Von Carola Rackete und Momo
Es ist Zeit, das gewohnte „Weiter so“ zu hinterfragen. Etwas, was wir als Klimagerechtigkeitsbewegung immer von der Gesellschaft einfordern, doch wir sollten diese Frage genauso an uns richten. Dieser Text ist eine kritische Reflexion dieses „Weiter so“ einer Bewegung, die eine neue Richtung braucht, um den Wandel in existenziellen Zeiten zu meistern.
Als Reaktion auf die Veröffentlichung des Reports “Limits to Growth” wurde auf der Rio-Konferenz 1992 beschlossen, nachhaltige Entwicklung zu propagieren, um Kapitalismus mit Ökologie zu vereinen. Kurz danach starteten die Weltklimakonferenzen und in ihrem Umfeld die jährlichen Gegenproteste. Vernachlässigt wurde zunächst häufig, dass die eigentlichen Klimaschutzmaßnahmen lokal und national umgesetzt werden müssen. Daneben dominierte die fossile Lobby die Konferenzen und setzte den Rahmen für völlig unzureichende Ergebnisse.
Ein Jahr nach der desaströsen COP 2009 in Kopenhagen startete das erste Klimacamp im Rheinland. Das Camp diente der Vernetzung und als Ideenschmiede und war Grundstein der heutigen Bewegung. Besonders die massiven Proteste im Hambacher Forst 2018 und die jährlichen Aktionstage des Bündnisses Ende Gelände trugen dazu bei, die Forderung nach Klimagerechtigkeit anhand konkreter Themen in das Bewusstsein der deutschen Linken zu tragen. Ziel war, von der Zivilgesellschaft die nötige Radikalität einzufordern, die dem Ausmaß der Klimakrise gerecht wird. Eine Krise, die wir in Deutschland bis jetzt nur erahnen können, die aber für viele Menschen auf der Welt seit Jahrzehnten existenzbedrohend ist. Die von der Klimakrise Betroffenen, meist aus dem globalen Süden, fordern seit den Anfängen der Klimagerechtigkeitsbewegung in Deutschland eine Bewegung, die die Intersektionalität der Kämpfe sieht. Das wäre eine Bewegung, die die Zusammenhänge von Unterdrückung als Kontinuität von Rassismus und Kolonialismus begreift und sie als grundlegende, für die Klimakrise verantwortliche Herrschaftsverhältnisse anerkennt und bekämpft.
Das Aufkommen der global agierenden Klimabewegungen Fridays For Future und Extinction Rebellion machten 2019 zum Jahr der Klimaproteste und manifestierten das Thema Klima in der Tagespolitik. Im Gegensatz zu den autonomen Bewegungen um den Hambacher- Forst oder jüngst Lützerath schlugen die Bewegungsgruppen wie Fridays For Future einen Kurs der Dialogbereitschaft ein. Diese Diskursverschiebung innerhalb der Bewegung hin zur Appell- und Dialogpolitik und zum Kuschelkurs mit Parteien führt dazu, dass das kämpferische Momentum verblasst und sich Realpolitik breitmacht. Zurzeit polarisiert der Aufstand der Letzten Generation als radikale Flanke die Bewegungsdebatten. Mit dieser Form der Radikalität ist es jedoch nicht getan.
