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In Deutschland stehen Neuwahlen bevor. Erstmals seit 20 Jahren, seit dem Ende des zweiten Schröder-Kabinetts, hat es ein Kanzler oder eine Kanzlerin nicht über die Legislaturperiode geschafft. Die sich zuspitzenden Widersprüche im multipolaren Weltsystem und ein damit einhergehender Vertrauensverlust relevanter Kapitalfraktionen sowie großer Teile der Bevölkerung lässt Olaf Scholz und die regierenden Parteien vor einem Scherbenhaufen ihrer Regentschaft stehen. Aber nicht für die herrschende Klasse, sondern für die Mehrheit der Menschen in diesem Land haben die dreieinhalb Jahre Ampelkoalition verheerende Folgen gehabt: die Inflation frisst Gehälter und Renten auf, die Preise für Grundnahrungsmittel und Heizen sind stark gestiegen, der Wohnungsmarkt ist durch ausbleibenden sozialen Wohnungsbau leergefegt und die Schere zwischen Arm und Reich hat sich immer weiter geöffnet, während die Herrschenden massiv in „Zeitenwende“ und Aufrüstung investieren.

Außenpolitische Lage


Die Jahre der Ampelkoalition waren bestimmt von einer Zunahme der innerimperialistischen Konkurrenz. Die Auseinandersetzung der imperialistischen Staaten um Märkte und Rohstoffe hat in den letzten Jahren zu einer Rekordzahl an bewaffneten Konflikten und einer dem folgenden Vertreibung von Menschen geführt. Das wiederum produziert an den Rändern des Systems zunehmend Widerstand, auch auf der nationalstaatlichen Ebene, wie wir an dem Aufschwung der BRICS-Staaten sehen können.

Diese Auseinandersetzung in der multipolaren Weltordnung bewegt sich anhand der Trennlinie zwischen zwei Lösungsmodellen für die aktuelle Akkumulationskrise des kapitalistischen Systems: Zum einen sind da die Kapitalfraktionen, welche mit einer Neuauflage des Neoliberalismus einen Green New Deal anstreben, einen neuen status quo wenn man so will, einen „Grünen Kapitalismus“ und den neokonservativen und offen reaktionären Kapitalfraktionen, welche eine rückwärtsgewandte aggressive Verteidigung der bestehenden Machtverhältnisse propagieren, einhergehend mit einem Abbau von Errungenschaften in den Bereichen Arbeit und Produktion. Zu den Ersteren gehören unter anderem große Unternehmen aus der High-Tech-Branche die von der Entwicklung neuer, „grüner“ Technologie am meisten profitieren und einen ungehinderten Fluss an Fachkräften und Wissen weltweit benötigen. Zur zweiten Fraktion gehören traditionell Chemie-, Energie- und Rüstungskonzerne, wobei wir immer stärker auch eine anarchokapitalistische Strömung mit einem Hang zu nihilistischen und faschistischen Einstellungen in der Tech-Branche, vor allem der nordamerikanischen, beobachten können.

In der Auseinandersetzung zwischen beiden und den sie vertretenden Nationalstaaten als ideelle Gesamtkapitalisten zeichnen sich die neokonservativen und reaktionären Monopole immer mehr als (vorläufige) Sieger ab und zwar im globalen Maßstab. Steigende Investitionen in Rüstung und Atomkraft, mehr Kriege, mehr fossile Energie, Abbau von Arbeitsplätzen und Beschneidung demokratischer Rechte haben zugenommen. Wir sehen wie die verschiedenen Machtblöcke ohne Rücksicht auf Verluste für die jeweiligen nationalen und internationalen Kapitale nach Investitions- und Ausbeutungsmöglichkeiten suchen, sei es in Form von Märkten, Rohstoffen oder Handelsrouten. Die Effekte auf Mensch und Umwelt sind zweitrangig, wie wir in der Ukraine, in Syrien oder in Gaza sehen können.

Deutschland als Teil des euro-atlantischen Machtblocks hat sich nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine mehr denn je an die USA als Hegemon des kapitalistischen Weltsystems gebunden: Flüssiggas aus Nordamerika, bedingungslose Treue zur NATO und weiteren internationalen Organisationen zur Kontrolle und Durchsetzung von Herrschaft über den globalen Süden oder den Ausbau der eigene Rolle in der imperialistischen Staatenkette mit US-amerikanischen Militärbasen und der Stationierung weitreichender US-Waffen in Deutschland. Außerdem soll die deutsche Vormacht in Europa ausgebaut werden, insbesondere im militärischen Bereich. Führende deutsche Politiker:innen aus der Ampel und der Opposition fordern, dass Deutschland wieder Weltmacht werden und dafür eben auch „wehrhaft“ und „wehrfähig“ werden muss. Die staatlichen Investitionen in Rüstungskonzerne und die Wiedereinführung der (noch) freiwilligen Wehrpflicht sprechen eine deutliche Sprache.

Die Konfrontation mit den BRICS-Staaten, insbesondere mit China, wird dabei unabsehbare Folgen für die deutsche Wirtschaft und Bevölkerung haben. Die Sanktionen gegen Russland und die damit einhergehenden Teuerungen sind deutlich begrenzter als bei einem ähnlichen Konflikt mit China, insbesondere was den Export von Produkten aus den hochtechnologisierten Sektoren oder den Import von Rohstoffen und Fertigprodukten aus der Volksrepublik angeht. Nicht umsonst haben nationale Konzerne wie VW oder Bosch begonnen vor einer drohenden Eskalation im Handelskrieg mit China ihre nationalen Konzernsparten vom Mutterkonzern abzuspalten um Gegenmaßnahmen der chinesischen Regierung zuvorzukommen. Die Politik der Ampelkoalition in dieser Hinsicht bewegt sich zwischen aggressiver Zurschaustellung militärischer und wirtschaftlicher Macht und dem Versuch diejenigen nationalen Kapitale, für die China der wichtigste Markt ist, wie beispielsweise die Automobilindustrie, so lange wie möglich vor negativen Folgen einer westlichen Sanktionspolitik zu schützen.

Die deutsche Regierung verweigert es in alter Kolonialherrenmanier die Realität einer multipolaren Welt anzuerkennen, sie setzt stattdessen einerseits im Außen auf die alten Instrumente der hard und soft power im Verbund mit dem euro-antlantischen Block um ihre Interessen im globalen Süden durchzusetzen und sich Fachkräfte und Ressourcen zu sichern, im Inneren andererseits auf eine Militarisierung der Gesellschaft und ein Schüren von Rassismus und Sexismus um die eigene Machtbasis zu erhalten.

Innenpolitische Lage


Die verheerenden Folgen dieser Kanonenbootpolitik für die unterdrückte Klasse wurden oben schon kurz angerissen: Verarmung, Unsicherheit, Spaltung durch das Eindringen und die Mobilisierung reaktionärer Denkmuster, Entpolitisierung und Militarisierung.

Die Sanktionen nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine, die damit verbundene Inflation samt Preissteigerungen im Winter 2022, die Coronafolgen, welche zu dem Zeitpunkt noch nicht ausgestanden waren, die fortschreitende Deindustrialisierung in energieintensiven Branchen samt einer Vernichtung von Arbeitsplätzen durch das (inter-)nationale Kapital wie sie seit den 1970er Jahren fast beispiellos ist und einer rigoros durchgesetzten Militarisierung der Gesellschaft samt Ausgaben für Rüstung die weit über 200 Milliarden Euro liegen, haben innenpolitisch zu einem Erstarken rechter und faschistischer Einstellungen in der Gesellschaft geführt. Um ihren Sozialkahlschlag zu kaschieren hat die vermeintlich progressive Koalition dabei oft genug auf Ressentiments in der Bevölkerung zurückgegriffen, um von eigenen Fehlern abzulenken: Kürzungen für Bürgergeldempfänger:innen, Bezahlkarte für Geflüchtete, „Abschiebeoffensive krimineller Ausländer“ und nicht zuletzt der Mythos vom importierten Antisemitismus der Geflüchteten. Die Herrschenden produzieren einfache Wahrheiten, die sie zum Konsum anbieten um über eine konstruierte nationale Schicksalsgemeinschaft Sicherheit zu versprechen und die Bevölkerung von Verarmung und sinkender Lebensqualität abzulenken. Die Amtszeit einer sozialdemokratischen Innenministerin war beispielsweise von Verschärfungen des Asylrechts wie sie sich Horst Seehofer damals gewünscht hätte samt einer Ausweitung der Repression gegen Geflüchtete, der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an allen Grenzen oder einer Ausweitung der Befugnisse aller sogenannter Sicherheitsbehörden von Verfassungsschutz bis BKA geprägt. Ein sozialdemokratischer Kanzler ließ sich Stolz auf den Titelblättern deutscher Leitmedien mit markigen Sprüchen zu „Abschiebungen im großen Stil“ zitieren und eine selbsternannte feministische Außenministerin zählt Länder wie Israel und die Türkei zu den engsten Verbündeten, Länder die sich durch anhaltende Femizide und Genozide auszeichnen.

Die reaktionäre Dynamik erfasst dabei alle Teile der Gesellschaft und dringt tief in die Arbeiter:innenklasse ein, was nicht zuletzt die starken Zustimmungswerte zur AfD zeigen. Eine Regierung, die maßgeblich mit dem Versprechen nach einer Liberalisierung der Gesellschaft im Sinne eines Green New Deal angetreten ist und dafür gewählt wurde, hat sich unter dem Eindruck der realen Entwicklungen im kapitalistischen Weltsystem radikal zu einer Koalition des Machterhalts entwickelt. Erfolglos wurden immer mehr Positionen von den Rechten übernommen in der Hoffnung die eigene Macht und Karriere im parlamentarischen System zu retten. Dabei wurde der Nährboden gedüngt auf dem seit jeher faschistische Elemente wachsen: Angst, Armut, Entpolitisierung und Brutalisierung der Gesellschaft. Die Spaltung der Arbeiter:innenklasse und die Atomisierung der Gesellschaft wurden soweit vorangetrieben, dass Reflexe gegen eine reaktionäre Staatspolitik beinahe zum Erliegen gekommen sind. Einzig die Mobilisierungen gegen die deutsche Beteiligung am Völkermord in Gaza und die Aktionen gegen den Wahnsinn des fossilen Kapitalismus brechen zumindest Teilweise mit der Passivität und dem Rückzug weiter Teile der Gesellschaft ins Private.

Das Ende der Koalition war deshalb auch kein Wunder, es sollte allerdings klar sein, dass davon vor allem die Rechten profitieren werden. Was können wir also vor diesem Hintergrund von den bevorstehenden Neuwahlen erwarten?

Zur Einordnung wollen wir deshalb im Folgenden schlaglichtartig auf die großen relevanten Parteien und ihr Spitzenpersonal schauen.

Die Linke – endgültiger Absturz?


Der für eine linke Bewegung in Deutschland wohl nach wie vor relevantesten Partei, sei es wegen Geldern, Bündnispolitik oder ihrer parlamentarischen Arbeit, Die Linke, droht mit der kommenden Wahl das endgültige Scheitern ihrer Politik in der jetzigen Form. Schon nach der letzten Wahl stark geschwächt durch einen Verlust an Relevanz in der Arbeiter:innenklasse und einem für eine tatsächliche linke Partei unwürdigen Geschacher um Posten in einem rot-rot-grünen Kabinett, welches dann nie zustande kam, haben die zahlreichen Irrflüge im Zuge des Ukraine-Krieges, des Krieges in Gaza und interne Querelen mit dem anschließenden Austritt des Wagenknecht-Flügels zu einer Erosion der Wähler:innenbasis und einer faktischen Dominanz des rechten Parteiflügels um die einflussreichen Landesverbände aus Berlin und Bremen gesorgt. Die innerlinke Opposition ist zwar existent, konnte sich aber auf dem jüngsten Parteitag in Halle (Saale) weder mit eigenen Anträgen durchsetzen noch das neue Bild der Partei entscheidend prägen.

Die Linke präsentiert sich ohnmächtig und angesichts der geopolitischen Entwicklungen unfähig eine Orientierung für die Arbeiter:innenklasse zu sein, sondern trägt die Politik der Bundesregierung im Großen und Ganzen mit. Die Einflusssphäre der Partei ist auf ein akademisches, urbanes Milieu geschrumpft und statt einen Kampf um die Lebensbedingungen im Kontext der globalen Entwicklungen aufzunehmen, also echte Opposition zu sein, zeigt sich einmal mehr die Unfähigkeit des jetzigen Personals sich von Posten und Gehältern zum Wohle der Mehrheit loszusagen.

Das Einschwenken der neuen Parteivorsitzenden Jan van Aaken und Ines Schwerdtner auf eine oppositionelle Linie im Stile der KPÖ, samt symbolischem Verzicht auf fette Gehälter aus Berlin, bedeutet nichts anderes als die Rückkehr zu einer sozialdemokratischen Politik im eigentlichen Sinne: höhere Steuern, mehr staatliche Eingriffe, mehr Sozialausgaben.

Es bleibt abzuwarten, ob es der Partei so gelingt die am meisten unterdrückten Teile der Arbeiter:innenklasse zu erreichen und sich als echte Alternative zu verkaufen. Die Regierungserfahrungen aus Berlin oder Thüringen können dabei nur ein Klotz am Bein sein. Es scheint auf einen klassischen Wahlkampf herauszulaufen, der die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse nicht erreichen, sprich politisches Bewusstsein schaffen kann und der infolgedessen dem Sog des rechten Kulturkampfes nur hilflose Parolen entgegenhalten wird.

BSW – echte Opposition oder Stütze des Systems?


Das Bündnis Sara Wagenknecht (BSW) hat geschafft, was seit der AfD keiner Partei mehr gelungen ist: sich gegen die etablierten Parteien durchzusetzen und relevante Teile der Bevölkerung anzusprechen. Die Partei greift dabei vor allem das Unbehagen in der Bevölkerung über die Kriegspolitik der Bundesregierung und die Bündnistreue der BRD der NATO, allen voran den USA und Israel, gegenüber auf und verwandelt dies vor allem in den östlichen Bundesländern in zweistellige Prozentsätze in fast allen Umfragen. Der Rest des Parteiprogramms ist vor allem was die Wirtschafts- und Sozialpolitik angeht vergleichsweise progressiv, allerdings schlagen in puncto Innen- und Migrationspolitik deutlich der rechte Zeitgeist und die Positionen von Sara Wagenknecht durch. Die Eintritte in verschiedene Länderregierungen wie in Brandenburg oder Thüringen lassen erhebliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit der oppositionellen Rolle des BSW aufkommen. Sara Wagenknecht ist Selbstdarstellerin und Machtmensch, deutet immer wieder einen rechten Standortnationalismus an, der sich an der kapitalistischen Logik der Verwertung orientiert und mitnichten mit den Grundlagen des Systems brechen will. Stattdessen scheint sich das BSW eher an den Erfahrungen der sozialistischen Parteien der osteuropäischen Staaten zu orientieren, die für einen Ausgleich der Interessen von Russland und der NATO zum Wohle der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung eintreten und Sozialprogramme über höhere Steuern finanzieren, die ansonsten aber die Bevölkerung auf einen wertkonservativen Lebensstil festlegen. Hierdurch wird das BSW weniger zum Ziel von Angriffen im Kulturkampf mit den Rechten, allerdings um den Preis, einige Positionen in Bezug auf Sicherheits- und Migrationspolitik zu übernehmen.

Die Bundestagswahl wird ein Gradmesser sein, inwieweit sich das BSW in der bundesdeutschen Parteienlandschaft etablieren kann und wie ernst es dem Führungspersonal um Sara Wagenknecht mit einer wirklichen Opposition zu den Missständen in der BRD ist.

FDP – Reserve des Kapitals


Egal wie verschwindend die Zustimmungswerte der FDP sind, die Freidemokraten und ihre Klientel sind dennoch auf Kurs. Sei es in der Ampel-Regierung oder in der Opposition, als Scharfmacher:innen was die Militarisierung der Gesellschaft angeht oder bei der Hetze gegen Migrant:innen und Bürgergerldempfänger:innen steht die FDP den rechten Parteien in nichts nach. Der alte bürgerrechtliche Flügel hat längst ausgedient, es geht gegen die Schwächsten in der Gesellschaft, eine Umverteilungspolitik der schwarzen Null von unten nach oben und die Förderung der Reichen und Superreichen stehen auf dem Programm. Dafür wird die FDP weiterhin aus dieser Klasse finanziell unterstützt, egal wie gering ihre Wahlanteile sind.

Mit der Veröffentlichung der internen Papiere vor dem Bruch der Ampelkoalition, Stichwort „D-Day“, wurde offen gelegt wie berechnend und taktisch die FDP mit politischen Richtungsentscheidungen, die breite Teile der Gesellschaft betreffen, umgeht. Das dürfte bei anderen Parteien nicht anders sein, dumm nur, dass es bei der FDP durchgestochen wurde. Ein paar Köpfe hat das ganze gekostet, Parteichef Christian Lindner als Advokat des Kapitals sitzt jedoch weiter fest im Sattel, 10% der Stimmen sollen es bei den Neuwahlen sein.

Die FDP bleibt Stichwortgeberin einer rigorosen Sparpolitik, Verbündete des transnationalen Kapitals und erklärte Gegnerin von Arbeiter:innenrechten. Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse der nächsten Wahl beinahe unerheblich, die Eigenschaften der FDP werden sich nicht ändern, sie bleibt eine bei Bedarf aktivierbare Reserve des Kapitals, Mehrheitsbeschafferin für alle Schweinereien zugunsten der Reichen, ob in einer CDU-geführten Regierung oder wie zuletzt in der Ampel.

CDU – auf dem Weg zu alter Stärke


2021 noch krachend am internen Kandidatenquiz und dem lahmen Wahlkampf eines Armin Laschet gescheitert ist die CDU heute wieder stärkste Kraft in allen Umfragen. Der Vorsitzende Friedrich Merz hat in den letzten Jahren hart daran gearbeitet die CDU nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Im Vergleich zu den eher moderaten Jahren unter Angela Merkel hat sich die CDU wieder ihren Kernthemen zugewandt: innere Sicherheit, außenpolitischer Expansionskurs, kapitalnahe Wirtschaftspolitik und rechte Agitation im Kulturkampf gegen den „grünen Mainstream“.

Mit Generalsekretär Carsten Linnemann hat Merz einen engen Vertrauten in eine mächtige Position innerhalb der Partei gebracht, der sich vor allem in der Auseinandersetzung mit Russland und beim Umgang mit Geflüchteten als Scharfmacher präsentiert. Mit dem Grundsatzpapier zur deutschen Leitkultur kehrt die CDU zu ihren Wurzeln zurück und unterstreicht ihre chauvinistische Politik in allen Bereichen. Frauen und Queers sollen sich in patriarchale Rollenbilder fügen, verschärfte Polizei- und Migrationsgesetze für Ruhe an der Heimatfront sorgen. Nebenbei wird die Wiedereinführung der Wehrpflicht gefordert, die Erhöhung der Personalstärke der Bundeswehr auf bis zu 460.000 Soldat:innen gefeiert und Geschenke ans einheimische Kapital verteilt.

Die CDU macht sich selbstbewusst auf nach knapp vier Jahren Opposition wieder als stärkste Kraft eine Regierung zu führen, am liebsten mit der FDP als Juniorpartner. Der Ex-Banker Friedrich Merz an der Spitze vereint die Eigenschaften die das Klientel der CDU schätzt: männlich, wirtschaftsnah und chauvinistisch.

