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Interview mit Peter Egger, Mitglied des Bund der Kommunist:innen, über Folklore am Arbeiter*innenkampftag, den DGB auf der Revolutionären-1.-Mai-Demo und die Notwendigkeit, die Systemfrage zu stellen. Das Gespräch führte Casia Strachna

Der Bund der Kommunist*innen gehört als Teil des Bündnisses „Nicht auf unserem Rücken“ zu den Organisator*innen der Revolutionären 1. Mai Demo in Berlin. Ist das nicht mittlerweile eher überholte linke Folklore?

So leichtfertig sollte man die Bedeutung der Demonstration nicht abtun: Sie gehört immer noch zu den größten regelmäßig stattfindenden Demonstrationen in Deutschland. Sie ist zehnmal größer als die Demo des DGB, die vormittags stattfindet und hinter der ein ganzer Gewerkschaftsapparat steht. Und sonst wird man dem Tag, dessen Tradition eine wichtige, nicht nur symbolische Bedeutung für die Arbeiter:innenklasse hat, auch nicht gerecht. Es geht um die Rechte der Arbeiter:innen und Ausgebeuteten. Es geht darum, sich zu wehren, grade in Zeiten von Wirtschaftskrise und nationalistischem Kriegstaumel. Wie kann das überholt sein? Natürlich bleibt es wichtig, genau diese Demonstration weiter zu führen.

Aber ähnelt es mittlerweile nicht eher einem Schaulaufen für Touris und die Leute kommen eigentlich nur noch, weil sie alten Kreuzberger Glamour erwarten? Konkret frage ich mich: Ist es die Arbeiter:innenklasse, die am Arbeiter:innenkampftag um 18 Uhr mit der Revolutionären-1.-Mai-Demo durch Neukölln und Kreuzberg ziehen wird?

Auch, na klar. Vermutlich nehmen an der revolutionären Demo mehr Arbeiter:innen teil, als an den meisten anderen Demonstrationen. Klar sind die Leute durchschnittlich eher jünger als bei der DGB-Demo, viele gehen halt noch zur Schule oder studieren. Dennoch sind sie Teil der Klasse und werden spätestens nach ihrer Ausbildung ebenso in den kapitalistischen Verwertungsfleischwolf geworfen wie die von uns, die arbeiten. Und natürlich kommen sie auch, weil wir eben die Klassenwidersprüche aufzeigen und Lösungen dafür anbieten.

Und wie sind die Lösungen?

Brot, Frieden und Sozialismus: Die Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen dürfen nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht diejenigen, die eh schon wenig haben, nun auch noch am meisten unter der Inflation leiden. Konkret muss es also um höhere Löhne gehen, vor allem um bessere Tarifabschlüsse. Wir haben jetzt einen Verlust unserer Kaufkraft und brauchen auch jetzt mehr Geld, nicht erst in einem Jahr höhere Löhne. Es geht um Frieden in der Ukraine – aber auch im Jemen, Libyen, Afghanistan und überall. Das massenhafte Abschlachten der Armen für die Profitinteressen der Reichen muss ein Ende finden. Sofort.
Wir müssen über Aufrüstung reden, wofür Geld im Überfluss vorhanden ist und das gegenüberstellen zu allem, wofür angeblich kein Geld da ist, wie Schulen, Kitas, bezahlbarer Wohnraum, faire Löhne, die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen.

Aber bekommt man das nicht besser hin im Schulterschluss mit den anderen Teilen der Arbeiter*innenklasse, konkret also dem DGB?

Der DGB kann natürlich gerne bei uns mitlaufen, wenn er sich hinter die Forderungen eines Revolutionären 1. Mai stellt. Wir werden ja auch vormittags auf der DGB-Demo mitgehen. Ob da jetzt alle 20.000 kommen werden, die abends zu uns kommen? Wahrscheinlich eher nicht, aber der organisierte Teil ist da.

Wie ist denn die Perspektive über den 1. Mai, über den hohen Feiertag hinaus? Wie geht es am 2. Mai weiter?

Unser Fokus liegt auf der Arbeit in und um unsere Kiezläden, der Roten Lilly in Neukölln, der Kommune65 im Wedding und dem Café Wostok in Lichtenberg, also konkret in der Stadtteilarbeit unserer Stadtteilkomitees. Da haben wir einen Einfluss auf den Kiez und bauen eine Linke von unten auf. Nachdem traditionelle Gruppen wie FelS, Avanti und ALB in der Interventionistischen Linken aufgegangen sind, haben deren Vertreter*innen leider faktisch überhaupt keine Vernetzung mehr in der Klasse, die meisten anderen postautonomen Gruppen sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Uns geht es um revolutionäre Stadtteilarbeit. Wir organisieren unsere Nachbarschaft. Bei uns gibt es Sozialberatung, Hilfe bei Problemen mit dem Vermieter, Sprachschulen, Veranstaltungen, Lebensmittelausgaben, Kiezkantinen und machmal sogar Kino. Natürlich ist die Resonanz jeweils unterschiedlich, aber es stößt in jedem Fall auf Interesse. Auffällig dabei ist, dass eine klare kommunistische Perspektive im Kiez ankommt.

Woran machst du das fest?

Naja, man merkt ja schon, dass etliche Leute einerseits nachfragen, und andererseits auch klare Positionen einfordern und wir verstecken unsere Gesinnung ja auch nicht. Die Leute lassen sich nicht mit hohlen Phrasen abspeisen und der Behauptung, dass man nur einzelne Stellschrauben oder einzelne Gesetze ändern müsste, und dann ginge es ihnen besser. Die Menschen werden im Wortsinne radikaler, gehen an die Wurzel der Probleme und wollen grundlegende Veränderungen. Ja, das ist natürlich die Systemfrage und es ergibt keinen Sinn so zu tun, als würde man diese Systemfrage nicht stellen, nur um gefälliger zu sein.

Revolutionäre 1. Mai Demonstration in Berlin 17:00 U-Boddinstraße
“Brot, Frieden, Sozialismus – Ihre Krise nicht auf unserem Rücken!”

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Nach den Krawallen in der Silvesternacht ist das Thema Jugendarbeit wieder in aller Munde. Politiker:innen drehen Runden in den sogenannten Problembezirken und versprechen vollmundig Besserungen für die Kinder- und Jugendhilfe und allgemeine soziale Verbesserungen in den Kiezen. Auf dem schleunigst einberufenen „Gipfel gegen Jugendgewalt“ wurden 29 Maßnahmen beschlossen, sowie ein Finanzierungsbedarf von knapp 90 Millionen Euro für die nächsten zwei Jahre veranschlagt.


Wenn es aber nicht darum geht, Sicherheit und Ordnung im Sinne der reaktionären Presse zu garantieren, sondern Sicherheit und Zukunft für Kinder und Jugendliche herzustellen, ist der staatliche Wille, Geld bereitzustellen in Berlin nicht sonderlich ausgeprägt. An der Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe werden auch die 90 Million Sondervermögen wenig ändern. Bereits im Jahr 2022 wurde bekannt, dass die Berliner Schulen für das nächste Schuljahr mit drastischen Kürzungen würden rechnen müssen. Diese finanziellen Einsparungen hatten bereits Einschnitte in die Gestaltungsmöglichkeiten der Schulen zur Folge. Sie betreffen einen sog. Verfügungsfonds, aus dem Schulen bisher je nach Anzahl ihrer Schülerinnen und Schüler entsprechende Summen zwischen 15.000 und 30.000€ erhalten konnten. Vielen Schulen fehlen nun über 10.000€ für das nächste Schuljahr. Darüber hinaus gibt es in Berlin um die 900 unbesetzte Stellen für Lehrkräfte. Der Lehrkräftemangel ist seit Jahren Thema, die Situation verschlechtert sich allerdings nur weiter. Vor der Berlin-Wahl versprachen zwar alle Parteien bessere Personalschlüssel an Schulen, die CDU gar eine 110-prozentige Personalausstattung. Vor der nächsten Wahl wird der Lehrkräftemangel dann wieder Thema sein, denn ändern wird sich faktisch wenig.

Denn nicht nur viele Lehrkräfte verlassen Berlin, auch Erzieher:innen verdienen in anderen Bundesländern besser (Berlin liegt hier auf dem sechstletzten Platz) und finden bessere Arbeitsbedingungen vor. Die CDU will nun sogar noch die Brennpunktzulage für die Arbeit in sog. problembehafteten Kiezen streichen. Pädagogische Arbeit ist an vielen Schulen in Berlin schon jetzt kaum möglich, da es immer mehr Kinder mit erhöhtem Förderbedarf gibt und dafür das Personal und die strukturellen Voraussetzungen fehlen.

In meiner Praxis als Integrationserzieher an einer Grundschule habe ich fast nie Kinder speziell und gezielt fördern können, da die Arbeit fast nur aus Vertretungen bestand. Eine Untersuchung der GEW Berlin zeigt, dass dies die Regel ist und nicht nur persönliches Empfinden. 42 Prozent der Befragten gaben an, nur selten Kinder gezielt fördern zu können, worauf diese jedoch einen rechtlichen Anspruch haben. Zudem wurde für viele Kinder kein Förderstatus beantragt, da es nicht entsprechend viele Integrationserzieher:innen gab, sodass dem Anspruch auf Förderung ohnehin nicht hätte gerecht werden können. Teilweise wurden ganze Klassen wochenlang früher nach Hause geschickt, weil ihre Betreuung nicht gewährleistet werden konnte oder kein Unterricht stattfand. Egal in welchem Bereich, die Kinder- und Jugendhilfe ist in großer Not.

„Man spielt nur noch Feuerwehr“, ist ein Satz, den man im sozialen Bereich häufig hört. Bundesweit sind von den rund 900 in den Jugendämtern zur Verfügung stehenden Stellen knapp 100 unbesetzt. Hinzu kommen viele kranke Mitarbeiter:innen, sowie unzählige, die aufgrund der starken Arbeitsbelastung im sogenannten „Sabbatical“ sind, auf Kur oder im „Hamburger Modell“, mit verkürzten Arbeitszeiten und weniger Arbeitsbelastung. In Berlin bearbeitet eine Fachkraft so viele Fälle, wie in Bayern 2,5 Fachkräfte. Die Zahl der Inobhutnahmen hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. In einer Umfrage der AG Weiße Fahnen zur Arbeitsbelastung unter Fachkräften der Jugendämter heißt es, nur 13% der Befragten empfänden ihre Fallbelastung als angemessen, nur die Hälfte fühle sich „gesund und leistungsfähig“ und zwei Drittel gaben an, für gute Entscheidungen nicht genügend Zeit zu haben. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie spricht von einem »Orientierungsrahmen« von 65 Fällen pro Fachkraft, die Gewerkschaft Ver.di fordert eine Obergrenze von 28 Fällen. In der Realität liegen die Fallzahlen pro Fachkraft teilweise bei über 100.

Führt man sich vor Augen, dass es hierbei oft um Fälle des Kinderschutzes geht, wird einem das Ausmaß dieser Katastrophe bewusst. Schon die verspätete Bearbeitung eines Falles kann hier über Leben oder Tod entscheiden. Der Kindernotdienst (KND) ist seit Jahren überlastet, im März schreiben Mitarbeiter:innen in einer Überlastungsanzeige: „Wir können die Kinder, die aufgrund von Misshandlungen oder Vernachlässigungen in ihrem Elternhaus im Kindernotdienst aufgenommen werden, trotz großer Anstrengung nicht vor der gewaltvollen Atmosphäre schützen“. Laut der Jugendverwaltung sind von 33,5 Stellen im Betreuungs- und Kriseninterventionsbereich des Kindernotdienstes eine Erzieher-, und zwei befristete Pflegestellen offen, außerdem eine Hauswirtschaftsstelle. Die Notdienste verzeichnen teilweise eine Überbelegung von fast 100%. In den letzten fünf Jahren wurden knapp 400 Plätze gestrichen. In einem behördeninternen Brief der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie an die Jugendämter wird darum gebeten, derzeit möglichst keine Jugendlichen in den Berliner Notdienst Kinderschutz zu schicken. Ein abstruser Vorschlag, wo doch der Notdienst die letzte Zuflucht für Kinder bspw. aus gewalttätigen Elternhäusern ist.

Dass die Notlage der Kinder- und Jugendhilfe nicht wieder in der Lumpenkiste versauert und nur bei medial hochgeputschten Skandalen oder bei der nächsten Wahl wieder hervorgeholt wird, dafür müssen die pädagogischen Fachkräfte selbst sorgen. Am 8.2. protestierten bereits die GEW Berlin sowie der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) vor dem Roten Rathaus. Viele weitere Proteste müssen folgen, für bessere Kitas, bessere Schulen, mehr Jugendzentren, besser ausgestattete Jugendämter und für eine Kinder- und Jugendhilfe, die ihrem eigenen Anspruch gerecht werden kann. Wie der Bau der Bullenwache am Kotti oder der wahnsinnigen A100 durch die Stadt zeigen, sind die Gelder da. Es sind bewusste Entscheidung, wofür sie ausgegeben werden und wofür oder für wen nicht.

# Frederik Kunert arbeitet als Sozialarbeiter in Berlin-Mitte und war zuvor einige Jahre an Berliner Grundschulen als Integrationserzieher tätig.

# Titelbild: DBSH, Proteste vor dem Roten Rathaus

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Von Bahram Ghadimi
Übersetzung von Haydar Paramaz

Leila Hosseinzadeh ist Masterstudentin der Anthropologie. Sie hat hauptsächlich an der Universität, als Aktivistin der Studentenbewegung gearbeitet und ist als eine der kämpfenden und widerständigen Frauen im Iran bekannt. Zusammen mit einer Gruppe von studentischen Aktivist:innen wurden sie Ende der 2000er Jahre Zeugin des Scheiterns der „Grünen Bewegung“ an der Universität und erlebte das anschließende erstickende Klima der Gesellschaft. Sie alle waren politisch Links orientiert und in der Regel waren sie Kinder der Arbeiterklasse. Folgendes Interview mit Leila Hosseinzadeh, entstand nur wenige Tage nach ihrer bedingten Entlassung aus dem Gefängnis, unter ständiger Bedrohung durch Regierungskräfte. Damit beabsichtigen wir einen weiteren Teil der sozialen Bewegung im Iran, mit den Worten der Aktivist:innen vor Ort, vorzustellen. (Triggerwarnung: Im Interview erzählt Leila von ihrer Haftzeit und beschreibt Folter und sexualisierte Gewalt.)

Du hast lange Zeit politisch im universitären Umfeld gearbeitet. Wie kam es dazu, dass Deine Arbeit diesen Bereich verließ und ein viel breiteres Spektrum an Menschen ansprach?

Während wir Verbindungen innerhalb von Universitäten knüpften, stellten wir fest, dass unsere Schicksalsgenossen nicht nur an Universitäten sind; Wenn wir das Recht auf kostenlose Bildung wollen, sind wir bereits Verbündete der Lehrergewerkschaftsbewegung, wenn wir gegen Privatisierung sind, sind wir Verbündete der Arbeiterbewegung; Wenn in der Universität der Slogan skandiert wurde: “Student, Lehrer, Arbeiter, Einheit! Einheit!”, hatte es nicht nur eine theoretische oder ideelle Grundlage. Wir setzten eine gemeinsame Verteidigung und einen konkreten Widerstand praktisch um. Als die Regierung Mitte der 2010er Jahre den Praktikumsplan für Hochschulabsolventen und den Kaufplan für Lehrdienstleistungen durchführte, wurde diese Verbindung konkreter.

Mit diesem Plan setzte die Regierung Hochschulabsolventen ein, um die Beschäftigungs- und Gehaltssituation der Erwerbstätigen zu prekarisieren. Jetzt waren wir Studenten, Lehrer und Arbeiter in der selben Lage und stellten uns entsprechend gemeinsam auf. Die Kampagne gegen die Arbeitsausbeutung wurde von Studenten, Arbeitern, Lehrern, Journalisten, Intellektuellen und Rentnern durchgeführt. Aufgrund des starken Drucks unserer Bewegung wurde der Praktikumsplan schließlich abgesagt.

Aber diese Kampagne und Versammlung hatte auch darüber hinaus Wirkung. Die gemeinsame Teilnahme an drei Straßenprotestversammlungen für die Freilassung eines Gewerkschaftsarbeiters, Reza Shahabi, aus dem Gefängnis zum Beispiel. Eine der letzten Nachrichten, die in der Telegram-Gruppe der Kampagne 2017 gepostet wurde, war: “Lasst uns unter dem Eingang der Teheraner Universität versammeln”, Wenige Minuten später wurde der Ort zum einzigen Sammelpunkt in Solidarität mit dem Volksaufstand vom „Dezember 2017- Januar 2018“. Zwei grundlegende Parolen wurden dort zum ersten Mal gerufen: “Reformisten, Fundamentalisten, es ist vorbei” und “Wir wollen keinen König, wir wollen keinen Mullah, wir wollen die Gründung von Räten”. Ersterer wurde zum Hauptslogan des Aufstands. Sehr bald waren die Mainstream-Medien der Regierung und der Opposition mit dieser Frage beschäftigt, ob es wirklich „vorbei“ sei.

Diese Frage konnte man allerdings nur stellen, wenn man die soziale Situation im Iran irgnorierte.

Das es vorbei sei, war keine Vorhersage der Zukunft, sondern eine Beschreibung des damaligen Stands der iranischen Politik. Diese Parole wurde aus den Herzen jener Kraft geschrien, die jahrelang versucht hatte, die einheitliche Rolle des Staates in der politischen Ökonomie aufzuzeigen  und darlegen wollte dass der Dualismus zwischen Reformlager und konservativen nur ein Scheinverhältnis ist. Es waren die jungen Studenten, die Anfang der 2010er Jahre, besonders mit der Amtseinführung von Rohanis Regierung, zusammen mit vielen anderen Menschen zu der allgemeinen Einsicht gelangt waren, dass diese Kabinette alle gleich sind.

Nach den Aufstandstagen im Januar 2018 schrieben einige in den sozialen Medien mir diesen Slogan zu. Das ist falsch. Die Parole kam aus dem Herzen einer kollektiven Kraft und war das Ergebnis jahrelanger kollektiver Kämpfe und Bemühungen. Die zweite Parole für die Gründung der Räte konnte sich leider nicht durchsetzen, da sie medial boykottiert wurde. Nichtsdestotrotz werden, wo immer es geht, Räte als Machtorgane gegründet: in Gilan, Aserbaidschan, Kurdistan, in der turkmenischen Sahara, in Fabriken, Universitäten etc.

Wie siehst Du, angesichts des hohen Anteils von Studentinnen, die Rolle der Frau in dieser Bewegung?

Als die Studentenbewegung Fortschritte machte und wuchs, konnte sie mit Hilfe einer klaren Klassenlinie ihre objektive Schicksalsgemeinschaft mit anderen unterdrückten Gruppen besser verstehen. Von Anfang an spielten Frauen eine aktive Rolle bei der Entstehung dieser Bewegung und sie kämpften für die Abschaffung der Geschlechterunterdrückung. Das Ergebnis dieses Kampfes war, dass in allen Stellungnahmen der Studentenbewegung Gender-Forderungen betont und Gender-Unterdrückung gesondert und mit Nachdruck dargestellt wurden. Parolen wie „Mädchenwohnheim: Gefängnis!“ gehörten neben anderen Slogans zu den Parolen, die von den ersten Versammlungen der Bewegung erhoben wurden. Der Frauenwiderstand im Herzen der Studentenbewegung brachte auch konkrete Erfolge: Die Wohnheimbewohnerinnen des Mädchenwohnheims der Universität Teheran ignorierten mit kollektiven Protestaktionen in den Jahren 2018-2019 die gesetzlichen Ein- und Ausgangszeiten

Im Mai 2018 organisierte die Studentenbewegung als Reaktion auf die Gründung einer Sittenpolizei auf dem Kampus der Universität Teheran eine Versammlung von 2.000 Studenten, deren Hauptslogan „Brot, Arbeit, Freiheit! Freiwillige Kleidung!“ lautete. Die Studentenbewegung schritt mit einem Verständnis über die Schicksalsgenossenschaft der unterdrückten Gruppen und der Notwendigkeit ihrer Einheit voran. Am Studententag 2017 erzählten in einer Protestversammelung unter dem Titel „Wir sind die Stimme der Geschichte“, Studenten, Arbeiter, Lehrer, Frauen und Vertriebene (wegen Wasserknappheit) über ihre Unterdrückung und über ihren Widerstand und riefen schließlich gemeinsam: „Wir sind die Stimme der Geschichte”. Bei der Protestaufführung in der Allameh-Universität und der Universität Teheran im Jahr 2019, stießen Menschen, die von Nationaler und religiöser Unterdrückung betroffen sind und Migranten dazu. Ich selbst wurde 2018 tagelang in meiner Haft verhört, um preiszugeben, wer den Text der Protestperformance am Studententag verfasst hatte.

Warum wurdest Du verhaftet?

Ich wurde im Januar 2018 wegen meiner Teilnahme an der Kundgebung am 30. Dezember 2017 am Eingangstor der Universität Teheran im Zusammenhang mit dem Volksaufstand verhaftet. Außer mir wurden etwa 50 weitere Studenten im Zusammenhang mit dieser Kundgebung festgenommen. Ich wurde wegen meiner gesamten Tätigkeitsgeschichte bis Dezember 2017 verhört, und schließlich verurteilte mich das Gericht zu sechs Jahren Haft. In der Anklageschrift gegen mich stand, dass ich Sozialistin bin, an Kundgebungen der Studentenbewegung teilgenommen habe, an Kundgebungen für die Freilassung des inhaftierten Arbeiters Reza Shahabi teilgenommen haben, an der Gründung einer Kampagne gegen Arbeitsausbeutung beteiligt war und an der Versammlung im Zusammenhang mit dem 2017-2018 Aufstand teilgenommen habe.

