es geht immer durch ihren Filter.“
Tatsächlich belegen mehrere Studien die Propaganda der kolumbianischen Regierung gegen die FARC. Ein Medienkrieg, der die FARC für alles Schlimme im Land verantwortlich macht, und darauf abzielt, die Guerrilla zu einem unpolitischen Subjekt zu machen. Tanja fügt hinzu: „Wir wollten unsere Geschichte erzählen; wir wollten, dass die Leute wissen, warum wir uns der FARC angeschlossen haben. Es wurde so viel über die FARC gesagt, und 80 % davon ist nicht wahr, einfach nicht wahr. Wir hatten ein Leben im Dschungel, ein Leben in der Guerrilla, und wir haben das Recht, auf dieses Leben zurückzublicken und den Menschen zu erzählen, was wir erlebt haben.“
Der Spielfilm erzählt fünf parallele Geschichten aus der Zeit, als die FARC ihre Waffen an die Vereinten Nationen übergab. Der Drehort in El Cauca ist geprägt von kargen Bergen und dichtem Dschungel. Die Menschen, die hier leben, kämpfen mit Armut, Chancenlosigkeit und Gewalt durch rechte Paramilitärs und die Armee. Das führt unweigerlich dazu, dass sich viele den Reihen der Guerrilla anschließen. Eine Storyline befasst sich mit den Gefühlen neuer Mitglieder der FARC: Was bedeutete es, seine Familie zurückzulassen, um in der Guerrilla eine Zukunft zu finden? Eine andere Storyline handelt von Guerrillakämpfer:innen, die mit der Angst und der Ungewissheit der Waffenübergabe an die UNO und dem Ende des Guerrillalebens zurechtkommen müssen.
Boris Guevara erzählt am Telefon: „Der Film wurde aufgenommen, als wir unsere Waffen abgaben. Er basiert auf der Realität, auf dem, was wir in diesem Moment fühlten. Für die meisten Menschen war es ein beängstigender Moment, denn unsere Waffen bedeuteten unser Leben. Sie wurden benutzt, um unser Leben zu verteidigen. Es war nicht leicht, sie an die Vereinten Nationen zu übergeben. Viele fragten sich: Was wird mit uns geschehen? Ich denke, der Film spiegelte diesen Moment des Zweifels und der Angst perfekt wieder. „
Der Film ist in vielerlei Hinsicht der erste seiner Art, den man als fiktive Autobiografie bezeichnen kann. Es gibt wenige vergleichbare Beispiele für die Drehbedingungen und das Team, das hinter der Produktion steht. Vom Guerrillakämpfer zum Schauspieler, mehr oder weniger über Nacht. Wie ist das möglich? Boris antwortet: „Wir haben ein Casting unter den 400 Menschen gemacht, die in der Zone leben, und die Leute mussten einfach so tun, als wären sie sie selbst, und Geschichten aus ihrem eigenen Leben aufschreiben. Man brauchte nicht viel Fachwissen, um ein Schauspieler zu sein, denn sie waren einfach sie selbst.“
Die Produktion hat ein Budget von nur 15.000.000 kolumbianischen Pesos, umgerechnet etwa 3303 Euro. In dem gesamten Produktionsteam sind nur acht Professionelle. Das bedeutete viel und schnelles Arbeiten: „Wir hatten nur einen Monat Zeit für die Aufnahmen, also mussten wir Tag und Nacht aufnehmen. Wir waren also ständig am Arbeiten.“
Die Dreharbeiten fanden während eines Abrüstungsprozesses statt. Tatsächlich wurden anfangs die echten Waffen der FARC als Requisiten verwendet. Doch dann wurden sie, wie im Friedensvertrag vorgeschrieben, der UNO übergeben. Mehr als 8000 Waffen und etwa 1,3 Millionen Kugeln Munition. Boris Guevara sagt uns, dass dies die größte Herausforderung für die Produktion war. Leute aus dem Camp werden in die Städte geschickt, um Waffenattrappen als Requisiten zu kaufen. Doch damit sind nicht alle Probleme gelöst. Der Friedensvertrag ist von der UNO an strenge Bedingungen geknüpft; die Guerrillakämpfer:innen dürfen ihre Lager nicht einmal ohne Waffen verlassen.
Boris erzählt uns, dass die UNO eigentlich nie von der Produktion des Films gewusst hat: „Ich glaube, die UNO hätte die Aufnahme des Films nie erlaubt.“ Er erzählt uns von der Aufnahme einer Szene, bei der es riskant wird: „Wir haben eine Szene aufgenommen, in der einige Guerrillakämpfer einen Zivilisten treffen, dann kamen einige Bauern vorbei und sahen die bewaffnete Gruppe. Daraufhin riefen sie die UNO an, um ihnen mitzuteilen, dass eine bewaffnete Gruppe anwesend war. Wir mussten also schnell ins Lager zurückkehren und uns normal verhalten. Die Vereinten Nationen fragten, was los sei, und wir antworteten: „Hier ist nichts los. Wir waren alle innerhalb des Camp. Nichts passiert.“ Tanja und Boris lachen, als sie das am Telefon erzählen. „Es gab einen Moment, in dem das ein heikles Thema war, aber der ist schon vorbei, also können wir darüber reden“, sagte Boris.