Die Stärke der CDU resultiert dabei nur zu einem Teil aus der Schwäche der gesellschaftlichen Linken. Die Bundes-CDU wie die Landesverbände haben es geschickt geschafft die Themen der AfD zu übernehmen und sie authentisch zu verkörpern, dabei haben die Jahre in der Opposition wie eine Verjüngungskur gewirkt. Man könnte meinen die Altlasten der Merkel-Ära wären längst Geschichte so selbstbewusst tritt das Spitzenpersonal in der Öffentlichkeit auf. Es ist eine erfolgreiche Strategie einerseits mit den Themen und Schlagworten der AfD gesellschaftliche Ressentiments und Ängste zu stimulieren und sich andererseits als die seriöse weil christlich-bürgerliche Kraft zu inszenieren die Deutschland vor den Extremisten von Rechts und Links bewahren kann. Das wird in der Zukunft zu einer noch stärkeren Annährung an die AfD führen. Sollte die CDU die nächsten vier Jahre regieren wollen ist sie darauf angewiesen die Forderungen der oppositionellen AfD aufzunehmen sollen die Wähler:innen nicht auf die Idee kommen bei den nächsten Wahlen doch für das Original zu stimmen. Längst gibt es in der Kommunalpolitik eine Zusammenarbeit mit der AfD. Mit dem Mantra von der demokratischen Legitimation durch die Wähler:innen hält sich die CDU eine Zusammenarbeit auf Landes- und Bundesebene in Zukunft offen, einzelne Vorstöße in diese Richtung genießen allerdings (noch) nicht die Unterstützung breiterer Teile des Parteiapparats.

Das Kapital wird in den nächsten Wahlen voll auf die CDU setzen, die Linie des Green New Deal um die grüne Partei ist zu sehr in Verruf geraten als dass sie nochmal zum Zugpferd werden könnte.

Es ist unzweifelhaft, dass es eine Transformation der Schlüsselindustrien bedarf, das wird allerdings vor allem durch eine Liberalisierung von Arbeiter:innenrechten, Entlassungen und Subventionen geschehen. Die Automobilindustrie und andere energieintensive Branchen erwarten die Deckung ihrer Transformationskosten durch den Staat, eine nachhaltigere Wirtschaftsform ist nicht in Sicht. Deshalb werden u.a. Atomenergie und Rüstungsindustrie als nachhaltig und „grün“ umettiketiert um dementsprechend Förderungen mit EU-Geldern zu kassieren.

Die Grünen – neues Image, neuer Erfolg?


Der Lack ist ab bei den Grünen. Die Partei musste in den Jahren in der Ampelkoalition einsehen, dass ihre Linie des Green New Deal von den realpolitischen Entwicklungen überholt wurde und auch die zweite Regierungsbeteiligung nach der Zeit in den Kabinetten Schröder endet mit einer Bruchlandung. Der Übergang in Regierungsverantwortung hat den Realo-Flügel an sein Ziel gebracht, welches er seit den 90ern verfolgt hatte. Die Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit waren der Schlüssel zum Erfolg, wurden sie doch in den Jahren vor 2021 breit gesellschaftlich diskutiert und fanden in der grünen Partei eine (scheinbar) authentische Entsprechung. Mit Eintritt in die Machtsphäre wurde deutlich, dass das grüne Spitzenpersonal wieder einmal sehr opportunistisch mit dem Wähler:innenwillen umgeht: Klimaziele werden Aufrüstung geopfert, Bauchschmerzen ersetzen Opposition bei Waffenlieferungen und eine bedingungslose Unterstützung der NATO ersetzt Friedenspolitik. Das Spitzenpersonal um Robert Habeck und Annalena Baerbock versucht deutlich den Malus des rechten Kulturkampfes als die Verbots- und Umerziehungspartei loszuwerden. Sie sehen sich konsequent an der Seite des Militärs und der Großkonzerne. Nicht umsonst bieten sie sich der CDU, wie in Person der Parteivorsitzenden Franziska Brantner, als Juniorpartnerin an.

Vergessen sind längst auch die Forderungen und Versprechen aus verschiedenen Wahlkämpfen zu Asyl- und Menschenrechten. Annalena Baerbock ließ sich vor einiger Zeit mit der Forderung nach der Entwaffnung der Selbstverteidigungseinheiten in Nord- und Ostsyrien zitieren, ungeachtet der Massaker der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten.

Die Grüne Partei hat sich endgültig auf Machtpolitik und Mehrheitsbeschaffung festgelegt und auch die naivsten Wähler:innen müssen einsehen, dass die Partei längst für eine Politik der Abschottung und Aufrüstung steht. Abgesehen von Parolen und Schlagworten wie „Humanismus“ und „Solidarität“ haben die Grünen dem Aufstieg der extremen Rechten nichts entgegen zu setzen.

Die Übernahme rechter Positionen hat zumindest in einigen Jugendverbänden zu starken Absatzbewegungen um bekannte Gesichter wie Sarah-Lee Hinrichs geführt. Es bleibt abzuwarten was aus einem zu gründenden linken Jugendverband letztendlich wird.

Die Ernennung von Robert Habeck zum Spitzenkandidaten ist der endgültige Triumph des Realo-Flügels der für Westintegration und Krieg steht und ein Signal nach außen, dass die Partei sich von allen progressiven Ideen verabschiedet hat.

SPD Blick nach Rechts


Wie nicht anders zu erwarten war haben die erfolglosen Jahre der Ampelkoalition auch der Kanzlerpartei SPD mehr geschadet als genützt, wird sie doch neben den Grünen als „linke“ Partei für die Missstände in Deutschland verantwortlich gemacht. Was an der SPD links sein soll bleibt wie immer ein Geheimnis der Rechten, ist Scholz‘ Kanzlerschaft doch geprägt von Sozialabbau und Militarisierung. In seine Amtszeit fällt das Sondervermögen der Zeitenwende samt Wiedereinführung der (noch freiwilligen) Wehrpflicht, eine Sozialpolitik der schwarzen Null samt Kürzungen in allen relevanten Bereichen, eine Rekordinflation durch transatlantische Bündnistreue und Abschiebungen in „großem Stil“.

Ungeachtet dessen hat Olaf Scholz im aktuellen Wahlkampf seine soziale Ader wiederentdeckt und wirbt in alter sozialdemokratischer Manier mit Bekenntnissen zu höherem Mindestlohn, mehr sozialem Wohnungsbau, Frieden und einer Reform der Schuldenbremse. Das alles soll die SPD wieder nach vorne bringen und sie von der Union als dem großen Rivalen unterscheiden. Die rechten Töne in der Innen- und Migrationspolitik behält die Partei selbstverständlich bei, sind sie doch die bestimmenden Themen in der aktuellen Situation.

Die Auseinandersetzung im Vorfeld der Nominierung des Kanzlerkandidaten innerhalb der Partei verweist auf die Dissonanzen im Apparat und es bleibt abzuwarten ob sich einige Wähler:innen nach der Niederlage des beliebten Boris Pistorius‘ nun doch der CDU zuwenden.

Die SPD orientiert auf eine Koalition mit Olaf Scholz als dem starken Mann was angesichts von Umfragewerten um die 16% mitunter illusorisch anmutet. Eine Neuauflage der Großen Koalition mit der SPD als Juniorpartner erscheint angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse wahrscheinlicher und dürfte der SPD am Ende wieder so schlecht tun wie beim letzten Mal, da die Rechtsentwicklung in den letzten Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen und die SPD dem nichts entgegenzusetzen hat.

AfD – bald am Ziel?


Ein Blick nach Österreich ist vielleicht auch für die BRD lohnenswert. Dort ist die FPÖ am Ziel und stellt erstmals den Kanzler. Dass auch die AfD darauf seit Jahren (erfolgreich) hinarbeitet ist offensichtlich. Unter dem Mantel demokratischer Legitimation durch Wahlen bereitet sich die AfD auf die Machtübertragung auf Bundesebene vor. Das dafür ein paar zu vulgär auftretende Faschisten öffentlich fallengelassen werden müssen oder sich ein „neuer“ Jugendverband konstituiert ist Kosmetik. Die AfD als zumindest in Teilen faschistische verkörpert nicht trotz sondern grade deswegen authentisch die Stimmungen in den reaktionärsten Teilen der Gesellschaft und vertritt konsequent die Interessen relevanter Kapitalfraktionen. Dass es bisher nicht zu Bündnissen auf Länder- oder Bundesebene kommt liegt zum einen daran, dass die regierenden Parteien bereitwillig weite Teile des Programms der AfD selbst umsetzt und zum einen, dass nach wie vor große Teile des Kapitals den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen der Partei mit Blick auf das eigene Akkumulationsregime skeptisch gegenüber treten.

Das Spitzenpersonal um Parteichefin Alice Weidel setzt weiterhin auf die Vorreiterrolle der AfD im Kulturkampf um die eigene Wirksamkeit zu zeigen. In der Wählergruppe unter 35 Jahren war die AfD bei den Europawahlen stärkste Kraft. Nebenbei wird das Netz an Thinktanks und Verbündeten national und international ausgebaut, wie verschiedene Treffen wie in Potsdam oder die neue Fraktion im EU-Parlament zeigen. Es bleibt abzuwarten, ob es die AfD wie in Teilen Ostdeutschlands, schaffen wird eine faschistische Bewegung auf die Straße zu bringen, die der Partei langfristig als eine eigene Machtbasis und Rekrutierungsbecken außerhalb des Staatsapparats dienen kann. Die Unterstützung von popkulturellen Faschisten wie Elon Musk wird dabei sicherlich hilfreich sein.

Die kontinuierliche Arbeit der Partei auf allen Ebenen hat 2024 zur Übernahme einiger Rathäuser auf Kommunalebene geführt und wird damit nicht zu Ende sein. Ziel ist die Beteiligung an Landes- und Bundesregierungen, auch wenn das 2025 noch nicht der Fall sein sollte.

Inhaltlich vertritt die AfD die aggressivste chauvinistische Politik welche die Errungenschaften der Arbeiter:innenklasse der letzten Jahrzehnte rückgängig machen und die Gesellschaft in bisher unbekannter Weise für die Ausbeutung durch das Kapital öffnen wird. Die AfD treibt die Brutalisierung der Gesellschaft auf die Spitze und ist eine Gefahr für alle Menschen die nicht in das reaktionäre Weltbild der Partei passen. Ein Kampf gegen die AfD schließt zwangsläufig einen Kampf gegen die ausbeuterischen und menschenfeindlichen Verhältnisse des Kapitalismus mit ein.

Fazit


Angesichts der Hegemonie rechter Positionen und Strukturen und der Krise des kapitalistischen Welt-Systems stellt sich mehr denn je die Frage „Wie weiter?“. Wie weiter mit der rechten Formierung der Gesellschaft, mit dem Abbau sozialer Errungenschaften, der Abschaffung des Asylrechts, der Kriegstreiberei und der Repression?

Wie schaffen wir es als revolutionäre Linke der Unzufriedenheit der Arbeiter:innenklasse einen Ausdruck zu verleihen? Wir denken dass dazu eine gemeinsame Diskussion über den jetzigen Wahlkampf hinaus, egal welche Koalition am Ende zustande kommt, notwendig ist.

Nichts liegt uns ferner als eine Wahlempfehlung in der aktuellen Situation abzugeben. Es sollte klar sein, dass die nächste Koalition die reaktionärste sein wird, die es in Deutschland seit Jahren gegeben hat. Auf die Schwierigkeiten, die das für die Arbeiterinnen:klasse und eine radikale Linke mit sich bringt gilt es sich entsprechend vorzubereiten. Die Probleme unsere Zeit kann derweil nur eine starke weil organisierte und entschlossene weil proletarische revolutionäre Bewegung lösen. Auf die Errungenschaft des Wahlrechts zu verzichten erscheint trotz dessen kurzsichtig, gilt es doch das Parlament so gut es geht wenn schon nicht als Bühne des Klassenkampfs so doch als Geld- und Informationsquelle zu nutzen.

Mit Blick auf die Wahl fragen wir uns wie umgehen mit der Partei Die Linke in Zukunft, gerade wenn sie absehbar nicht mehr im Bundestag vertreten sein wird? Hat sie für unsere Bewegung aktuell noch einen Nutzen? Wie kann eine Zusammenarbeit aussehen?

Diese und noch weitere Fragen wollen und müssen wir gemeinsam diskutieren.

Fotos:

Pääministeri Petteri Orpo ja Saksan liittokansleri Olaf Scholz tapasivat Berliinissä perjantaina 14. heinäkuuta,Bernhard Ludewig, CC-BY SA 3.0, via flickr

Christian Lindner im Wahlkampf 2021, Michael Lucan, CC-BY_SA 3.0 de, via Wikimedia

Friedrich Merz (2024) ID-1808, Michael Lucan,Michael Lucan, CC-BY_SA 3.0 de, via Wikimedia

2024-05-29 Event, Konferenz, re-publica STP 5625 by Stepro,CC BY-SA 4.0, Steffen Prößdorf, via Wikimedia

2020-10-28 Trauerfeier Thomas Oppermann, Olaf Kosinsky, CC BY-SA 3.0.-de, via Wikimedia

Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine in Weimar – 51402380297, Martin Heinlein, CC Attribution 2.0 Generic, via Wikimedia

Hallescher Parteitag – Die Vorsitzenden 03, Ferran Cornellà, CC Attribution-Share Alike 4.0 International, via Wikimedia

Bellini-Vitra-chairs in German-Bundestag, Times, CC Attribution-Share Alike 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic and 1.0 Generic, via Wikimedia

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Interview mit Peter Egger, Mitglied des Bund der Kommunist:innen, über Folklore am Arbeiter*innenkampftag, den DGB auf der Revolutionären-1.-Mai-Demo und die Notwendigkeit, die Systemfrage zu stellen. Das Gespräch führte Casia Strachna

Der Bund der Kommunist*innen gehört als Teil des Bündnisses „Nicht auf unserem Rücken“ zu den Organisator*innen der Revolutionären 1. Mai Demo in Berlin. Ist das nicht mittlerweile eher überholte linke Folklore?

So leichtfertig sollte man die Bedeutung der Demonstration nicht abtun: Sie gehört immer noch zu den größten regelmäßig stattfindenden Demonstrationen in Deutschland. Sie ist zehnmal größer als die Demo des DGB, die vormittags stattfindet und hinter der ein ganzer Gewerkschaftsapparat steht. Und sonst wird man dem Tag, dessen Tradition eine wichtige, nicht nur symbolische Bedeutung für die Arbeiter:innenklasse hat, auch nicht gerecht. Es geht um die Rechte der Arbeiter:innen und Ausgebeuteten. Es geht darum, sich zu wehren, grade in Zeiten von Wirtschaftskrise und nationalistischem Kriegstaumel. Wie kann das überholt sein? Natürlich bleibt es wichtig, genau diese Demonstration weiter zu führen.

Aber ähnelt es mittlerweile nicht eher einem Schaulaufen für Touris und die Leute kommen eigentlich nur noch, weil sie alten Kreuzberger Glamour erwarten? Konkret frage ich mich: Ist es die Arbeiter:innenklasse, die am Arbeiter:innenkampftag um 18 Uhr mit der Revolutionären-1.-Mai-Demo durch Neukölln und Kreuzberg ziehen wird?

Auch, na klar. Vermutlich nehmen an der revolutionären Demo mehr Arbeiter:innen teil, als an den meisten anderen Demonstrationen. Klar sind die Leute durchschnittlich eher jünger als bei der DGB-Demo, viele gehen halt noch zur Schule oder studieren. Dennoch sind sie Teil der Klasse und werden spätestens nach ihrer Ausbildung ebenso in den kapitalistischen Verwertungsfleischwolf geworfen wie die von uns, die arbeiten. Und natürlich kommen sie auch, weil wir eben die Klassenwidersprüche aufzeigen und Lösungen dafür anbieten.

Und wie sind die Lösungen?

Brot, Frieden und Sozialismus: Die Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen dürfen nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht diejenigen, die eh schon wenig haben, nun auch noch am meisten unter der Inflation leiden. Konkret muss es also um höhere Löhne gehen, vor allem um bessere Tarifabschlüsse. Wir haben jetzt einen Verlust unserer Kaufkraft und brauchen auch jetzt mehr Geld, nicht erst in einem Jahr höhere Löhne. Es geht um Frieden in der Ukraine – aber auch im Jemen, Libyen, Afghanistan und überall. Das massenhafte Abschlachten der Armen für die Profitinteressen der Reichen muss ein Ende finden. Sofort.
Wir müssen über Aufrüstung reden, wofür Geld im Überfluss vorhanden ist und das gegenüberstellen zu allem, wofür angeblich kein Geld da ist, wie Schulen, Kitas, bezahlbarer Wohnraum, faire Löhne, die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen.

Aber bekommt man das nicht besser hin im Schulterschluss mit den anderen Teilen der Arbeiter*innenklasse, konkret also dem DGB?

Der DGB kann natürlich gerne bei uns mitlaufen, wenn er sich hinter die Forderungen eines Revolutionären 1. Mai stellt. Wir werden ja auch vormittags auf der DGB-Demo mitgehen. Ob da jetzt alle 20.000 kommen werden, die abends zu uns kommen? Wahrscheinlich eher nicht, aber der organisierte Teil ist da.

Wie ist denn die Perspektive über den 1. Mai, über den hohen Feiertag hinaus? Wie geht es am 2. Mai weiter?

Unser Fokus liegt auf der Arbeit in und um unsere Kiezläden, der Roten Lilly in Neukölln, der Kommune65 im Wedding und dem Café Wostok in Lichtenberg, also konkret in der Stadtteilarbeit unserer Stadtteilkomitees. Da haben wir einen Einfluss auf den Kiez und bauen eine Linke von unten auf. Nachdem traditionelle Gruppen wie FelS, Avanti und ALB in der Interventionistischen Linken aufgegangen sind, haben deren Vertreter*innen leider faktisch überhaupt keine Vernetzung mehr in der Klasse, die meisten anderen postautonomen Gruppen sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Uns geht es um revolutionäre Stadtteilarbeit. Wir organisieren unsere Nachbarschaft. Bei uns gibt es Sozialberatung, Hilfe bei Problemen mit dem Vermieter, Sprachschulen, Veranstaltungen, Lebensmittelausgaben, Kiezkantinen und machmal sogar Kino. Natürlich ist die Resonanz jeweils unterschiedlich, aber es stößt in jedem Fall auf Interesse. Auffällig dabei ist, dass eine klare kommunistische Perspektive im Kiez ankommt.

Woran machst du das fest?

Naja, man merkt ja schon, dass etliche Leute einerseits nachfragen, und andererseits auch klare Positionen einfordern und wir verstecken unsere Gesinnung ja auch nicht. Die Leute lassen sich nicht mit hohlen Phrasen abspeisen und der Behauptung, dass man nur einzelne Stellschrauben oder einzelne Gesetze ändern müsste, und dann ginge es ihnen besser. Die Menschen werden im Wortsinne radikaler, gehen an die Wurzel der Probleme und wollen grundlegende Veränderungen. Ja, das ist natürlich die Systemfrage und es ergibt keinen Sinn so zu tun, als würde man diese Systemfrage nicht stellen, nur um gefälliger zu sein.