Mit massiven Verhaftungen nach dem Januar-Aufstand wurde die Studentenbewegung stark unter Druck gesetzt. Allein an einer Universität wurden Studenten zu mehr als 100 Jahren Haft verurteilt. Damals dachten wir, die Arbeit der Studentenbewegung sei beendet. Einige kritisierten die Ereignisse und sagten, man hätte eine organisierte soziale Bewegung nicht für einen Straßenaufstand verausgaben sollen. Als ich und eine Gruppe anderer mit der gleichen Haltung dachten, dass die Arbeit erledigt war, und als wir an die langen Jahre unserer Gefangenschaft dachten, sagten wir uns, dass es sich trotzdem gelohnt hatte. Wir hatten unsere historische Pflicht, Studenten zu sein, erfüllt und den unterdrückten Massen zur Seite gestanden. Einige von uns waren nicht dafür gewappnet, diesen hohen Preis zu zahlen. Die Repression war hart. Wir hätten nicht einmal gedacht, dass die Universität nach dieser Repression aufstehen und Widerstand leisten könnte, aber so ist es gekommen. Von März 2018 bis Mai 2018 organisierten mehr als 40 Universitäten und Hochschulen machtvolle Kundgebungen und Proteste, um gegen die hohen Haftstrafen von studentischen Aktivisten zu protestieren.

In der Studentenbewegung haben wir mit leeren Händen begonnen und wir haben die Erhöhung der Sozialkosten für zwei Jahre gestoppt, wir haben die Privatisierung der Wohnheime gestoppt, wir haben die Anzahl der kostenlosen Bildungsjahre mit unserem Widerstand etwas erhöht, aber wir haben uns im Hinterkopf immer einsam gefühlt, zumal all diese Fortschritte nicht nur unter Repression, sondern auch unter schlimmster Stigmatisierung erkämpft wurden. Dann stellten wir fest, dass wir nicht allein waren. Im Gegensatz zu dem, was viele von uns dachten, war die Universität nicht am Ende, sie wehrte sich und ihr Widerstand zahlte sich aus. Die Urteile der Studenten wurden gekippt und viele Urteile konnten nicht vollstreckt werden. Meine Haftstrafe wurde auf zweieinhalb Jahre reduziert.

Die Studentenbewegung ist in Abwesenheit vieler von uns, die sie begonnen hatten, bis Ende 2020 vorangeschritten und erst mit der Sicherheitsschließung der Universitäten von Ende 2020 bis Mai 2022 konnten sie das Voranschreiten der Studentenbewegung abbremsen. Gegen den Widerstand der Universität wurde ihre Schließung durchgesetzt. Aber selbst die Schließung der Universität funktionierte am Ende nicht, und mit der Wiedereröffnung im Mai 2022 nahmen die Studenten ihre Aktivitäten wieder auf und leisteten einen einzigartigen und aktiven Widerstand im Jina Aufstand.

Wurdest Du erneut festgenommen?

Ich wurde im Sommer 2019 erneut verhaftet, diesmal von den Revolutionsgarden, sie fragten nach den Protesten und Streiks der Haftpeh-Arbeiter im November 2018. Damals wurde eine Reihe von Kundgebungen an verschiedenen Universitäten zur Unterstützung von Haftpeh abgehalten. Der Hauptslogan war: „Wir sind die Kinder der Arbeiter, wir stehen an ihrer Seite“.  Sie verhörten mich über marxistische Gruppen und Medien und verurteilten mich schließlich zu 5 Jahren Gefängnis. Die Vorwürfe waren: abhalten einer Kundgebung zur Unterstützung des inhaftierten Derwisch Studenten Mohammad Sharifi Moghadam. Dieses schwere Urteil erschien allen absurd, denn wir hatten lediglich für unseren inhaftierten Freund eine Geburtstagsfeier vor der Sharif University of Technology abgehalten. Mit dieser neuen Akte schickten sie mich ins Gefängnis und vollstreckten die Gefängnisstrafe im Zusammenhang mit der Verhaftung von 2018. Im Gefängnis wurde bei mir eine unheilbare Autoimmunerkrankung diagnostiziert, zwei Monate nach Auftreten der Symptome wurde ich aus medizinischen Gründen beurlaubt. Meine Augen wurden von der Krankheit befallen und mir drohte die Erblindung. Die Rechtsmediziner bescheinigten, dass ich nicht haftfähig bin und meine Freilassung wurde beschlossen.

Im November 2021, als ich mich auf einer Urlaubsreise befand, wurde ich dann erneut vom Geheimdienst in Shiraz festgenommen. Ich wurde im Untersuchungsgefängnis des Shiraz-Geheimdienstes schwer körperlich misshandelt. Die Vernehmungsbeamten übten viel körperlichen und seelischen Druck aus. Sie hatten mich ohne Anklage festgenommen und planten, durch die Inhalte meines Telefons und mit einem Geständnis ein Verfahren gegen mich einzuleiten. Ich habe mich in beiden Fällen dagegen gewehrt. Sie konnten das Passwort des Telefons nicht knacken und ich sagte ihnen: “Ich werde vor euch nicht einmal gestehen, dass ich atme.” Nach einem Monat psychischer und physischer Misshandlung, wegen denen meine Krankheit wieder ausgebrach, ließen sie mich aufgrund des öffentlichen Drucks gegen eine hohe Kaution frei. Zwei Monate nach meiner Entlassung erfuhr ich, dass ich eine neue Autoimmunerkrankung hatte. Die Repression ließ jedoch nicht nach, sie eröffneten ein Verfahren gegen meinen Bruder und luden ihn vor und sie belästigten meinen Vater immer und immer wieder. Im August 2022 wurde ich in Teheran vor meinem Haus gewaltsam festgenommen.

Dieses Mal weigerte ich mich am Eingang des Teheraner Geheimdienstgefängnisses sogar, meine Personalien preiszugeben. Ich weigerte mich, verhört zu werden, und sie hielten mich rechtswidrig fünf Monate lang in Untersuchungshaft. Sie sagten, dass ich mit einer Gruppe politischer Gefangener bestrebt wäre, eine Erklärung zu veröffentlichen. Sie legten mir den Text der Erklärung vor, es war eine Fünf-Punkte-Erklärung, die die Prinzipien des Kampfes und einer alternativen Regierung spezifizierte. Ich sagte ihnen, wenn ein Text veröffentlicht wird und mein Name darauf steht dann lasst uns reden, aber das war nicht der Fall.

Nach fast einem Monat wurde ich ins Adel-Abad-Gefängnis in Shiraz gebracht, tatsächlich kam ich in eine Art inoffizielle Verbannung, weil Shiraz weder mein Wohnort noch meine Heimat war und auch nichts mit den Anschuldigungen in meiner neuen Akte zu tun hatte. Sie versuchten mich so viel wie möglich zu quälen und zu entrechten. Seit meiner Verhaftung war es mir einen Monat lang verboten gewesen, Kontakte zu haben und als sie mir endlich erlaubten, jemanden anzurufen, entzogen sie mir das Recht, meinen Anwalt zu kontaktieren. Sie entzogen mir medizinische Behandlung und zwangen mir einen Arzt auf, bei dem ich mich gezwungen sah in einen Medikamentenstreik einzutreten. Davor war ich wegen der Verhängung der strenger Einschränkungen schon einmal in einen Hungerstreik getreten, diesen beendete ich als die Auflagen aufgehoben wurden. Diesmal hatte mich die Regierung dank eines Briefes meiner ehemaligen Mitgefangenen aus dem Frauentrakt des Evin-Gefängnisses, der Unterzeichnung einer Petition durch Studenten und Professoren, der Abhaltung von Protestkundgebungen an meiner Fakultät und öffentlichem Protest auf Twitter nach fünf Monaten der rechtswidrigen Inhaftierung freigelassen.

Der Geheimdienst hat mich letzte Woche (3. bis 11. März 2023) erneut vorgeladen. Ich habe gesagt, dass eine telefonische Vorladung illegal ist. Sie sagten, dass sie kommen und mich mitnehmen würden, noch ist nicht klar, wann sie ihre Drohung wahrmachen werden. Als ich vorübergehend im Gefängnis von Adel Abad inhaftiert war, gaben sie mir einen Bescheid über die Vollstreckung der fünfjährigen Haftstrafe. Sie betrachteten mich als abwesend und als flüchtig, weil ich nicht zum Haftantritt erschienen war und jetzt haben sie eine Anordnung erlassen, mein Eigentum zu beschlagnahmen. Jetzt muss ich ihnen erklären, dass ich nicht ins Gefängnis gekommen bin, um die fünfjährige Haftstrafe zu verbüßen, weil ich wegen eines anderen Falls in einem anderen Gefängnis inhaftiert war und nicht von Gefängnis zu Gefängnis kommen konnte.

Wie behandelten die Regierungstruppen Dich und andere Gefangene zum Zeitpunkt der Verhaftung und später in den Gefängnissen?

Die Art und Weise der Behandlung hängt ganz davon ab, wer welcher politischen Kraft angehört und wo man festgehalten wird und auch, wie viel in den Nachrichten über jemanden berichtet wird. Abgesehen davon hängt es auch mit der Zeit der Inhaftierung zusammen. Alle diese Parameter bestimmen das Ausmaß der Gewalt und des Drucks.  Die Situation außerhalb von Teheran ist sehr schlecht. Manche Gefängnisse sind viel schlimmer als andere. In Teheran sind die Haftbedingungen für politische Gefangene besser als in anderen Städten, aber die Bedingungen sind nicht für alle gleich und die Tatsache, dass die Bedingungen besser sind, bedeutet nicht, dass die Bedingungen gut sind. In den letzten Jahren wurden Bektash Abtin und Behnam Mahjoubi im Evin-Gefängnis getötet, indem sie keine medizinische Versorgung erhielten und ihnen die falschen Medikamente verabreicht wurden und das im Evin Gefängnis, das über die besten Einrichtungen unter den iranischen Gefängnissen verfügt.

Machen Regimekräfte einen Unterschied im Umgang mit politischen Gefangenen und Gefangenen, denen keine politische Aktivität vorgeworfen wird?

Ja. Abgesehen von den Festgenommenen aus Massenprotesten, bei denen die Sicherheitskräfte keine Gewaltanwendung scheuen, ist in anderen Fällen die systematische Gewalt der Polizei gegen nichtpolitische Häftlinge, insbesondere bei Mord- und Drogendelikten, weitaus höher als bei politischen Gefangenen. Das gilt jedoch nicht für politische Gefangene von marginalisierten Völkern wie Kurden, Arabern und Belutschen sowie einige andere politische Gefangene, gegen die sehr schwere Anklagen erhoben werden. Wir haben politische Häftlinge, die des Attentats oder der Sabotage angeklagt sind und deren Folterniveau unvergleichlich ist. Häftlinge, denen Mitgliedschaft in politischen Organisationen vorgeworfen wird erleben in der Regel sehr lange Phasen der Isolationshaft und des Drucks. Auch in Haftfällen, die in das Spannungsfeld zweier Geheimdienstbehörden geraten, wie z.B. bei Umweltaktivisten, ist das Ausmaß des Drucks und die Dauer der Inhaftierung in der Sicherheitshaftanstalt sehr sehr hoch.

Diejenigen, die wegen unpolitischen Anschuldigungen festgenommen werden, erfahren jedoch ein höheres Maß an systematischer Gewalt als diejenigen, die als Aktivisten auf ziviler Ebene und mit medialer Berichterstattung festgenommen werden, insbesondere wenn es keine Straßenproteste gibt.

Gibt es einen Unterschied in der Repression gegenüber männlichen, weiblichen & transgender Gefangenen ?

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass der Vernehmungsdruck auf weibliche Inhaftierte um ein Vielfaches gestiegen ist. In den jüngsten Aufständen waren viele Frauen sogar sexueller Belästigung und Übergriffen ausgesetzt. Abgesehen davon wurden viele Frauen beschimpft oder mit moralischen Argumenten stark unter Druck gesetzt. Ich weiß nichts über die Bedingungen von Transgender-Häftlingen, aber ich vermute, sie werden einer größeren Gewaltanwendung ausgesetzt sein als männliche Häftlinge. Das Problem ist nicht, dass Männer nicht Gewalt und Druck ausgesetzt sind, sie werden sogar häufiger geschlagen und körperlich angegriffen. Aber Demütigung, Druck und schlechte Behandlung von Frauen haben stark zugenommen.

Hatten die politischen Gefangenen Kontakt zu denen, die nicht politischer Aktivität beschuldigt wurden? Haben sie sich gegenseitig beeinflusst?

Es hängt davon ab, in welchem Gefängnis man inhaftiert ist und ob es in diesem Gefängnis politische Gefangene gibt oder nicht. In den Gefängnissen, in denen es eine politische Abteilung gibt, wird versucht, die Interaktionen zwischen politischen Gefangenen und nichtpolitischen Gefangenen so weit wie möglich zu minimieren. Es gibt ein Gesetz zur Trennung von Straftaten, das in einigen Gefängnissen streng umgesetzt wird, aber wo immer es eine Möglichkeit für Kontakt gibt, sofern es ein gesunder Kontakt ist, kommt es definitiv zu nachhaltigen gegenseitigen Auswirkungen. Gefängnisbeamte versuchen, politische Gefangene vor nichtpolitischen Gefangenen schlecht aussehen zu lassen. Einerseits versuchen sie, indem sie politischen Gefangenen wenige Privilegien einräumen, ihren Protestgeist zu kontrollieren, andererseits täuschen sie mit diesen Privilegien vor den Augen nichtpolitischer Gefangener Ungleichheit vor. Auf der Grundlage dieser Ungleichheit versuchen sie, politische Gefangene als „Herren“ darzustellen, die nichts über den Schmerz sozialer Gefangener wüssten. Dies ist ein allgemeiner Mechanismus, sie verwenden auch spezifischere Mechanismen. Als sie mich zum Beispiel in die Gemeinschaftszelle der Drogendelikt-Gefangenen schicken wollten, warnten sie die Gefangenen durch den Vertreter des Raums, dass ich psychologische Probleme hätte und verrückt sei. Deshalb sollten sie mich meiden. Die anderen Häftlinge hatten zufällig die Neuigkeiten, die es über mich gab, von ihren Familienangehörigen gehört. Das überzeugte sie, dass ich nicht verrückt war und sie mit mir befreundet sein können.

Schreiben Folterüberlebende Berichte über die Aktionen des Regimes? Wenn nicht, hältst Du es für notwendig, diese Zeugnisse aufzuzeichnen?

Einige schreiben und dennoch erzählen viele von denen, die Folter und Druck erlitten haben, aufgrund des Drucks der Polizei nichts. Andererseits finde ich es wichtig, wie man Druck- und Foltererfahrungen erzählt. Seit vielen Jahren ist im Narrativ über die Folter, die Skandalisierung des Staates hegemonial. Natürlich sollten die Folterer mit jeder Erzählung entlarvt werden, aber wenn der dominierende Diskurs in der Erzählung nur diese Skandalisierung ist, werden andere Aspekte der Erzählung vernachlässigt oder mit der Zeit unwichtig. Eine festgenommene gefolterte Person wird zum reinen “Opfer”, die Fortsetzung dieses Ansatzes führt zum Verlust ihrer revolutionären politischen Bedeutung. Der Skandal stößt an dem Punkt an seine Grenzen, wenn es dem Staat nicht mehr um die Aufrechterhaltung der Legitimität geht und dieses Feld bereits verlassen hat.

In einer solchen Situation ist vielleicht wichtiger als Dokumentationen, den Zugang zur Erzählung zu ändern: Das Erzählen von Folter und Druck sollte Möglichkeiten und Strategien des Widerstands aufzeigen. Wir müssen das Narrativ der Kämpfer aufbauen, die Druck, Folter und Misshandlungen ausgesetzt waren und trotz intensivsten Leidens standgehalten haben, damit wir den Mut und die Bereitschaft in uns selbst stärken, die nötig sind, um Folter und Unterdrückung zu eliminieren. Wir sollten uns mit der Eskalation der Wut über das Verbrechen und der Stärke unserer Hoffnung und unseren Mutes beschäftigen. Dann sind wir in der Lage, die Folterer zu beschämen, während wir uns ermächtigt fühlen, sie zu vernichten. Wir müssen unseren Schmerz und unser Leid, dass uns die Unterdrücker aufgezwungen haben, teilen, um weiter voranzukommen, weiterzumachen und mutiger zu sein, nicht wegen der Hoffnung auf Rache oder der Angst vor dem Monster des Folterers. Wir müssen von Folter und Misshandlungen erzählen, damit wir das Foltersystem als etwas besiegbares begreifen.

Kannst Du uns etwas über die Solidarität und den Widerstand politischer Gefangener erzählen, im Gefängnis oder nach ihrer Entlassung?

Ich denke, dass ein Grund für die Freilassung politischer Aktivisten während einer Generalamnestie darin besteht, dass der Sicherheitsapparat leider besser und früher als die Aktivisten selbst, ihre Potenziale und Möglichkeiten erkennt. Der Prozess, der seit Anfang dieses Jahres stattfindet und bei dem die meisten politischen Aktivisten bereits vor Beginn des Jina-Aufstands auf unterschiedliche Weise ins Gefängnis kamen, schuf Potenziale im Gefängnis. Im Laufe der Zeit wurden diese Potentiale sichtbarer. Kürzlich haben wir gesehen, wie Gefangene kollektive Solidaritätsbotschaften aneinander sendeten und aus verschiedenen politischen Spektren zusammenkamen, um sich gegenseitig zu verteidigen. Diese Solidaritätsbekundungen zwischen verschiedenen Gefängnissen könnten und sollten meiner Meinung nach eine größere und radikalere Ebene annehmen. Es war möglich, dass die Solidarität allmählich und mit dem Fortschritt der Gespräche in den Gefängnissen übergehen würde in die Thematisierung strategischer Punkte. Ich glaube, dass die Regierung diese Gefahr früher als die politischen Gefangenen selbst erkannt hat und deshalb der Freilassung der politischen Gefangenen zugestimmt hat.

Diejenigen, die unter den schlimmsten Belastungen und Leiden zusammengelebt haben, sollten sich nach der Freiheit logischerweise nicht einfach verlassen. Aus diesem Grund bringt das Gefängnis mit all seinen Leiden, Nähe und Sympathie und schafft neue Bindungen. Das heißt, es schafft neue Möglichkeiten auch in der Freiheit. Ich spreche hier vom Gefängnis nach 2018, einem Gefängnis voller junger Menschen, offen und gesprächsbereit, insbesondere in den Frauengefängnissen, wo Sympathien für die aktuellen Probleme des Gefängnisses oft die Barriere früherer Distanzen durchbrechen können. Um ehrlich zu sein, selbst wenn ich frei bin, kann ich nicht umhin, mir Sorgen um Niloufar Bayani oder Mahosh Zabet zu machen. Viele von uns bleiben nach der Haft befreundet und sprechen über politisches Handeln. Diese einfachen Dinge bergen Möglichkeiten. Möglichkeiten, die viele von uns nicht sehen wollen. Ich spreche von der Möglichkeit, andere Kräfte zu sehen und zu berücksichtigen und neuen Aktivismus zu schaffen, einen Dialog zwischen Kräften zu führen, die nicht vereint sind, sich aber in einigen Bereichen gegenseitig unterstützen können. Das ist die Möglichkeit, die das Gefängnis innerhalb und außerhalb seiner selbst für die Solidarität unterschiedlicher Aktivisten schafft.

Wie wirkt sich Deiner Meinung nach die Patenschaft durch Parlamentarier und westliche Staatsmänner auf die Lage der Gefangenen des jüngsten Aufstands und die Abschaffung der Todesstrafe aus?

In meinem Fall habe ich der Diskussion um eine Patenschaft nicht zugestimmt, weil für mich keine unmittelbare Lebensgefahr besteht. Gleichzeitig wollte jemand aus dem Bundestag netterweise meine Patenschaft übernehmen. Für mich blieb die Frage über das Verhältnis zwischen diesen Vertretern und der deutschen Regierung, welche Repressionsinstrumente an die iranische Regierung verkauft, unbeantwortet. Insbesondere, da es hier auch um die SPD geht. Ich kenne mich nicht mit der aktuellen deutschen Innenpolitik aus, aber eine junge Studentin im Iran vergisst nie, dass die deutsche Revolution 1919 von der sozialdemokratischen Regierung unterdrückt wurde und das unter der Herrschaft der SPD Luxemburg und Liebknecht ermordet wurden. Dies war ein wichtiger historischer Moment für das Schicksal des Sozialismus in der Welt. Ich habe die informierten Leute gefragt, und sie sagten, die deutsche Sozialdemokratie sei heute nicht kritischer und linker als damals. Für mich ist das der Grund für meine Ablehnung einer Patenschaft. Ich denke bei Fällen, wo das Leben in Gefahr ist, sollte man bestehende Möglichkeiten nutzen.

Beim jüngsten Massenaufstand im Iran gab es sehr viele Verhaftungen und Folter. Haben sich in einer solchen Situation die Haftbedingungen für politische Gefangene geändert?

Sowohl für die Regierung als auch für die Gefangenen sind die Bedingungen schwieriger geworden. Die Regierung kämpft jeden Tag mehr mit der Haushaltskrise, und die Befriedigung des unersättlichen Hungers der Wirtschafts- und Militärmafia verschlingt einen immer größeren Teil des Budgets. Die Proteste werden breiter und die Unterdrückungsinfrastruktur in vielen Städten reicht nicht aus. Dadurch werden die Bedingungen für die Inhaftierten noch unmenschlicher. Die Bevölkerungsdichte nimmt zu, die Haftplätze sind gering und sie verwenden ungeeignete Orte, um die Häftlinge festzuhalten, diese sind mit Nahrungsmangel konfrontiert und so weiter. Dies war einer der Gründe für die Freilassung der Gefangenen, zumal ich denke, dass die Regierung neue Proteste kommen sah und mit dieser Vielzahl an Gefangenen mit einer ernsten Krise konfrontiert werden würde. Darüber hinaus bringt das Festhalten von Demonstranten unter solchen Bedingungen das Risiko von Ausschreitungen innerhalb des Gefängnisses mit sich.