Wir brauchen ökologischen Klassenkampf
Die Klimakrise ist ein Ergebnis von sozialer Ungerechtigkeit und globalen massiven Unterschieden in Machtverhältnissen. Könnten alle weltweit gleichberechtigt über fossile Energienutzung mitbestimmen, wären wir vermutlich nicht in einer Klimakrise, die zuerst für Menschen im globalen Süden existenzbedrohend ist. Die Forderung aus unserer Bewegung nach dem 1,5-Grad-Limit von Paris ist kein Schritt in Richtung Klimagerechtigkeit. Nicht zuletzt, weil viele Staaten des globalen Südens seit Dekaden eine 1-Grad-Grenze fordern und das schon lange vor Paris. Der Begriff „1,5-Grad-Grenze“ abstrahiert die für viele Menschen schon lange existenzielle Frage der Klimakrise und führt zu einer technischen Debatte, geleitet von Naturwissenschaften und Klimamodellen. Er verschleiert ebenfalls den Weg, wie wir die Klimakrise eindämmen können: Nur durch tiefgreifende soziale Veränderung können wir zusammen Lösungen erarbeiten, die alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit berücksichtigen und sich gegen die Interessen von Konzernen, Nationalstaaten und Milliardär*innen richten, die das Problem verursachen. Als Klimagerechtigkeitsbewegung müssen wir Gegenmacht aufbauen und dafür müssen wir den Gerechtigkeitsaspekt für mehr Menschen im globalen Norden spürbar machen.
Wie machen wir also weiter?
Wir müssen weg von leeren Worthülsen wie “Systemwandel” und “climate justice” auf Klimademos, und hin zu Protesten, Waldbesetzungen und Organisierung der gesamten Bevölkerung. Der Ruf nach Klimagerechtigkeit muss aus praktischen Initiativen begreifbar werden und sowohl globale als auch lokale Verhältnisse berücksichtigen. Klimagerechtigkeit in Europa und weltweit heißt demnach auch, soziale Ungerechtigkeit und Klassenunterschiede abzubauen und klarzumachen, dass auch hier erhebliche Unterschiede in Konsum und Verantwortlichkeit für die Klimakrise existieren.
Es ist grundsätzlich notwendig, soziale Gerechtigkeit einzufordern. Aber gerade jetzt, während der zweiten russischen Invasion der Ukraine, läuft die Bewegung Gefahr, noch weiter gegen arme Menschen ausgespielt zu werden, welche unter steigenden Lebenshaltungskosten am meisten leiden. Zu lange hat die Bewegung verpasst, aufzuzeigen und umzusetzen, wie Klimaschutz soziale Gerechtigkeit im globalen Norden verbessern würde. Doch spätestens jetzt ist es unabdingbar, Lösungen sichtbar zu machen, die sowohl sozial als auch ökologisch sind. Falls wir diese Chance verpassen, verspielen wir möglicherweise jede Chance auf Klimaschutz – auch durch einen rechten Backlash der jetzt schon in Europa um sich greift.
Klosterbau verhindern – Basisarbeit machen
Innerhalb der Bewegung müssen wir klarstellen, dass es nicht darum geht, sich ein hübsches, politisches Kloster zu bauen, in das nur die bereits Politisierten Zutritt haben. Gesellschaftliche Veränderung können wir nicht erreichen, wenn wir uns komplett aus der Gesellschaft in eine abgeschlossene Parallelgesellschaft zurückziehen und uns darauf fokussieren, die bereits Bekehrten noch stärker zu politisieren. Die Auseinandersetzung mit der Zivilgesellschaft mag sicher eine Herausforderung sein, sie ist aber ein essenzieller Bestandteil von Bündnisarbeit und notwendig, um zu gewinnen. Ja, wir wollen und müssen gewinnen, nicht einfach nur Recht haben. Diese Organisierung für eine befreite klimagerechte Welt können wir uns mit allen vorstellen, die die Realität im Kapitalismus als erdrückend empfinden.
Die Klimagerechtigkeitsbewegung bezieht sich immer wieder solidarisch auf die Revolution in Nord-Ostsyrien (Rojava), ohne aber umsetzen zu wollen, was diese erfolgreich vorgemacht hat: immer wieder das Gespräch mit jeder einzelnen Familie in jeder Straße zu suchen, um sich gemeinschaftlich mit allen zu organisieren. Das radikalste also, was die Klimagerechtigkeitsbewegung machen kann, ist Basisarbeit in der Gesellschaft.