Revolutionäre 1. Mai Demonstration in Berlin 17:00 U-Boddinstraße
„Brot, Frieden, Sozialismus – Ihre Krise nicht auf unserem Rücken!“

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Nach den Krawallen in der Silvesternacht ist das Thema Jugendarbeit wieder in aller Munde. Politiker:innen drehen Runden in den sogenannten Problembezirken und versprechen vollmundig Besserungen für die Kinder- und Jugendhilfe und allgemeine soziale Verbesserungen in den Kiezen. Auf dem schleunigst einberufenen „Gipfel gegen Jugendgewalt“ wurden 29 Maßnahmen beschlossen, sowie ein Finanzierungsbedarf von knapp 90 Millionen Euro für die nächsten zwei Jahre veranschlagt.


Wenn es aber nicht darum geht, Sicherheit und Ordnung im Sinne der reaktionären Presse zu garantieren, sondern Sicherheit und Zukunft für Kinder und Jugendliche herzustellen, ist der staatliche Wille, Geld bereitzustellen in Berlin nicht sonderlich ausgeprägt. An der Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe werden auch die 90 Million Sondervermögen wenig ändern. Bereits im Jahr 2022 wurde bekannt, dass die Berliner Schulen für das nächste Schuljahr mit drastischen Kürzungen würden rechnen müssen. Diese finanziellen Einsparungen hatten bereits Einschnitte in die Gestaltungsmöglichkeiten der Schulen zur Folge. Sie betreffen einen sog. Verfügungsfonds, aus dem Schulen bisher je nach Anzahl ihrer Schülerinnen und Schüler entsprechende Summen zwischen 15.000 und 30.000€ erhalten konnten. Vielen Schulen fehlen nun über 10.000€ für das nächste Schuljahr. Darüber hinaus gibt es in Berlin um die 900 unbesetzte Stellen für Lehrkräfte. Der Lehrkräftemangel ist seit Jahren Thema, die Situation verschlechtert sich allerdings nur weiter. Vor der Berlin-Wahl versprachen zwar alle Parteien bessere Personalschlüssel an Schulen, die CDU gar eine 110-prozentige Personalausstattung. Vor der nächsten Wahl wird der Lehrkräftemangel dann wieder Thema sein, denn ändern wird sich faktisch wenig.

Denn nicht nur viele Lehrkräfte verlassen Berlin, auch Erzieher:innen verdienen in anderen Bundesländern besser (Berlin liegt hier auf dem sechstletzten Platz) und finden bessere Arbeitsbedingungen vor. Die CDU will nun sogar noch die Brennpunktzulage für die Arbeit in sog. problembehafteten Kiezen streichen. Pädagogische Arbeit ist an vielen Schulen in Berlin schon jetzt kaum möglich, da es immer mehr Kinder mit erhöhtem Förderbedarf gibt und dafür das Personal und die strukturellen Voraussetzungen fehlen.

In meiner Praxis als Integrationserzieher an einer Grundschule habe ich fast nie Kinder speziell und gezielt fördern können, da die Arbeit fast nur aus Vertretungen bestand. Eine Untersuchung der GEW Berlin zeigt, dass dies die Regel ist und nicht nur persönliches Empfinden. 42 Prozent der Befragten gaben an, nur selten Kinder gezielt fördern zu können, worauf diese jedoch einen rechtlichen Anspruch haben. Zudem wurde für viele Kinder kein Förderstatus beantragt, da es nicht entsprechend viele Integrationserzieher:innen gab, sodass dem Anspruch auf Förderung ohnehin nicht hätte gerecht werden können. Teilweise wurden ganze Klassen wochenlang früher nach Hause geschickt, weil ihre Betreuung nicht gewährleistet werden konnte oder kein Unterricht stattfand. Egal in welchem Bereich, die Kinder- und Jugendhilfe ist in großer Not.

„Man spielt nur noch Feuerwehr“, ist ein Satz, den man im sozialen Bereich häufig hört. Bundesweit sind von den rund 900 in den Jugendämtern zur Verfügung stehenden Stellen knapp 100 unbesetzt. Hinzu kommen viele kranke Mitarbeiter:innen, sowie unzählige, die aufgrund der starken Arbeitsbelastung im sogenannten „Sabbatical“ sind, auf Kur oder im „Hamburger Modell“, mit verkürzten Arbeitszeiten und weniger Arbeitsbelastung. In Berlin bearbeitet eine Fachkraft so viele Fälle, wie in Bayern 2,5 Fachkräfte. Die Zahl der Inobhutnahmen hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. In einer Umfrage der AG Weiße Fahnen zur Arbeitsbelastung unter Fachkräften der Jugendämter heißt es, nur 13% der Befragten empfänden ihre Fallbelastung als angemessen, nur die Hälfte fühle sich „gesund und leistungsfähig“ und zwei Drittel gaben an, für gute Entscheidungen nicht genügend Zeit zu haben. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie spricht von einem »Orientierungsrahmen« von 65 Fällen pro Fachkraft, die Gewerkschaft Ver.di fordert eine Obergrenze von 28 Fällen. In der Realität liegen die Fallzahlen pro Fachkraft teilweise bei über 100.

Führt man sich vor Augen, dass es hierbei oft um Fälle des Kinderschutzes geht, wird einem das Ausmaß dieser Katastrophe bewusst. Schon die verspätete Bearbeitung eines Falles kann hier über Leben oder Tod entscheiden. Der Kindernotdienst (KND) ist seit Jahren überlastet, im März schreiben Mitarbeiter:innen in einer Überlastungsanzeige: „Wir können die Kinder, die aufgrund von Misshandlungen oder Vernachlässigungen in ihrem Elternhaus im Kindernotdienst aufgenommen werden, trotz großer Anstrengung nicht vor der gewaltvollen Atmosphäre schützen“. Laut der Jugendverwaltung sind von 33,5 Stellen im Betreuungs- und Kriseninterventionsbereich des Kindernotdienstes eine Erzieher-, und zwei befristete Pflegestellen offen, außerdem eine Hauswirtschaftsstelle. Die Notdienste verzeichnen teilweise eine Überbelegung von fast 100%. In den letzten fünf Jahren wurden knapp 400 Plätze gestrichen. In einem behördeninternen Brief der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie an die Jugendämter wird darum gebeten, derzeit möglichst keine Jugendlichen in den Berliner Notdienst Kinderschutz zu schicken. Ein abstruser Vorschlag, wo doch der Notdienst die letzte Zuflucht für Kinder bspw. aus gewalttätigen Elternhäusern ist.

Dass die Notlage der Kinder- und Jugendhilfe nicht wieder in der Lumpenkiste versauert und nur bei medial hochgeputschten Skandalen oder bei der nächsten Wahl wieder hervorgeholt wird, dafür müssen die pädagogischen Fachkräfte selbst sorgen. Am 8.2. protestierten bereits die GEW Berlin sowie der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) vor dem Roten Rathaus. Viele weitere Proteste müssen folgen, für bessere Kitas, bessere Schulen, mehr Jugendzentren, besser ausgestattete Jugendämter und für eine Kinder- und Jugendhilfe, die ihrem eigenen Anspruch gerecht werden kann. Wie der Bau der Bullenwache am Kotti oder der wahnsinnigen A100 durch die Stadt zeigen, sind die Gelder da. Es sind bewusste Entscheidung, wofür sie ausgegeben werden und wofür oder für wen nicht.

# Frederik Kunert arbeitet als Sozialarbeiter in Berlin-Mitte und war zuvor einige Jahre an Berliner Grundschulen als Integrationserzieher tätig.

# Titelbild: DBSH, Proteste vor dem Roten Rathaus

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Von Bahram Ghadimi
Übersetzung von Haydar Paramaz

Leila Hosseinzadeh ist Masterstudentin der Anthropologie. Sie hat hauptsächlich an der Universität, als Aktivistin der Studentenbewegung gearbeitet und ist als eine der kämpfenden und widerständigen Frauen im Iran bekannt. Zusammen mit einer Gruppe von studentischen Aktivist:innen wurden sie Ende der 2000er Jahre Zeugin des Scheiterns der „Grünen Bewegung“ an der Universität und erlebte das anschließende erstickende Klima der Gesellschaft. Sie alle waren politisch Links orientiert und in der Regel waren sie Kinder der Arbeiterklasse. Folgendes Interview mit Leila Hosseinzadeh, entstand nur wenige Tage nach ihrer bedingten Entlassung aus dem Gefängnis, unter ständiger Bedrohung durch Regierungskräfte. Damit beabsichtigen wir einen weiteren Teil der sozialen Bewegung im Iran, mit den Worten der Aktivist:innen vor Ort, vorzustellen. (Triggerwarnung: Im Interview erzählt Leila von ihrer Haftzeit und beschreibt Folter und sexualisierte Gewalt.)

Du hast lange Zeit politisch im universitären Umfeld gearbeitet. Wie kam es dazu, dass Deine Arbeit diesen Bereich verließ und ein viel breiteres Spektrum an Menschen ansprach?

Während wir Verbindungen innerhalb von Universitäten knüpften, stellten wir fest, dass unsere Schicksalsgenossen nicht nur an Universitäten sind; Wenn wir das Recht auf kostenlose Bildung wollen, sind wir bereits Verbündete der Lehrergewerkschaftsbewegung, wenn wir gegen Privatisierung sind, sind wir Verbündete der Arbeiterbewegung; Wenn in der Universität der Slogan skandiert wurde: „Student, Lehrer, Arbeiter, Einheit! Einheit!“, hatte es nicht nur eine theoretische oder ideelle Grundlage. Wir setzten eine gemeinsame Verteidigung und einen konkreten Widerstand praktisch um. Als die Regierung Mitte der 2010er Jahre den Praktikumsplan für Hochschulabsolventen und den Kaufplan für Lehrdienstleistungen durchführte, wurde diese Verbindung konkreter.

Mit diesem Plan setzte die Regierung Hochschulabsolventen ein, um die Beschäftigungs- und Gehaltssituation der Erwerbstätigen zu prekarisieren. Jetzt waren wir Studenten, Lehrer und Arbeiter in der selben Lage und stellten uns entsprechend gemeinsam auf. Die Kampagne gegen die Arbeitsausbeutung wurde von Studenten, Arbeitern, Lehrern, Journalisten, Intellektuellen und Rentnern durchgeführt. Aufgrund des starken Drucks unserer Bewegung wurde der Praktikumsplan schließlich abgesagt.

Aber diese Kampagne und Versammlung hatte auch darüber hinaus Wirkung. Die gemeinsame Teilnahme an drei Straßenprotestversammlungen für die Freilassung eines Gewerkschaftsarbeiters, Reza Shahabi, aus dem Gefängnis zum Beispiel. Eine der letzten Nachrichten, die in der Telegram-Gruppe der Kampagne 2017 gepostet wurde, war: „Lasst uns unter dem Eingang der Teheraner Universität versammeln“, Wenige Minuten später wurde der Ort zum einzigen Sammelpunkt in Solidarität mit dem Volksaufstand vom „Dezember 2017- Januar 2018“. Zwei grundlegende Parolen wurden dort zum ersten Mal gerufen: „Reformisten, Fundamentalisten, es ist vorbei“ und „Wir wollen keinen König, wir wollen keinen Mullah, wir wollen die Gründung von Räten“. Ersterer wurde zum Hauptslogan des Aufstands. Sehr bald waren die Mainstream-Medien der Regierung und der Opposition mit dieser Frage beschäftigt, ob es wirklich „vorbei“ sei.

Diese Frage konnte man allerdings nur stellen, wenn man die soziale Situation im Iran irgnorierte.

Das es vorbei sei, war keine Vorhersage der Zukunft, sondern eine Beschreibung des damaligen Stands der iranischen Politik. Diese Parole wurde aus den Herzen jener Kraft geschrien, die jahrelang versucht hatte, die einheitliche Rolle des Staates in der politischen Ökonomie aufzuzeigen  und darlegen wollte dass der Dualismus zwischen Reformlager und konservativen nur ein Scheinverhältnis ist. Es waren die jungen Studenten, die Anfang der 2010er Jahre, besonders mit der Amtseinführung von Rohanis Regierung, zusammen mit vielen anderen Menschen zu der allgemeinen Einsicht gelangt waren, dass diese Kabinette alle gleich sind.

Nach den Aufstandstagen im Januar 2018 schrieben einige in den sozialen Medien mir diesen Slogan zu. Das ist falsch. Die Parole kam aus dem Herzen einer kollektiven Kraft und war das Ergebnis jahrelanger kollektiver Kämpfe und Bemühungen. Die zweite Parole für die Gründung der Räte konnte sich leider nicht durchsetzen, da sie medial boykottiert wurde. Nichtsdestotrotz werden, wo immer es geht, Räte als Machtorgane gegründet: in Gilan, Aserbaidschan, Kurdistan, in der turkmenischen Sahara, in Fabriken, Universitäten etc.

Wie siehst Du, angesichts des hohen Anteils von Studentinnen, die Rolle der Frau in dieser Bewegung?

Als die Studentenbewegung Fortschritte machte und wuchs, konnte sie mit Hilfe einer klaren Klassenlinie ihre objektive Schicksalsgemeinschaft mit anderen unterdrückten Gruppen besser verstehen. Von Anfang an spielten Frauen eine aktive Rolle bei der Entstehung dieser Bewegung und sie kämpften für die Abschaffung der Geschlechterunterdrückung. Das Ergebnis dieses Kampfes war, dass in allen Stellungnahmen der Studentenbewegung Gender-Forderungen betont und Gender-Unterdrückung gesondert und mit Nachdruck dargestellt wurden. Parolen wie „Mädchenwohnheim: Gefängnis!“ gehörten neben anderen Slogans zu den Parolen, die von den ersten Versammlungen der Bewegung erhoben wurden. Der Frauenwiderstand im Herzen der Studentenbewegung brachte auch konkrete Erfolge: Die Wohnheimbewohnerinnen des Mädchenwohnheims der Universität Teheran ignorierten mit kollektiven Protestaktionen in den Jahren 2018-2019 die gesetzlichen Ein- und Ausgangszeiten

Im Mai 2018 organisierte die Studentenbewegung als Reaktion auf die Gründung einer Sittenpolizei auf dem Kampus der Universität Teheran eine Versammlung von 2.000 Studenten, deren Hauptslogan „Brot, Arbeit, Freiheit! Freiwillige Kleidung!“ lautete. Die Studentenbewegung schritt mit einem Verständnis über die Schicksalsgenossenschaft der unterdrückten Gruppen und der Notwendigkeit ihrer Einheit voran. Am Studententag 2017 erzählten in einer Protestversammelung unter dem Titel „Wir sind die Stimme der Geschichte“, Studenten, Arbeiter, Lehrer, Frauen und Vertriebene (wegen Wasserknappheit) über ihre Unterdrückung und über ihren Widerstand und riefen schließlich gemeinsam: „Wir sind die Stimme der Geschichte“. Bei der Protestaufführung in der Allameh-Universität und der Universität Teheran im Jahr 2019, stießen Menschen, die von Nationaler und religiöser Unterdrückung betroffen sind und Migranten dazu. Ich selbst wurde 2018 tagelang in meiner Haft verhört, um preiszugeben, wer den Text der Protestperformance am Studententag verfasst hatte.

Warum wurdest Du verhaftet?

Ich wurde im Januar 2018 wegen meiner Teilnahme an der Kundgebung am 30. Dezember 2017 am Eingangstor der Universität Teheran im Zusammenhang mit dem Volksaufstand verhaftet. Außer mir wurden etwa 50 weitere Studenten im Zusammenhang mit dieser Kundgebung festgenommen. Ich wurde wegen meiner gesamten Tätigkeitsgeschichte bis Dezember 2017 verhört, und schließlich verurteilte mich das Gericht zu sechs Jahren Haft. In der Anklageschrift gegen mich stand, dass ich Sozialistin bin, an Kundgebungen der Studentenbewegung teilgenommen habe, an Kundgebungen für die Freilassung des inhaftierten Arbeiters Reza Shahabi teilgenommen haben, an der Gründung einer Kampagne gegen Arbeitsausbeutung beteiligt war und an der Versammlung im Zusammenhang mit dem 2017-2018 Aufstand teilgenommen habe.

Mit massiven Verhaftungen nach dem Januar-Aufstand wurde die Studentenbewegung stark unter Druck gesetzt. Allein an einer Universität wurden Studenten zu mehr als 100 Jahren Haft verurteilt. Damals dachten wir, die Arbeit der Studentenbewegung sei beendet. Einige kritisierten die Ereignisse und sagten, man hätte eine organisierte soziale Bewegung nicht für einen Straßenaufstand verausgaben sollen. Als ich und eine Gruppe anderer mit der gleichen Haltung dachten, dass die Arbeit erledigt war, und als wir an die langen Jahre unserer Gefangenschaft dachten, sagten wir uns, dass es sich trotzdem gelohnt hatte. Wir hatten unsere historische Pflicht, Studenten zu sein, erfüllt und den unterdrückten Massen zur Seite gestanden. Einige von uns waren nicht dafür gewappnet, diesen hohen Preis zu zahlen. Die Repression war hart. Wir hätten nicht einmal gedacht, dass die Universität nach dieser Repression aufstehen und Widerstand leisten könnte, aber so ist es gekommen. Von März 2018 bis Mai 2018 organisierten mehr als 40 Universitäten und Hochschulen machtvolle Kundgebungen und Proteste, um gegen die hohen Haftstrafen von studentischen Aktivisten zu protestieren.

In der Studentenbewegung haben wir mit leeren Händen begonnen und wir haben die Erhöhung der Sozialkosten für zwei Jahre gestoppt, wir haben die Privatisierung der Wohnheime gestoppt, wir haben die Anzahl der kostenlosen Bildungsjahre mit unserem Widerstand etwas erhöht, aber wir haben uns im Hinterkopf immer einsam gefühlt, zumal all diese Fortschritte nicht nur unter Repression, sondern auch unter schlimmster Stigmatisierung erkämpft wurden. Dann stellten wir fest, dass wir nicht allein waren. Im Gegensatz zu dem, was viele von uns dachten, war die Universität nicht am Ende, sie wehrte sich und ihr Widerstand zahlte sich aus. Die Urteile der Studenten wurden gekippt und viele Urteile konnten nicht vollstreckt werden. Meine Haftstrafe wurde auf zweieinhalb Jahre reduziert.

Die Studentenbewegung ist in Abwesenheit vieler von uns, die sie begonnen hatten, bis Ende 2020 vorangeschritten und erst mit der Sicherheitsschließung der Universitäten von Ende 2020 bis Mai 2022 konnten sie das Voranschreiten der Studentenbewegung abbremsen. Gegen den Widerstand der Universität wurde ihre Schließung durchgesetzt. Aber selbst die Schließung der Universität funktionierte am Ende nicht, und mit der Wiedereröffnung im Mai 2022 nahmen die Studenten ihre Aktivitäten wieder auf und leisteten einen einzigartigen und aktiven Widerstand im Jina Aufstand.

Wurdest Du erneut festgenommen?