Was hat Dich ermutigt und Dir Kraft gegeben, auch im Gefängnis Widerstand zu leisten?

Vieles hat mich am Laufen gehalten. Als ich 2019 im Gefängnis war, ging ich in Gedanken Schritt für Schritt zum logischen Ende von allem. Oft habe ich mir folgende Fragen gestellt: Wie weit will ich noch weitermachen und wozu? Ich suchte in meinem Kopf und das ausschlaggebendste Bild, das meine Frage beantwortete, war das Bild meiner Eltern. Diejenigen, die mir ständig und jedes Mal sagten, ich solle wegen ihnen aufhören mit meinem Aktivismus, ich solle abbrechen und aussteigen. Sie waren mein Hauptgrund, zu überleben und weiterzumachen. Mein Vater hatte gearbeitet, seit er sechs Jahre alt war, er hatte die Schule wegen der Arbeit versäumt. Aber nicht nur wegen der Arbeit. Sein Vater hatte ihn zur Einschulung mitgenommen, der Schulleiter hatte Geld verlangt, das sein Vater nicht zahlen konnte und er hat deswegen die Schule versäumt. Später lernte er von seinem Vorarbeiter lesen und schreiben und noch später nahm er an Abendschulprüfungen teil. Er hat immer gesagt, dass er bereit ist, alles zu geben, damit wir studieren können und er war wirklich bereit und ist es noch heute, wo er fünfundachtzig Jahre alt wird.

Meine Mutter hat wie mein Vater ihr ganzes Leben lang gearbeitet, nicht nur im Haushalt, sondern seit ihrer Kindheit Teppiche geknüpft. Sie hat Teppiche geknüpft, bis die Nerven in ihren Händen geschädigt wurden, sie Rückenleiden bekam, ihre Augen schwächer wurden und sie an Lungenproblemen erkrankte. Auch sie hat es versäumt, zur Schule zu gehen, denn sie wurde sehr schnell verheiratet und hat ihr ganzes Leben lang dafür gearbeitet, dass sich unser Leben ändert. Nein! Ich mag es wirklich nicht, dass die Welt so weitergeht, wo manche Menschen die einfachsten Gaben des Lebens und der Gesellschaft verpassen und ihr ganzes Leben lang arbeiten. Als ich an meine Eltern dachte, wollte ich kämpfen, bis ich sterbe. Und auch wenn wir nicht gewinnen, bin ich froh, dass ich für eine gerechtere Welt gekämpft habe.

In Adel Abad brauchte es keine Vorstellungskraft und Bilder, denn die Not der Frauen stand vor meinen Augen. Ich war unter den Drogengefangenen, und vor meinen Augen waren die Sehnsucht nach Schule, die Arbeitslosigkeit, die Kinderehe, die Nöte der Alleinerziehung. Ich war mitten in der Hölle, gegen die ich kämpfte. Viele Male, besonders wenn mich das Leiden meiner Schwestern im Gefängnis wütend machte, dankte ich in meinem Herzen der Regierung dafür, dass sie mich hergeschickt hatte, um Zeuge jener Hölle zu werden, die sie für das Leben der Menschen geschaffen hat. Einmal sah ich eine Frau in Adel Abad, die minderjährig verheiratet worden war (wie die meisten inhaftierten Frauen in Adel Abad), ihr Mann hatte sie jahrelang vergewaltigt und sie durfte sich nicht scheiden lassen. Wenn ich „Vergewaltigung“ sage, ist das keine Metapher, ich übertreibe nicht, ich verwende dieses Wort nicht symbolisch. Im Laufe der Jahre hatte ihr Mann kein einziges Mal Vaginalsex mit ihr, er hatte sie mit Gewalt zu Analsex gezwungen. Um die Geschichte zusammenzufassen: Sie war wegen des Verbrechens der erzwungenen Scheidung zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Ja, wegen des Verbrechens der erzwungenen Scheidung, weil sie ihren Ehemann als Geisel genommen und einen Mullah entführt hatte, damit er das Scheidungsurteil erlässt. Ihr Komplize wurde hingerichtet.

Dies ist eine der traurigsten Geschichten von Frauen im Adel-Abad-Gefängnis. Sag mir, warum wir  nicht bis zum Tod kämpfen sollten? Was wollen wir außer einer menschlicheren Situation, außer einer gerechten Situation, in der die politische und wirtschaftliche Struktur und der Staat die Menschen nicht zu Wölfen machen? Unsere Hände sind leer, wir haben nichts außer unseren müden und leidenden Körpern. Was haben wir zu verlieren? Unsere Leben? Ist sich irgendjemand dieses elenden Lebens sicher genug, um sich zurückziehen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass meine Wut, mein Glaube und mein Kampfgeist gewachsen sind, als ich meine Schwestern in Adelabad sah.

#Titelbild: eigenes Archiv.

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Seit knapp zwei Monaten greift der faschistische türkische Staat wieder großflächig Gebiete in Rojava an. Diese erneute militärische Operation mit dem Namen “Klauenschwert” zeichnet sich dabei vor allem durch wahllose Angriffe auf zivile Infrastruktur aus, der revolutionäre Geist Rojavas soll mit allen Mitteln des Spezialkrieges gebrochen werden. Drohnen-Attentate, Flugzeugangriffe und Großflächenbombardements sind in Rojava unlängst wieder zum Alltag geworden. Überdies hat Erdoğan mehrmals mit einer Bodenoffensive bis tief in die Gebiete der Autonomen Selbstverwaltung gedroht. Wir haben mit Kämpferinnen von YPJ-International über ihre Einschätzung der Lage, ihre Gründe vor Ort zu sein und ihren Appell an uns Linke in Deutschland gesprochen. YPJ-International ist eine Einheit aus Frauen und umfasst internationalistische Freiwillige aus verschiedenen Ländern der Welt und ist strukturell an die vielfältigen Verteidigungseinheiten Rojavas angebunden. Das Interview entstand im Dezember 2022.

Warum habt ihr euch entschieden, Teil von YPJ-International zu werden? Werdet ihr auch in Zukunft dort bleiben?

Zunächst wollen wir euch erst einmal für euer Interesse und eure Fragen danken. Es ist wichtig, insbesondere in Zeiten des intensivierten Angriffs miteinander im Austausch zu bleiben und internationalistische Perspektiven aufzubauen.
Die Gründe, sich den Frauenverteidigungseinheiten YPJ anzuschließen, sind vielfältig und oft auch mit persönlichen Erfahrungen verknüpft. Dennoch lässt sich feststellen, dass viele von uns mit dem Leben innerhalb der durch Kapitalismus, Patriarchat und Staat zersetzten Gesellschaft nicht mehr einverstanden waren. In unserer Suche nach Alternativen schien uns die Revolution in Rojava Antworten zu bieten. Viele von uns haben bereits vorher die Analysen von Abdullah Öcalan gelesen und wollten an den Ort, wo nach seinen Ideen eine Revolution entsteht. Insbesondere als Frau liegt es oft nicht nahe sich einer bewaffneten Einheit anzuschließen. Zu groß die Zweifel am eigenen Können, zu fremd das Bild der kämpfenden Frau – auch wenn wir es mit Bewunderung auf Fotos wahrnehmen. Doch wir haben den Schritt gewagt und keine von uns hat ihn bisher bereut. Im Gegenteil, wir lernen uns selbst, die Revolution und den Befreiungskampf der Frauen täglich besser kennen und sind ein Teil davon geworden. Es ist wichtig zu verstehen, dass wir nicht in erster Linie hier sind, weil die Verteidigungseinheiten auf unsere Unterstützung angewiesen wären. Wir sind hier, weil wir ein Teil der Revolution, ein Teil der Antwort auf den faschistischen Angriff und ein Teil der Hoffnung auf eine freie Welt sein wollen. Einige von uns werden irgendwann in ihre Heimat zurückkehren und dort weiter für die Revolution kämpfen, doch aktuell sehen wir uns einer Offensive entgegen, die keine von uns ans Zurückkehren denken lässt. Wir haben dafür trainiert und uns vorbereitet, an der Seite der Freund*innen, Genoss*innen und der Menschen Nord- und Ostsyriens gegen den türkischen Faschismus Widerstand zu leisten.

Wie bewältigt ihr euren Alltag, euer Leben in der Gemeinschaft in der aktuellen Situation? Hat sich etwas grundlegend verändert? Wie ist eure Stimmung?

Der türkische Staat greift insbesondere die Infrastruktur, also Gas-, Strom-, Wasser- und Kraftstoffanlagen an. Das wirkt sich auf alle, die hier in Nord- und Ostsyrien leben, aus. Als militärische Einheit sind wir auf eine mögliche Bodeninvasion vorbereitet. Es war seit langer Zeit davon auszugehen, dass wir uns eines Tages erneuten Invasionsbestrebungen gegenüber sehen werden und die Revolution verteidigen müssen. Wir müssen jedoch feststellen, dass Rojava auch vor dem 19. November im Kriegszustand war, wenn auch in einem Krieg niederer Intensität. Einige Freundinnen sind nun an die Front gegangen, andere konzentrieren sich auf medizinische Notversorgung oder Pressearbeiten. In einer Situation wie dieser steigt natürlich das Arbeitslevel nochmal an und es entsteht auch mal Stress. Aber durch unsere Prinzipien und eine gemeinsame Planung und Bewältigung des Alltags können wir uns immer gegenseitig unterstützen und aufeinander achten. Die Stimmung ist kämpferisch.


Was bereitet euch am meisten Sorge und was sind eure Ängste? Was gibt euch Hoffnung und Moral?

Niemand von uns will Krieg, denn Krieg bedeutet immer Leiden, insbesondere für die Bevölkerung. Doch im Falle eines Angriffes, wie diesem, sind wir bereit die Revolution und die befreiten Gebiete zu verteidigen – bis zum letzten Blutstropfen. Wir können auf unsere eigene Stärke und ebenso auf die Freundinnen neben uns vertrauen. Das gibt uns Mut. Hoffnung ist kein sich ohne dein Zutun einstellender Zustand. Hoffnung ist immer eine Entscheidung. Solange wir also hoffen, solange kämpfen wir und solange lassen wir nicht zu, dass das faschistische System Angst in unseren Herzen sät. Das System des Nationalstaats hat uns gelehrt, dass es keine Alternative gäbe und dass wir nichts an all dem Leid, der Gewalt und Unterdrückung ändern könnten. Also ist Hoffnung auch Widerstand gegen eine Lüge, die dir Fesseln anlegt und dich zum Stillstand bringt.

Wie schätzt ihr die aktuelle Lage vor Ort ein und die Androhung des türkisch-faschistischen Staates von einem erneuten Einsatz von Bodentruppen? Denkt ihr, dass es dieses Mal um den Fortbestand oder die Zerschlagung der Revolution geht?

Wir nehmen die Androhung einer erneuten Invasion durchaus ernst und bereiten uns darauf vor. Die Angriffe des türkischen Staates sind nicht als bloße Landbesetzungsversuche zu werten. Es geht um einen Genozid, um die Vernichtung des kurdischen Volkes sowie all der Menschen, die hier in Frieden und Freiheit nach dem Paradigma des demokratischen Konföderalismus leben wollen. Wir befinden uns in einer Phase des Kampfes um das Sein oder Nicht-Sein. Nachdem Erdoğan in den Bergen Kurdistans empfindliche Rückschläge erlitt, scheint er es nun erneut in Rojava probieren zu wollen. Es gibt für ihn nur die Möglichkeit des Krieges, eine andere Lösung käme ebenso seiner Vernichtung gleich wie eine militärische Niederlage. Der heldenhafte Widerstand der Freundinnen und Freunde in den Bergen Kurdistans hat ihn noch mehr in die Enge getrieben. Die vielfältigen grausamen und völkerrechtswidrigen Mittel, zu denen er vergeblich greift, um den Widerstand zu brechen, zeigen wozu er bereit ist. In Nord- und Ostsyrien greift der türkische Staat insbesondere auf islamistische Schläferzellen und Söldnertruppen zurück. Damit verfolgt er die Strategie, die Revolution an möglichst vielen Fronten anzugreifen und zu schwächen. Es wurden in den letzten Wochen sowohl gezielt Sicherheitskräfte, die für die Bewachung IS-Gefangener zuständig waren, bombardiert als auch sogenannte IS-Schläferzellen aktiviert.

Wie schätzt ihr die Drohnenangriffe auf Vertreter*innen der Internationalen Anti-IS Koalition und die ausbleibenden Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft ein?

Es ist nicht möglich für den türkischen Staat in den syrischen Luftraum einzudringen, ohne dass die Koalitionsmächte und Russland davon erfahren. Die Angriffe waren abgesprochen und zielten darauf, unsere Kräfte vor Ort zu treffen. Gerade hier zeigt sich das Gesicht unseres wahren Feindes – des Systems des kapitalistischen, imperialistischen Nationalstaats. Die Türkei ist ein wichtiger Teil dieses Systems, wohingegen die Revolution eine Bedrohung für dieses darstellt. Dementsprechend wollen wir nicht auf direkte Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft bauen. Doch sollte der Welt bewusst sein, dass mit den Angriffen des türkischen Staates auch der weltweit gefürchtete Islamische Staat, der durch unsere Verteidigungseinheiten besiegt wurde, wieder erstarkt. Immer noch sind zehntausende IS-Terroristen und Terroristinnen in unseren Händen, unter ihnen auch Tausende aus Europa und den USA. Eine unserer Missionen gegen Untergrundbewegungen des IS mussten wir bereits auf Grund der Angriffe stoppen. Sollte die Situation sich zuspitzen, wird es immer schwerer werden all die Gefangenen sicher zu verwahren.

Wie bewertet ihr die Aussage der deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD), fest an der Seite der Türkei im “Kampf gegen Terrorismus” zu stehen und die Rolle Deutschlands im Krieg gegen die Revolution von Rojava generell?

Der deutsche Staat und der türkische Staat sind historisch eng miteinander verbunden. Die beiden Staaten verfügten immer über weitgehende diplomatische, wirtschaftliche, militärische aber auch ideelle Verbindungen. Das türkische Militär wurde maßgeblich durch deutsche Soldaten ausgebildet und die Waffenindustrie mit deutscher Unterstützung aufgebaut. Mustafa Kemal Atatürk galt Hitler als großes Vorbild. Der Aufstand von Dersim 1937 wurde durch deutsches Giftgas niedergeschlagen. Heute wird Cyanwasserstoff (Blausäure, Anmerk. d. R.) gegen die Guerilla eingesetzt. In Deutschland ist diese Chemikalie besser bekannt unter dem Namen Zyklon B. Auch in dem Kampf gegen das kurdische Volk und die Befreiungsphilosophie Öcalans stand die BRD immer an der Seite des türkischen Staates. Als Innenministerin erhält die Sozialdemokratin Nancy Faeser eine Politik der Verfolgung und Kriminalisierung kurdischer und internationalistischer Kämpfe aufrecht. Die Arbeiterpartei PKK und ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan werden als terroristisch eingestuft. Die Solidaritätsbewegung Rojavas als auch Gruppen, die das System des demokratischen Konföderalismus als ihre Grundlage betrachten, werden Repressalien ausgesetzt. Der erste Bericht der Tagesschau zu den türkischen Angriffen war mit Aufnahmen aus dem türkischen Verteidigungsministerium gespickt. Dabei wurde gezeigt, wie Drohnen 12 Zivilist*innen ermordeten. Kurzum: Machen wir uns nichts vor, der türkische und der deutsche Staat bilden eine Einheit und sind Feinde unserer Befreiungskämpfe. Doch umso mehr müssen wir uns bewusst werden, dass auch die revolutionären und widerständigen Kämpfe der kurdischen und türkischen Menschen mit denen in Deutschland verbunden sind. Nur wenn wir unsere Bewegung als eine gemeinsame internationalistische Revolution begreifen, können wir uns erfolgreich wehren.

Wie beurteilt ihr die aktuelle Kriegssituation hinsichtlich der Angriffe und des Widerstands in Rojhlat (Ostkurdistan) und dem Iran?

Der Widerstand in Rojhilat und dem Iran zeigt uns, dass die Revolution der Frauen im 21. Jahrhundert nicht mehr aufzuhalten ist. Dass der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ dabei weltweit an Stärke gewann und Frauen dazu ermutigte gegen ihre Fesseln anzukämpfen, zeigt erneut, dass die Revolution in Kurdistan nicht nur für das kurdische Volk oder den Mittleren Osten eine entscheidende Rolle einnimmt. Diese Revolution ist eine Internationalistische, was bedeutet, dass ihre Philosophie auf der gesamten Welt Perspektiven auf eine Befreiung von Unterdrückung ermöglicht.

Nehmt ihr einen Unterschied in der Motivation/ Kraft/ Moral der Bewegung wahr im Vergleich zu 20152018 oder 2019?

Nach dem Besatzungsangriff gegen Serêkaniyê und Gire Spî intensivierte der türkische Staat Drohnenangriffe, die gezielt führende Personen der Revolution töteten. Allein in diesem Jahr sind mindestens acht YPJ-Kämpferinnen, darunter erfahrende Kommandantinnen, im Kampf gegen den IS durch Drohnenangriffe getötet worden. Außerdem wurden wichtige Vertrauenspersonen, Politiker*innen und Menschen mit gesellschaftlichen Aufgaben aus den zivilen Gebieten gezielt exekutiert. Erdoğan will der Gesellschaft dadurch gezielt ihre Vorreiter*innen nehmen. Die Ausweitung der angewandten Kriegsmethoden macht sich bemerkbar. Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren mussten wir uns auf die neue Art der Angriffe einstellen und dementsprechend andere Vorkehrungen treffen. Was dem türkischen Staat jedoch bis heute nicht gelungen ist, ist mit diesen Methoden die Bevölkerung von der Revolution zu entfernen. Im Gegenteil, als die Angriffe seit dem 19. November intensiviert wurden, sind viele ehemalige YPG- und YPJ-Kämpferinnen, die aus unterschiedlichen Gründen die militärischen Einheiten verlassen hatten, wieder zurückgekommen. Das politische Verständnis innerhalb der Bevölkerung über das Ziel dieser Methoden, ist sehr hoch und noch höher ist die Entschlossenheit, sie ins Leere laufen zu lassen. Der Fortschritt in der Organisierung der Zivilgesellschaft, im Vergleich zu den Jahren zuvor, ist spürbar. Kommunen, Räte, Initiativen und Vereine geben täglich Erklärungen ab, die ihre Verbundenheit mit den YPJ/YPG und SDF (Syrian Democratic Forces, Anmerk. d. R.) ausdrücken. 
Gerade dadurch, dass die Angriffe so stark gegen die Bevölkerung gerichtet werden, entwickelt sich dort ein ungemeiner Kampfgeist und Wille. Über die Jahre haben wir an Erfahrung gewonnen, die wir teils schmerzlich bezahlen mussten, etwa mit dem Verlust Efrîns und Serêkaniyês. Insbesondere im Kampf innerhalb der Städte gegen eine gut ausgestattete NATO-Armee mit dschihadistischer Unterstützung am Boden haben wir uns weiterentwickelt. Es wurde aus Fehlern und Kritiken gelernt, so dass sich nun besser auf die aktuelle Lage angepasst werden kann.

Nehmt ihr die Proteste in Deutschland gegen die Angriffe auf Kurdistan wahr?

Auf jeden Fall. Die weltweiten Proteste werden in den Abendnachrichten im kurdischen Fernsehen gezeigt. Es gibt uns sehr viel Hoffnung und Stärke unsere Freund*innen und Genoss*innen Zuhause zu sehen. Manchmal erschreckt es uns aber auch, wenn z.B. in Berlin nur etwa 20 Personen an einer Kundgebung teilnehmen. Dennoch, jede Aktion ist ein Ausdruck der Solidarität und ebenso ein Teil des Kampfes, wie unsere Arbeiten hier vor Ort.

Was wollt ihr den linken, feministischen Kräften in Deutschland sagen? Was kann aus eurer Sicht hier in den Zentren der Rüstung gegen den Krieg getan werden?