Das Filmkollektiv trägt den Namen eines ihrer ermordeten Genossen, David Marin, Schauspieler bei Memorias Guerrilleras. Er wurde im Juni 2019 getötet und erlebt die Veröffentlichung des Films nicht mehr. Er war lange Mitglied der FARC, davor der kolumbianischen kommunistischen Jugendorganisation, und ein einflussreicher sozialer Führer. Boris beschreibt ihn als einen „geborenen Anführer“. „Es ist nicht ganz klar, warum er getötet wurde. Er wurde in einer komplexen Zone getötet.“ In der FARC ist es seit langem Tradition, dass Fronten oder Projekte den Namen ihrer gefallenen Kameraden annehmen.
„Als der Film aufgenommen wurde, waren bereits einige Ex-Kämpfer ermordet worden. Gleichzeitig gab es viele Attentate auf soziale Führungspersönlichkeiten.“ Seit dem Friedensabkommen werden mehr als 300 ehemalige FARC-Kämpfer:innen getötet. Meistens ist es schwierig, die Motive für die Morde zu verstehen. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass es sich um rechte paramilitärische Strukturen handelt, die sich die Verwundbarkeit durch die Entwaffnung zunutze machen.
Der Friedensprozess ohne Frieden – Rückblick auf Befürchtungen die sich bewahrheitet haben
Es ist unmöglich, über den Film zu sprechen, ohne auch über Politik zu sprechen. Der Film spricht aus der Perspektive eines sehr jungen Friedensvertrags. Heute ist er über fünf Jahre alt. Viele der Zweifel und Zukunftsängste, die im Film angesprochen werden, haben sich bewahrheitet. Der ehemalige Optimismus wird von der existierenden Gewalt überschattet. Tanja und Boris sind Teil der Friedensdelegation gewesen, die über vier Jahre lang mit der kolumbianischen Regierung auf Havanna verhandelt hat. Der Friedensvertrag soll einen der langwierigsten bewaffneten Kämpfe der Welt beenden. Das war die Idee auf dem Papier.
Boris erzählt, dass nur fünf Prozent des 310-seitigen Friedensvertrags umgesetzt worden sind. „Was wir uns vor fünf Jahren erträumt haben, ist heute eine traurige Realität der Nicht-Umsetzung“ sagt er. In der Tat hat sich sehr wenig entwickelt, einiges sogar ins Negative. Während beispielsweise die extreme Armut im Jahr 2019 noch 9,6 Prozent ausmacht, liegt sie 2020 bei über 15 Prozent. Mittlerweile gelten 42,5 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung als arm.
2016 wird der Friedensvertrag von der Santos Regierung unterschrieben, welche von Tanja als „inkompetent und langsam“ bei der Umsetzung des Vertrages beschrieben wird. Aktuell ist Iván Duque Präsident, der einer sehr rechten Partei angehört, die bei ihrem Wahlsieg angekündigt hatte, den Friedensvertrag in Stücke zu reißen. Tanja und Boris hoffen auf zumindest einige Änderungen von der neuen Regierung nach den kommenden Wahlen. „Wir haben sehr gute Chancen, die Wahlen zu gewinnen und mit den rechten Parteien zu konkurrieren.“ – erzählt Boris am Telefon.
Tanja beschreibt es so: „Viele Dinge wurden nicht umgesetzt. Sie haben wirklich versucht, das Friedensabkommen in Stücke zu reißen. Es gibt immer noch Armut. Kolumbien ist immer noch ein sehr ungleiches Land und eine Klassengesellschaft. Das ist es, was wir jeden Tag erleben. Für die meisten von uns ist es ein ständiger Kampf. Wir sind in eine Gesellschaft integriert, die sich nicht wirklich verändert hat. – Ich denke, es ist wichtig, der Welt zu zeigen, dass der Konflikt nicht vorbei ist, und dass die Umsetzung sehr wichtig ist.“
Der kolumbianische Konflikt ist trotz des Friedensvertrags noch nicht beendet. Er ist ein andauernder Prozess, der immer komplexer wird und sich tendenziell verschärft. Das Filmkollektiv will ihn weiterhin dokumentieren. Trotz der schwierigen Situation blickt das Kollektiv David Marin nach vorne; es gibt bereits Pläne für Memorias Guerrilleras II. „Leider ist es in Kolumbien schwierig, einen Film zu machen. Es gibt keine Mittel, die Regierung unterstützt die Filmindustrie nicht sehr gerne. Wir sind also auf der Suche nach einer Finanzierung. – Es hängt vor allem davon ab, dass die Leute den Film kaufen und ihn sich ansehen. Es ist also aus vielen Gründen wichtig für uns, dass die Leute den Film sehen. „
# Memorias Guerrilleras lässt sich auf der Plattform für memoriasguerrilleras.indyon.tv für 5 Euro mieten. 30 Prozent des Geldes geht an die Ex-Kombattanten, die in dem Film geschauspielert haben. 70 Prozent geht in die Produktion von Memorias Guerrilleras II. Der Film ist mit englischen Untertiteln verfügbar.
# Alle Bilder: Memorias Guerrileras