Ich wurde im Sommer 2019 erneut verhaftet, diesmal von den Revolutionsgarden, sie fragten nach den Protesten und Streiks der Haftpeh-Arbeiter im November 2018. Damals wurde eine Reihe von Kundgebungen an verschiedenen Universitäten zur Unterstützung von Haftpeh abgehalten. Der Hauptslogan war: „Wir sind die Kinder der Arbeiter, wir stehen an ihrer Seite“.  Sie verhörten mich über marxistische Gruppen und Medien und verurteilten mich schließlich zu 5 Jahren Gefängnis. Die Vorwürfe waren: abhalten einer Kundgebung zur Unterstützung des inhaftierten Derwisch Studenten Mohammad Sharifi Moghadam. Dieses schwere Urteil erschien allen absurd, denn wir hatten lediglich für unseren inhaftierten Freund eine Geburtstagsfeier vor der Sharif University of Technology abgehalten. Mit dieser neuen Akte schickten sie mich ins Gefängnis und vollstreckten die Gefängnisstrafe im Zusammenhang mit der Verhaftung von 2018. Im Gefängnis wurde bei mir eine unheilbare Autoimmunerkrankung diagnostiziert, zwei Monate nach Auftreten der Symptome wurde ich aus medizinischen Gründen beurlaubt. Meine Augen wurden von der Krankheit befallen und mir drohte die Erblindung. Die Rechtsmediziner bescheinigten, dass ich nicht haftfähig bin und meine Freilassung wurde beschlossen.

Im November 2021, als ich mich auf einer Urlaubsreise befand, wurde ich dann erneut vom Geheimdienst in Shiraz festgenommen. Ich wurde im Untersuchungsgefängnis des Shiraz-Geheimdienstes schwer körperlich misshandelt. Die Vernehmungsbeamten übten viel körperlichen und seelischen Druck aus. Sie hatten mich ohne Anklage festgenommen und planten, durch die Inhalte meines Telefons und mit einem Geständnis ein Verfahren gegen mich einzuleiten. Ich habe mich in beiden Fällen dagegen gewehrt. Sie konnten das Passwort des Telefons nicht knacken und ich sagte ihnen: „Ich werde vor euch nicht einmal gestehen, dass ich atme.“ Nach einem Monat psychischer und physischer Misshandlung, wegen denen meine Krankheit wieder ausgebrach, ließen sie mich aufgrund des öffentlichen Drucks gegen eine hohe Kaution frei. Zwei Monate nach meiner Entlassung erfuhr ich, dass ich eine neue Autoimmunerkrankung hatte. Die Repression ließ jedoch nicht nach, sie eröffneten ein Verfahren gegen meinen Bruder und luden ihn vor und sie belästigten meinen Vater immer und immer wieder. Im August 2022 wurde ich in Teheran vor meinem Haus gewaltsam festgenommen.

Dieses Mal weigerte ich mich am Eingang des Teheraner Geheimdienstgefängnisses sogar, meine Personalien preiszugeben. Ich weigerte mich, verhört zu werden, und sie hielten mich rechtswidrig fünf Monate lang in Untersuchungshaft. Sie sagten, dass ich mit einer Gruppe politischer Gefangener bestrebt wäre, eine Erklärung zu veröffentlichen. Sie legten mir den Text der Erklärung vor, es war eine Fünf-Punkte-Erklärung, die die Prinzipien des Kampfes und einer alternativen Regierung spezifizierte. Ich sagte ihnen, wenn ein Text veröffentlicht wird und mein Name darauf steht dann lasst uns reden, aber das war nicht der Fall.

Nach fast einem Monat wurde ich ins Adel-Abad-Gefängnis in Shiraz gebracht, tatsächlich kam ich in eine Art inoffizielle Verbannung, weil Shiraz weder mein Wohnort noch meine Heimat war und auch nichts mit den Anschuldigungen in meiner neuen Akte zu tun hatte. Sie versuchten mich so viel wie möglich zu quälen und zu entrechten. Seit meiner Verhaftung war es mir einen Monat lang verboten gewesen, Kontakte zu haben und als sie mir endlich erlaubten, jemanden anzurufen, entzogen sie mir das Recht, meinen Anwalt zu kontaktieren. Sie entzogen mir medizinische Behandlung und zwangen mir einen Arzt auf, bei dem ich mich gezwungen sah in einen Medikamentenstreik einzutreten. Davor war ich wegen der Verhängung der strenger Einschränkungen schon einmal in einen Hungerstreik getreten, diesen beendete ich als die Auflagen aufgehoben wurden. Diesmal hatte mich die Regierung dank eines Briefes meiner ehemaligen Mitgefangenen aus dem Frauentrakt des Evin-Gefängnisses, der Unterzeichnung einer Petition durch Studenten und Professoren, der Abhaltung von Protestkundgebungen an meiner Fakultät und öffentlichem Protest auf Twitter nach fünf Monaten der rechtswidrigen Inhaftierung freigelassen.

Der Geheimdienst hat mich letzte Woche (3. bis 11. März 2023) erneut vorgeladen. Ich habe gesagt, dass eine telefonische Vorladung illegal ist. Sie sagten, dass sie kommen und mich mitnehmen würden, noch ist nicht klar, wann sie ihre Drohung wahrmachen werden. Als ich vorübergehend im Gefängnis von Adel Abad inhaftiert war, gaben sie mir einen Bescheid über die Vollstreckung der fünfjährigen Haftstrafe. Sie betrachteten mich als abwesend und als flüchtig, weil ich nicht zum Haftantritt erschienen war und jetzt haben sie eine Anordnung erlassen, mein Eigentum zu beschlagnahmen. Jetzt muss ich ihnen erklären, dass ich nicht ins Gefängnis gekommen bin, um die fünfjährige Haftstrafe zu verbüßen, weil ich wegen eines anderen Falls in einem anderen Gefängnis inhaftiert war und nicht von Gefängnis zu Gefängnis kommen konnte.

Wie behandelten die Regierungstruppen Dich und andere Gefangene zum Zeitpunkt der Verhaftung und später in den Gefängnissen?

Die Art und Weise der Behandlung hängt ganz davon ab, wer welcher politischen Kraft angehört und wo man festgehalten wird und auch, wie viel in den Nachrichten über jemanden berichtet wird. Abgesehen davon hängt es auch mit der Zeit der Inhaftierung zusammen. Alle diese Parameter bestimmen das Ausmaß der Gewalt und des Drucks.  Die Situation außerhalb von Teheran ist sehr schlecht. Manche Gefängnisse sind viel schlimmer als andere. In Teheran sind die Haftbedingungen für politische Gefangene besser als in anderen Städten, aber die Bedingungen sind nicht für alle gleich und die Tatsache, dass die Bedingungen besser sind, bedeutet nicht, dass die Bedingungen gut sind. In den letzten Jahren wurden Bektash Abtin und Behnam Mahjoubi im Evin-Gefängnis getötet, indem sie keine medizinische Versorgung erhielten und ihnen die falschen Medikamente verabreicht wurden und das im Evin Gefängnis, das über die besten Einrichtungen unter den iranischen Gefängnissen verfügt.

Machen Regimekräfte einen Unterschied im Umgang mit politischen Gefangenen und Gefangenen, denen keine politische Aktivität vorgeworfen wird?

Ja. Abgesehen von den Festgenommenen aus Massenprotesten, bei denen die Sicherheitskräfte keine Gewaltanwendung scheuen, ist in anderen Fällen die systematische Gewalt der Polizei gegen nichtpolitische Häftlinge, insbesondere bei Mord- und Drogendelikten, weitaus höher als bei politischen Gefangenen. Das gilt jedoch nicht für politische Gefangene von marginalisierten Völkern wie Kurden, Arabern und Belutschen sowie einige andere politische Gefangene, gegen die sehr schwere Anklagen erhoben werden. Wir haben politische Häftlinge, die des Attentats oder der Sabotage angeklagt sind und deren Folterniveau unvergleichlich ist. Häftlinge, denen Mitgliedschaft in politischen Organisationen vorgeworfen wird erleben in der Regel sehr lange Phasen der Isolationshaft und des Drucks. Auch in Haftfällen, die in das Spannungsfeld zweier Geheimdienstbehörden geraten, wie z.B. bei Umweltaktivisten, ist das Ausmaß des Drucks und die Dauer der Inhaftierung in der Sicherheitshaftanstalt sehr sehr hoch.

Diejenigen, die wegen unpolitischen Anschuldigungen festgenommen werden, erfahren jedoch ein höheres Maß an systematischer Gewalt als diejenigen, die als Aktivisten auf ziviler Ebene und mit medialer Berichterstattung festgenommen werden, insbesondere wenn es keine Straßenproteste gibt.

Gibt es einen Unterschied in der Repression gegenüber männlichen, weiblichen & transgender Gefangenen ?

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass der Vernehmungsdruck auf weibliche Inhaftierte um ein Vielfaches gestiegen ist. In den jüngsten Aufständen waren viele Frauen sogar sexueller Belästigung und Übergriffen ausgesetzt. Abgesehen davon wurden viele Frauen beschimpft oder mit moralischen Argumenten stark unter Druck gesetzt. Ich weiß nichts über die Bedingungen von Transgender-Häftlingen, aber ich vermute, sie werden einer größeren Gewaltanwendung ausgesetzt sein als männliche Häftlinge. Das Problem ist nicht, dass Männer nicht Gewalt und Druck ausgesetzt sind, sie werden sogar häufiger geschlagen und körperlich angegriffen. Aber Demütigung, Druck und schlechte Behandlung von Frauen haben stark zugenommen.

Hatten die politischen Gefangenen Kontakt zu denen, die nicht politischer Aktivität beschuldigt wurden? Haben sie sich gegenseitig beeinflusst?

Es hängt davon ab, in welchem Gefängnis man inhaftiert ist und ob es in diesem Gefängnis politische Gefangene gibt oder nicht. In den Gefängnissen, in denen es eine politische Abteilung gibt, wird versucht, die Interaktionen zwischen politischen Gefangenen und nichtpolitischen Gefangenen so weit wie möglich zu minimieren. Es gibt ein Gesetz zur Trennung von Straftaten, das in einigen Gefängnissen streng umgesetzt wird, aber wo immer es eine Möglichkeit für Kontakt gibt, sofern es ein gesunder Kontakt ist, kommt es definitiv zu nachhaltigen gegenseitigen Auswirkungen. Gefängnisbeamte versuchen, politische Gefangene vor nichtpolitischen Gefangenen schlecht aussehen zu lassen. Einerseits versuchen sie, indem sie politischen Gefangenen wenige Privilegien einräumen, ihren Protestgeist zu kontrollieren, andererseits täuschen sie mit diesen Privilegien vor den Augen nichtpolitischer Gefangener Ungleichheit vor. Auf der Grundlage dieser Ungleichheit versuchen sie, politische Gefangene als „Herren“ darzustellen, die nichts über den Schmerz sozialer Gefangener wüssten. Dies ist ein allgemeiner Mechanismus, sie verwenden auch spezifischere Mechanismen. Als sie mich zum Beispiel in die Gemeinschaftszelle der Drogendelikt-Gefangenen schicken wollten, warnten sie die Gefangenen durch den Vertreter des Raums, dass ich psychologische Probleme hätte und verrückt sei. Deshalb sollten sie mich meiden. Die anderen Häftlinge hatten zufällig die Neuigkeiten, die es über mich gab, von ihren Familienangehörigen gehört. Das überzeugte sie, dass ich nicht verrückt war und sie mit mir befreundet sein können.

Schreiben Folterüberlebende Berichte über die Aktionen des Regimes? Wenn nicht, hältst Du es für notwendig, diese Zeugnisse aufzuzeichnen?

Einige schreiben und dennoch erzählen viele von denen, die Folter und Druck erlitten haben, aufgrund des Drucks der Polizei nichts. Andererseits finde ich es wichtig, wie man Druck- und Foltererfahrungen erzählt. Seit vielen Jahren ist im Narrativ über die Folter, die Skandalisierung des Staates hegemonial. Natürlich sollten die Folterer mit jeder Erzählung entlarvt werden, aber wenn der dominierende Diskurs in der Erzählung nur diese Skandalisierung ist, werden andere Aspekte der Erzählung vernachlässigt oder mit der Zeit unwichtig. Eine festgenommene gefolterte Person wird zum reinen „Opfer“, die Fortsetzung dieses Ansatzes führt zum Verlust ihrer revolutionären politischen Bedeutung. Der Skandal stößt an dem Punkt an seine Grenzen, wenn es dem Staat nicht mehr um die Aufrechterhaltung der Legitimität geht und dieses Feld bereits verlassen hat.

In einer solchen Situation ist vielleicht wichtiger als Dokumentationen, den Zugang zur Erzählung zu ändern: Das Erzählen von Folter und Druck sollte Möglichkeiten und Strategien des Widerstands aufzeigen. Wir müssen das Narrativ der Kämpfer aufbauen, die Druck, Folter und Misshandlungen ausgesetzt waren und trotz intensivsten Leidens standgehalten haben, damit wir den Mut und die Bereitschaft in uns selbst stärken, die nötig sind, um Folter und Unterdrückung zu eliminieren. Wir sollten uns mit der Eskalation der Wut über das Verbrechen und der Stärke unserer Hoffnung und unseren Mutes beschäftigen. Dann sind wir in der Lage, die Folterer zu beschämen, während wir uns ermächtigt fühlen, sie zu vernichten. Wir müssen unseren Schmerz und unser Leid, dass uns die Unterdrücker aufgezwungen haben, teilen, um weiter voranzukommen, weiterzumachen und mutiger zu sein, nicht wegen der Hoffnung auf Rache oder der Angst vor dem Monster des Folterers. Wir müssen von Folter und Misshandlungen erzählen, damit wir das Foltersystem als etwas besiegbares begreifen.

Kannst Du uns etwas über die Solidarität und den Widerstand politischer Gefangener erzählen, im Gefängnis oder nach ihrer Entlassung?

Ich denke, dass ein Grund für die Freilassung politischer Aktivisten während einer Generalamnestie darin besteht, dass der Sicherheitsapparat leider besser und früher als die Aktivisten selbst, ihre Potenziale und Möglichkeiten erkennt. Der Prozess, der seit Anfang dieses Jahres stattfindet und bei dem die meisten politischen Aktivisten bereits vor Beginn des Jina-Aufstands auf unterschiedliche Weise ins Gefängnis kamen, schuf Potenziale im Gefängnis. Im Laufe der Zeit wurden diese Potentiale sichtbarer. Kürzlich haben wir gesehen, wie Gefangene kollektive Solidaritätsbotschaften aneinander sendeten und aus verschiedenen politischen Spektren zusammenkamen, um sich gegenseitig zu verteidigen. Diese Solidaritätsbekundungen zwischen verschiedenen Gefängnissen könnten und sollten meiner Meinung nach eine größere und radikalere Ebene annehmen. Es war möglich, dass die Solidarität allmählich und mit dem Fortschritt der Gespräche in den Gefängnissen übergehen würde in die Thematisierung strategischer Punkte. Ich glaube, dass die Regierung diese Gefahr früher als die politischen Gefangenen selbst erkannt hat und deshalb der Freilassung der politischen Gefangenen zugestimmt hat.

Diejenigen, die unter den schlimmsten Belastungen und Leiden zusammengelebt haben, sollten sich nach der Freiheit logischerweise nicht einfach verlassen. Aus diesem Grund bringt das Gefängnis mit all seinen Leiden, Nähe und Sympathie und schafft neue Bindungen. Das heißt, es schafft neue Möglichkeiten auch in der Freiheit. Ich spreche hier vom Gefängnis nach 2018, einem Gefängnis voller junger Menschen, offen und gesprächsbereit, insbesondere in den Frauengefängnissen, wo Sympathien für die aktuellen Probleme des Gefängnisses oft die Barriere früherer Distanzen durchbrechen können. Um ehrlich zu sein, selbst wenn ich frei bin, kann ich nicht umhin, mir Sorgen um Niloufar Bayani oder Mahosh Zabet zu machen. Viele von uns bleiben nach der Haft befreundet und sprechen über politisches Handeln. Diese einfachen Dinge bergen Möglichkeiten. Möglichkeiten, die viele von uns nicht sehen wollen. Ich spreche von der Möglichkeit, andere Kräfte zu sehen und zu berücksichtigen und neuen Aktivismus zu schaffen, einen Dialog zwischen Kräften zu führen, die nicht vereint sind, sich aber in einigen Bereichen gegenseitig unterstützen können. Das ist die Möglichkeit, die das Gefängnis innerhalb und außerhalb seiner selbst für die Solidarität unterschiedlicher Aktivisten schafft.

Wie wirkt sich Deiner Meinung nach die Patenschaft durch Parlamentarier und westliche Staatsmänner auf die Lage der Gefangenen des jüngsten Aufstands und die Abschaffung der Todesstrafe aus?

In meinem Fall habe ich der Diskussion um eine Patenschaft nicht zugestimmt, weil für mich keine unmittelbare Lebensgefahr besteht. Gleichzeitig wollte jemand aus dem Bundestag netterweise meine Patenschaft übernehmen. Für mich blieb die Frage über das Verhältnis zwischen diesen Vertretern und der deutschen Regierung, welche Repressionsinstrumente an die iranische Regierung verkauft, unbeantwortet. Insbesondere, da es hier auch um die SPD geht. Ich kenne mich nicht mit der aktuellen deutschen Innenpolitik aus, aber eine junge Studentin im Iran vergisst nie, dass die deutsche Revolution 1919 von der sozialdemokratischen Regierung unterdrückt wurde und das unter der Herrschaft der SPD Luxemburg und Liebknecht ermordet wurden. Dies war ein wichtiger historischer Moment für das Schicksal des Sozialismus in der Welt. Ich habe die informierten Leute gefragt, und sie sagten, die deutsche Sozialdemokratie sei heute nicht kritischer und linker als damals. Für mich ist das der Grund für meine Ablehnung einer Patenschaft. Ich denke bei Fällen, wo das Leben in Gefahr ist, sollte man bestehende Möglichkeiten nutzen.

Beim jüngsten Massenaufstand im Iran gab es sehr viele Verhaftungen und Folter. Haben sich in einer solchen Situation die Haftbedingungen für politische Gefangene geändert?

Sowohl für die Regierung als auch für die Gefangenen sind die Bedingungen schwieriger geworden. Die Regierung kämpft jeden Tag mehr mit der Haushaltskrise, und die Befriedigung des unersättlichen Hungers der Wirtschafts- und Militärmafia verschlingt einen immer größeren Teil des Budgets. Die Proteste werden breiter und die Unterdrückungsinfrastruktur in vielen Städten reicht nicht aus. Dadurch werden die Bedingungen für die Inhaftierten noch unmenschlicher. Die Bevölkerungsdichte nimmt zu, die Haftplätze sind gering und sie verwenden ungeeignete Orte, um die Häftlinge festzuhalten, diese sind mit Nahrungsmangel konfrontiert und so weiter. Dies war einer der Gründe für die Freilassung der Gefangenen, zumal ich denke, dass die Regierung neue Proteste kommen sah und mit dieser Vielzahl an Gefangenen mit einer ernsten Krise konfrontiert werden würde. Darüber hinaus bringt das Festhalten von Demonstranten unter solchen Bedingungen das Risiko von Ausschreitungen innerhalb des Gefängnisses mit sich.

Was hat Dich ermutigt und Dir Kraft gegeben, auch im Gefängnis Widerstand zu leisten?