Wie bereits oben erwähnt, freuen wir uns über jegliche Form von solidarischen Aktionen. Doch Internationalismus bedeutet nicht fremde Kämpfe zu unterstützen, sondern vielmehr sich als Teil des Kampfes, als Teil eines revolutionären Prozesses zu begreifen, unabhängig davon, wo man sich gerade befindet. Deswegen ist es wichtig, sich mit der Idee, der Philosophie dieser Revolution auseinander zu setzen, eine eigene militante Persönlichkeit aufzubauen und sich, insbesondere als Frauen gemeinsam zu organisieren. Statt uns zu spalten, Hoffnungslosigkeit zu verbreiten und im Individualismus zu versinken, müssen wir insbesondere in Deutschland wieder eine kämpferische Bewegung werden, die um ihre Geschichte weiß und Antworten auf die Probleme der Gesellschaft geben kann. Wie Şehîd Bager Nûjiyan sagte: „Den härtesten Kampf führst du immer gegen dich selbst.“

Auch wollen wir dazu aufrufen, nach Rojava zu kommen und sich uns hier anzuschließen, um zu lernen und gemeinsam zu wachsen. Neben den Verteidigungseinheiten könnt ihr euch auch an Arbeiten in der Jugend, Gesellschaft, Jineolojî sowie an Frauen-, Kultur-, Presse- und Gesundheitsarbeiten beteiligen. Gerade wegen der engen Verbundenheit zwischen dem deutschen und den türkischen Staat ist es notwendig, dass die Komplizenschaft mit dem faschistischen AKP-MHP Regime der Türkei aufgedeckt wird. Wir glauben, dass es viele verschiedene Formen gibt dies zu tun und appellieren an euch, jetzt den Druck von unten und auf der Straße zu verstärken. Wir wissen, dass der türkische Staat den Zeitpunkt für die aktuelle Operation gegen Rojava nicht zufällig gewählt hat. Fussball-WM und der Krieg in der Ukraine sind für Erdoğan gute Ablenkungsmöglichkeiten. Auch haben wir beobachtet, dass den Angriffen hier nicht die nötige Aufmerksamkeit in der BRD zukommt. Wir glauben, dass es die dringende Aufgabe einer sich als internationalistisch verstehenden Linken in Deutschland sein muss, der Bevölkerung ins Gedächtnis zu rufen, was hier gerade passiert und entsprechende Personen in Wirtschaft und Politik dafür zur Verantwortung zu ziehen. Genauso wie die Verteidigungseinheiten der YPJ/YPG alles geben, um das historisch einmalige revolutionäre Projekt staatenloser Radikaldemokratie als Wert der ganzen Menschheit zu verteidigen, müssen Linke in Deutschland ihrer Verantwortung nachkommen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Krieg zu stoppen. Wir glauben, dass die Möglichkeiten hierfür noch lange nicht ausgeschöpft sind. Zudem kommt es aktuell wieder zu einer verstärkten Reorganisierung des Islamischen Staats. Leider beobachten wir, dass in Europa islamistische Gruppen nach wie vor kaum als Gegner im antifaschistischen Kampf verstanden werden und es immense Schwachstellen in Bezug auf Recherche, Aufklärung und Aktionen gibt. Es muss uns bewusst sein, dass der IS in Europa sowohl massenhaft Ressourcen sammelt, als auch Kämpfer rekrutiert. Die Menschen hier vor Ort sind bereit, ihr Leben für die Verteidigung der Frauenrevolution aufs Spiel zu setzen. Wir erwarten daher, dass unsere Genoss*innen in der BRD die Wichtigkeit von Rojava verstehen und ihr Handeln als eine historische Verantwortung begreifen, vor allem all denjenigen gegenüber, die ihr Leben für den Traum einer freien Gesellschaft gegeben haben.

Şehîd namirin

#Gastbeitrag AK36

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Interview mit Çiğdem Çidamlı, früheres Mitglied der Bewegung der Volkshäuser (Halkevleri) in der Türkei und aktuell aktiv in der feministischen Bewegung. Wir sprachen mit ihr über revolutionäre Basisarbeit in unterschiedlichen historischen Phasen und die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der revolutionären Theorie und Programmatik. Das Interview wurde 2020 von kollektiv aus Bremen geführt. 

Kannst du etwas über deine politische Vergangenheit erzählen?

Als 1980 der Militärputsch in der Türkei stattfand, war ich eigentlich noch ein Kind. Ich war in keiner festen politischen Organisation. Wir waren vielmehr in unserer Schule organisiert und befanden uns im alltäglichen Kampf gegen die paramilitärischen faschistischen Kräfte. 

Auch nach dem Militärputsch war ich als junge marxistische Universitätsstudentin bei keiner politischen Organisation. Tatsächlich hatte ich eine Art von politischer Reaktion und Wut gegenüber den politischen Positionen der linken Organisationen der damaligen Zeit. Ich war wütend, weil sie den Widerstand nicht weiter geführt hatten, weil sie nicht so stark waren, wie sie vor dem Staatsstreich vorgegeben hatten und dem Militärputsch nichts entgegen setzen konnten [lacht]. Das heißt, das konstituierende Element meiner politischen Geschichte war nicht geprägt durch politische Organisationen. Ich habe versucht, einen Weg des Kampfes zu finden, der über die damaligen organisatorischen, ideologischen oder programmatischen Formen hinaus ging. Ich war damals – Anfang der 90er Jahre – eine Person, die eine revolutionäre Praxis und Organisation wollte, aber die dachte, dass die Dinge radikal anders sein sollten als die bisherigen Gewohnheiten und organisatorischen und ideologischen Formen der sozialistischen Linken im Allgemeinen. 

Wo warst du damals aktiv?

Der Hauptteil meines organisierten politischen Lebens begann eigentlich zu dem Zeitpunkt, als die „großen Brüder“ aus dem Gefängnis kamen und nicht mehr die Dinge machen konnten, die sie vorher gemacht hatten. Ab 1995 war ich Teil der politischen Organisation, die u.a. versucht hat, die Halkevleri (Volkshäuser) und die Bewegung der prekären Arbeiter*innen aufzubauen. Da ich aktuell kein Mitglied der Bewegung mehr bin, spreche ich hier jetzt jedoch als Einzelperson. 

Ich habe als Außenseiterin in der Organisation angefangen. Eine junge Frau, die dachte, dass sie radikalen Einfluss haben und etwas verändern kann – die Tradition aufnehmen, aber sie auf neue Weise interpretieren. Ich habe ca. 15 Jahre lang daran gearbeitet, einen ideologisch-theoretisch politischen Rahmen für die neue Organisation oder Strömung der Halkevleri (Volkshäuser) zu schaffen. Zu Beginn der 2010er Jahre bin ich dann in einen Stadtteil in Istanbul gegangen, um dort Stadtteilbasisarbeit zu machen. Kurze Zeit später begann die Gezi-Revolte. 

In der Türkei waren die Gezi-Proteste tatsächlich ein sehr wichtiger Wendepunkt für alle politischen Szenen und alle linken Organisationen, egal ob basisorientiert oder nicht. Und natürlich auch in unseren persönlichen Leben. Gezi hat uns dazu gezwungen die eingefrorenen Verhältnisse infrage zu stellen und tut es noch immer – wie in dem berühmten Satz „wir müssen die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.1

Nach den Gezi Protesten haben wir für ein oder zwei Jahre einen Aufschwung der ökologischen und urbanen Bewegungen erlebt, die bereits vor der Revolte begonnen hatten, wie z.B. die Bewegung zur Verteidigung der nördlichen Wälder der Marmara Region oder im städtischen Raum die sogenannten Solidaritäts-Verteidigungsbewegungen. Ich war in diesen ökologischen und sozialen Bewegungen aktiv. Aber nach dem terroristischen Anschlag auf die oppositionellen Kräfte durch den Staat in Gestalt des Bombenanschlags vom 10. Oktober 2015 in Ankara, kam es zu einer Art Rückzug. Die einzige Bewegung, die sich nicht von den Straßen zurück gezogen hat, sondern ihre sozialen und politischen Kämpfen weiter führte, war die feministische Bewegung / Frauenbewegung. Ich war immer schon mit Frauen in den Stadtteilen aktiv gewesen. Ich habe versucht, eine Art feministische Tradition in meiner eigenen Gruppe aufzubauen, die bis zu diesem Zeitpunkt keine explizit feministische Haltung vertrat (obwohl sie schon vor dem Militärputsch Frauen in den Stadtteilen organisierte). In den letzten drei bis vier Jahren haben wir versucht, eine Art unabhängige Frauenorganisation aufzubauen, das Frauenverteidigungsnetzwerk (Kadın Savunma Ağı). Tatsächlich war ich in den letzten drei bis vier Jahren vorwiegend in diesem Kampf praktisch involviert. 

Die Organisation, in der du aktiv warst, hat revolutionäre Basisarbeit als wichtigen Bestandteil ihrer strategischen Ausrichtung betrachtet. Heute, 30 Jahre später, wird innerhalb der linken Bewegung wieder über die Notwendigkeit von Basisarbeit gesprochen. Was sind deine Erfahrungen und Rückschlüsse in Bezug auf die Bedeutung von Basisarbeit?

Eigentlich war es verblüffend und überraschend, als ich vor dem Interview die 11 Thesen2 gelesen habe, die ihr von kollektiv geschrieben habt. Ich denke, dass die zentralen Diskussionen und Fragen sehr ähnlich zu den Fragen sind, die wir hier diskutieren. Auch wenn die Geographie und die konkreten Bedingungen sich unterscheiden. Aber die Frage, was wir als Linke tun sollten, ist uns natürlich allen gemein, und diese Gemeinsamkeit teilen wir mit der europäischen, der lateinamerikanischen und sogar mit der nordamerikanischen Linken. Alle Diskussionen stehen in einem ähnlichen Kontext. 

Ich denke, wir befinden uns an einem neuen Wendepunkt in der Geschichte. Wir waren bereits an einem Wendepunkt als die Pandemie begann, die mit all den vielfältigen Krisen des kapitalistischen Systems zusammen gekommen ist. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem die Fragen und die Diskussionen zu einer Überlebensfrage für die gesamte Menschheit geworden sind, nicht nur speziell für die Linken. 

Also wir sind an einem Wendepunkt, aber auch an einem Brennpunkt [lacht].

Die wichtigste Frage für eine revolutionäre Linke ist: Wie können wir nach der Niederlage des Sozialismus als Bewegung und im Allgemeinen eine neue Epoche einer selbst-emanzipatorischen sozialistischen Bewegung aufbauen? Unser Ausgangspunkt zu Beginn der 90er Jahre war die Feststellung, dass die historische Epoche des Sozialismus zu Ende ist. Das Ende war nicht nur verbunden mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sondern auch mit dem Ende der weltweiten Gewerkschaftsbewegung, der politischen Bewegungen und all ihrer Organisationen, Begriffe, Ideologien und Rahmenbedingungen. Wir befanden uns am Ende der historischen Epoche des Sozialismus – die im 19. Jahrhundert begonnen und bis Anfang der 1990er existiert hat – und wir haben diskutiert, auf welchen Grundlagen sich eine neue historische Epoche des Sozialismus aufbauen lässt. 

Anfang der 90er dachten wir, die neue historische Epoche des Sozialismus kann beginnen, wenn wir eine neue Form der Klassenbewegung aufbauen, eine neue Form der Klassenkämpfe. Denn die vorhergehende Phase des Sozialismus baute auf einer spezifischen Form der Klassenkämpfe auf. Und das führt uns zu den ersten Fragen: Was ist die Klasse heutzutage? Wie ist sie zusammen gesetzt? Wo kann man die Klasse heutzutage finden? In den großen Fabriken, Stahlwerken oder vielleicht in den Stadtteilen? Oder wo sonst? Und wie ist die alltägliche Erscheinung der Klasse und der Klassenkämpfe selbst? Diese Gedanken haben wir uns parallel zu gesellschaftlichen Entwicklungen wie der zunehmenden Prekarisierung der Arbeit und Privatisierungen gemacht, in deren Folge die großen Fabriken abgebaut wurden und die Formen der Arbeit sich veränderten.

Wenn ich vom heutigen Standpunkt aus retrospektiv auf die Geschichte schaue, dann denke ich, unsere Fragen waren gut und richtig. Aber was wir damals im Gegensatz zu heute nicht wussten, ist, dass wir uns die Fragen in einem bestimmten Moment der Geschichte stellten, d.h. sogar die Fragen, die wir wagten, uns zu stellen, waren historisch bedingt. Und dieser Moment war nicht geprägt vom Sieg der Revolutionen, sondern von deren Niederlage. Der Beginn der historischen Phase des Sozialismus befand sich in der traditionellen revolutionären Phase, z.B. 1830er, noch immer unter dem Einfluss der französischen Revolution, dann die Pariser Kommune 1871. In den 90er Jahren hingegen haben wir an einem Punkt begonnen, der komplett von einem Gefühl der Niederlage charakterisiert war. Ich denke, das hat nicht nur uns ausgemacht, sondern auch andere Bewegungen wie z.B. den MST (Anm. d. Red.: portugiesisch Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, deutsch: Bewegung der Landarbeiter ohne Boden) in Brasilien usw. Natürlich hat die Niederlage oder der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Niederlage der vorangegangenen Phase des Sozialismus uns auch vor die Frage der Kritik dieser vorangegangenen Bewegungen gestellt. Und natürlich hat diese Kritik dazu geführt, dass wir die Bedeutung von Basisarbeit betont haben. Aber Basisarbeit kann in zwei verschiedenen Arten interpretiert werden: als Ausgangspunkt für eine selbst-emanzipatorische Bewegung oder als Selbstzweck. Ich denke, Basisarbeit kann nicht für sich selbst stehen und nicht an sich das Ziel sein.

Du kannst Basisarbeit machen, aber Basisarbeit ist nicht an sich revolutionär. Aus einer Kritik des realexistierenden Sozialismus heraus waren wir davon überzeugt, dass Basisarbeit wichtig ist. So weit, so gut. Aber die eigentliche Bedeutung von Basisarbeit lässt sich nur vor dem Hintergrund der Frage der Selbsttätigkeit der Arbeiter:innen innerhalb des revolutionären Prozess verstehen. Also: Ist die neue sozialistische Bewegung, die revolutionäre Bewegung, selbst-emanzipatorisch oder nicht? Wird sie durch die Selbsttätigkeit der Arbeiter*innen, Frauen, etc. getragen? Ist der Sozialismus etwas, das von außen zu ihnen gebracht werden muss oder entsteht er durch die Aktivität der Massen?

Um die Bedeutung zu verstehen, die Basisarbeit Anfang der 90er Jahre für uns hatte, ist es aber auch wichtig, den historischen Kontext zu betrachten, in dem all diese Überlegungen stattgefunden haben. Der Neoliberalismus war in einer Phase, die auf der politischen Ebene mit einem gewissen Liberalismus und sogenannten politischen Öffnungen einher ging. Die politische Sphäre war so, dass sie dir erlaubt hat, in die Stadtteile zu gehen, um dort die mikrodimensionalen Klassenkämpfe zu suchen. Du hast gedacht, du kannst diesen Problemen mit Basisarbeit begegnen, also z.B. Mietproblemen etc. Die alltäglichen Erscheinungsformen der Klassenkämpfe, die aus der Prekarisierung, Kommodifizierung (Anm. d. Red.: beschreibt den Prozess des „zur-Ware-werdens“) oder dem Neoliberalismus im Allgemeinen resultieren. Und wir dachten, wenn wir diese Kämpfe anhand von Basisarbeit bearbeiten, würde das eine Art von kleiner Politisierung gegen den Kapitalismus ermöglichen. 

Und teilweise tat es das auch. Wie die Erfahrungen gezeigt haben, war es möglich, mit Menschen zusammen zu kommen, starke Kämpfe aufzubauen und zu versuchen, darüber die politischen Einstellungen schleichend zu verändern, wie z.B. im Dikmen Tal3 oder in einigen anderen großen Kämpfen wie diesem. Natürlich haben sich die Einstellungen der Leute an diesem Punkt oder an jenem Thema verändert und auch ihre Position gegenüber der politischen Macht oder ihre Aktionsformen. 

Aber nach der Wirtschaftskrise von 2008 haben wir gemerkt, dass sich die Verhältnisse verändert haben. Man kann das vielleicht als Rückkehr oder Wiederkehr der politischen Sphäre an sich bezeichnen. 2008 war ein wichtiger Scheidepunkt, weil sich die Bedingungen all dieser Kämpfe stark verändert haben. Man könnte von der Vor-Krise und der Krisenperiode des Neoliberalismus sprechen. 

Nach 2008 hat uns die politische Sphäre überholt. Während Gezi haben wir erlebt, dass all diese kleinen Basisbewegungen, die aufgebaut wurden, nicht groß und kraftvoll genug waren, um die Reaktionen der Leute und ihren Ärger über den Neoliberalismus und dessen politischen Akteure aufzufangen oder einzubeziehen. Die Politik hat uns überholt, und nicht nur in der Türkei sondern auch in Brasilien oder anderen Orten. All die Basisbewegungen konnten an einem gewissen Punkt auf die Rückkehr der politischen Sphäre nicht mehr angemessen reagieren. Und die politische Sphäre wurde so manipulativ. Und auch der Linkspopulismus, wie in Spanien mit Podemos und Syriza in Griechenland, wandte sich gegen die Bewegungen selbst. Die linken sozialistischen Basisbewegungen konnten bis zu einem gewissen Punkt nur eine radikale sozialdemokratische Alternative anbieten und diese Alternative wurde manipuliert durch die Angriffe des kapitalistischen Systems nach der Krise von 2008. Die Leute, die ihrer grundlegenden Mittel der Existenzsicherung beraubt wurden, wurden sehr schnell proletarisiert, aber weder die Basisbewegungen noch die politischen Projekte, wie PodemosSyriza etc. konnten darauf eine angemessene Antwort finden und keine davon konnte die revolutionären politischen Erscheinungsformen all dieser Kämpfe vereinen. 

Kannst du das näher ausführen?

Ich denke, die zentrale Form der Herrschaft hat sich nach 2008 verändert. Vor 2008 zielte der Kern der kapitalistischen Herrschaft darauf ab, die Leute zu atomisieren und die Einheit der proletarischen Klassenstrukturen zu zerstören, die vorher aufgebaut wurde. Hinzu kam eine Form der Liberalisierung im Regierungsstil. Man kann ersteres in der Türkei auch mit den ersten Jahren der AKP Regierung gleichsetzen: Eine Öffnung gegenüber der kurdischen Frage, gegenüber LGBTIQ+ Personen, Frauen etc. Identitätspolitiken wurden benutzt, um die neuen Bereiche des Proletariats in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Meiner Meinung nach wurde Identitätspolitik erfolgreich benutzt, um den Arbeitsmarkt zu erweitern, die Proletarisierung und Kommodifizierung voran zu treiben und all diese Menschen in den kapitalistischen Markt im Allgemeinen einzubinden. Der Neoliberalismus hat so getan, als könnte er die historischen Probleme lösen, die in der vorherigen Phase des Kapitalismus bestanden – wie die kurdische Frage, die Unterdrückung der Frauen und ähnliche demokratische Probleme. Und er war sehr erfolgreich dabei, die Einheit der Arbeiter*innenklasse in dieser Zeit zu zerstören. 

Aber nach 2008 hat sich die politische Sphäre verändert. Die neoliberale Identitätspolitik wurde von oben aufgekündigt und wir erleben Regierungen wie in der Türkei, auf den Philippinen, in Russland; die Bolsonaros, Trumps und all diese neoliberalen, man kann sagen neofaschistischen, Regierungen. Sie zielen darauf ab, die Einheit der nunmehr massenhaft proletarischen Bevölkerung zu zerstören. Und all die Selbstverteidigungsbewegungen oder Basisbewegungen waren politisch nicht in der Lage, adäquat auf diese neuen politischen Entwicklungen zu reagieren. 

Aber trotz allem sehe ich uns nicht als besiegt. Ich denke nicht, dass wir Teil einer Niederlage sind. Ich ziehe es vor, uns am Anfang einer neuen historischen Epoche zu sehen. Das kann man so sehen, wenn man akzeptiert, dass die alten früheren Strukturen tot sind, die alten Annahmen, Formierungen und Gebilde einer sozialistischen Linken – sie sind tatsächlich in der Türkei mit Gezi gestorben [lacht].

Aber wenn du das Material der Kämpfe selbst betrachtest, vor dem Hintergrund der multiplen Krise des Kapitalismus, kannst du keinen Bereich des Lebens finden, der nicht unter Druck geraten ist, auch alle Kampfbereiche – seien es feministische Kämpfe, die Ökologiebewegung und natürlich die täglichen Kämpfe der Arbeiter*innen. Weil der Neoliberalismus alles kommodifiziert, alles. Und diese Pandemie zeigt, dass der Grad der Kommodifizierung und Proletarisierung nicht mit dem menschlichen Leben an sich vereinbar ist. Du kannst kaum noch irgendwelche Menschen finden, die nicht auf die ein oder andere Art und Weise mit der proletarischen Klasse im Allgemeinen verbunden sind, du kannst kein alltägliches Thema, kein Moment der Existenzsicherung finden, das nicht mit dem politischen Klassenkonflikt des Kapitalismus an sich verbunden ist. Alle Bereiche des Lebens sind proletarisiert und zum Symbol der sozialen und politischen Klassenkonflikte geworden, der Interessen der Mehrheit der Leute gegen das Interesse des Kapitalismus. 

Wir befinden uns in einer Situation, in der wir uns fragen müssen, was das grundlegende Interesse aller proletarischen Massen ist und welche Form der Organisierung es braucht. Welche Art der Basisarbeit, von Selbstbildung, welche Atmosphäre der politischen Selbstbildung für die Massen, deren grundlegende Bedürfnisse und Interessen mit dem alltäglichen Leben an sich in Konflikt stehen. Wir stehen an einem Punkt, an dem weder die partiellen Kämpfe noch die linken populistischen politischen Projekte die realen Bedürfnisse und Reaktionen der Leute auffangen und beantworten können. 

Das können wir auch in den massiven Revolten sehen, die kontinuierlich weltweit seit einigen Jahren ausbrechen. Erst vor der Pandemie, wenn ihr euch erinnert, gab es in fast 20 Ländern Massenrevolten. In diesen Revolten gab es einige politische oder ideologische Übereinkünfte, die sich zwischen den Leuten auf der Straße oder in Aktionen herausgebildet haben. Aber den politischen Projekten, die aus diesen Massenbewegungen entstanden sind, sei es Podemos, Syriza oder anderen, fehlt – was ihr politisches Programm und ihre Organisationsweise angeht – genau das, was die Menschen auf der Straße auf eine emotionale Art während der Revolte miteinander entwickelt haben.

Was bedeutet das in Bezug auf revolutionäre Basisarbeit in der politischen Praxis?