Wenn wir proletarisch-prekär geprägte Menschen vergessen oder sie proaktiv aus unserer Politik ausschließen, da sie nicht in unseren Lifestyle passen, können wir nicht weiterkommen. Ein Beispiel: Es bringt nichts, gegen Autolärm im berliner Regierungsviertel zu protestieren, während die meistbefahrenen und damit auch meistverschmutzten Straßen durch prekäre Viertel verlaufen. Unsere Aktionen richten sich zu häufig nur an die Mächtigen und zielen auf Medienbilder ab. Doch wenn die Menschen, die vom Problem am meisten betroffen sind, in unserer Organisation weder bedacht noch einbezogen werden, dann können wir keine ernsthafte Gegenmacht aufbauen. Umgekehrt gibt es auch positive Beispiele von Gruppen, die sich mit Arbeiter*innen der Automobilzulieferer oder mit den Beschäftigten im ÖPNV für eine sozial-gerechte Transformation einsetzen wollen.
Welche Radikalität brauchen wir?
Angesichts der immer weiter fortschreitenden Klimakatastrophe ist es verständlich, dass der Ruf nach radikaleren Aktionsformen immer lauter wird, denn Appell- und Dialogpolitik sind gescheitert. Wie in den 80ern in der Friedensbewegung bereits umgesetzt, diskutiert die Bewegung vermehrt Sabotage. Die Letzte Generation nutzt das Mittel der Sachbeschädigung erfolgreich für Medienaufmerksamkeit und bringt sich in die Position einer radikalen Flanke mit polarisierenden Aktionen. Die Debatte um Sabotage wird jedoch teilweise geführt, als sei sie eine magische Pille, sie verliert aber tatsächlich einen fundamentalen Punkt aus den Augen: Eine Eskalation der Taktiken, in der immer weniger Menschen immer größere Risiken eingehen, ist nur ein Teil der Lösung. Eine soziale Veränderung schaffen wir nur durch die vielen, durch das Organisieren der Gesellschaft und eine Vielfalt von Beteiligungsformen. Zwar dürfen Aktionen gerne polarisieren, doch müssen wir insgesamt als Bewegung davor hüten, den Bezug zur Gesellschaft zu verlieren. Denn ohne breite Zustimmung und zivilgesellschaftliche Radikalität wird es unmöglich sein, eine Veränderung der Machtverhältnisse herbeizuführen. Um diese Vielfalt zu erreichen, müssen wir Klimaaktiven unsere Vorurteile gegenüber weniger Aktiven und auch unseren missionarischen Eifer ablegen, der andere soziale Probleme als nichtig erklärt. Wir müssen auf einer respektvollen Ebene mit anderen ins Gespräch kommen und ein Verständnis dafür kultivieren, dass im Grunde alle Menschen Teil von gesellschaftlichen Verbesserungen sein wollen, auch wenn unsere Vorstellungen darüber weit auseinandergehen mögen. Es ist richtig, Klimaverbrecher*innen klar zu benennen und ihre Macht anzugreifen, aber dem Großteil der Gesellschaft müssen wir immer wieder die Hand zu Gespräch und Beteiligung ausstrecken und nach gemeinsamen Anliegen suchen.
Darüber können wir schon heute viel von anderen lernen: etwa von der Deep-Canvassing-Strategie der LGBTQI community in Los Angeles, von der Zusammenarbeit von NGOs und Ölplatformarbeiter*innen in Schottland oder vom Projekt Larger Us in Großbritannien. Wir können uns dafür einsetzen, RWE und Wintershall als größte deutsche fossile Unternehmen zu enteignen, Mietpreise zu deckeln und Deutsche Wohnen zu vergesellschaften, kostenlosen ÖPNV fordern und damit Fahren ohne Fahrschein unmöglich machen, genauso eine Reduktion der Wochenarbeitszeit fordern und kostenlose Kinderbetreuung, Papiere und demokratische Beteiligungsmöglichkeiten für alle in Deutschland lebenden Menschen. Oder in den Worten von Chico Mendes: Environmentalism without class war is just gardening!
#Titelbild: eigenes Archiv.