Vieles hat mich am Laufen gehalten. Als ich 2019 im Gefängnis war, ging ich in Gedanken Schritt für Schritt zum logischen Ende von allem. Oft habe ich mir folgende Fragen gestellt: Wie weit will ich noch weitermachen und wozu? Ich suchte in meinem Kopf und das ausschlaggebendste Bild, das meine Frage beantwortete, war das Bild meiner Eltern. Diejenigen, die mir ständig und jedes Mal sagten, ich solle wegen ihnen aufhören mit meinem Aktivismus, ich solle abbrechen und aussteigen. Sie waren mein Hauptgrund, zu überleben und weiterzumachen. Mein Vater hatte gearbeitet, seit er sechs Jahre alt war, er hatte die Schule wegen der Arbeit versäumt. Aber nicht nur wegen der Arbeit. Sein Vater hatte ihn zur Einschulung mitgenommen, der Schulleiter hatte Geld verlangt, das sein Vater nicht zahlen konnte und er hat deswegen die Schule versäumt. Später lernte er von seinem Vorarbeiter lesen und schreiben und noch später nahm er an Abendschulprüfungen teil. Er hat immer gesagt, dass er bereit ist, alles zu geben, damit wir studieren können und er war wirklich bereit und ist es noch heute, wo er fünfundachtzig Jahre alt wird.

Meine Mutter hat wie mein Vater ihr ganzes Leben lang gearbeitet, nicht nur im Haushalt, sondern seit ihrer Kindheit Teppiche geknüpft. Sie hat Teppiche geknüpft, bis die Nerven in ihren Händen geschädigt wurden, sie Rückenleiden bekam, ihre Augen schwächer wurden und sie an Lungenproblemen erkrankte. Auch sie hat es versäumt, zur Schule zu gehen, denn sie wurde sehr schnell verheiratet und hat ihr ganzes Leben lang dafür gearbeitet, dass sich unser Leben ändert. Nein! Ich mag es wirklich nicht, dass die Welt so weitergeht, wo manche Menschen die einfachsten Gaben des Lebens und der Gesellschaft verpassen und ihr ganzes Leben lang arbeiten. Als ich an meine Eltern dachte, wollte ich kämpfen, bis ich sterbe. Und auch wenn wir nicht gewinnen, bin ich froh, dass ich für eine gerechtere Welt gekämpft habe.

In Adel Abad brauchte es keine Vorstellungskraft und Bilder, denn die Not der Frauen stand vor meinen Augen. Ich war unter den Drogengefangenen, und vor meinen Augen waren die Sehnsucht nach Schule, die Arbeitslosigkeit, die Kinderehe, die Nöte der Alleinerziehung. Ich war mitten in der Hölle, gegen die ich kämpfte. Viele Male, besonders wenn mich das Leiden meiner Schwestern im Gefängnis wütend machte, dankte ich in meinem Herzen der Regierung dafür, dass sie mich hergeschickt hatte, um Zeuge jener Hölle zu werden, die sie für das Leben der Menschen geschaffen hat. Einmal sah ich eine Frau in Adel Abad, die minderjährig verheiratet worden war (wie die meisten inhaftierten Frauen in Adel Abad), ihr Mann hatte sie jahrelang vergewaltigt und sie durfte sich nicht scheiden lassen. Wenn ich „Vergewaltigung“ sage, ist das keine Metapher, ich übertreibe nicht, ich verwende dieses Wort nicht symbolisch. Im Laufe der Jahre hatte ihr Mann kein einziges Mal Vaginalsex mit ihr, er hatte sie mit Gewalt zu Analsex gezwungen. Um die Geschichte zusammenzufassen: Sie war wegen des Verbrechens der erzwungenen Scheidung zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Ja, wegen des Verbrechens der erzwungenen Scheidung, weil sie ihren Ehemann als Geisel genommen und einen Mullah entführt hatte, damit er das Scheidungsurteil erlässt. Ihr Komplize wurde hingerichtet.

Dies ist eine der traurigsten Geschichten von Frauen im Adel-Abad-Gefängnis. Sag mir, warum wir  nicht bis zum Tod kämpfen sollten? Was wollen wir außer einer menschlicheren Situation, außer einer gerechten Situation, in der die politische und wirtschaftliche Struktur und der Staat die Menschen nicht zu Wölfen machen? Unsere Hände sind leer, wir haben nichts außer unseren müden und leidenden Körpern. Was haben wir zu verlieren? Unsere Leben? Ist sich irgendjemand dieses elenden Lebens sicher genug, um sich zurückziehen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass meine Wut, mein Glaube und mein Kampfgeist gewachsen sind, als ich meine Schwestern in Adelabad sah.

#Titelbild: eigenes Archiv.

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Seit knapp zwei Monaten greift der faschistische türkische Staat wieder großflächig Gebiete in Rojava an. Diese erneute militärische Operation mit dem Namen „Klauenschwert“ zeichnet sich dabei vor allem durch wahllose Angriffe auf zivile Infrastruktur aus, der revolutionäre Geist Rojavas soll mit allen Mitteln des Spezialkrieges gebrochen werden. Drohnen-Attentate, Flugzeugangriffe und Großflächenbombardements sind in Rojava unlängst wieder zum Alltag geworden. Überdies hat Erdoğan mehrmals mit einer Bodenoffensive bis tief in die Gebiete der Autonomen Selbstverwaltung gedroht. Wir haben mit Kämpferinnen von YPJ-International über ihre Einschätzung der Lage, ihre Gründe vor Ort zu sein und ihren Appell an uns Linke in Deutschland gesprochen. YPJ-International ist eine Einheit aus Frauen und umfasst internationalistische Freiwillige aus verschiedenen Ländern der Welt und ist strukturell an die vielfältigen Verteidigungseinheiten Rojavas angebunden. Das Interview entstand im Dezember 2022.

Warum habt ihr euch entschieden, Teil von YPJ-International zu werden? Werdet ihr auch in Zukunft dort bleiben?

Zunächst wollen wir euch erst einmal für euer Interesse und eure Fragen danken. Es ist wichtig, insbesondere in Zeiten des intensivierten Angriffs miteinander im Austausch zu bleiben und internationalistische Perspektiven aufzubauen.
Die Gründe, sich den Frauenverteidigungseinheiten YPJ anzuschließen, sind vielfältig und oft auch mit persönlichen Erfahrungen verknüpft. Dennoch lässt sich feststellen, dass viele von uns mit dem Leben innerhalb der durch Kapitalismus, Patriarchat und Staat zersetzten Gesellschaft nicht mehr einverstanden waren. In unserer Suche nach Alternativen schien uns die Revolution in Rojava Antworten zu bieten. Viele von uns haben bereits vorher die Analysen von Abdullah Öcalan gelesen und wollten an den Ort, wo nach seinen Ideen eine Revolution entsteht. Insbesondere als Frau liegt es oft nicht nahe sich einer bewaffneten Einheit anzuschließen. Zu groß die Zweifel am eigenen Können, zu fremd das Bild der kämpfenden Frau – auch wenn wir es mit Bewunderung auf Fotos wahrnehmen. Doch wir haben den Schritt gewagt und keine von uns hat ihn bisher bereut. Im Gegenteil, wir lernen uns selbst, die Revolution und den Befreiungskampf der Frauen täglich besser kennen und sind ein Teil davon geworden. Es ist wichtig zu verstehen, dass wir nicht in erster Linie hier sind, weil die Verteidigungseinheiten auf unsere Unterstützung angewiesen wären. Wir sind hier, weil wir ein Teil der Revolution, ein Teil der Antwort auf den faschistischen Angriff und ein Teil der Hoffnung auf eine freie Welt sein wollen. Einige von uns werden irgendwann in ihre Heimat zurückkehren und dort weiter für die Revolution kämpfen, doch aktuell sehen wir uns einer Offensive entgegen, die keine von uns ans Zurückkehren denken lässt. Wir haben dafür trainiert und uns vorbereitet, an der Seite der Freund*innen, Genoss*innen und der Menschen Nord- und Ostsyriens gegen den türkischen Faschismus Widerstand zu leisten.

Wie bewältigt ihr euren Alltag, euer Leben in der Gemeinschaft in der aktuellen Situation? Hat sich etwas grundlegend verändert? Wie ist eure Stimmung?

Der türkische Staat greift insbesondere die Infrastruktur, also Gas-, Strom-, Wasser- und Kraftstoffanlagen an. Das wirkt sich auf alle, die hier in Nord- und Ostsyrien leben, aus. Als militärische Einheit sind wir auf eine mögliche Bodeninvasion vorbereitet. Es war seit langer Zeit davon auszugehen, dass wir uns eines Tages erneuten Invasionsbestrebungen gegenüber sehen werden und die Revolution verteidigen müssen. Wir müssen jedoch feststellen, dass Rojava auch vor dem 19. November im Kriegszustand war, wenn auch in einem Krieg niederer Intensität. Einige Freundinnen sind nun an die Front gegangen, andere konzentrieren sich auf medizinische Notversorgung oder Pressearbeiten. In einer Situation wie dieser steigt natürlich das Arbeitslevel nochmal an und es entsteht auch mal Stress. Aber durch unsere Prinzipien und eine gemeinsame Planung und Bewältigung des Alltags können wir uns immer gegenseitig unterstützen und aufeinander achten. Die Stimmung ist kämpferisch.


Was bereitet euch am meisten Sorge und was sind eure Ängste? Was gibt euch Hoffnung und Moral?

Niemand von uns will Krieg, denn Krieg bedeutet immer Leiden, insbesondere für die Bevölkerung. Doch im Falle eines Angriffes, wie diesem, sind wir bereit die Revolution und die befreiten Gebiete zu verteidigen – bis zum letzten Blutstropfen. Wir können auf unsere eigene Stärke und ebenso auf die Freundinnen neben uns vertrauen. Das gibt uns Mut. Hoffnung ist kein sich ohne dein Zutun einstellender Zustand. Hoffnung ist immer eine Entscheidung. Solange wir also hoffen, solange kämpfen wir und solange lassen wir nicht zu, dass das faschistische System Angst in unseren Herzen sät. Das System des Nationalstaats hat uns gelehrt, dass es keine Alternative gäbe und dass wir nichts an all dem Leid, der Gewalt und Unterdrückung ändern könnten. Also ist Hoffnung auch Widerstand gegen eine Lüge, die dir Fesseln anlegt und dich zum Stillstand bringt.

Wie schätzt ihr die aktuelle Lage vor Ort ein und die Androhung des türkisch-faschistischen Staates von einem erneuten Einsatz von Bodentruppen? Denkt ihr, dass es dieses Mal um den Fortbestand oder die Zerschlagung der Revolution geht?

Wir nehmen die Androhung einer erneuten Invasion durchaus ernst und bereiten uns darauf vor. Die Angriffe des türkischen Staates sind nicht als bloße Landbesetzungsversuche zu werten. Es geht um einen Genozid, um die Vernichtung des kurdischen Volkes sowie all der Menschen, die hier in Frieden und Freiheit nach dem Paradigma des demokratischen Konföderalismus leben wollen. Wir befinden uns in einer Phase des Kampfes um das Sein oder Nicht-Sein. Nachdem Erdoğan in den Bergen Kurdistans empfindliche Rückschläge erlitt, scheint er es nun erneut in Rojava probieren zu wollen. Es gibt für ihn nur die Möglichkeit des Krieges, eine andere Lösung käme ebenso seiner Vernichtung gleich wie eine militärische Niederlage. Der heldenhafte Widerstand der Freundinnen und Freunde in den Bergen Kurdistans hat ihn noch mehr in die Enge getrieben. Die vielfältigen grausamen und völkerrechtswidrigen Mittel, zu denen er vergeblich greift, um den Widerstand zu brechen, zeigen wozu er bereit ist. In Nord- und Ostsyrien greift der türkische Staat insbesondere auf islamistische Schläferzellen und Söldnertruppen zurück. Damit verfolgt er die Strategie, die Revolution an möglichst vielen Fronten anzugreifen und zu schwächen. Es wurden in den letzten Wochen sowohl gezielt Sicherheitskräfte, die für die Bewachung IS-Gefangener zuständig waren, bombardiert als auch sogenannte IS-Schläferzellen aktiviert.

Wie schätzt ihr die Drohnenangriffe auf Vertreter*innen der Internationalen Anti-IS Koalition und die ausbleibenden Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft ein?

Es ist nicht möglich für den türkischen Staat in den syrischen Luftraum einzudringen, ohne dass die Koalitionsmächte und Russland davon erfahren. Die Angriffe waren abgesprochen und zielten darauf, unsere Kräfte vor Ort zu treffen. Gerade hier zeigt sich das Gesicht unseres wahren Feindes – des Systems des kapitalistischen, imperialistischen Nationalstaats. Die Türkei ist ein wichtiger Teil dieses Systems, wohingegen die Revolution eine Bedrohung für dieses darstellt. Dementsprechend wollen wir nicht auf direkte Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft bauen. Doch sollte der Welt bewusst sein, dass mit den Angriffen des türkischen Staates auch der weltweit gefürchtete Islamische Staat, der durch unsere Verteidigungseinheiten besiegt wurde, wieder erstarkt. Immer noch sind zehntausende IS-Terroristen und Terroristinnen in unseren Händen, unter ihnen auch Tausende aus Europa und den USA. Eine unserer Missionen gegen Untergrundbewegungen des IS mussten wir bereits auf Grund der Angriffe stoppen. Sollte die Situation sich zuspitzen, wird es immer schwerer werden all die Gefangenen sicher zu verwahren.

Wie bewertet ihr die Aussage der deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD), fest an der Seite der Türkei im „Kampf gegen Terrorismus“ zu stehen und die Rolle Deutschlands im Krieg gegen die Revolution von Rojava generell?

Der deutsche Staat und der türkische Staat sind historisch eng miteinander verbunden. Die beiden Staaten verfügten immer über weitgehende diplomatische, wirtschaftliche, militärische aber auch ideelle Verbindungen. Das türkische Militär wurde maßgeblich durch deutsche Soldaten ausgebildet und die Waffenindustrie mit deutscher Unterstützung aufgebaut. Mustafa Kemal Atatürk galt Hitler als großes Vorbild. Der Aufstand von Dersim 1937 wurde durch deutsches Giftgas niedergeschlagen. Heute wird Cyanwasserstoff (Blausäure, Anmerk. d. R.) gegen die Guerilla eingesetzt. In Deutschland ist diese Chemikalie besser bekannt unter dem Namen Zyklon B. Auch in dem Kampf gegen das kurdische Volk und die Befreiungsphilosophie Öcalans stand die BRD immer an der Seite des türkischen Staates. Als Innenministerin erhält die Sozialdemokratin Nancy Faeser eine Politik der Verfolgung und Kriminalisierung kurdischer und internationalistischer Kämpfe aufrecht. Die Arbeiterpartei PKK und ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan werden als terroristisch eingestuft. Die Solidaritätsbewegung Rojavas als auch Gruppen, die das System des demokratischen Konföderalismus als ihre Grundlage betrachten, werden Repressalien ausgesetzt. Der erste Bericht der Tagesschau zu den türkischen Angriffen war mit Aufnahmen aus dem türkischen Verteidigungsministerium gespickt. Dabei wurde gezeigt, wie Drohnen 12 Zivilist*innen ermordeten. Kurzum: Machen wir uns nichts vor, der türkische und der deutsche Staat bilden eine Einheit und sind Feinde unserer Befreiungskämpfe. Doch umso mehr müssen wir uns bewusst werden, dass auch die revolutionären und widerständigen Kämpfe der kurdischen und türkischen Menschen mit denen in Deutschland verbunden sind. Nur wenn wir unsere Bewegung als eine gemeinsame internationalistische Revolution begreifen, können wir uns erfolgreich wehren.

Wie beurteilt ihr die aktuelle Kriegssituation hinsichtlich der Angriffe und des Widerstands in Rojhlat (Ostkurdistan) und dem Iran?

Der Widerstand in Rojhilat und dem Iran zeigt uns, dass die Revolution der Frauen im 21. Jahrhundert nicht mehr aufzuhalten ist. Dass der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ dabei weltweit an Stärke gewann und Frauen dazu ermutigte gegen ihre Fesseln anzukämpfen, zeigt erneut, dass die Revolution in Kurdistan nicht nur für das kurdische Volk oder den Mittleren Osten eine entscheidende Rolle einnimmt. Diese Revolution ist eine Internationalistische, was bedeutet, dass ihre Philosophie auf der gesamten Welt Perspektiven auf eine Befreiung von Unterdrückung ermöglicht.

Nehmt ihr einen Unterschied in der Motivation/ Kraft/ Moral der Bewegung wahr im Vergleich zu 20152018 oder 2019?

Nach dem Besatzungsangriff gegen Serêkaniyê und Gire Spî intensivierte der türkische Staat Drohnenangriffe, die gezielt führende Personen der Revolution töteten. Allein in diesem Jahr sind mindestens acht YPJ-Kämpferinnen, darunter erfahrende Kommandantinnen, im Kampf gegen den IS durch Drohnenangriffe getötet worden. Außerdem wurden wichtige Vertrauenspersonen, Politiker*innen und Menschen mit gesellschaftlichen Aufgaben aus den zivilen Gebieten gezielt exekutiert. Erdoğan will der Gesellschaft dadurch gezielt ihre Vorreiter*innen nehmen. Die Ausweitung der angewandten Kriegsmethoden macht sich bemerkbar. Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren mussten wir uns auf die neue Art der Angriffe einstellen und dementsprechend andere Vorkehrungen treffen. Was dem türkischen Staat jedoch bis heute nicht gelungen ist, ist mit diesen Methoden die Bevölkerung von der Revolution zu entfernen. Im Gegenteil, als die Angriffe seit dem 19. November intensiviert wurden, sind viele ehemalige YPG- und YPJ-Kämpferinnen, die aus unterschiedlichen Gründen die militärischen Einheiten verlassen hatten, wieder zurückgekommen. Das politische Verständnis innerhalb der Bevölkerung über das Ziel dieser Methoden, ist sehr hoch und noch höher ist die Entschlossenheit, sie ins Leere laufen zu lassen. Der Fortschritt in der Organisierung der Zivilgesellschaft, im Vergleich zu den Jahren zuvor, ist spürbar. Kommunen, Räte, Initiativen und Vereine geben täglich Erklärungen ab, die ihre Verbundenheit mit den YPJ/YPG und SDF (Syrian Democratic Forces, Anmerk. d. R.) ausdrücken. 
Gerade dadurch, dass die Angriffe so stark gegen die Bevölkerung gerichtet werden, entwickelt sich dort ein ungemeiner Kampfgeist und Wille. Über die Jahre haben wir an Erfahrung gewonnen, die wir teils schmerzlich bezahlen mussten, etwa mit dem Verlust Efrîns und Serêkaniyês. Insbesondere im Kampf innerhalb der Städte gegen eine gut ausgestattete NATO-Armee mit dschihadistischer Unterstützung am Boden haben wir uns weiterentwickelt. Es wurde aus Fehlern und Kritiken gelernt, so dass sich nun besser auf die aktuelle Lage angepasst werden kann.

Nehmt ihr die Proteste in Deutschland gegen die Angriffe auf Kurdistan wahr?

Auf jeden Fall. Die weltweiten Proteste werden in den Abendnachrichten im kurdischen Fernsehen gezeigt. Es gibt uns sehr viel Hoffnung und Stärke unsere Freund*innen und Genoss*innen Zuhause zu sehen. Manchmal erschreckt es uns aber auch, wenn z.B. in Berlin nur etwa 20 Personen an einer Kundgebung teilnehmen. Dennoch, jede Aktion ist ein Ausdruck der Solidarität und ebenso ein Teil des Kampfes, wie unsere Arbeiten hier vor Ort.