Ich denke, natürlich brauchen wir Basisarbeit, aus zwei Gründen: ohne Basisarbeit kannst du keine selbst emanzipatorische Bewegung des Sozialismus aufbauen. Sozialismus ist nicht nur eine Utopie, oder ein Dogma oder intellektuelles Denken, dass du den Massen aufdrücken kannst. Natürlich brauchen wir eine selbst-emanzipatorische Bewegung und die Basisarbeit, die zu den alltäglichen Problemen der Leute gemacht wird. Denn die alltäglichen Probleme sind zu einem Symbol des Konfliktes zwischen dem gesamten kapitalistischen Establishment und dem Leben der Leute geworden. 

Aber gleichzeitig haben wir erfahren, dass Basisarbeit zwar ein starkes Mittel sein kann, aber nicht einfach so aus sich selbst heraus. Wenn du keine richtige Programmatik und theoretische Ausarbeitung von dem hast, was Sozialismus heutzutage ist und was die Antworten sind, die wir zur Lösung der multiplen Krisen des Kapitalismus vorschlagen oder wessen Sozialismus es sein soll, laufen unsere praktischen Anstrengungen ins Leere. 

Die Tatsache, dass eine historische Epoche des Sozialismus zu Ende gegangen ist, bedeutet auch, dass sich die Art und Weise der antikapitalistischen Klassenkämpfe verändert hat. Die Klassenkämpfe der damaligen sozialistischen Ära basierten auf dem Industrieproletariat, alle anderen Kämpfe und Basisbewegungen von Unterdrückten wurden unter diese Hegemonie untergeordnet. Aber wessen Hegemonie wird heutzutage über alle Kämpfe der Unterdrückten gebildet? Wessen Sozialismus? Oder haben wir eine reale Möglichkeit, einen Weg zu finden, um all die antikapitalistischen Tendenzen und Impulse, die von unterschiedlichen Basisbewegungen kommen (z.B. der feministischen, der ökologischen, der der Kleinbäuer*innen und allen anderen antikapitalistischen Bewegungen), in eine sozialistische Einheit des Proletariats/der Unterdrückten des 21. Jahrhunderts einzubetten? Ich denke, das ist möglich. Und das ist der Grund, warum ich denke, dass wir uns an einem Wendepunkt der Geschichte befinden. Vielleicht war es das in den 90er Jahren noch nicht, aber heute ist es möglich, dass wir diesen Anfang einer neuen sozialistischen Bewegung erleben, ich meine eine neue sozialistische Epoche hat vielleicht bereits begonnen. 

Aber dafür ist es aus meiner Sicht unbedingt notwendig, dass eine neue Art der revolutionären politischen Theorierekonstruiert wird. Das ist, was uns heutzutage fehlt. Die traditionelle politische Theorie des 20. Jahrhunderts war geprägt von der Russischen Revolution und danach von den antikolonialen Revolutionen und ihren Rahmenbedingungen. Aber was ist heutzutage die politische Arena? Und wie kann eine politische revolutionäre Praxis aufgebaut werden? Wie kann eine revolutionäre Dialektik zwischen den Basisbewegungen und der politischen Ebene etabliert werden, die die politische Revolution auf der einen und die soziale Revolution auf der anderen Seite miteinander verbindet. Im 20. Jahrhundert gab es eine etablierte politische Systematik dieser revolutionären Dialektik zwischen dem politischem Moment und dem Moment der sozialen- /Klassenkämpfe. Aber ich denke, wir haben diese revolutionäre Dialektik verloren. Die zentrale Krise der Linken in den 70er Jahren resultierte daraus und natürlich hatten wir auch keine solche politische Theorie in den 90er Jahren. Aber das Leben und vor allem die aktuellen Massenaufstände zwingen uns dazu, diese neue Form der revolutionären politischen Theorie aufzubauen. Es stellt sich die Frage, was ist Politik heutzutage? Und wie können wir diese revolutionäre Dialektik zwischen dem Basiskampf und dem politischen Kampf an sich entwickeln?

Denn wenn es keine richtige politische Analyse innerhalb der Bewegungen gibt, die mit einem bestimmten Problem zu tun haben, dann wird diese Bewegung an unterschiedlichen Themen gespalten werden, wie z.B. an der kurdischen Frage oder der Frauenfrage. Nehmen wir z.B. die ökologische Bewegung in der Türkei, in der sich Menschen zusammen gefunden haben, um für den Erhalt von Wäldern, Flüssen, Tälern zu protestieren. Wenn sich solche Bewegungen nur auf die Lebensbedingungen beschränken, dann werden sie sich anhand der kurdischen Frage, der nationalen Frage, der Migrationsfrage spalten. Das bedeutet, dass Basisarbeit und eine damit verbundene Organisation glaubhaft machen muss, dass sie in der Lage ist, die alltäglichen Probleme der Arbeiter*innenklasse zu lösen, aber auch all die historischen Probleme wie die kurdische Frage, die Frauenfrage, die Migrationsfrage und so weiter. Es braucht also eine Basisarbeit, die nicht anhand von neoliberaler Identitätspolitik gespalten ist, sondern die dazu beiträgt, dass Menschen daran glauben, dass z.B. kurdische Frauen oder andere Identitäten ein historisches politisches Subjekt innerhalb der sozialistischen Organisation sein können, damit sie sich nicht in die typischen anti-narrativen Ansätze (Anm. v. kollektiv: Ansätze, die große Narrative i.S. von einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive ablehnen: Der Fokus liegt auf Teilbereichskämpfen oder 
Mikropolitiken, 
die Möglichkeit und Notwendigkeit der Verbindung unterschiedlicher Kämpfe zu einem gemeinsamen Kampf gegen das gesamte System wird negiertflüchten.

Du hast ja bereits die Massenproteste erwähnt, die als eine Reaktion auf die neoliberale Politik weltweit vor Beginn der Pandemie entstanden sind. Welche Rolle spielen diese aus deiner Sicht in der Herausbildung?

Viele der unterschiedlichen Formen von Unzufriedenheit, die in den zahlreichen Protesten weltweit zum Ausdruck kamen, verstehen sich selbst nicht per se als antikapitalistische Aktionen oder Bewegungen. Wenn das so ist, wovon ich ausgehe, dann stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten wir haben, um solche Aktionen und Bewegungen dazu zu bringen, antikapitalistische Bewegungen zu werden. Es geht mir nicht darum, wie wir diese Massenproteste interpretieren, sondern als was sie sich selbst verstehen. Ich stimme vollkommen mit euch überein, dass wir eine neue Form der der revolutionären Politik entwickeln müssen, aber was ist die materielle Basis dafür? Wir wissen, dass viele Menschen unzufrieden sind und in prekären Situationen leben, aber was ist die Subjektivität der Menschen? Ich denke, die Massenproteste sind antikapitalistisch aber viele der Menschen auf den Straßen sind sich selbst darüber nicht bewusst. Sie reagieren auf die kapitalistischen Lebensbedingungen, aber sie sehen sich selbst nicht als antikapitalistische, sozialistische, historisch-politische Subjekte, welche in die Geschichte eingreifen und sie verändern können. Und selbst wenn sie sich als antikapitalistisch verstehen, vermeiden sie es, Teil eines großen Narrativs zu sein, das Sozialismus heißt, weil sie vor solchen Ansätzen fliehen, vor Politik fliehen. Ich denke, das ist die größte Frage. Sozialismus oder Antikapitalismus – bewusster Antikapitalismus – ist eine Art Selbstnarrativ der Massen. Sozialismus war ein Narrativ, dass von den Massen selbst erzählt wurde. Natürlich bin ich inspiriert von dem theoretischen Körper aber Sozialismus, wie er real existierte, war in der damaligen Zeit revolutionär und, eine selbstemanzipatorische Erzählung der Massen. 

Ich weiß nicht wie, ich habe keine fertigen Antworten, man muss es ausprobieren. Aber ich denke, es braucht eine Art neuer Bildung, eine Bildung über den wahren Inhalt des Sozialismus, nicht über seine konkreten historischen Formen, nicht über die Formen des 20. Jahrhunderts, sondern über die reale Essenz des Sozialismus. Das bedeutet, eine Interpretation der Essenz für heutzutage. Damit sich die Massen über den Sozialismus an sich bilden, aber auch durch die feministische Bewegung , wie ni una menos und andere. Was wir tatsächlich in dieser Art von Bewegungen (wie z.B. ni una menos oder der Kampf für die Legalisierung von Abtreibungen) sehen, ist nicht nur eine Bewegung gegen Feminizide. Es ist vielmehr eine Bewegung der proletarisierten und prekarisierten Frauen, die die multiplen Krisen der Produktion und Reproduktion erleben und versuchen, diese Lücke in der Klassenbewegung zu füllen. Die Ökologiebewegung, die Bewegung der Kleinbäuer*innen, die feministische Bewegung und natürlich die alltäglichen sozialen Kämpfe sollten aus der Sicht der reinen Essenz des Sozialismus heraus kritisiert werden. Aber natürlich muss auch der Sozialismus von diesen Bewegungen kritisiert werden, insbesondere in Bezug auf seine organisatorischen Ansätze, in Bezug auf die Frage, wessen Hegemonie auf welche Art innerhalb der sozialistischen Bewegung aufrecht erhalten wird. Oder ist es möglich, neue Formen der Hegemonie zu finden?

Ich denke, wir stecken komplett in einer Welt fest, in der es auf der einen Seite historisch dogmatische Formen wie die der kommunistischen Parteien gibt. Und auf der einen Seite neue Organisationsformen und postmoderne Bewegungen, die jegliches Narrativ ablehnen bzw. es nicht erlauben, dass Menschen ihre eigenen Erfahrungen mit den Worten und Begriffen des Sozialismus erzählen und damit verbinden. An diesem Punkt befinden wir uns aktuell. Ich denke, dass wir eine neue Art der leninistischen Bewegung des 21. Jahrhunderts brauchen. Wir müssen uns eine solche Bewegung vor dem Hintergrund der Verhältnisse des 21. Jahrhunderts vorstellen, sie organisieren und aufbauen. Die Geschichte wird es uns zeigen. Ich habe die Fragen hier genannt, aber das heißt nicht, dass ich Antworten darauf habe. Was wir brauchen, ist eine revolutionäre und sich gegenseitig beeinflussende Bildung zwischen Sozialismus und Massen-/ Klassenbewegungen. 

Vielen Dank!

#Foto: Wikimedia Commons

1 [Karl Marx (1844): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW Bd. 1. Berlin: Dietz Verlag. S 381: “Man muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse |den Schandfleck| der deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen. Man erfüllt damit ein unabweisbares Bedürfnis des deutschen Volks, und die Bedürfnisse der Völker sind in eigner Person die letzten Gründe ihrer Befriedigung.”]

2https://solidarisch-in-groepelingen.de/eigenetexte

3Die Bewohner*innen des Dicmen-Tals bei Ankara sollten 2007 geräumt werden, um Platz zu schaffen für ein an landesweite Programme der Erdogan-Regierung anknüpfendes großflächiges Städtebauprojekt, das aus dem Tal ein kommerzielles Tourismus- und Naherholungsgebiet machen sollte. Aufgrund des militanten Widerstands der verbliebenen Bewohner*innen und deren Unterstützer*innen musste am 1. Februar 2007 der erste Räumungsversuch mit 8.000 Einsatzkräften und 44 Abrissbaggern schließlich abgebrochen werden. Insgesamt gelang es dem Widerstand, die Umsetzung des Projekts bis 2009 herauszuzögern. In dieser Zeit wurden lokale Selbstverwaltungsstrukturen in Form von Vollversammlungen verwirklicht, selbstorganisierte Sozial- und Bildungseinrichtungen geschaffen und eine Vernetzung mit anderen Regionen aufgebaut, die von Städtebauprojekten betroffen sind

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Noch bevor die Fußball-WM der Herren in Katar losgegangen war, wurde die Vergabepraxis an das Emirat scharf kritisiert. Während der Spiele riefen die tausenden toten Arbeiter:innen und die Situation von FLINTA*s allerlei symbolischen Protest von Innenministerin Nancy Faeser, über die deutsche Nationalmannschaft, bis hin zum Einzelhändler REWE hervor; aber auch die Ultras in deutschen Stadien machten Boykottaufrufe. Was der Gegenstand der Kritik, also die WM, die Fifa und der DFB mit dem Kapitalismus zu tun haben, analysiert Raphael Molter hier. Teil 2 folgt.

Die Zeit der Zeichen

Das Turnier ist kaum gestartet, und das letzte bisschen moralische Stabilität wich im Rekordtempo. Bierausschank? Trotz Premiumsponsor Budweiser knickte die FIFA ein, der katarische Staat wollte es so. Und was war nochmal mit der peinlichen OneLove-Kapitänsbinde? Ah ja, für deren Abschaffung machte sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) im vorauseilenden Gehorsam gerade. Die Weltmeisterschaft in Katar sorgt für unangenehmes Kopfschütteln, Unverständnis und stetig steigende Ablehnung in der deutschen Gesellschaft. Die Voting-Plattform FanQ belegte, dass nur jeder zehnte Fußballfan alle oder die meisten Spiele anschauen möchte. Nicht mal durch Spiele der deutschen Nationalmannschaft lassen sich typische Party-Patriot:innen begeistern.

Stattdessen ist die Zeit der Zeichen gekommen. Während Robert Habeck und die gesamte Energiebranche lechzend nach Katar blickt und auf frisches Erdgas hofft, zeigen sich Journalist:innen und Kommentator:innen von RTL bis ZDF mit regenbogenfarbenen Binden und solidarisch gelesenen T-Shirts. Dabei verläuft die Kritik im Sande, denn die Zeichen sind zwar Protest, aber kein Ausweg. Auf der Suche nach moralisch vertretbaren Standpunkten bei einer WM, die von Menschen geschaffen wurde, die als Arbeitsmigrant:innen weder vor zwölf Jahren noch heute auf akzeptable Bedingungen bei der Lohnarbeit treffen. Doch die Suche verharrt im Protest, ohne Konsequenzen zu ziehen. Und weil alles so aussichtslos erscheint, wirkt dann selbst ein Lebensmittelkapitalist wie REWE stabil, weil man die Farce des DFB nicht mehr mittragen will.

Doof nur, dass die WM in Katar eine wunderbare Möglichkeit für europäische Unternehmen ist, um sich kurz mit ein bisschen moralischer Kritik an Katar reinzuwaschen. Erst das Fressen, dann die Moral: International agierende Unternehmen waren schon immer gut darin, erst zu verdienen und im Notfall danach zu verurteilen. Um aber aus dem „endlosen Prozess der Proteste ohne Revolte“ (Agnoli) zu entkommen, müssen kämpferische Perspektiven aufgedeckt werden. Ein Fußball, der den kapitalistischen Imperativ der Profitmaximierung so sehr auslebt, dass selbst all die Umstände rund um die WM nur wie der nächste Anlass für Gossip wirken: Ist das dieser Sport, dem wir natürliche Kräfte wie Toleranz, soziale Freude und Kommunikation über alle Grenzen hinweg zusprechen?

»Wer einschaltet, macht sich mitschuldig«

Überraschenderweise erhält sich das unparteiische, fast schon marienhafte Bild eines Sports, der von Schurkenstaaten wie Katar für böses Sportswashing missbraucht wird, bis in die Fanszenen. Viele der Boycott Qatar-Proteste in den Stadien der letzten Wochen griffen den konsumkritischen Ansatz auf und forderten von Fußballfans vor allem eines: Abschalten! Aber hier zeigt sich die genannte Kritik eines Protestes, der keinerlei Licht am Ende des Tunnels sieht und auch viele vermeintlich kritische Fußballexpert:innen schließen sich dem fast widerspruchlos an.

Das Produkt Profifußball wirkt so übermächtig, dass sich in der Boykott-Forderung ein angeblich günstiger und leicht zu vermittelnder Minimalkonsens findet, der die Leute noch mobilisieren kann. Doch Systemkritik, die am Individuum ansetzt, verkennt zwangsläufig Ursache und Symptom.

So sollten wir nicht zum fast schon stereotypen Fazit kommen, dass wir Linke es besser wissen und der Fußball tatsächlich aufgegeben werden sollte. Die Boykottbewegung hat nichtsdestotrotz tausende und abertausende Fußballfans mobilisiert, fast jede Fanszene im deutschen Profifußball hat sich durch Choreographien und Spruchbänder gegen die WM in Katar ausgesprochen. Die bisweilen sehr brüchigen Bündnisse in den Fußballstadien dieser Republik scheinen sich mit der Weltmeisterschaft und der FIFA als Feindbild gefestigt zu haben. Nur schafft der reine Boykott-Aufruf keine kämpferische Perspektive für die Zeit nach dem WM-Finale am 18. Dezember. Soll diese Bewegung absichtlich im Sande verlaufen, wenn doch die nächste Europameisterschaft in Deutschland stattfindet?

Der katarische Staat funktioniert nur durch die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen, doch die systemischen Ursachen dahinter kennen wir auch aus Deutschland. Allein der jährliche Aufruhr um rumänische Arbeitsmigrant:innen als Retter:innen unseres Spargels sollten uns lehren, dass die Probleme nicht nur am Persischen Golf existieren. Wenn wir die grundlegenden, systemischen Verhältnisse hinter der Arbeitsmigration nach Katar kritisieren und uns mit den lohnarbeitenden Menschen dort solidarisieren, sollten wir das auch in unsere Praxis hier vor Ort aufnehmen. Nach Katar fahren und sich dort ein Bild machen, kann und sollte nicht Ziel der moralischen Kritik sein: Guckt um euch herum, macht euch für die Arbeitsmigrant:innen stark, auf die sich das deutsche Kapital auch hier in Deutschland stützt. Solidarität mit den arbeitenden Menschen in Katar hieße dann auch Solidarität mit den »Wanderarbeiter*innen« in der EU-Zone.

Soll die Boykott-Bewegung auch auf der Fußballebene bestehen bleiben, gilt es aber allen voran in den Blick zu nehmen, wie der Fußball zu dem wurde, was heute unter Kommerz oder reiner Geldgier beschrieben wird. Fußball mobilisiert Massen, Fußball politisiert aktive Fans auch in Deutschland: Polizeigewalt und staatliche Repressionen sind immanenter Bestandteil des Lebens für Ultras. Verstehen wir den Fußball als eine Subsphäre der kapitalistischen Gesellschaft, als den vielbeschworenen »Spiegel der Gesellschaft«, dann lohnt sich auch im Spiel um das runde Leder der Kampf für ein besseres Leben für alle. Das bedeutet aber nach Gabriel Kuhn nicht: »den Sport mit einer politischen und moralischen Aufgabe zu belasten, die den Spaß am Sporterlebnis gefährdet. Es geht einzig darum, den Sport nicht vom Kampf um eine bessere Gesellschaft zu trennen. Tatsächlich macht dann alles doppelt so viel Spaß«. Lassen wir die aktuelle Moralkritik hinter uns und blicken auf die Möglichkeiten, kämpferische Perspektiven im Fußball zu entwickeln.

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Interview mit Meisam Al-Mahdi, Arbeiter und Mitorganisator der Proteste der Arbeiter der Stahlfabrik Ahwaz

Die Ahwaz National Steel Industry Group nahm ihre Tätigkeit 1963 mit einer Abteilung für die Produktion von Rohren und einer zweiten Abteilung für die Produktion von Eisenträgern auf. Später kamen nach und nach die Metallurgie (Herstellung von Zäunen und Schranken), die Stahlproduktion und schließlich die Abteilung Kousar für die Herstellung von Drähten und Bewehrungsstäben (Baustäbe) hinzu. Ahwaz Steel ist das erste Werk für Walzstahlerzeugnisse im Iran. Nach der Montage der erforderlichen Maschinen und der Installation der notwendigen Ausrüstung wurde 1967 eine neue Produktionslinie eingerichtet. Im Zuge der Privatisierung öffentlicher Vermögenswerte wurde die Zahl der Beschäftigten von siebentausend auf viertausend reduziert und die Ausbeutungsrate in der Fabrik erhöht. Seit 2013 streiken und protestieren die Beschäftigten dieser Fabrik regelmäßig, um die Einhaltung ihrer Rechte zu fordern.

Meisam Al-Mahdi ist einer der Arbeiter der Ahwaz National Steel Group. Er begann 2007 in der Fabrik zu arbeiten, zunächst als Tagelöhner im Restaurant und dann mit befristeten Verträgen in der Produktionsabteilung. Bis zu dem Tag, an dem er in den Untergrund gezwungen wurde und den Iran verlassen musste. Bahram Ghadimi sprach mit ihm über die Kämpfe dieser Arbeiter.

(Anm.d.Red.: Das Interview wurde vor der derzeitigen Welle von Aufständen geführt, weshalb aktuelle Bezüge fehlen. Wir erarchten es dennoch als wichtigen Einblick in die Kämpfe im Iran)

War die Ahwaz Steel Factory vor den Privatisierungen in staatlichem Besitz?

Ja, bis zur Präsidentschaft von Ahmadinejad war es eine staatliche Fabrik. Die Privatisierung der großen Fabriken wurde in der Zeit von Ahmadinejad umgesetzt. Deshalb erhielten wir nie unbefristete, sondern immer auf drei Monate befristete Verträge. Plötzlich war die Rede davon, dass einige Fabriken bankrott seien. Sie wurden ohne Mitsprache der Arbeiter an den privaten Sektor verkauft. Diejenigen, die die Unternehmen übernommen haben, gehörten zu den kapitalistischen Banden, die mit Ahmadinedschad verbunden sind. Arya Mansur war einer von ihnen und übernahm nicht nur das Stahlwerk, sondern auch die iranischen Eisenbahnen und die Damash-Gruppe. Er wurde später wegen Veruntreuung hingerichtet. Aber alle Arbeiter wissen, dass er hingerichtet wurde, damit er diejenigen nicht verrät, die gemeinsam mit ihm die massiven Unterschlagungen zu verantworten hatten.

Zudem wurden während der Präsidentschaft von Ahmadinejad zahlreiche Industriekorridore und Freihandelszonen geschaffen. Die Struktur dieser Zonen ist gegen die Arbeiterklasse gerichtet. Ich habe in einer von ihnen, der Region Arwand, gelebt und weiß, was mit den Arbeitern passiert, wenn eine Zone zur Freihandelszone erklärt wird und Privatisierungen stattfinden.

Was bedeuten diese Freihandelszonen?

In Ahwaz wurden wir mehrmals mit Landkonfiszierungen konfrontiert. Sie begannen zur Zeit der Pahlavi-Dynastie und dauert bis heute an. Während der Präsidentschaft von Rafsanjani wurde Land für die Zuckerproduktion beschlagnahmt. Rafsanjani erfand seine eigene Art und Weise, das Land der Menschen zu beschlagnahmen: Sie machten das Land unbrauchbar für den Anbau; zum Beispiel bauten sie Staudämme an Flüssen und sorgten dafür, dass das Wasser des Golfs in das Land der Menschen eindrang und es versalzte, so dass es nicht mehr bestellbar war. Nach und nach verödeten diese Ländereien und die Kapitalisten kauften sie dann von den Menschen zu sehr niedrigen Preisen. Diejenigen, die Widerstand leisteten, wurden inhaftiert; einige kämpfen noch heute und haben trotz des erzwungenen Verkaufs ihrer Ländereien nicht aufgegeben.

Wie hoch war der Anteil der persischen und arabischen Arbeiter in eurer Fabrik?

In vielen der neuen Fabriken oder Ölgesellschaften wurden arabische Arbeiter:innen eindeutig diskriminiert, weil die Fabrikbesitzer eine nationalistische und rassistische Haltung einnehmen. Sie fragten uns direkt, ob wir Araber sind oder wenn sie sahen, dass wir ursprünglich arabische Namen oder Nachnamen wie Al-Mahdi, Tamayomi, Bani Torof usw. haben, stellten sie uns nicht ein. Arabische Arbeiter sind gezwungen, ihren Nachnamen zu ändern, um einen Arbeitsplatz zu erhalten. In der Stahlfabrik gab es hingegen eine beträchtliche Anzahl arabischer Arbeiter, was außergewöhnlich war.

Wie wurden die arabischen Arbeiter in der Fabrik behandelt?

Ich hatte zum Beispiel viel Erfahrung als Techniker für blooming, eine der außergewöhnlichsten Maschinen dort, aber weil ich Araber bin, gab man mir nicht das Recht, diese Arbeit zu machen, und ein nicht-arabischer Arbeiter, der die Maschine nicht gut kannte, war mein Vorgesetzter. Das fand ich nach einiger Zeit heraus, und ich fand auch heraus, dass dieser Arbeiter, der meine Stelle übernommen hatte, doppelt so viel verdiente wie ich. Diese Verhaltensweisen waren sehr verbreitet. Selbst arabische Facharbeiter, die Metallurgie, Maschinenbau oder andere produktionsbezogene Fachgebiete studiert hatten, arbeiteten unter der Aufsicht von Personen, die nicht aus demselben Fach stammten und ihre Position durch Günstlingswirtschaft erlangt hatten. Unser Chefingenieur zum Beispiel war ein Spezialist für landwirtschaftliche Bewässerung, während es in der Fabrik arabische Ingenieure und Arbeiter gab, die sich auf Metallurgie spezialisiert hatten; aber keiner von ihnen erreichte hohe Positionen, weil die Bauunternehmer dachten, dass Araber, wo immer sie hingehen, ihre Massen mitnehmen und sich selbst organisieren; deshalb haben sie uns immer an den Rand gedrängt, damit wir keine Gelegenheit hatten, uns zu organisieren.

Wie hat der Kampf der Arbeiter der Ahwaz Steel Factory begonnen?

Bei Ahwaz Steel begannen die Arbeitskämpfe nach der Privatisierung der Fabrik. Als bekannt wurde, in welchem Umfang Unterschlagungen stattgefunden hatten und die Justiz die Fabrik beschlagnahmte. Während der Beschlagnahmung landeten die Gewinne aus unserer Produktion auf den Konten der Justiz. Die Haltung unserer Proteste war: wenn die Fabrik auf Raten an einen anderen Kapitalisten verkauft werden soll, ziehen wir Arbeiter es vor, an den Versteigerungen teilzunehmen und sie selbst zu kaufen, auch wenn dies eine Senkung unserer Löhne bedeuten würde. Wir können die Fabrik leiten und wir beherrschen die technische Seite viel besser als die Kapitalisten und Manager.

Letztendlich ist der Moment des Beginns der Proteste aber in der Regel der Protest gegen die Löhne. Die Ungleichheiten und Unterdrückungen der Arbeiter sind zahlreich, aber die Löhne sind ein guter Ansatzpunkt, um alle Arbeiter um ein zentrales Thema zu versammeln. Im Verlauf der Proteste können dann viele andere Themen diskutiert werden.

Im ersten Jahr der Proteste hatten sie uns sechs Monate lang keine Gehälter gezahlt. Es war unser erster Protest und Streik außerhalb der Fabrik. Er fand Ende 2016 und Anfang 2017 statt. Wir verließen die Fabrik für 17 Tage und schlossen alle Türen. Kein Produkt ging raus und nichts kam rein, bis wir drei Monatslöhne nachgezahlt bekamen.

Aber die Proteste beschränkten sich nicht auf die Frage der Löhne. Bei unserem letzten Streik schuldete uns die Fabrik keine Zahlungen. Wir waren in die nächste Phase unseres Kampfes eingetreten: den Kampf gegen die Stahlmafia. Wir waren über die kleinen, eher alltäglichen Forderungen – Arbeitshandschuhe, Gesundheit, Sicherheit am Arbeitsplatz usw. – hinausgegangen.

Wie verlief der Streik?

Die Sache war die, dass die Fabrik mehrere Abteilungen hatten (Produktion von Rohren, Stahl, Eisenträgern, Drähten, Maschinen usw.) und jede Abteilung hatte ihren eigenen Chef. Derjenige in Abschnitt 1 zahlte keine Löhne, derjenige in Abschnitt 2 zahlte zwar Löhne, bot aber keine Versicherungen an usw. Zu Beginn war es uns nicht möglich, uns auf ein gemeinsames Problem zu einigen.

Das erste Ziel, auf das wir uns konzentrieren mussten, war also die Reduktion der Anzahl der Chefs. Anschließend wurden die Löhne zum zentralen Thema. Zwischen 2015 und 2016, als die Fabrik auf den Konkurs zusteuerte, waren unsere Proteste auf ihrem Höhepunkt.

Ich war Techniker an den Blooming-Maschinen, das ist eine Maschine, die das erste Eisen aus dem Ofen nimmt und die 200-mm-Blöcke in 150-mm-Blöcke umwandelt, die dann in die Walzen zur Herstellung von Eisenträgern gelangen.

Ich war kein Bediener und habe nicht mit der Maschine gearbeitet, sondern war für den mechanischen Teil zuständig. An empfindlichen Maschinen gibt es immer einen versteckten Schalter, und der Arbeiter, der vor mir an dieser Maschine als Techniker gearbeitet hatte, hatte mir gezeigt, wo der Schalter war. Eines Tages, als ich sehr frustriert war, drückte ich diesen Schalter und die ganze Fabrik blieb stehen. Egal, wie sehr sie sich bemühten, die Maschine funktionierte nicht. Sie haben Maschinenbauingenieure, Elektroingenieure usw. geholt, aber niemand konnte etwas tun.. Jedenfalls stand ich da, rauchte meine Zigarette und sah zu, wie sie sich die Köpfe einschlugen. Es war Zeit, nach Hause zu gehen; ich wollte mich gerade umziehen, als der Ingenieur mich fragte, wohin ich gehen würde. Ich sagte ihm, dass ich nach Hause gehen würde. Er sagte: “Die Maschine funktioniert immer noch nicht”. Ich sagte: “Na und? Bin ich dafür verantwortlich?” Er antwortete: “Ja!” Ich sagte: “Ich bin vielleicht dafür verantwortlich, aber ich besitze die Maschine nicht. Soll doch der Besitzer kommen und es zum Laufen bringen!”

Kein anderer Arbeiter war bereit, die Maschine zu starten, obwohl viele von dem versteckten Schalter wussten. Ich wurde befördert und wurde zum Bediener genau dieser Maschine. Es vergingen ein paar Wochen. Eines Tages, als ich bei der Arbeit war und lernte, wie man die Walzen benutzt, sah ich, dass ich eine Sprechanlage an meinem Arbeitsplatz hatte, die in der ganzen Fabrik zu hören war. Etwas viel Besseres als soziale Medien, dachte ich mir, denn dreihundert Arbeiter würden mich gleichzeitig hören können. Am nächsten Tag warf ich das Bügeleisen in die Maschine. Der Ingenieur fragte mich über den Sender, warum ich nicht arbeite. Während alle Arbeiter meiner Antwort zuhörten, sagte ich ihm: “Meine Frau und meine Kinder haben nichts zu essen. Warum sollte ich arbeiten? Warum sollte ich hier schwitzen und mein Leben und meinen Geist aufreiben, wenn es nichts an dieser Arbeit gibt, was mich glücklich macht oder meiner Familie Glück bringt?” Er fragte: “Drohst du mir?” Ich antwortete: “Nein, ich streike!”. Er fragte: “Streiken Sie alleine?” Plötzlich ertönte es in der ganzen Fabrik “Nein, er ist nicht allein, wir sind alle bei ihm”.

Wie hat das Regime reagiert und wie war die Reaktion der Fabrikbesitzer und Auftraggeber?

Sie gingen auf zweierlei Weise gegen uns vor. Innerhalb des Unternehmens wurden wir von den Managern entlassen oder mit Entlassung bedroht und außerhalb der Fabrik wurden wir von der Polizei und den staatlichen Nachrichten- und Sicherheitskräften verfolgt. Beide handelten koordiniert und folgten sehr klaren Regeln. Ich selbst wurde eine Zeit lang gefoltert und ich wurde mehr als vier oder fünf Mal verhaftet.

2015 war ich in einem Kerker und wurde dort einen Monat lang gefoltert. Im Jahr 2016 nutzten sie eine andere Form der Repression. Sie riefen die Menschen an, und wenn Sie nicht ans Telefon gingen, kamen sie zu Ihnen nach Hause und nahmen sie fest. Einmal haben sie mich angerufen und ich hatte nicht abgenommen. Dann riefen sie meine Frau an, nannten ihr die Adresse der Schule unserer Tochter und drohten implizit, dass unsere Tochter möglicherweise einen Unfall haben könnte. Wenn wir das nicht wollen würden, sollte ich beim nächsten Mal ans Telefon gehen sollte.

Ein anderes Mal wurde ich in der Fabrik verhaftet. Vor den Augen aller Arbeiter zogen sie mir einen schwarzen Sack über den Kopf und brachten mich weg. Es kamen zudem ständig Agenten des Geheimdienstministeriums und belästigten uns bei der Arbeit.

Was hat man dir bei deiner Verhaftung vorgeworfen?

Man warf uns vor, radikalen, arabischen und bzw. oder nationalistischen Bewegungen anzugehören, radikale religiöse Tendenzen zu haben usw. Sie haben mir ins Gesicht gesagt: Wir werden dich brandmarken und deinen Namen in der Gesellschaft zerstören. Oder sie sagten, dass sie uns einfach beschuldigen könnten, mit was immer sie wollen, und uns ins Gefängnis bringen könnten.

Sie sagten uns, dass wir nicht das Recht hätten, uns gewerkschaftlich zu organisieren, nicht einmal innerhalb der Fabrik, weil sie wussten, dass die Löhne nur ein Ausgangspunkt waren, um andere Punkte anzustoßen. Sie hatten immer große Angst vor unserer Organisierung und selbst wenn sie uns unter anderen Vorwänden verhafteten, fragten sie uns bei den Verhören immer nach den Aktionen der Organisation und der Rolle, die wir darin spielten.

Warum musstest du aus dem Iran fliehen?

Lass mich zunächst erklären, wie mein Leben im Untergrund begann. Sie haben viele Verhaftungen vorgenommen. Hin und wieder haben sie einen Arbeiter aus seiner Wohnung entführt, um an Informationen zu gelangen, die ihnen helfen sollten, die Bewegung zu zerschlagen. Als sie mich verhafteten, zwangen sie mich, vor einer Kamera zu sitzen und Dinge zu gestehen, die ich nicht getan hatte. Sie drohten mir mit einem Stromschlag und stellten mich vor eine Kamera. Ich musste Geständnisse ablegen. Dann setzten sie mich mit verbundenen Augen auf einen Stuhl und fesselten mich an Händen und Füßen. Sie sagten mir: “Da es dieses Video gibt, solltest du morgen zu der Demonstration gehen, eine Rede halten und den Arbeitern sagen, dass der Streik beendet ist und sie zurück in die Fabrik gehen sollen”. Ich habe ihnen gesagt, dass ich das, was sie von mir verlangen, tun werde, wenn sie mich gehen lassen. Gegen vier oder fünf Uhr am nächsten Morgen setzten sie mich in der Nähe meines Hauses ab.

Als ich nach Hause kam, waren alle meine Kameraden da. Wir haben die Demonstration besucht. Während der gesamten Demonstration waren Polizisten in Zivil unter uns. Als ich meine Rede halten wollte, waren die Genossen besorgt. Sie dachten, ich könnte Angst haben und etwas sagen, das alles ruiniert. Ich sagte: “Wir haben nichts zu verlieren, und wir haben unsere Brust schon vor langer Zeit zum Schutzschild für ihre Kugeln gemacht. Der Klang ihrer Schüsse bricht nur die Angst in unseren Herzen. Wir werden bis zum Ende Widerstand leisten!” Als ich diese Worte sagte, wuchs die Begeisterung unter den Arbeitern. Von diesem Moment an ging ich nicht mehr in mein Haus zurück und war ständig unterwegs.

Ich konnte mich fünf Tage lang im Keller der Fabrik verstecken. Danach musste ich sieben Monate lang untertauchen. Während dieser Zeit wurden alle meine Bankkonten gesperrt. Sie gaben bekannt, dass ich aus der Fabrik entlassen worden war. Als ich untergetaucht war, kam die Polizei oft zu unserem Haus, und meine Kinder konnten nicht in Ruhe zur Schule gehen. Die Polizei folgte ihnen zur Schule und fragte die Lehrer, ob ihr Vater dort aufgetaucht sei. Meine Frau leidet an Multipler Sklerose, normalerweise erhält sie kostenlose Medikamente von der iranischen Lebensmittel- und Medizinorganisation und dem Roten Halbmond. Als sie mich nicht aufhalten konnten, verweigerten sie meiner Frau ihre Medikamente. Das Regime hat sogar den Roten Halbmond infiltriert, die Arbeit dieser internationalen Organisation wird von der iranischen Regierung kontrolliert und gegen Aktivisten wie mich eingesetzt. Vier Jahre sind bereits vergangen und wir müssen ihre Medikamente immer noch viermal so teuer auf dem Schwarzmarkt kaufen.

In welchem Verhältnis stehen eure Kämpfe zu anderen Kämpfen im Iran?

Im Jahr 2018 erreichten wir bei den Protesten einen Punkt, an dem sich die Klassensolidarität auf der Straße manifestierte. Anstatt ein Kommuniqué herauszugeben oder einen offenen Brief zur Unterstützung der verhafteten Arbeiter zu schreiben, waren wir auf der Straße, unterstützten sie, schrien und protestierten gegen die Verhaftungen. Diese Proteste dauerten 37 Tage und waren einer der längsten Straßenstreiks der damaligen Zeit. Als wir eines Tages erfuhren, dass die Lehrer verhaftet worden waren, änderten wir die Richtung des Marsches und gingen zum Bildungsministerium. Dort, vor dem Ministerium, riefen wir den Slogan der Gewerkschaft der Arbeiter und Lehrer. Auch als die Studenten an der Universität Teheran eine Aktion zu unserer Unterstützung abhielten und einige von ihnen verhaftet wurden, hörten wir nachts davon und am nächsten Morgen, als wir auf die Straße gingen, sangen wir das Lied “Mein Klassenkamerad”. Das war der Wendepunkt, der zeigte, dass unsere Gewerkschaft nicht nur auf dem Papier stand, sondern real war, auf der Straße.

Eines der Industriezentren, das eurer Fabrik am nächsten liegt, ist Haft-Tappeh Agro-Industrial. Ich habe gehört, dass ihr eine Zeit lang gemeinsame Aktionen durchgeführt haben. Kannst du dazu mehr erzählen?

Um die Bedeutung dieser Verbindung zu verstehen, muss man sich die Geschichte der Kämpfe in beiden Fabriken ansehen. Das Unternehmen Haft-Tappeh blickt auf eine lange Geschichte von Kämpfen und aus ihnen hervorgegangene Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung zurück. Auch das Stahlwerk hatte seine eigene Geschichte des Kampfes. In den 1980er-Jahren gab es dort aktive Arbeiter, von denen viele von den Kräften der Islamischen Republik verhaftet, gefoltert und entlassen wurden. Wir waren zwei große protestierende Fabriken. Als wir unsere Proteste und Streiks durchführten, stellten wir fest, dass unsere Streiks und die Streiks von Haft-Tappeh jedes Mal innerhalb einer Woche zusammenfielen. Wir beobachteten die Streikankündigungen von Haft-Tappeh und versuchten, unsere Proteste mit dieser Bewegung in Einklang zu bringen. Haft-Tappeh hat dasselbe getan. Sie haben zugesehen, wenn wir zum Streik aufgerufen haben, und haben ihre Aktionen mit unseren abgestimmt.

Im Verlauf der Zeit verspürten wir das Bedürfnis, gemeinsam zu denken und nach und nach wuchsen wir. Als der Kampf voranschritt und die Zeit verging, basierte alles auf Entscheidungen, die wir gemeinsam trafen. Was auch immer geschah, wir haben uns gegenseitig konsultiert. Es war wichtig, dass alle wussten, welche Maßnahmen wir ergreifen würden, denn wir standen dem Kapitalismus und seiner Mafia gegenüber, die vom Staat unterstützt wurden. Der Staat ist der Eigentümer der Polizei, der Eigentümer der Diktatur.

Deshalb mussten wir gemeinsam handeln, denn unsere Macht beruht auf der Tatsache, dass wir eine große Masse sind, und in dieser Vereinigung finden wir unsere Klassenidentität. Deshalb müssen wir gemeinsam denken, um Vertrauen in uns selbst zu gewinnen, um unsere Macht zu erlangen. Wir konnten keine individuellen und irrationalen Handlungen riskieren.

Denkst du, dass eure Proteste eine Form der Organisation geschaffen haben, die es vorher nicht gab?

Die Verhaltensweisen, die wir heute in der iranischen Arbeiterklasse beobachten, haben ihre Wurzeln in den Erfahrungen der Stahlarbeiter. Eine geteilte Erfahrung der Arbeiter ist die der Demütigung, die Erfahrung der Unbedeutsamkeit ihrer eigenen Existenz. Es gibt Arbeiter, die denken, dass ihre Stimme nichts bewirkt. In der Struktur der Islamischen Republik wurde ihnen ihre Stimme immer gestohlen. Ob sie nun wählen oder nicht, ihre Stimme ist gestohlen. Sie haben also das Gefühl, dass ihre Stimme wertlos und unbedeutend ist.

Aus diesem Grund haben wir uns vorgenommen, kleine Ausschüsse zu bilden. Das heißt, wenn wir fünf Abteilungen in der Fabrik hatten, haben wir in jeder Abteilung zwei oder drei kleine Ausschüsse gebildet. An diesen Ausschüssen, die in die Struktur der Fabrik und ihrer Abteilungen eingebettet waren, waren viele Arbeiter beteiligt. Themen wie Gesundheit, Sicherheit usw. waren die Anliegen der Arbeiter selbst, und sie brachten sogar die Probleme zur Sprache, die einige Arbeiter außerhalb der Fabrik hatten, und versuchten, Lösungen dafür zu finden. In diesen kleinen Ausschüssen ist es uns gelungen, die Arbeiter zusammen zu bringen und der Zersplitterung ein Ende zu setzen.

Die Idee zur Gründung dieser Ausschüsse wurde nicht in einer Nacht erdacht. Sie wurde aus unserem täglichen Leben und unseren Problemen abgeleitet. In vielen Fällen wurden die Schlussfolgerungen, zu denen wir kamen, von der Geschichte der Kämpfe der Arbeiterklasse genährt. Es ist nicht so, dass wir neue Konzepte geschaffen haben, aber wir haben neue Formen und Strukturen hervorgebracht.

Nach der Bildung der Ausschüsse und im Verlauf unserer Proteste kamen wir zu dem Schluss, dass diese Ausschüsse zusammenkommen, sich beraten und Ideen austauschen sollten. So entstand die Notwendigkeit, eine Generalversammlung innerhalb der Fabrik zu gründen, um sich zusammenzusetzen und die Wochen, in denen wir protestiert hatten, zu analysieren und über die Zukunft und aktuelle Fragen zu diskutieren. Beispielsweise darüber, wie wir auf die staatlichen Sicherheitsmaßnahmen reagieren sollten.

Was waren eure Überlegungen gegen die staatliche Repression?