Was wollt ihr den linken, feministischen Kräften in Deutschland sagen? Was kann aus eurer Sicht hier in den Zentren der Rüstung gegen den Krieg getan werden?

Wie bereits oben erwähnt, freuen wir uns über jegliche Form von solidarischen Aktionen. Doch Internationalismus bedeutet nicht fremde Kämpfe zu unterstützen, sondern vielmehr sich als Teil des Kampfes, als Teil eines revolutionären Prozesses zu begreifen, unabhängig davon, wo man sich gerade befindet. Deswegen ist es wichtig, sich mit der Idee, der Philosophie dieser Revolution auseinander zu setzen, eine eigene militante Persönlichkeit aufzubauen und sich, insbesondere als Frauen gemeinsam zu organisieren. Statt uns zu spalten, Hoffnungslosigkeit zu verbreiten und im Individualismus zu versinken, müssen wir insbesondere in Deutschland wieder eine kämpferische Bewegung werden, die um ihre Geschichte weiß und Antworten auf die Probleme der Gesellschaft geben kann. Wie Şehîd Bager Nûjiyan sagte: „Den härtesten Kampf führst du immer gegen dich selbst.“

Auch wollen wir dazu aufrufen, nach Rojava zu kommen und sich uns hier anzuschließen, um zu lernen und gemeinsam zu wachsen. Neben den Verteidigungseinheiten könnt ihr euch auch an Arbeiten in der Jugend, Gesellschaft, Jineolojî sowie an Frauen-, Kultur-, Presse- und Gesundheitsarbeiten beteiligen. Gerade wegen der engen Verbundenheit zwischen dem deutschen und den türkischen Staat ist es notwendig, dass die Komplizenschaft mit dem faschistischen AKP-MHP Regime der Türkei aufgedeckt wird. Wir glauben, dass es viele verschiedene Formen gibt dies zu tun und appellieren an euch, jetzt den Druck von unten und auf der Straße zu verstärken. Wir wissen, dass der türkische Staat den Zeitpunkt für die aktuelle Operation gegen Rojava nicht zufällig gewählt hat. Fussball-WM und der Krieg in der Ukraine sind für Erdoğan gute Ablenkungsmöglichkeiten. Auch haben wir beobachtet, dass den Angriffen hier nicht die nötige Aufmerksamkeit in der BRD zukommt. Wir glauben, dass es die dringende Aufgabe einer sich als internationalistisch verstehenden Linken in Deutschland sein muss, der Bevölkerung ins Gedächtnis zu rufen, was hier gerade passiert und entsprechende Personen in Wirtschaft und Politik dafür zur Verantwortung zu ziehen. Genauso wie die Verteidigungseinheiten der YPJ/YPG alles geben, um das historisch einmalige revolutionäre Projekt staatenloser Radikaldemokratie als Wert der ganzen Menschheit zu verteidigen, müssen Linke in Deutschland ihrer Verantwortung nachkommen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Krieg zu stoppen. Wir glauben, dass die Möglichkeiten hierfür noch lange nicht ausgeschöpft sind. Zudem kommt es aktuell wieder zu einer verstärkten Reorganisierung des Islamischen Staats. Leider beobachten wir, dass in Europa islamistische Gruppen nach wie vor kaum als Gegner im antifaschistischen Kampf verstanden werden und es immense Schwachstellen in Bezug auf Recherche, Aufklärung und Aktionen gibt. Es muss uns bewusst sein, dass der IS in Europa sowohl massenhaft Ressourcen sammelt, als auch Kämpfer rekrutiert. Die Menschen hier vor Ort sind bereit, ihr Leben für die Verteidigung der Frauenrevolution aufs Spiel zu setzen. Wir erwarten daher, dass unsere Genoss*innen in der BRD die Wichtigkeit von Rojava verstehen und ihr Handeln als eine historische Verantwortung begreifen, vor allem all denjenigen gegenüber, die ihr Leben für den Traum einer freien Gesellschaft gegeben haben.

Şehîd namirin

#Gastbeitrag AK36

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Interview mit Çiğdem Çidamlı, früheres Mitglied der Bewegung der Volkshäuser (Halkevleri) in der Türkei und aktuell aktiv in der feministischen Bewegung. Wir sprachen mit ihr über revolutionäre Basisarbeit in unterschiedlichen historischen Phasen und die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der revolutionären Theorie und Programmatik. Das Interview wurde 2020 von kollektiv aus Bremen geführt. 

Kannst du etwas über deine politische Vergangenheit erzählen?

Als 1980 der Militärputsch in der Türkei stattfand, war ich eigentlich noch ein Kind. Ich war in keiner festen politischen Organisation. Wir waren vielmehr in unserer Schule organisiert und befanden uns im alltäglichen Kampf gegen die paramilitärischen faschistischen Kräfte. 

Auch nach dem Militärputsch war ich als junge marxistische Universitätsstudentin bei keiner politischen Organisation. Tatsächlich hatte ich eine Art von politischer Reaktion und Wut gegenüber den politischen Positionen der linken Organisationen der damaligen Zeit. Ich war wütend, weil sie den Widerstand nicht weiter geführt hatten, weil sie nicht so stark waren, wie sie vor dem Staatsstreich vorgegeben hatten und dem Militärputsch nichts entgegen setzen konnten [lacht]. Das heißt, das konstituierende Element meiner politischen Geschichte war nicht geprägt durch politische Organisationen. Ich habe versucht, einen Weg des Kampfes zu finden, der über die damaligen organisatorischen, ideologischen oder programmatischen Formen hinaus ging. Ich war damals – Anfang der 90er Jahre – eine Person, die eine revolutionäre Praxis und Organisation wollte, aber die dachte, dass die Dinge radikal anders sein sollten als die bisherigen Gewohnheiten und organisatorischen und ideologischen Formen der sozialistischen Linken im Allgemeinen. 

Wo warst du damals aktiv?

Der Hauptteil meines organisierten politischen Lebens begann eigentlich zu dem Zeitpunkt, als die „großen Brüder“ aus dem Gefängnis kamen und nicht mehr die Dinge machen konnten, die sie vorher gemacht hatten. Ab 1995 war ich Teil der politischen Organisation, die u.a. versucht hat, die Halkevleri (Volkshäuser) und die Bewegung der prekären Arbeiter*innen aufzubauen. Da ich aktuell kein Mitglied der Bewegung mehr bin, spreche ich hier jetzt jedoch als Einzelperson. 

Ich habe als Außenseiterin in der Organisation angefangen. Eine junge Frau, die dachte, dass sie radikalen Einfluss haben und etwas verändern kann – die Tradition aufnehmen, aber sie auf neue Weise interpretieren. Ich habe ca. 15 Jahre lang daran gearbeitet, einen ideologisch-theoretisch politischen Rahmen für die neue Organisation oder Strömung der Halkevleri (Volkshäuser) zu schaffen. Zu Beginn der 2010er Jahre bin ich dann in einen Stadtteil in Istanbul gegangen, um dort Stadtteilbasisarbeit zu machen. Kurze Zeit später begann die Gezi-Revolte. 

In der Türkei waren die Gezi-Proteste tatsächlich ein sehr wichtiger Wendepunkt für alle politischen Szenen und alle linken Organisationen, egal ob basisorientiert oder nicht. Und natürlich auch in unseren persönlichen Leben. Gezi hat uns dazu gezwungen die eingefrorenen Verhältnisse infrage zu stellen und tut es noch immer – wie in dem berühmten Satz „wir müssen die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.1

Nach den Gezi Protesten haben wir für ein oder zwei Jahre einen Aufschwung der ökologischen und urbanen Bewegungen erlebt, die bereits vor der Revolte begonnen hatten, wie z.B. die Bewegung zur Verteidigung der nördlichen Wälder der Marmara Region oder im städtischen Raum die sogenannten Solidaritäts-Verteidigungsbewegungen. Ich war in diesen ökologischen und sozialen Bewegungen aktiv. Aber nach dem terroristischen Anschlag auf die oppositionellen Kräfte durch den Staat in Gestalt des Bombenanschlags vom 10. Oktober 2015 in Ankara, kam es zu einer Art Rückzug. Die einzige Bewegung, die sich nicht von den Straßen zurück gezogen hat, sondern ihre sozialen und politischen Kämpfen weiter führte, war die feministische Bewegung / Frauenbewegung. Ich war immer schon mit Frauen in den Stadtteilen aktiv gewesen. Ich habe versucht, eine Art feministische Tradition in meiner eigenen Gruppe aufzubauen, die bis zu diesem Zeitpunkt keine explizit feministische Haltung vertrat (obwohl sie schon vor dem Militärputsch Frauen in den Stadtteilen organisierte). In den letzten drei bis vier Jahren haben wir versucht, eine Art unabhängige Frauenorganisation aufzubauen, das Frauenverteidigungsnetzwerk (Kadın Savunma Ağı). Tatsächlich war ich in den letzten drei bis vier Jahren vorwiegend in diesem Kampf praktisch involviert. 

Die Organisation, in der du aktiv warst, hat revolutionäre Basisarbeit als wichtigen Bestandteil ihrer strategischen Ausrichtung betrachtet. Heute, 30 Jahre später, wird innerhalb der linken Bewegung wieder über die Notwendigkeit von Basisarbeit gesprochen. Was sind deine Erfahrungen und Rückschlüsse in Bezug auf die Bedeutung von Basisarbeit?

Eigentlich war es verblüffend und überraschend, als ich vor dem Interview die 11 Thesen2 gelesen habe, die ihr von kollektiv geschrieben habt. Ich denke, dass die zentralen Diskussionen und Fragen sehr ähnlich zu den Fragen sind, die wir hier diskutieren. Auch wenn die Geographie und die konkreten Bedingungen sich unterscheiden. Aber die Frage, was wir als Linke tun sollten, ist uns natürlich allen gemein, und diese Gemeinsamkeit teilen wir mit der europäischen, der lateinamerikanischen und sogar mit der nordamerikanischen Linken. Alle Diskussionen stehen in einem ähnlichen Kontext. 

Ich denke, wir befinden uns an einem neuen Wendepunkt in der Geschichte. Wir waren bereits an einem Wendepunkt als die Pandemie begann, die mit all den vielfältigen Krisen des kapitalistischen Systems zusammen gekommen ist. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem die Fragen und die Diskussionen zu einer Überlebensfrage für die gesamte Menschheit geworden sind, nicht nur speziell für die Linken. 

Also wir sind an einem Wendepunkt, aber auch an einem Brennpunkt [lacht].

Die wichtigste Frage für eine revolutionäre Linke ist: Wie können wir nach der Niederlage des Sozialismus als Bewegung und im Allgemeinen eine neue Epoche einer selbst-emanzipatorischen sozialistischen Bewegung aufbauen? Unser Ausgangspunkt zu Beginn der 90er Jahre war die Feststellung, dass die historische Epoche des Sozialismus zu Ende ist. Das Ende war nicht nur verbunden mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sondern auch mit dem Ende der weltweiten Gewerkschaftsbewegung, der politischen Bewegungen und all ihrer Organisationen, Begriffe, Ideologien und Rahmenbedingungen. Wir befanden uns am Ende der historischen Epoche des Sozialismus – die im 19. Jahrhundert begonnen und bis Anfang der 1990er existiert hat – und wir haben diskutiert, auf welchen Grundlagen sich eine neue historische Epoche des Sozialismus aufbauen lässt. 

Anfang der 90er dachten wir, die neue historische Epoche des Sozialismus kann beginnen, wenn wir eine neue Form der Klassenbewegung aufbauen, eine neue Form der Klassenkämpfe. Denn die vorhergehende Phase des Sozialismus baute auf einer spezifischen Form der Klassenkämpfe auf. Und das führt uns zu den ersten Fragen: Was ist die Klasse heutzutage? Wie ist sie zusammen gesetzt? Wo kann man die Klasse heutzutage finden? In den großen Fabriken, Stahlwerken oder vielleicht in den Stadtteilen? Oder wo sonst? Und wie ist die alltägliche Erscheinung der Klasse und der Klassenkämpfe selbst? Diese Gedanken haben wir uns parallel zu gesellschaftlichen Entwicklungen wie der zunehmenden Prekarisierung der Arbeit und Privatisierungen gemacht, in deren Folge die großen Fabriken abgebaut wurden und die Formen der Arbeit sich veränderten.

Wenn ich vom heutigen Standpunkt aus retrospektiv auf die Geschichte schaue, dann denke ich, unsere Fragen waren gut und richtig. Aber was wir damals im Gegensatz zu heute nicht wussten, ist, dass wir uns die Fragen in einem bestimmten Moment der Geschichte stellten, d.h. sogar die Fragen, die wir wagten, uns zu stellen, waren historisch bedingt. Und dieser Moment war nicht geprägt vom Sieg der Revolutionen, sondern von deren Niederlage. Der Beginn der historischen Phase des Sozialismus befand sich in der traditionellen revolutionären Phase, z.B. 1830er, noch immer unter dem Einfluss der französischen Revolution, dann die Pariser Kommune 1871. In den 90er Jahren hingegen haben wir an einem Punkt begonnen, der komplett von einem Gefühl der Niederlage charakterisiert war. Ich denke, das hat nicht nur uns ausgemacht, sondern auch andere Bewegungen wie z.B. den MST (Anm. d. Red.: portugiesisch Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, deutsch: Bewegung der Landarbeiter ohne Boden) in Brasilien usw. Natürlich hat die Niederlage oder der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Niederlage der vorangegangenen Phase des Sozialismus uns auch vor die Frage der Kritik dieser vorangegangenen Bewegungen gestellt. Und natürlich hat diese Kritik dazu geführt, dass wir die Bedeutung von Basisarbeit betont haben. Aber Basisarbeit kann in zwei verschiedenen Arten interpretiert werden: als Ausgangspunkt für eine selbst-emanzipatorische Bewegung oder als Selbstzweck. Ich denke, Basisarbeit kann nicht für sich selbst stehen und nicht an sich das Ziel sein.

Du kannst Basisarbeit machen, aber Basisarbeit ist nicht an sich revolutionär. Aus einer Kritik des realexistierenden Sozialismus heraus waren wir davon überzeugt, dass Basisarbeit wichtig ist. So weit, so gut. Aber die eigentliche Bedeutung von Basisarbeit lässt sich nur vor dem Hintergrund der Frage der Selbsttätigkeit der Arbeiter:innen innerhalb des revolutionären Prozess verstehen. Also: Ist die neue sozialistische Bewegung, die revolutionäre Bewegung, selbst-emanzipatorisch oder nicht? Wird sie durch die Selbsttätigkeit der Arbeiter*innen, Frauen, etc. getragen? Ist der Sozialismus etwas, das von außen zu ihnen gebracht werden muss oder entsteht er durch die Aktivität der Massen?

Um die Bedeutung zu verstehen, die Basisarbeit Anfang der 90er Jahre für uns hatte, ist es aber auch wichtig, den historischen Kontext zu betrachten, in dem all diese Überlegungen stattgefunden haben. Der Neoliberalismus war in einer Phase, die auf der politischen Ebene mit einem gewissen Liberalismus und sogenannten politischen Öffnungen einher ging. Die politische Sphäre war so, dass sie dir erlaubt hat, in die Stadtteile zu gehen, um dort die mikrodimensionalen Klassenkämpfe zu suchen. Du hast gedacht, du kannst diesen Problemen mit Basisarbeit begegnen, also z.B. Mietproblemen etc. Die alltäglichen Erscheinungsformen der Klassenkämpfe, die aus der Prekarisierung, Kommodifizierung (Anm. d. Red.: beschreibt den Prozess des „zur-Ware-werdens“) oder dem Neoliberalismus im Allgemeinen resultieren. Und wir dachten, wenn wir diese Kämpfe anhand von Basisarbeit bearbeiten, würde das eine Art von kleiner Politisierung gegen den Kapitalismus ermöglichen. 

Und teilweise tat es das auch. Wie die Erfahrungen gezeigt haben, war es möglich, mit Menschen zusammen zu kommen, starke Kämpfe aufzubauen und zu versuchen, darüber die politischen Einstellungen schleichend zu verändern, wie z.B. im Dikmen Tal3 oder in einigen anderen großen Kämpfen wie diesem. Natürlich haben sich die Einstellungen der Leute an diesem Punkt oder an jenem Thema verändert und auch ihre Position gegenüber der politischen Macht oder ihre Aktionsformen. 

Aber nach der Wirtschaftskrise von 2008 haben wir gemerkt, dass sich die Verhältnisse verändert haben. Man kann das vielleicht als Rückkehr oder Wiederkehr der politischen Sphäre an sich bezeichnen. 2008 war ein wichtiger Scheidepunkt, weil sich die Bedingungen all dieser Kämpfe stark verändert haben. Man könnte von der Vor-Krise und der Krisenperiode des Neoliberalismus sprechen. 

Nach 2008 hat uns die politische Sphäre überholt. Während Gezi haben wir erlebt, dass all diese kleinen Basisbewegungen, die aufgebaut wurden, nicht groß und kraftvoll genug waren, um die Reaktionen der Leute und ihren Ärger über den Neoliberalismus und dessen politischen Akteure aufzufangen oder einzubeziehen. Die Politik hat uns überholt, und nicht nur in der Türkei sondern auch in Brasilien oder anderen Orten. All die Basisbewegungen konnten an einem gewissen Punkt auf die Rückkehr der politischen Sphäre nicht mehr angemessen reagieren. Und die politische Sphäre wurde so manipulativ. Und auch der Linkspopulismus, wie in Spanien mit Podemos und Syriza in Griechenland, wandte sich gegen die Bewegungen selbst. Die linken sozialistischen Basisbewegungen konnten bis zu einem gewissen Punkt nur eine radikale sozialdemokratische Alternative anbieten und diese Alternative wurde manipuliert durch die Angriffe des kapitalistischen Systems nach der Krise von 2008. Die Leute, die ihrer grundlegenden Mittel der Existenzsicherung beraubt wurden, wurden sehr schnell proletarisiert, aber weder die Basisbewegungen noch die politischen Projekte, wie PodemosSyriza etc. konnten darauf eine angemessene Antwort finden und keine davon konnte die revolutionären politischen Erscheinungsformen all dieser Kämpfe vereinen. 

Kannst du das näher ausführen?

Ich denke, die zentrale Form der Herrschaft hat sich nach 2008 verändert. Vor 2008 zielte der Kern der kapitalistischen Herrschaft darauf ab, die Leute zu atomisieren und die Einheit der proletarischen Klassenstrukturen zu zerstören, die vorher aufgebaut wurde. Hinzu kam eine Form der Liberalisierung im Regierungsstil. Man kann ersteres in der Türkei auch mit den ersten Jahren der AKP Regierung gleichsetzen: Eine Öffnung gegenüber der kurdischen Frage, gegenüber LGBTIQ+ Personen, Frauen etc. Identitätspolitiken wurden benutzt, um die neuen Bereiche des Proletariats in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Meiner Meinung nach wurde Identitätspolitik erfolgreich benutzt, um den Arbeitsmarkt zu erweitern, die Proletarisierung und Kommodifizierung voran zu treiben und all diese Menschen in den kapitalistischen Markt im Allgemeinen einzubinden. Der Neoliberalismus hat so getan, als könnte er die historischen Probleme lösen, die in der vorherigen Phase des Kapitalismus bestanden – wie die kurdische Frage, die Unterdrückung der Frauen und ähnliche demokratische Probleme. Und er war sehr erfolgreich dabei, die Einheit der Arbeiter*innenklasse in dieser Zeit zu zerstören. 