Ich erinnere mich, dass wir irgendwann während unserer Proteste zu dem Schluss kamen, dass bei jeder Demonstration eine andere Person sprechen sollte. Wenn wir bei allen Protesten dieselbe Person als Rednerin oder Redner mitnehmen würden, könnte die Polizei sie identifizieren, sie angreifen und verfolgen. Deshalb haben wir beschlossen, bei jedem Protest eine andere Person aus einem anderen Ausschuss sprechen zu lassen. Nun konnte der Staat nicht nur eine Person verhaften und um alle Sprecher zu verhaften, musste er ein Manöver mit höheren Medienkosten durchführen. Auf diese Weise würden wir in der Gesellschaft besser bekannt sein, denn wenn nur ein oder zwei Arbeiter verhaftet würden, hätte die Nachricht nicht so viel Reichweite, aber die Verhaftung von dreißig oder vierzig würde eine massive Reaktion in den Medien hervorrufen. Auf diese Weise haben wir auch den Individualismus innerhalb der Ausschüsse selbst vermieden; wir haben es vermieden, bekannte Persönlichkeiten zu schaffen, denn es bestand die Möglichkeit, dass dieselben Ausschüsse in der Zukunft die Richtung ändern und gegen die Arbeiter und die Generalversammlung arbeiten würden. Es bestand also ein Bedarf an Abwechslung, um Gleichheit und Gleichgewicht zu schaffen. Und das Wichtigste war, dass alle Arbeiter das Gefühl hatten, dass sie an den Entscheidungen und Maßnahmen beteiligt waren.

Wir hatten damit gerechnet, dass unsere Proteste lang sein würden, wir mussten Rotationen entwickeln, um Ermüdung und Burnout zu vermeiden. Wir spürten, dass die Proteste die Frage der Löhne hinter sich gelassen hatten und wir direkt gegen die Regierung und die von ihr protegierte Mafia kämpften. Wir wussten, dass es anstrengend werden würde und dass die Repressionen stärker werden würden.

Die Proteste haben uns zwar Verhaftungen eingebracht, aber auch den Vorteil, dass unsere Stimme in der Gesellschaft Gehör gefunden hat. Ich glaube, dass unsere Stimme heute nicht mehr auf Ahwaz oder den Iran beschränkt ist. Die Stimme unserer Bewegung ist jetzt international. Wir haben gesehen, wie Stahlarbeiter in Argentinien oder in Europa ihre Fahnen zu unserer Unterstützung erhoben haben. Das waren mit die schönsten Momente, die wir erlebt haben, Momente, die uns ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben, denn wir haben gesehen, dass unsere Stimme nicht nur die Straßen und Fabriken erreicht, in denen wir leben, sondern dass sie gewachsen und international geworden ist.

Sind diese genannten Formen der Organisierung heute noch gültig?

Aufgrund der großen Repression werden diese Organisationsformen heute halb klandestin praktiziert. Wir glauben, dass beispielsweise die jüngsten Streiks der Tagelöhner weitgehend von der Struktur unserer Organisation inspiriert wurden, die aus mehreren Ausschüssen und einer Generalversammlung besteht.

Bei den Protesten der einzelnen Arbeiter kann man nicht gerade von Komitees sprechen, aber verschiedene und verstreute Sektionen streiken und dann versuchen dieselben Sektionen Versammlungen in verschiedenen Städten zu bilden. Durch die Beziehungen, die wir mit den Genossen der Ölarbeiter haben, wissen wir, dass ihre Organisationsform auch von unserer inspiriert ist. Außerdem wurden sechs Monate nach der Gründung unserer Organisation, als es in Ahwaz eine Überschwemmung gab, Volkskomitees gebildet. Wir als Arbeiter unterstützten diese Komitees, indem wir Dämme bauten und die Menschen mit dem Nötigsten versorgten. Obwohl die Islamische Republik uns unterdrückt, wachsen unsere Ideen von Tag zu Tag und wir sehen unsere Art der Organisation in der Gesellschaft. Wir wollen aber bewusst nicht, dass diese Form der Organisation auf unseren Namen eingetragen wird. Wir haben es mit einem diktatorischen Staat zu tun, und wenn wir verkünden, dass diese Form der Organisation die unsere ist, können wir angegriffen werden und werden Verluste erleiden.

In Anbetracht der aktuellen Lage im Iran, wie siehst du die Zukunft unserer Gesellschaft und die Zukunft der Stahlwerker?

Wir haben Hoffnung. Wenn wir auf unser Handeln in den letzten zehn Jahren zurückblicken, stellen wir fest, dass wir anfangs zu zweit waren, dann fünf, zehn und schließlich Tausende von Menschen. Wir sehen, wie dieses allmähliche Wachstum, diese Bündelung der Kräfte, verlaufen ist. Ich erinnere mich, als wir vor fünf Jahren vor dem Bildungsministerium protestierten, kam ein Lehrer und hielt eine Rede.

Als wir protestierten, versuchten die Rentner, eine noch neue Bewegung, sich besser zu organisieren. Ich will nicht sagen, dass unsere Proteste die Achse aller sozialen Proteste im Iran sind, aber wir glauben, dass in diktatorischen Staaten die Traditionen des Straßenkampfes weitergegeben werden. Das heißt, als wir auf die Straße gingen, haben wir etwas von den Bewegungen der Lehrer und Rentner gelernt. Vielleicht ergänzen wir sie. Wenn wir die Rentnerbewegung im Rahmen des diktatorischen Systems im Iran betrachten, sehen wir ein sehr wichtiges Potenzial.

Die Lebensweise der Rentner verleiht ihrer Bewegung ein großes Potenzial; auch wenn dieses Potenzial nicht konstant ist und ihre Organisation jung ist, haben wir es mit Menschen zu tun, die mindestens dreißig Jahre in den Fabriken gearbeitet haben. Heute haben wir einen älteren Menschen vor uns, der radikal ist. Seine Redeweise und seine Literatur sind radikaler als die der Arbeiter, weil er nichts zu verlieren hat. Was wir heute brauchen, ist ein Dialog zwischen der Arbeiter- und der Rentnerbewegung. Nicht nur, um Verbindungen zu schaffen, sondern auch, um uns daran zu erinnern, dass beide Bewegungen nahe beieinander liegen und ein großes Potenzial haben.

Die letzten Worte gehören dir…

Ich möchte noch einmal betonen, dass wir heute in jeder Gesellschaft, wenn wir eine Organisation auf praktischer Ebene gründen wollen, die psychologischen Bedingungen der Gesellschaft und die systematische Demütigung, die die Menschen erleiden, nicht ignorieren dürfen. Und wenn wir sie berücksichtigen, sehen wir, dass es viel Hoffnung für diese Proteste und Organisationen gibt, zu wachsen. Die protestierende iranische Gesellschaft ist in zwei Gruppen geteilt. Ich denke, dass es derzeit eines der Hauptanliegen der rechten und der monarchistischen Strömungen ist (1), die Nachrichten, die die Arbeiter betreffen,zu kontrollieren und den politischen Diskurs der Arbeiter zu unterdrücken. Es kann gesagt werden, dass die Verschwörung der Medien sehr klar und offensichtlich ist. Sie versuchen immer, die Basis, die Arbeiterbewegung und die Demonstranten zu “zusätzlichen” Akteuren zu machen und ihre Errungenschaften zuvereinnahmen. Daher ist es sehr wichtig, dass wir nicht nur unsere Stimme im Protest erheben, sondern auch unsere Ideen und unseren politischen Diskurs erklären und verbreitern. Die Arbeiterbewegung hat eine schwierige Aufgabe, aber es wird ein sehr guter Kampf sein.

# Titelbild: https://shahrokhzamani.com/2018/12/20/free-ahvazsteel/

Anmerkungen

(1) Zu den rechten Strömungen gehören sowohl die staatlichen rechten Strömungen als auch die bürgerliche Opposition im Ausland (z. B. die Monarchisten). In jeder Periode, in der Proteste auf die Straße gehen, versucht die Seite, die gerade nicht an der Regierungsmacht ist, die an der Macht befindliche Seite dafür verantwortlich zu machen und zu behaupten, dass die Proteste auf die Korruption oder die Unzulänglichkeiten der anderen Seite zurückzuführen sind. Auf diese Weise wird das gesamte System von der Klinge der Proteste verschont und die Proteste werden für die Interessen der verschiedenen Seiten genutzt. Ebenso versuchen die kapitalistischen Banden, die im Ausland gegen das Regime der Islamischen Republik opponieren und sich um den Sohn des letzten iranischen Königs geschart haben, von diesen Bewegungen zu profitieren, um das Regime zu verurteilen, als ob es während der Herrschaft des Monarchen Pahlavi keine Ausbeutung und Unterdrückung gegeben hätte.

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Thailand als Land der Semiperipherie befindet sich irgendwo in der Schwebe zwischen Zentrum und Peripherie. Wir haben einen Text der thailändischen Genoss:innen von dindeng übersetzt, der sich die Frage stellt, wie Staat, Macht und Gewalt sich in ihrem Kontext auf ihre Kämpfe auswirken.

Autor: Yung Kay

Wir sind hier an der Schnittstelle zwischen Zentrum und Peripherie, und wenn es irgendwo möglich sein sollte, diese in Einklang zu bringen, dann sicherlich hier. Nicht nur Thailand, sondern auch andere Regionen, die in der gleichen globalen ökonomischen Gruppe des mittleren Einkommens gefangen sind. Kann es eine Interaktion zwischen der Peripherie und dem Zentrum geben?

Im Moment befinden wir uns in Nordthailand. Hier sind wir zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Wir haben Geflüchtete von jenseits der Grenze gesehen, die von den Eiswägen aus in die tadellos sauberen  Co-Working Spaces liefern und mühelos an den professionellen E-Mail-Schreibern in ihren klimatisierten Räumen vorbeigleiten.

Thailand selbst ist zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Noch heute ist es ein “wichtiger Nicht-Nato-Verbündeter”, der gegenüber unseren Genossen in Peking endlos Lippenbekenntnisse abgibt. In Wirklichkeit sind unsere Glanzzeiten als kolonialer Vorposten des Kalten Krieges längst vorbei. Thailand bröckelt langsam vor sich hin und ist ein Relikt der alten bipolaren Welt, erdrückt von autoimperialistischer Aufblähung und gefangen in längst überholten, vom Ausland aufgezwungenen Dogmen.

Wie kann man das unter einen Hut bringen?

Lokal

Um mit einer Versöhnung zu beginnen, müssen wir zunächst versuchen zu bestimmen, was die Peripherie und was das Zentrum ist. Eine einfache Möglichkeit, dies zu tun, ist ein Blick auf die Verteilung des BIP im gesamten Königreich zu werfen. Bangkok verzehrt alles. Ein schwarzes Loch, das Wohlstand und Arbeit aus dem ganzen Land ansaugt. Fast 50 Prozent des Reichtums des Landes liegen in Bangkok, während nur 22 Prozent der Bevölkerung dort leben, von denen ein Großteil inländische oder ausländische Wanderarbeiter*innen sind. Von diesem Reichtum befindet sich natürlich der größte Teil in den Händen der Bourgeoisie. 

Seit seiner Gründung in der Mitte des 18. Jahrhunderts hat Bangkok seine Außenposten im ganzen Königreich ausgebaut. Chiang Mai im Norden, Khon Kaen und Korat im Isaan, Had Yai und Nakorn Si Thammarat im Süden. Diese Außenposten dienen dem Zweck, die Peripherie ins Zentrum zu integrieren. Die Thaifizierungspolitik der explizit faschistischen Regierung in den 1930er Jahren war nicht nur ein kultureller Imperialismus, sondern auch ein wirtschaftliches Programm, mit dem sie die Peripherie und den Kern miteinander versöhnen wollte, indem sie die Peripherie in den ökonomischen Einflussbereich des Kerns aufnahm.

Der Norden ist pro Kopf die ärmste Region, was vor allem auf die Armut in Mae Hong Son zurückzuführen ist – zweifellos die Provinz, welche geografisch, wirtschaftlich, kulturell und in Bezug auf die Reichweite der Regierung am weitesten vom Kern entfernt ist – die Einheimischen sagen oft, dass Mae Hong Son nicht Thailand ist. Mae Hong Son ist der Ort, aus dem viele der oben erwähnten subalternen Arbeiter stammen oder durch den sie kommen. Sie sind alle auf die eine oder andere Weise Flüchtlinge, sowohl diejenigen, die im Inland geboren sind, als auch diejenigen, die von jenseits der Grenze kommen, denn die Grenze bedeutet sehr wenig, wenn sie so weit draußen in der Peripherie liegt. 

International

Bangkok ist zwar das imperiale Zentrum Thailands, wird aber selbst immer mehr Teil der globalen Peripherie des Kapitals. Einst war es das Bollwerk des amerikanischen Imperiums im Kampf gegen den Kommunismus in Südostasien – Milliarden von Dollar wurden in die Hauptstadt gepumpt, um sie vor den Bauern zu schützen, die sie erobern und ihren Reichtum umverteilen wollten.

Zu diesem Zeitpunkt wurde der “tiefe Staat” im eigenen Land geschmiedet. Der republikanische Faschismus, der Thailand von den dreißiger Jahren bis in die frühe Nachkriegszeit hinein beherrschte, wurde von einer mehr auf die Dritte Welt ausgerichteten, bündnisfreien Stimmung bedroht. Die republikanischen Elemente des früheren offen faschistischen Regimes wurden verworfen, auch wenn viele ihrer Ideale erhalten blieben und der Republikanismus wurde durch ein Programm zur Aufwertung der Monarchie ersetzt, um sie zur wohlwollenden Fassade der Nation zu machen. Man machte sich ihre religiösen und feudalen Patronagenetze zunutze und kombinierte sie mit dem nationalistischen militaristischen Faschismus der vorangegangenen Generation von Führern. Das Militär, die Monarchie und das Kapital verbündeten sich gegen die Arbeiter und den Kommunismus, ein Bündnis, das vom globalen Kapital über die Fänge des US-Imperiums heftig unterstützt und ermöglicht wurde.

Das Königreich wurde zu einer wichtigen Operationsbasis, von der aus Aggressionen gegen Nachbarstaaten gestartet wurden. Obwohl das Kapital in Vietnam, Laos und Kambodscha kleinere Rückschläge hinnehmen musste, war diese Aggression letztlich erfolgreich. In den 90er Jahren, als die Bedrohung durch die Arbeiter nachließ, wurde Bangkok weitgehend sich selbst überlassen, die Schmiergelder waren gestrichen worden und die imperiale Aufblähung begann. Heute ist der Verfall in ganz Bangkok offensichtlich: eine absurd überfüllte Stadt, deren Boulevards mit leeren Ladenfronten buchstäblich versinken, während sich das Meer langsam das Land zurückholt, auf dem immer noch glitzernde neue Einkaufszentren und Eigentumswohnungen errichtet werden.

Für das obere Ende der Bourgeoisie musste sich jedoch nichts ändern. In dem Unterbietungswettlauf des Kapitals, immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten für die Gewinnung von so viel Überschuss wie möglich, stagniert Thailand jedoch. Die brutale Gewinnausbeutung kann in nahe gelegenen Ländern wie Bangladesch und Birma billiger durchgeführt werden. Heute gleiten makellose Teslas mühelos über die rissigen Straßen und an den verfallenden Slums vorbei – ihre Fahrer sind sich der Fäulnis, die sie umgibt, überhaupt nicht bewusst und wissen nicht, dass sie nur noch mit Abgasen fahren, dass das Kapital sie im Stich lässt, obwohl der Gestank bleibt.

Diejenige, die die Fäulnis aus erster Hand kennen, ist natürlich die Arbeiterklasse. Die jüngsten Zahlen zeigen, dass die Verschuldung der thailändischen Haushalte inzwischen 90 % des BIP übersteigt und damit an elfter Stelle in der Welt steht, wobei der Großteil dieser Schulden auf Haushalte mit niedrigem Einkommen entfällt.

Die Wirtschaft braucht dringend massive Investitionen und eine Generalüberholung, aber die Säulen, die die Nation stützen, sind am Wanken. Das Militär, die Monarchie, die Bürokratie und das Parlament sind allesamt völlig unfähig, etwas anderes zu tun als den Status quo aufrechtzuerhalten. Diese Institutionen sind durch ihre aufgeblähten Klientelnetzwerke verankert und gebunden und werden durch den tiefen Staat eingeengt, der seinerseits durch das Dogma der thailändischen Vergangenheit aus der Mitte des 20. Jahrhunderts gebunden ist. Heute aber ist er kein wichtiger Außenposten des globalen Imperiums mehr, sondern nur noch ein Relikt.

Der einzige sinnvolle Reformversuch kam in Gestalt von Thaksin Shinawatra. Im Guten wie im Schlechten war Thaksin eine revolutionäre Kraft in der thailändischen Wirtschaft, politisch wollte er die Nation ins 21. Jahrhundert bringen. Obwohl seine Politik immer noch fest im Dienste der Bourgeoisie stand, wurde er als zu große Bedrohung für die bereits erwähnten aufgeblähten dogmatischen Institutionen des Staates und des Kapitals angesehen. Sie setzten ihn gewaltsam ab und arbeiteten unermüdlich daran, jegliche Überreste von Reformen zu vernichten, und bewiesen damit ihre Unfähigkeit, sich dem Tempo des globalen Kapitals anzupassen.

Wir sind nicht allein

Diese Gefahr ist weltweit keine Seltenheit. Haltet Ausschau nach Ländern mit einer großen Bevölkerung, die hauptsächlich vom Land kommt und die im letzten halben Jahrhundert eine massive Verstädterung erfahren und eine Produktionsbasis entwickelt haben. Achtet auf die verräterischen Anzeichen von sich ausbreitenden Städten, die sowohl eine wehrhafte einheimische Elite als auch eine massive Slumbevölkerung beherbergen. Beachtet die geografische Peripherie, d. h. die Teile des Landes, die vom Zentralstaat praktisch nicht regiert werden. Schaut auch die politische Gewalt an, auf der diese zeitgenössischen Versionen des Staates aufgebaut wurden, wobei US-Geheimdienstmitarbeiter im Hintergrund lauerten. Brasilien, Indonesien, Südafrika, Mexiko, usw.

Diese Länder dienen als eine Art Vermittler zwischen dem Kern und der Peripherie. Niedrige Unterleutnants des globalen Kapitals. Nur wenige erklimmen die Leiter in die oberen Ränge, wobei Südkorea eine der wenigen großen Nationen ist, die in die Bruderschaft des Zentrums eingetreten ist. Thailands Führer blicken neidisch dort hin und fragen: “Warum können wir das nicht haben?”

Die Antwort ist, dass Südkorea im Auftrag des Kapitals, genauer gesagt seiner Vollstrecker, des US-Imperiums, gezwungen wurde, jegliche Souveränität aufzugeben. Südkorea, ein Staat mit einer so absurden Geschichte, voller grotesker Gewalt und brutaler Unterwerfung, wurde weitgehend mit Gewalt und als Ergebnis eines außergewöhnlichen Ereignisses in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zum perfekten kapitalistischen Staat geformt. Ein paar andere Fälle in Ostasien, nämlich Taiwan und Singapur, basieren mehr auf Zufällen der Geschichte als auf geschickter innenpolitischer Führung oder klugem Wirtschaftsmanagement. Eine Gemeinsamkeit besteht jedoch darin, dass die Souveränität im eigenen Land fast völlig fehlt und in Wirklichkeit in den Händen des Westens und des globalen Kapitals liegt.

Die thailändischen Eliten waren nicht bereit, dieses Maß an Souveränität aufzugeben, wie wir 1973 gesehen haben, oder vielleicht wurde ihnen auch nie die Gelegenheit dazu gegeben. Wie auch immer, es scheint, dass sie am Ende an ihr eigenes Märchen von einem “besonderen”, tapferen kleinen Staat glaubten, der in der Lage war, sich gegen Kolonialreiche zu behaupten. In Wirklichkeit hat Thailand lediglich Platz gemacht für das britische Empire und dessen Nachfolger, das Kapital des 20. Jahrhunderts, unterstützt von seinem Vollstrecker, dem US-Imperium. Als Thailand nach dem Kalten Krieg nicht mehr von Nutzen war, verlor das Imperium das Interesse. Zum Glück für die koreanische und taiwanesische Bourgeoisie sorgten unsere Genossen weiter nördlich dafür, dass sie in den Augen des Imperiums relevant blieben, und so wurden sie in den Kern, die Bruderschaft der “fortgeschrittenen Volkswirtschaften”, aufgenommen.

“Warum können wir das nicht haben?” – schreit der thailändische tiefe Staat dem Kapital zu.

“Weil ihr zu irrelevant seid”, antwortet das Kapital beiläufig und stößt auf taube Ohren.

Gewalt

Um die Politik in diesen Ländern mit mittlerem Einkommen im Vergleich zur wahren Peripherie und zum wahren Zentrum zu definieren, müssen wir die Gewalt verstehen. In den Ländern des Zentrums ist explizite politische Gewalt selten. Natürlich gibt es diese Art von permanenter unterschwelliger Gewalt und Unterwerfung, die man in fortgeschrittenen Volkswirtschaften findet, aber sie bricht selten in massenhafter politischer Brutalität aus. Die wahre Peripherie ist jedoch von Gewalt geprägt. Gleich jenseits unserer westlichen Grenze ist Gewalt im Alltag allgegenwärtig, sie ist der wichtigste Faktor bei fast allen Entscheidungen der Arbeiterklasse. In unserem Erleben gibt es jedoch ein unbehagliches Verständnis von Gewalt, ein Verständnis, das sie erlebt hat und nur äußerst ungern noch einmal erleben möchte.