Aber nach 2008 hat sich die politische Sphäre verändert. Die neoliberale Identitätspolitik wurde von oben aufgekündigt und wir erleben Regierungen wie in der Türkei, auf den Philippinen, in Russland; die Bolsonaros, Trumps und all diese neoliberalen, man kann sagen neofaschistischen, Regierungen. Sie zielen darauf ab, die Einheit der nunmehr massenhaft proletarischen Bevölkerung zu zerstören. Und all die Selbstverteidigungsbewegungen oder Basisbewegungen waren politisch nicht in der Lage, adäquat auf diese neuen politischen Entwicklungen zu reagieren. 

Aber trotz allem sehe ich uns nicht als besiegt. Ich denke nicht, dass wir Teil einer Niederlage sind. Ich ziehe es vor, uns am Anfang einer neuen historischen Epoche zu sehen. Das kann man so sehen, wenn man akzeptiert, dass die alten früheren Strukturen tot sind, die alten Annahmen, Formierungen und Gebilde einer sozialistischen Linken – sie sind tatsächlich in der Türkei mit Gezi gestorben [lacht].

Aber wenn du das Material der Kämpfe selbst betrachtest, vor dem Hintergrund der multiplen Krise des Kapitalismus, kannst du keinen Bereich des Lebens finden, der nicht unter Druck geraten ist, auch alle Kampfbereiche – seien es feministische Kämpfe, die Ökologiebewegung und natürlich die täglichen Kämpfe der Arbeiter*innen. Weil der Neoliberalismus alles kommodifiziert, alles. Und diese Pandemie zeigt, dass der Grad der Kommodifizierung und Proletarisierung nicht mit dem menschlichen Leben an sich vereinbar ist. Du kannst kaum noch irgendwelche Menschen finden, die nicht auf die ein oder andere Art und Weise mit der proletarischen Klasse im Allgemeinen verbunden sind, du kannst kein alltägliches Thema, kein Moment der Existenzsicherung finden, das nicht mit dem politischen Klassenkonflikt des Kapitalismus an sich verbunden ist. Alle Bereiche des Lebens sind proletarisiert und zum Symbol der sozialen und politischen Klassenkonflikte geworden, der Interessen der Mehrheit der Leute gegen das Interesse des Kapitalismus. 

Wir befinden uns in einer Situation, in der wir uns fragen müssen, was das grundlegende Interesse aller proletarischen Massen ist und welche Form der Organisierung es braucht. Welche Art der Basisarbeit, von Selbstbildung, welche Atmosphäre der politischen Selbstbildung für die Massen, deren grundlegende Bedürfnisse und Interessen mit dem alltäglichen Leben an sich in Konflikt stehen. Wir stehen an einem Punkt, an dem weder die partiellen Kämpfe noch die linken populistischen politischen Projekte die realen Bedürfnisse und Reaktionen der Leute auffangen und beantworten können. 

Das können wir auch in den massiven Revolten sehen, die kontinuierlich weltweit seit einigen Jahren ausbrechen. Erst vor der Pandemie, wenn ihr euch erinnert, gab es in fast 20 Ländern Massenrevolten. In diesen Revolten gab es einige politische oder ideologische Übereinkünfte, die sich zwischen den Leuten auf der Straße oder in Aktionen herausgebildet haben. Aber den politischen Projekten, die aus diesen Massenbewegungen entstanden sind, sei es Podemos, Syriza oder anderen, fehlt – was ihr politisches Programm und ihre Organisationsweise angeht – genau das, was die Menschen auf der Straße auf eine emotionale Art während der Revolte miteinander entwickelt haben.

Was bedeutet das in Bezug auf revolutionäre Basisarbeit in der politischen Praxis?

Ich denke, natürlich brauchen wir Basisarbeit, aus zwei Gründen: ohne Basisarbeit kannst du keine selbst emanzipatorische Bewegung des Sozialismus aufbauen. Sozialismus ist nicht nur eine Utopie, oder ein Dogma oder intellektuelles Denken, dass du den Massen aufdrücken kannst. Natürlich brauchen wir eine selbst-emanzipatorische Bewegung und die Basisarbeit, die zu den alltäglichen Problemen der Leute gemacht wird. Denn die alltäglichen Probleme sind zu einem Symbol des Konfliktes zwischen dem gesamten kapitalistischen Establishment und dem Leben der Leute geworden. 

Aber gleichzeitig haben wir erfahren, dass Basisarbeit zwar ein starkes Mittel sein kann, aber nicht einfach so aus sich selbst heraus. Wenn du keine richtige Programmatik und theoretische Ausarbeitung von dem hast, was Sozialismus heutzutage ist und was die Antworten sind, die wir zur Lösung der multiplen Krisen des Kapitalismus vorschlagen oder wessen Sozialismus es sein soll, laufen unsere praktischen Anstrengungen ins Leere. 

Die Tatsache, dass eine historische Epoche des Sozialismus zu Ende gegangen ist, bedeutet auch, dass sich die Art und Weise der antikapitalistischen Klassenkämpfe verändert hat. Die Klassenkämpfe der damaligen sozialistischen Ära basierten auf dem Industrieproletariat, alle anderen Kämpfe und Basisbewegungen von Unterdrückten wurden unter diese Hegemonie untergeordnet. Aber wessen Hegemonie wird heutzutage über alle Kämpfe der Unterdrückten gebildet? Wessen Sozialismus? Oder haben wir eine reale Möglichkeit, einen Weg zu finden, um all die antikapitalistischen Tendenzen und Impulse, die von unterschiedlichen Basisbewegungen kommen (z.B. der feministischen, der ökologischen, der der Kleinbäuer*innen und allen anderen antikapitalistischen Bewegungen), in eine sozialistische Einheit des Proletariats/der Unterdrückten des 21. Jahrhunderts einzubetten? Ich denke, das ist möglich. Und das ist der Grund, warum ich denke, dass wir uns an einem Wendepunkt der Geschichte befinden. Vielleicht war es das in den 90er Jahren noch nicht, aber heute ist es möglich, dass wir diesen Anfang einer neuen sozialistischen Bewegung erleben, ich meine eine neue sozialistische Epoche hat vielleicht bereits begonnen. 

Aber dafür ist es aus meiner Sicht unbedingt notwendig, dass eine neue Art der revolutionären politischen Theorierekonstruiert wird. Das ist, was uns heutzutage fehlt. Die traditionelle politische Theorie des 20. Jahrhunderts war geprägt von der Russischen Revolution und danach von den antikolonialen Revolutionen und ihren Rahmenbedingungen. Aber was ist heutzutage die politische Arena? Und wie kann eine politische revolutionäre Praxis aufgebaut werden? Wie kann eine revolutionäre Dialektik zwischen den Basisbewegungen und der politischen Ebene etabliert werden, die die politische Revolution auf der einen und die soziale Revolution auf der anderen Seite miteinander verbindet. Im 20. Jahrhundert gab es eine etablierte politische Systematik dieser revolutionären Dialektik zwischen dem politischem Moment und dem Moment der sozialen- /Klassenkämpfe. Aber ich denke, wir haben diese revolutionäre Dialektik verloren. Die zentrale Krise der Linken in den 70er Jahren resultierte daraus und natürlich hatten wir auch keine solche politische Theorie in den 90er Jahren. Aber das Leben und vor allem die aktuellen Massenaufstände zwingen uns dazu, diese neue Form der revolutionären politischen Theorie aufzubauen. Es stellt sich die Frage, was ist Politik heutzutage? Und wie können wir diese revolutionäre Dialektik zwischen dem Basiskampf und dem politischen Kampf an sich entwickeln?

Denn wenn es keine richtige politische Analyse innerhalb der Bewegungen gibt, die mit einem bestimmten Problem zu tun haben, dann wird diese Bewegung an unterschiedlichen Themen gespalten werden, wie z.B. an der kurdischen Frage oder der Frauenfrage. Nehmen wir z.B. die ökologische Bewegung in der Türkei, in der sich Menschen zusammen gefunden haben, um für den Erhalt von Wäldern, Flüssen, Tälern zu protestieren. Wenn sich solche Bewegungen nur auf die Lebensbedingungen beschränken, dann werden sie sich anhand der kurdischen Frage, der nationalen Frage, der Migrationsfrage spalten. Das bedeutet, dass Basisarbeit und eine damit verbundene Organisation glaubhaft machen muss, dass sie in der Lage ist, die alltäglichen Probleme der Arbeiter*innenklasse zu lösen, aber auch all die historischen Probleme wie die kurdische Frage, die Frauenfrage, die Migrationsfrage und so weiter. Es braucht also eine Basisarbeit, die nicht anhand von neoliberaler Identitätspolitik gespalten ist, sondern die dazu beiträgt, dass Menschen daran glauben, dass z.B. kurdische Frauen oder andere Identitäten ein historisches politisches Subjekt innerhalb der sozialistischen Organisation sein können, damit sie sich nicht in die typischen anti-narrativen Ansätze (Anm. v. kollektiv: Ansätze, die große Narrative i.S. von einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive ablehnen: Der Fokus liegt auf Teilbereichskämpfen oder 
Mikropolitiken, 
die Möglichkeit und Notwendigkeit der Verbindung unterschiedlicher Kämpfe zu einem gemeinsamen Kampf gegen das gesamte System wird negiertflüchten.

Du hast ja bereits die Massenproteste erwähnt, die als eine Reaktion auf die neoliberale Politik weltweit vor Beginn der Pandemie entstanden sind. Welche Rolle spielen diese aus deiner Sicht in der Herausbildung?

Viele der unterschiedlichen Formen von Unzufriedenheit, die in den zahlreichen Protesten weltweit zum Ausdruck kamen, verstehen sich selbst nicht per se als antikapitalistische Aktionen oder Bewegungen. Wenn das so ist, wovon ich ausgehe, dann stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten wir haben, um solche Aktionen und Bewegungen dazu zu bringen, antikapitalistische Bewegungen zu werden. Es geht mir nicht darum, wie wir diese Massenproteste interpretieren, sondern als was sie sich selbst verstehen. Ich stimme vollkommen mit euch überein, dass wir eine neue Form der der revolutionären Politik entwickeln müssen, aber was ist die materielle Basis dafür? Wir wissen, dass viele Menschen unzufrieden sind und in prekären Situationen leben, aber was ist die Subjektivität der Menschen? Ich denke, die Massenproteste sind antikapitalistisch aber viele der Menschen auf den Straßen sind sich selbst darüber nicht bewusst. Sie reagieren auf die kapitalistischen Lebensbedingungen, aber sie sehen sich selbst nicht als antikapitalistische, sozialistische, historisch-politische Subjekte, welche in die Geschichte eingreifen und sie verändern können. Und selbst wenn sie sich als antikapitalistisch verstehen, vermeiden sie es, Teil eines großen Narrativs zu sein, das Sozialismus heißt, weil sie vor solchen Ansätzen fliehen, vor Politik fliehen. Ich denke, das ist die größte Frage. Sozialismus oder Antikapitalismus – bewusster Antikapitalismus – ist eine Art Selbstnarrativ der Massen. Sozialismus war ein Narrativ, dass von den Massen selbst erzählt wurde. Natürlich bin ich inspiriert von dem theoretischen Körper aber Sozialismus, wie er real existierte, war in der damaligen Zeit revolutionär und, eine selbstemanzipatorische Erzählung der Massen. 

Ich weiß nicht wie, ich habe keine fertigen Antworten, man muss es ausprobieren. Aber ich denke, es braucht eine Art neuer Bildung, eine Bildung über den wahren Inhalt des Sozialismus, nicht über seine konkreten historischen Formen, nicht über die Formen des 20. Jahrhunderts, sondern über die reale Essenz des Sozialismus. Das bedeutet, eine Interpretation der Essenz für heutzutage. Damit sich die Massen über den Sozialismus an sich bilden, aber auch durch die feministische Bewegung , wie ni una menos und andere. Was wir tatsächlich in dieser Art von Bewegungen (wie z.B. ni una menos oder der Kampf für die Legalisierung von Abtreibungen) sehen, ist nicht nur eine Bewegung gegen Feminizide. Es ist vielmehr eine Bewegung der proletarisierten und prekarisierten Frauen, die die multiplen Krisen der Produktion und Reproduktion erleben und versuchen, diese Lücke in der Klassenbewegung zu füllen. Die Ökologiebewegung, die Bewegung der Kleinbäuer*innen, die feministische Bewegung und natürlich die alltäglichen sozialen Kämpfe sollten aus der Sicht der reinen Essenz des Sozialismus heraus kritisiert werden. Aber natürlich muss auch der Sozialismus von diesen Bewegungen kritisiert werden, insbesondere in Bezug auf seine organisatorischen Ansätze, in Bezug auf die Frage, wessen Hegemonie auf welche Art innerhalb der sozialistischen Bewegung aufrecht erhalten wird. Oder ist es möglich, neue Formen der Hegemonie zu finden?

Ich denke, wir stecken komplett in einer Welt fest, in der es auf der einen Seite historisch dogmatische Formen wie die der kommunistischen Parteien gibt. Und auf der einen Seite neue Organisationsformen und postmoderne Bewegungen, die jegliches Narrativ ablehnen bzw. es nicht erlauben, dass Menschen ihre eigenen Erfahrungen mit den Worten und Begriffen des Sozialismus erzählen und damit verbinden. An diesem Punkt befinden wir uns aktuell. Ich denke, dass wir eine neue Art der leninistischen Bewegung des 21. Jahrhunderts brauchen. Wir müssen uns eine solche Bewegung vor dem Hintergrund der Verhältnisse des 21. Jahrhunderts vorstellen, sie organisieren und aufbauen. Die Geschichte wird es uns zeigen. Ich habe die Fragen hier genannt, aber das heißt nicht, dass ich Antworten darauf habe. Was wir brauchen, ist eine revolutionäre und sich gegenseitig beeinflussende Bildung zwischen Sozialismus und Massen-/ Klassenbewegungen. 

Vielen Dank!

#Foto: Wikimedia Commons

1 [Karl Marx (1844): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW Bd. 1. Berlin: Dietz Verlag. S 381: “Man muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse |den Schandfleck| der deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen. Man erfüllt damit ein unabweisbares Bedürfnis des deutschen Volks, und die Bedürfnisse der Völker sind in eigner Person die letzten Gründe ihrer Befriedigung.”]

2https://solidarisch-in-groepelingen.de/eigenetexte

3Die Bewohner*innen des Dicmen-Tals bei Ankara sollten 2007 geräumt werden, um Platz zu schaffen für ein an landesweite Programme der Erdogan-Regierung anknüpfendes großflächiges Städtebauprojekt, das aus dem Tal ein kommerzielles Tourismus- und Naherholungsgebiet machen sollte. Aufgrund des militanten Widerstands der verbliebenen Bewohner*innen und deren Unterstützer*innen musste am 1. Februar 2007 der erste Räumungsversuch mit 8.000 Einsatzkräften und 44 Abrissbaggern schließlich abgebrochen werden. Insgesamt gelang es dem Widerstand, die Umsetzung des Projekts bis 2009 herauszuzögern. In dieser Zeit wurden lokale Selbstverwaltungsstrukturen in Form von Vollversammlungen verwirklicht, selbstorganisierte Sozial- und Bildungseinrichtungen geschaffen und eine Vernetzung mit anderen Regionen aufgebaut, die von Städtebauprojekten betroffen sind

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Noch bevor die Fußball-WM der Herren in Katar losgegangen war, wurde die Vergabepraxis an das Emirat scharf kritisiert. Während der Spiele riefen die tausenden toten Arbeiter:innen und die Situation von FLINTA*s allerlei symbolischen Protest von Innenministerin Nancy Faeser, über die deutsche Nationalmannschaft, bis hin zum Einzelhändler REWE hervor; aber auch die Ultras in deutschen Stadien machten Boykottaufrufe. Was der Gegenstand der Kritik, also die WM, die Fifa und der DFB mit dem Kapitalismus zu tun haben, analysiert Raphael Molter hier. Teil 2 folgt.

Die Zeit der Zeichen

Das Turnier ist kaum gestartet, und das letzte bisschen moralische Stabilität wich im Rekordtempo. Bierausschank? Trotz Premiumsponsor Budweiser knickte die FIFA ein, der katarische Staat wollte es so. Und was war nochmal mit der peinlichen OneLove-Kapitänsbinde? Ah ja, für deren Abschaffung machte sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) im vorauseilenden Gehorsam gerade. Die Weltmeisterschaft in Katar sorgt für unangenehmes Kopfschütteln, Unverständnis und stetig steigende Ablehnung in der deutschen Gesellschaft. Die Voting-Plattform FanQ belegte, dass nur jeder zehnte Fußballfan alle oder die meisten Spiele anschauen möchte. Nicht mal durch Spiele der deutschen Nationalmannschaft lassen sich typische Party-Patriot:innen begeistern.

Stattdessen ist die Zeit der Zeichen gekommen. Während Robert Habeck und die gesamte Energiebranche lechzend nach Katar blickt und auf frisches Erdgas hofft, zeigen sich Journalist:innen und Kommentator:innen von RTL bis ZDF mit regenbogenfarbenen Binden und solidarisch gelesenen T-Shirts. Dabei verläuft die Kritik im Sande, denn die Zeichen sind zwar Protest, aber kein Ausweg. Auf der Suche nach moralisch vertretbaren Standpunkten bei einer WM, die von Menschen geschaffen wurde, die als Arbeitsmigrant:innen weder vor zwölf Jahren noch heute auf akzeptable Bedingungen bei der Lohnarbeit treffen. Doch die Suche verharrt im Protest, ohne Konsequenzen zu ziehen. Und weil alles so aussichtslos erscheint, wirkt dann selbst ein Lebensmittelkapitalist wie REWE stabil, weil man die Farce des DFB nicht mehr mittragen will.

Doof nur, dass die WM in Katar eine wunderbare Möglichkeit für europäische Unternehmen ist, um sich kurz mit ein bisschen moralischer Kritik an Katar reinzuwaschen. Erst das Fressen, dann die Moral: International agierende Unternehmen waren schon immer gut darin, erst zu verdienen und im Notfall danach zu verurteilen. Um aber aus dem „endlosen Prozess der Proteste ohne Revolte“ (Agnoli) zu entkommen, müssen kämpferische Perspektiven aufgedeckt werden. Ein Fußball, der den kapitalistischen Imperativ der Profitmaximierung so sehr auslebt, dass selbst all die Umstände rund um die WM nur wie der nächste Anlass für Gossip wirken: Ist das dieser Sport, dem wir natürliche Kräfte wie Toleranz, soziale Freude und Kommunikation über alle Grenzen hinweg zusprechen?

»Wer einschaltet, macht sich mitschuldig«

Überraschenderweise erhält sich das unparteiische, fast schon marienhafte Bild eines Sports, der von Schurkenstaaten wie Katar für böses Sportswashing missbraucht wird, bis in die Fanszenen. Viele der Boycott Qatar-Proteste in den Stadien der letzten Wochen griffen den konsumkritischen Ansatz auf und forderten von Fußballfans vor allem eines: Abschalten! Aber hier zeigt sich die genannte Kritik eines Protestes, der keinerlei Licht am Ende des Tunnels sieht und auch viele vermeintlich kritische Fußballexpert:innen schließen sich dem fast widerspruchlos an.