Die thailändische Politik ist gespickt, aber nicht übersät mit politischen Massakern, einige sichtbar, andere nicht. Phumi Bhoon, Thammasat, Black May, Tak Bai, Krue Se und Ratchaprasong sind in den Köpfen des Proletariats fest verankert. Dies sind Fälle, in denen der Staat gezeigt hat, dass er bereit und in der Lage ist, öffentlich Massengewalt anzuwenden. Viele in der Arbeiterklasse erinnern sich auch an die Gewalt des Krieges gegen die Drogen Mitte der 2000er Jahre, an die Verhaftungen, die spontanen brutalen Verhöre und die massenhaften, fast unsichtbaren außergerichtlichen Morde – die so weit verbreitet und doch irgendwie so unauffällig waren. Im vorigen Jahrhundert sahen sich diejenigen, die den Revolutionären des Aufstands Unterschlupf gewähren wollten, mit Morden und staatlicher Brutalität konfrontiert, die öffentlich bis heute völlig ignoriert werden, an die sich aber diejenigen, die sie erlebt haben, noch erinnern.

Wenn man bereit ist, die Macht des Staates herauszufordern, ist Gewalt auf individueller Ebene nicht so sehr eine Bedrohung, sondern eine Unvermeidlichkeit. Wie viele Aktivist*innen wurden allein in den letzten zehn Jahren geschlagen, gefoltert oder in überfüllte sadistische Gefängnisse geworfen? Ihre Geschichten und Erfahrungen, ihr Blut, sind eine abschreckende Botschaft für alle anderen, die mutig genug sind, es ihnen gleichzutun. Sie sind die Überlebenden, viele andere wurden einfach ermordet, entsorgt, manchmal am Telefon mit ihren Angehörigen, ihre Leichen wurden in den Mekong geworfen.

Natürlich ist die Gewalt in Thailands innerer Peripherie eine weitaus allgegenwärtigere Facette des täglichen Lebens. Diejenigen, welche auf “Land leben, das ihnen nicht gehört”, sind der ständigen Gefahr einer gewaltsamen Vertreibung ausgesetzt. Für Migrant*innen, die in das Zentrum reisen um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, ist das Leben von Gewalt am Arbeitsplatz und in den städtischen Slums geprägt. Insbesondere Frauen sind in der Sexindustrie, einem historischen Hort frauenfeindlicher Barbarei, der übrigens im Dienste der aus den USA importierten Kolonialtruppen des letzten Jahrhunderts errichtet wurde, entsetzlicher Gewalt ausgesetzt – heute führen die Söhne und Enkel dieser Truppen das Erbe ihrer Vorfahren fort.

Diese Art von Gewalt, sowohl die gegenwärtige als auch die historische, sowohl die sichtbare als auch die unsichtbare, stellt eine ständige Bedrohung für diejenigen dar, die ihre gegenwärtigen Bedingungen ändern wollen. Im August, in den ersten Tagen der Protestbewegung 2020 Bangkok und fast 50 Jahre nach dem Massaker an der Thammasat-Universität, kämpften Student*innen auf der Straße gegen die Polizei. Für viele von ihnen war es die erste Erfahrung mit staatlicher Gewalt. Als sie in der Chulalongkorn-Universität Zuflucht vor dem Tränengas suchten, hallte im ängstlichen Flüstern die Erinnerung an die Thammasat-Universität wider: “Könnten sie es wieder tun? Ich glaube, sie könnten es wieder tun?” Die Angst ist weit verbreitet und berechtigt – eine Angst, die im globalen Zentrum unbekannt ist, aber nur allzu bekannt in der wahren Peripherie.

In unserer Lebenswelt hat der Staat unter Beweis gestellt, dass er die Fähigkeit zu expliziter Massengewalt hat, diese jedoch im Kontext eines allgemeinen Friedens existiert. Diejenigen, die den Status quo in Frage stellen wollen, geraten in eine schwierige existenzielle Lage.

Wie lässt sich das unter einen Hut bringen?

Eine Chance

Vielleicht sind wir nicht zwischen einem Tiger und einem Alligator gefangen, sondern befinden uns vielmehr in der besten der beiden Welten.

Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, geht allmählich in den Todeskampf über. Vor allem aber wird das US-Imperium immer weniger in der Lage sein, die Rolle des Vollstreckers zu spielen. Aber was passiert mit der halben Peripherie, wenn der Kern zusammenbricht? Wenn die Westgoten Rom plündern? …eine Gelegenheit bietet sich. 

Wir kennen die brutale Unterdrückung gut genug um zu ahnen, womit wir es zu tun haben. Der Reichtum der Bourgeoisie präsentiert sich im gleichen Rahmen wie die Notlage der Arbeiterklasse, und zwar auf eine Weise, wie sie es weder im Zentrum, noch in der wahren Peripherie wagen würde. Die bröckelnde Wirtschaft ist eine Bedrohung für das Proletariat, aber auch für die Bourgeoisie – eine Bourgeoisie, die immer selbstgefälliger, langsamer und aufgeblähter wird, steht einem Proletariat gegenüber, das ungeduldig, unzufrieden und immer mutiger wird.

Die Arbeiteraristokratie des Kerns ist nicht in der Lage, das Kapital wirklich herauszufordern ohne ihre materiellen Annehmlichkeiten zu verlieren. Hier, im Norden, im Isaan, haben wir Bangkok im Visier. Wir haben das Potenzial, den Reichtum des Zentrums in die Hände der Peripherie zu bringen, ein Potenzial, das für einen Großteil des übrigen Planeten unerreichbar ist.

Gleichzeitig bedeutet diese mittlere Malaise aber auch, dass wir vorerst wenig Handlungsspielraum haben. Wir sind darauf angewiesen, dass der Zusammenbruch des globalen Zentrums uns die Gelegenheit bietet, mit dem Kapital, mit unserem heimischen Zentrum, in Konflikt zu geraten. Hier warten wir ab und bereiten uns still vor. Wenn es irgendwo passieren kann, dann sicherlich hier.

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Imperialismus – kaum ein Schlagwort wird so sinnentleert benutzt wie dieses. Während aktuell von westlichen Regierungen der „russische Imperialismus“, gemeint ist der Angriffskrieg in der Ukraine, gegeißelt wird, wird das eigene militärische Agieren und die Unterstützung antikommunistischer Putsch- und Regierungsprojekte auf allen Kontinenten selbstverständlich nicht unter diesem Begriff gefasst, genausowenig die ökonomischen Bedingungen, die zu weltweit krasser Ungleichheit führen. Aber auch für Teile der Linken, insbesondere in Deutschland, sind Imperialismus und auch Antiimperialismus begriffliche Leerstellen, bzw. Codewort für irgendwas, das man beides in der Vergangenheit verortet und irgendwie schlimm ist. Damit das nicht so bleibt haben wir das Buch „Die globale Perspektive“ von Torkil Lauesen herausgegeben, in der Hoffnung, diese Leerstelle aus linker, revolutionärer Perspektive zumindest etwas füllen zu können. Wir veröffentlichen hier unser Vorwort zum Buch, das Ihr in der Buchhandlung eures Vertrauens, oder direkt beim Unrast-Verlag bestellen könnt.

Am 24. Februar 2022 marschierten Streitkräfte Russlands in der Ukraine ein. Die „Spezialoperation“, wie der Kreml den Angriffskrieg nennt, belebte auch in den westlichen Konzern- und Staatsmedien die Debatte um einen Begriff, der zumindest in der bürgerlichen Öffentlichkeit zuvor als ein Ding des 20. Jahrhunderts erschien. „Imperialismus“, allerdings fast ausschließlich in Gestalt des „russischen Imperialismus“, war nun wieder in aller Munde. Die FDP-nahe „Friedrich Naumann Stiftung für Freiheit“ veranstaltete ein Online-Panel mit „Expert:innen“ zum Thema „Russian Imperialism for Dummies“, die US-Regierung versammelte Diskutant:innen zur Frage der „Dekolonialisierung Russlands“ und der als Jugendlicher im Stamokap-Flügel der SPD geschulte Bundeskanzler erklärte in einem Gastbeitrag für die FAZ: „Der Imperialismus ist zurück in Europa.“

Aber war er denn je weg? Das kommt darauf an, was man darunter versteht. Olaf Scholz lässt es uns wissen: Die EU sei die „gelebte Antithese zu Imperialismus und Autokratie“. Imperialismus betreiben in dieser Weltsicht also zufällig immer die geopolitischen Gegner des Westens. China und Russland agieren „imperialistisch“, die USA und ihre stets willigen Partner dagegen „verteidigen“ sich – und sei es tausende Kilometer entfernt am Hindukusch. Oder sie „helfen“ – wie im Jemen, in Mali oder in Libyen. Ob diese „Hilfe“ Millionen Tote mit sich bringt und die von ihr beglückten Nationen als Failed States zurücklässt, spielt dabei keine Rolle. Imperialisten sind immer die anderen.

Das war im Ersten Weltkrieg nicht anders. „Mitten im Frieden überfällt uns der Feind“, klagte Kaiser Wilhelm II. in seiner Thronrede am 6. August 1914. Und die SPD sprang ihm bei: „Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. (…) Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei“, schwor der Fraktionsvorsitzende der Partei, Hugo Haase, die „Volksgenossen“ auf den heiligen Verteidigungskrieg ein. Das Parteiblatt „Vorwärts“ legte nach: „Wenn die verhängnisvolle Stunde schlägt, werden die vaterlandslosen Gesellen ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen.“ Natürlich musste dieser Burgfrieden mit der eigenen Bourgeoisie gerechtfertigt werden und man fand die Beschönigung des eigenen „sozialistischen“ Bellizismus im selben moralisierenden Begriff des Gegners, den noch der heutige SPD-Kanzler nutzt: Der russische Despotismus und Imperialismus sei das wesentlich größere Übel als Deutschland und zudem sei man ja aus heiterem Himmel angegriffen worden.

Zwei Jahre und Hunderttausende Tote später verfasste W.I. Lenin in Zürich seine Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, die 1917 zum ersten Mal erschien. Der russische Revolutionär hatte für die durchaus theoretische Schrift klare praktische Interessen. Es ging darum, die Arbeiterbewegung aus der Krise zu befreien, in die sie geraten war, weil die sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale ein Klassenbündnis mit „ihren“ nationalen Herren geschlossen hatten und in den Krieg gezogen waren.

Lenin führte den Begriff „Imperialismus“ auf Veränderungen in der ökonomischen Basis des Kapitalismus zurück und entwickelte Kriterien für seine Verwendung. Imperialismus ist Kapitalismus in seinem „monopolistischen“ Stadium, also einer, in dem die Konzentrations- und Zentralisationstendenz des Kapitalismus zur Herausbildung marktbeherrschender Großkonzerne geführt hat. Er arbeitet die veränderte Rolle der Banken (Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital zu Finanzkapital) und die Rolle von Kapitalexporten bei der Aufteilung der Welt in Interessensphären heraus.

Die ökonomische Analyse ist ihm aber zugleich kein Selbstzweck. Der Imperialismus-Schrift voran gingen bereits mehrere kleinere Arbeiten zur Stellung der revolutionären Arbeiterbewegung zum Weltkrieg (z.B. „Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Kriege“ von 1914, „Sozialismus und Krieg“ von 1915, „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ von 1916). Lenin will auf eine Position hinaus, die er in der Imperialismus-Schrift so umreißt: „In der Schrift wird der Beweis erbracht, dass der Krieg von 1914 – 1918 auf beiden Seiten ein imperialistischer Krieg (d.h. ein Eroberungskrieg, ein Raub- und Plünderungskrieg) war, ein Krieg um die Aufteilung der Welt, um die Verteilung und Neuverteilung der Kolonien, der ‚Einflußsphären‘ des Finanzkapitals usw.“ Und er will die Frage klären, warum die vor Kriegsbeginn noch auf Solidarität des Proletariats gegen den Bellizismus der Herrschenden setzenden Parteien der II. Internationale nun das Bündnis mit ihrer nationalen Bourgeoisie einging, um die Arbeiter:innen der anderen Nationen abzuschlachten.

Im Zentrum seiner Erklärung steht der „Parasitismus“ der imperialistischen Nationen, die zu Vehikeln der Ausplünderung des Rests der Welt werden. Er zitiert eine erstaunlich prophetische Passage des englischen Ökonomen John Atkinson Hobson: „Der größte Teil Westeuropas könnte dann das Aussehen und den Charakter annehmen, die einige Gegenden in Süd-England, an der Riviera sowie in den von Touristen am meisten besuchten und von den reichen Leuten bewohnten Teilen Italiens und der Schweiz bereits haben: ein Häuflein reicher Aristokraten, die Dividenden und Pensionen aus dem Fernen Osten beziehen, mit einer etwas größeren Gruppe von Angestellten und Händlern und einer noch größeren Anzahl von Dienstboten und Arbeitern im Transportgewerbe und in den letzten Stadien der Produktion leicht verderblicher Waren; die wichtigsten Industrien wären verschwunden. Die Lebensmittel und Industriefabrikate für den Massenkonsum würden als Tribut aus Asien und Afrika kommen. (… ) Mögen diejenigen, die eine solche Theorie als nicht der Erwägung wert verächtlich abtun, die heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in jenen Bezirken Südenglands untersuchen, die schon jetzt in eine solche Lage versetzt sind, und mögen sie darüber nachdenken, welch gewaltiges Ausmaß ein derartiges System annehmen würde, wenn China der ökonomischen Herrschaft ähnlicher Gruppen von Finanziers, Investoren, von Beamten in Staat und Wirtschaft unterworfen würde, die das größte potentielle Profitreservoir, das die Welt je gekannt hat, ausschöpfen würden, um diesen Profit in Europa zu verzehren.“

Die in den imperialistischen Zentren beheimateten Monopolkonzerne eignen sich über – so würde man heute sagen – Global Value Chains den Mehrwert aus der ganzen Welt an. Und damit sind sie in der Lage, einen kleinen Teil der Beute an die privilegiertesten Arbeiterschichten der eigenen Nation weiterzugeben, um sich sozialen Frieden zu erkaufen. Diese „Arbeiteraristokratie“ bildet die Klassenbasis des sozialdemokratischen Opportunismus und Sozialchauvinismus.

Der politische Inhalt des Opportunismus und Sozialchauvinismus ist für Lenin stets das Klassenbündnis mit der „eignen Bourgeoisie“, auf deutsch: die „Sozialpartnerschaft“: „Das Bündnis einer kleinen bevorrechteten Arbeiterschicht mit ‚ihrer‘ nationalen Bourgeoisie gegen die Masse der Arbeiterklasse, das Bündnis der Lakaien der Bourgeoisie mit ihr gegen die von ihr ausgebeutete Klasse“, wie er in „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ formuliert.

Nun ist aber die Arbeiteraristokratie für Lenin noch eine selbst in den entwickelten kapitalistischen Ländern stets kleine Schicht des Proletariats. Mit dieser Einschränkung brach der dänische Kommunistische Arbeitskreis (KAK) in den 1960er-Jahren und entwickelte die „Schmarotzerstaat“-Theorie, die nachzuweisen suchte, dass ohne den Wegfall der globalen Abhängigkeiten die Arbeiterklasse im Westen zu keiner Revolution fähig sei. „Die Arbeiterklasse hat keine Chance, die Kapitalistenklasse zu stürzen und den Sozialismus aufzubauen, bevor das Fundament der Kapitalistenklasse durch den Kampf und zumindest teilweisen Sieg der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas erschüttert wurde“, schrieb der Gründer der Schmarotzerstaat-Theorie, Gotfred Appel 1966. Die Gruppe, aus der später die sogenannte Blekingegade-Bande hervorging, der auch der Autor des vorliegenden Bandes angehörte, setzte die Theorie konsequent in die Praxis um: Auf Agitation für den „heimischen“ Klassenkampf wurde zugunsten von Umverteilungsaktionen in den Globalen Süden verzichtet. Die der Theorie entsprechende Praxis war der Bankraub für Befreiungsbewegungen.

1989/1990 endete diese Praxis mit der Verhaftung mehrerer Genossen, darunter Lauesen, und mehrjährigen Haftstrafen. 2017 erschien „Die globale Perspektive“ zunächst auf dänisch, ein Jahr später auf englisch. Der Band liefert nicht nur historisch interessante Passagen zur kolonialen Frage in der Arbeiterbewegung sowie zur Geschichte der Imperialismus-Theorie und des Antiimperialismus. Er knüpft auch inhaltlich an die früheren Arbeiten der Schmarotzerstaat-Theorie an, wenngleich er deren Spitze, revolutionärer Klassenkampf sei in den Metropolen quasi unmöglich, abschwächt.

Wichtig ist aber: Er bleibt bei der „globalen Perspektive“, also einer Sicht auf die Klasse, die nicht beim jeweils „nationalen“ Proletariat stehen bleibt, sondern Imperialismus als weltumspannendes System begreift, in welchem auch die Klasse nur als Weltarbeiterklasse zu fassen ist. Wertschöpfung hat hier auch immer mit der Unterordnung der Mehrheit der Nationen unter die imperialistischen Big Player zu tun. Und die „nationalen“ Arbeiterklassen sind nicht mehr als Sektionen der einen Weltarbeiterklasse. Daraus ergeben sich weitreichende Fragen: Mit welchen Mechanismen vollzieht sich der Surplus-Transfer aus der Peripherie in die Metropolen? Welche Auswirkungen hat das auf die Lebensrealitäten der Klasse dort wie hier? Und auf welchen gemeinsamen Nenner sind die Interessen der in sich gespaltenen Weltarbeiterklasse zu bringen, um sie als kämpfendes politisches Subjekt zu konstituieren?

Die so aufgeworfenen Fragen sind keine bloß theoretischen Spielereien. Eine revolutionäre Linke, die sich in Deutschland neu aufstellt, wird das nur auf Grundlage einer ausgearbeiteten Imperialismustheorie können. Und dazu kann sie den Input aus internationalen Debatten ganz gut gebrauchen. Schriften wie „Die Globale Perspektive“ gibt es auf deutsch sicherlich zu wenige. Im englischsprachigen Raum sind mit Intan Suwandis Arbeiten zu Arbeitsarbitrage und Globalen Wertschöpfungsketten, John Smith‘s „Imperialism in the 21st Century“ oder Zak Copes „The wealth of (some) nations“ neben den Werken Lauesens zahlreiche Bücher vorhanden, die geeignet sind, eine Imperialismustheorie auf der Höhe der Zeit zu formulieren. In Deutschland sieht es da magerer aus. Wir hoffen, mit der in diesem Band vorliegenden Übersetzung anzufangen, diese Lücke zu schließen.

Torkil Lauesen // Die globale Perspektive – Imperialsmus und Widerstand // Unrast Verlag // 24 €

# Titelbild: NASA

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Der mittlerweile vier Wochen andauernde Aufstand gegen das Regime im Iran weitet sich immer weiter aus. Nach Streiks in der petrochemischen Industrie haben auch die Arbeiter in der Zuckerrohrindustrie von Hafttapeh in Solidarität mit dem Aufstand die Arbeit niedergelegt. Wir dokumentieren hier den Streikaufruf.

An die Weggefährten! An die Unterdrückten!

Der Protest und der Aufstand der Töchter der Sonne und der Revolution ist in seiner vierten Woche.

Die kämpfenden jungen Männer und Frauen haben mit der Parole „Zan, Zendegi, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) die Straßen und die Gassen zum erbeben gebracht. Sie wollen sich im glorreichen Kampf für Emanzipation und Gleichheit, von Ausbeutung und Unterdrückung, von Diskriminierung und Ungleichheit befreien.

Unsere Kinder, die in den Straßen für die Befreiung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit einstehen, brauchen unsere Unterstützung!

In dieser Situation wo das Blut unserer Kinder den Asphalt der Straßen färbt, hat der Beginn des Streiks im petrochemischen Sektor dem Kampf neue Hoffnung und neues Leben eingehaucht.

Die gerechte Erwartung der Kinder der Arbeit und des Leides ist es, dass ihre ausgebeuteten Väter, Mütter, Brüder und Schwestern zu ihnen halten und die Zahnräder der Produktion zum stehen bringen.

Heute am 10.Oktober ist der erste Funken dieser Solidarität und Einheit mit der leidenschaftlichen Beteiligung der Arbeiter der Petrochemieanlage in Buschehr, Der Raffinerie von Abadan und der Raffinerie in Asaluye gefallen. Die Solidarität der Arbeiter mit ihren Kindern, ihren Brüdern und Schwestern auf der Straße ist das dringende Gebot der Bewegung!

Die Gewerkschaft der Zuckerrohrarbeiter von Hafttapeh begrüßt den Streik der Öl- und Petrochemie in Solidarität mit den Protestierenden auf den Straßen.

Unsere Kinder, unsere Brüder und Schwestern erwarten, dass alle anderen Sektoren der Produktion sich dem Streik anschließen und den Generalstreik ausrufen, da die Emanzipation von Unterdrückung und Ausbeutung nur durch Solidarität möglich ist.

Ehrbare und bewusste Arbeiter und Leidtragende!

Der Aufstand der Frauen muss unterstützt werden. Die Töchter dieses Landes haben sich entschlossen eine große (gesellschaftliche) Transformation zu vollziehen, eine Transformation die auch die Befreiung der Frauen in anderen Regionen mit sich bringen wird. Dieser würdevolle Aufstand muss mit dem Streik der Arbeiter in jeder Ecke dieses Landes verbunden werden!

Für die Befreiung von Diskriminierung und Unterdrückung, von Armut und Elend…für Brot und für Freiheit! Lasst uns die Töchter der Sonne und der Revolution nicht alleine lassen!

An euch Töchter der Sonne und der Revolution:

Im kommenden Morgen des Sieges, wird sich die Welt vor euch verneigen, denn ihr lehrt allen Aufrichtigkeit und Widerstand.

Es lebe die Klassensolidarität und Vereinigung der Arbeiter:innen für die Emanzipation.

Vorwärts zum Generalstreik!

10.10.2022

Gewerkschaft der Arbeiter von Hafttapeh

# Titelbild: anf

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