Das Produkt Profifußball wirkt so übermächtig, dass sich in der Boykott-Forderung ein angeblich günstiger und leicht zu vermittelnder Minimalkonsens findet, der die Leute noch mobilisieren kann. Doch Systemkritik, die am Individuum ansetzt, verkennt zwangsläufig Ursache und Symptom.

So sollten wir nicht zum fast schon stereotypen Fazit kommen, dass wir Linke es besser wissen und der Fußball tatsächlich aufgegeben werden sollte. Die Boykottbewegung hat nichtsdestotrotz tausende und abertausende Fußballfans mobilisiert, fast jede Fanszene im deutschen Profifußball hat sich durch Choreographien und Spruchbänder gegen die WM in Katar ausgesprochen. Die bisweilen sehr brüchigen Bündnisse in den Fußballstadien dieser Republik scheinen sich mit der Weltmeisterschaft und der FIFA als Feindbild gefestigt zu haben. Nur schafft der reine Boykott-Aufruf keine kämpferische Perspektive für die Zeit nach dem WM-Finale am 18. Dezember. Soll diese Bewegung absichtlich im Sande verlaufen, wenn doch die nächste Europameisterschaft in Deutschland stattfindet?

Der katarische Staat funktioniert nur durch die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen, doch die systemischen Ursachen dahinter kennen wir auch aus Deutschland. Allein der jährliche Aufruhr um rumänische Arbeitsmigrant:innen als Retter:innen unseres Spargels sollten uns lehren, dass die Probleme nicht nur am Persischen Golf existieren. Wenn wir die grundlegenden, systemischen Verhältnisse hinter der Arbeitsmigration nach Katar kritisieren und uns mit den lohnarbeitenden Menschen dort solidarisieren, sollten wir das auch in unsere Praxis hier vor Ort aufnehmen. Nach Katar fahren und sich dort ein Bild machen, kann und sollte nicht Ziel der moralischen Kritik sein: Guckt um euch herum, macht euch für die Arbeitsmigrant:innen stark, auf die sich das deutsche Kapital auch hier in Deutschland stützt. Solidarität mit den arbeitenden Menschen in Katar hieße dann auch Solidarität mit den »Wanderarbeiter*innen« in der EU-Zone.

Soll die Boykott-Bewegung auch auf der Fußballebene bestehen bleiben, gilt es aber allen voran in den Blick zu nehmen, wie der Fußball zu dem wurde, was heute unter Kommerz oder reiner Geldgier beschrieben wird. Fußball mobilisiert Massen, Fußball politisiert aktive Fans auch in Deutschland: Polizeigewalt und staatliche Repressionen sind immanenter Bestandteil des Lebens für Ultras. Verstehen wir den Fußball als eine Subsphäre der kapitalistischen Gesellschaft, als den vielbeschworenen »Spiegel der Gesellschaft«, dann lohnt sich auch im Spiel um das runde Leder der Kampf für ein besseres Leben für alle. Das bedeutet aber nach Gabriel Kuhn nicht: »den Sport mit einer politischen und moralischen Aufgabe zu belasten, die den Spaß am Sporterlebnis gefährdet. Es geht einzig darum, den Sport nicht vom Kampf um eine bessere Gesellschaft zu trennen. Tatsächlich macht dann alles doppelt so viel Spaß«. Lassen wir die aktuelle Moralkritik hinter uns und blicken auf die Möglichkeiten, kämpferische Perspektiven im Fußball zu entwickeln.

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Interview mit Meisam Al-Mahdi, Arbeiter und Mitorganisator der Proteste der Arbeiter der Stahlfabrik Ahwaz

Die Ahwaz National Steel Industry Group nahm ihre Tätigkeit 1963 mit einer Abteilung für die Produktion von Rohren und einer zweiten Abteilung für die Produktion von Eisenträgern auf. Später kamen nach und nach die Metallurgie (Herstellung von Zäunen und Schranken), die Stahlproduktion und schließlich die Abteilung Kousar für die Herstellung von Drähten und Bewehrungsstäben (Baustäbe) hinzu. Ahwaz Steel ist das erste Werk für Walzstahlerzeugnisse im Iran. Nach der Montage der erforderlichen Maschinen und der Installation der notwendigen Ausrüstung wurde 1967 eine neue Produktionslinie eingerichtet. Im Zuge der Privatisierung öffentlicher Vermögenswerte wurde die Zahl der Beschäftigten von siebentausend auf viertausend reduziert und die Ausbeutungsrate in der Fabrik erhöht. Seit 2013 streiken und protestieren die Beschäftigten dieser Fabrik regelmäßig, um die Einhaltung ihrer Rechte zu fordern.

Meisam Al-Mahdi ist einer der Arbeiter der Ahwaz National Steel Group. Er begann 2007 in der Fabrik zu arbeiten, zunächst als Tagelöhner im Restaurant und dann mit befristeten Verträgen in der Produktionsabteilung. Bis zu dem Tag, an dem er in den Untergrund gezwungen wurde und den Iran verlassen musste. Bahram Ghadimi sprach mit ihm über die Kämpfe dieser Arbeiter.

(Anm.d.Red.: Das Interview wurde vor der derzeitigen Welle von Aufständen geführt, weshalb aktuelle Bezüge fehlen. Wir erarchten es dennoch als wichtigen Einblick in die Kämpfe im Iran)

War die Ahwaz Steel Factory vor den Privatisierungen in staatlichem Besitz?

Ja, bis zur Präsidentschaft von Ahmadinejad war es eine staatliche Fabrik. Die Privatisierung der großen Fabriken wurde in der Zeit von Ahmadinejad umgesetzt. Deshalb erhielten wir nie unbefristete, sondern immer auf drei Monate befristete Verträge. Plötzlich war die Rede davon, dass einige Fabriken bankrott seien. Sie wurden ohne Mitsprache der Arbeiter an den privaten Sektor verkauft. Diejenigen, die die Unternehmen übernommen haben, gehörten zu den kapitalistischen Banden, die mit Ahmadinedschad verbunden sind. Arya Mansur war einer von ihnen und übernahm nicht nur das Stahlwerk, sondern auch die iranischen Eisenbahnen und die Damash-Gruppe. Er wurde später wegen Veruntreuung hingerichtet. Aber alle Arbeiter wissen, dass er hingerichtet wurde, damit er diejenigen nicht verrät, die gemeinsam mit ihm die massiven Unterschlagungen zu verantworten hatten.

Zudem wurden während der Präsidentschaft von Ahmadinejad zahlreiche Industriekorridore und Freihandelszonen geschaffen. Die Struktur dieser Zonen ist gegen die Arbeiterklasse gerichtet. Ich habe in einer von ihnen, der Region Arwand, gelebt und weiß, was mit den Arbeitern passiert, wenn eine Zone zur Freihandelszone erklärt wird und Privatisierungen stattfinden.

Was bedeuten diese Freihandelszonen?

In Ahwaz wurden wir mehrmals mit Landkonfiszierungen konfrontiert. Sie begannen zur Zeit der Pahlavi-Dynastie und dauert bis heute an. Während der Präsidentschaft von Rafsanjani wurde Land für die Zuckerproduktion beschlagnahmt. Rafsanjani erfand seine eigene Art und Weise, das Land der Menschen zu beschlagnahmen: Sie machten das Land unbrauchbar für den Anbau; zum Beispiel bauten sie Staudämme an Flüssen und sorgten dafür, dass das Wasser des Golfs in das Land der Menschen eindrang und es versalzte, so dass es nicht mehr bestellbar war. Nach und nach verödeten diese Ländereien und die Kapitalisten kauften sie dann von den Menschen zu sehr niedrigen Preisen. Diejenigen, die Widerstand leisteten, wurden inhaftiert; einige kämpfen noch heute und haben trotz des erzwungenen Verkaufs ihrer Ländereien nicht aufgegeben.

Wie hoch war der Anteil der persischen und arabischen Arbeiter in eurer Fabrik?

In vielen der neuen Fabriken oder Ölgesellschaften wurden arabische Arbeiter:innen eindeutig diskriminiert, weil die Fabrikbesitzer eine nationalistische und rassistische Haltung einnehmen. Sie fragten uns direkt, ob wir Araber sind oder wenn sie sahen, dass wir ursprünglich arabische Namen oder Nachnamen wie Al-Mahdi, Tamayomi, Bani Torof usw. haben, stellten sie uns nicht ein. Arabische Arbeiter sind gezwungen, ihren Nachnamen zu ändern, um einen Arbeitsplatz zu erhalten. In der Stahlfabrik gab es hingegen eine beträchtliche Anzahl arabischer Arbeiter, was außergewöhnlich war.

Wie wurden die arabischen Arbeiter in der Fabrik behandelt?

Ich hatte zum Beispiel viel Erfahrung als Techniker für blooming, eine der außergewöhnlichsten Maschinen dort, aber weil ich Araber bin, gab man mir nicht das Recht, diese Arbeit zu machen, und ein nicht-arabischer Arbeiter, der die Maschine nicht gut kannte, war mein Vorgesetzter. Das fand ich nach einiger Zeit heraus, und ich fand auch heraus, dass dieser Arbeiter, der meine Stelle übernommen hatte, doppelt so viel verdiente wie ich. Diese Verhaltensweisen waren sehr verbreitet. Selbst arabische Facharbeiter, die Metallurgie, Maschinenbau oder andere produktionsbezogene Fachgebiete studiert hatten, arbeiteten unter der Aufsicht von Personen, die nicht aus demselben Fach stammten und ihre Position durch Günstlingswirtschaft erlangt hatten. Unser Chefingenieur zum Beispiel war ein Spezialist für landwirtschaftliche Bewässerung, während es in der Fabrik arabische Ingenieure und Arbeiter gab, die sich auf Metallurgie spezialisiert hatten; aber keiner von ihnen erreichte hohe Positionen, weil die Bauunternehmer dachten, dass Araber, wo immer sie hingehen, ihre Massen mitnehmen und sich selbst organisieren; deshalb haben sie uns immer an den Rand gedrängt, damit wir keine Gelegenheit hatten, uns zu organisieren.

Wie hat der Kampf der Arbeiter der Ahwaz Steel Factory begonnen?

Bei Ahwaz Steel begannen die Arbeitskämpfe nach der Privatisierung der Fabrik. Als bekannt wurde, in welchem Umfang Unterschlagungen stattgefunden hatten und die Justiz die Fabrik beschlagnahmte. Während der Beschlagnahmung landeten die Gewinne aus unserer Produktion auf den Konten der Justiz. Die Haltung unserer Proteste war: wenn die Fabrik auf Raten an einen anderen Kapitalisten verkauft werden soll, ziehen wir Arbeiter es vor, an den Versteigerungen teilzunehmen und sie selbst zu kaufen, auch wenn dies eine Senkung unserer Löhne bedeuten würde. Wir können die Fabrik leiten und wir beherrschen die technische Seite viel besser als die Kapitalisten und Manager.

Letztendlich ist der Moment des Beginns der Proteste aber in der Regel der Protest gegen die Löhne. Die Ungleichheiten und Unterdrückungen der Arbeiter sind zahlreich, aber die Löhne sind ein guter Ansatzpunkt, um alle Arbeiter um ein zentrales Thema zu versammeln. Im Verlauf der Proteste können dann viele andere Themen diskutiert werden.

Im ersten Jahr der Proteste hatten sie uns sechs Monate lang keine Gehälter gezahlt. Es war unser erster Protest und Streik außerhalb der Fabrik. Er fand Ende 2016 und Anfang 2017 statt. Wir verließen die Fabrik für 17 Tage und schlossen alle Türen. Kein Produkt ging raus und nichts kam rein, bis wir drei Monatslöhne nachgezahlt bekamen.

Aber die Proteste beschränkten sich nicht auf die Frage der Löhne. Bei unserem letzten Streik schuldete uns die Fabrik keine Zahlungen. Wir waren in die nächste Phase unseres Kampfes eingetreten: den Kampf gegen die Stahlmafia. Wir waren über die kleinen, eher alltäglichen Forderungen – Arbeitshandschuhe, Gesundheit, Sicherheit am Arbeitsplatz usw. – hinausgegangen.

Wie verlief der Streik?

Die Sache war die, dass die Fabrik mehrere Abteilungen hatten (Produktion von Rohren, Stahl, Eisenträgern, Drähten, Maschinen usw.) und jede Abteilung hatte ihren eigenen Chef. Derjenige in Abschnitt 1 zahlte keine Löhne, derjenige in Abschnitt 2 zahlte zwar Löhne, bot aber keine Versicherungen an usw. Zu Beginn war es uns nicht möglich, uns auf ein gemeinsames Problem zu einigen.

Das erste Ziel, auf das wir uns konzentrieren mussten, war also die Reduktion der Anzahl der Chefs. Anschließend wurden die Löhne zum zentralen Thema. Zwischen 2015 und 2016, als die Fabrik auf den Konkurs zusteuerte, waren unsere Proteste auf ihrem Höhepunkt.

Ich war Techniker an den Blooming-Maschinen, das ist eine Maschine, die das erste Eisen aus dem Ofen nimmt und die 200-mm-Blöcke in 150-mm-Blöcke umwandelt, die dann in die Walzen zur Herstellung von Eisenträgern gelangen.

Ich war kein Bediener und habe nicht mit der Maschine gearbeitet, sondern war für den mechanischen Teil zuständig. An empfindlichen Maschinen gibt es immer einen versteckten Schalter, und der Arbeiter, der vor mir an dieser Maschine als Techniker gearbeitet hatte, hatte mir gezeigt, wo der Schalter war. Eines Tages, als ich sehr frustriert war, drückte ich diesen Schalter und die ganze Fabrik blieb stehen. Egal, wie sehr sie sich bemühten, die Maschine funktionierte nicht. Sie haben Maschinenbauingenieure, Elektroingenieure usw. geholt, aber niemand konnte etwas tun.. Jedenfalls stand ich da, rauchte meine Zigarette und sah zu, wie sie sich die Köpfe einschlugen. Es war Zeit, nach Hause zu gehen; ich wollte mich gerade umziehen, als der Ingenieur mich fragte, wohin ich gehen würde. Ich sagte ihm, dass ich nach Hause gehen würde. Er sagte: „Die Maschine funktioniert immer noch nicht“. Ich sagte: „Na und? Bin ich dafür verantwortlich?“ Er antwortete: „Ja!“ Ich sagte: „Ich bin vielleicht dafür verantwortlich, aber ich besitze die Maschine nicht. Soll doch der Besitzer kommen und es zum Laufen bringen!“

Kein anderer Arbeiter war bereit, die Maschine zu starten, obwohl viele von dem versteckten Schalter wussten. Ich wurde befördert und wurde zum Bediener genau dieser Maschine. Es vergingen ein paar Wochen. Eines Tages, als ich bei der Arbeit war und lernte, wie man die Walzen benutzt, sah ich, dass ich eine Sprechanlage an meinem Arbeitsplatz hatte, die in der ganzen Fabrik zu hören war. Etwas viel Besseres als soziale Medien, dachte ich mir, denn dreihundert Arbeiter würden mich gleichzeitig hören können. Am nächsten Tag warf ich das Bügeleisen in die Maschine. Der Ingenieur fragte mich über den Sender, warum ich nicht arbeite. Während alle Arbeiter meiner Antwort zuhörten, sagte ich ihm: „Meine Frau und meine Kinder haben nichts zu essen. Warum sollte ich arbeiten? Warum sollte ich hier schwitzen und mein Leben und meinen Geist aufreiben, wenn es nichts an dieser Arbeit gibt, was mich glücklich macht oder meiner Familie Glück bringt?“ Er fragte: „Drohst du mir?“ Ich antwortete: „Nein, ich streike!“. Er fragte: „Streiken Sie alleine?“ Plötzlich ertönte es in der ganzen Fabrik „Nein, er ist nicht allein, wir sind alle bei ihm“.

Wie hat das Regime reagiert und wie war die Reaktion der Fabrikbesitzer und Auftraggeber?

Sie gingen auf zweierlei Weise gegen uns vor. Innerhalb des Unternehmens wurden wir von den Managern entlassen oder mit Entlassung bedroht und außerhalb der Fabrik wurden wir von der Polizei und den staatlichen Nachrichten- und Sicherheitskräften verfolgt. Beide handelten koordiniert und folgten sehr klaren Regeln. Ich selbst wurde eine Zeit lang gefoltert und ich wurde mehr als vier oder fünf Mal verhaftet.

2015 war ich in einem Kerker und wurde dort einen Monat lang gefoltert. Im Jahr 2016 nutzten sie eine andere Form der Repression. Sie riefen die Menschen an, und wenn Sie nicht ans Telefon gingen, kamen sie zu Ihnen nach Hause und nahmen sie fest. Einmal haben sie mich angerufen und ich hatte nicht abgenommen. Dann riefen sie meine Frau an, nannten ihr die Adresse der Schule unserer Tochter und drohten implizit, dass unsere Tochter möglicherweise einen Unfall haben könnte. Wenn wir das nicht wollen würden, sollte ich beim nächsten Mal ans Telefon gehen sollte.

Ein anderes Mal wurde ich in der Fabrik verhaftet. Vor den Augen aller Arbeiter zogen sie mir einen schwarzen Sack über den Kopf und brachten mich weg. Es kamen zudem ständig Agenten des Geheimdienstministeriums und belästigten uns bei der Arbeit.

Was hat man dir bei deiner Verhaftung vorgeworfen?

Man warf uns vor, radikalen, arabischen und bzw. oder nationalistischen Bewegungen anzugehören, radikale religiöse Tendenzen zu haben usw. Sie haben mir ins Gesicht gesagt: Wir werden dich brandmarken und deinen Namen in der Gesellschaft zerstören. Oder sie sagten, dass sie uns einfach beschuldigen könnten, mit was immer sie wollen, und uns ins Gefängnis bringen könnten.

Sie sagten uns, dass wir nicht das Recht hätten, uns gewerkschaftlich zu organisieren, nicht einmal innerhalb der Fabrik, weil sie wussten, dass die Löhne nur ein Ausgangspunkt waren, um andere Punkte anzustoßen. Sie hatten immer große Angst vor unserer Organisierung und selbst wenn sie uns unter anderen Vorwänden verhafteten, fragten sie uns bei den Verhören immer nach den Aktionen der Organisation und der Rolle, die wir darin spielten.

Warum musstest du aus dem Iran fliehen?

Lass mich zunächst erklären, wie mein Leben im Untergrund begann. Sie haben viele Verhaftungen vorgenommen. Hin und wieder haben sie einen Arbeiter aus seiner Wohnung entführt, um an Informationen zu gelangen, die ihnen helfen sollten, die Bewegung zu zerschlagen. Als sie mich verhafteten, zwangen sie mich, vor einer Kamera zu sitzen und Dinge zu gestehen, die ich nicht getan hatte. Sie drohten mir mit einem Stromschlag und stellten mich vor eine Kamera. Ich musste Geständnisse ablegen. Dann setzten sie mich mit verbundenen Augen auf einen Stuhl und fesselten mich an Händen und Füßen. Sie sagten mir: „Da es dieses Video gibt, solltest du morgen zu der Demonstration gehen, eine Rede halten und den Arbeitern sagen, dass der Streik beendet ist und sie zurück in die Fabrik gehen sollen”. Ich habe ihnen gesagt, dass ich das, was sie von mir verlangen, tun werde, wenn sie mich gehen lassen. Gegen vier oder fünf Uhr am nächsten Morgen setzten sie mich in der Nähe meines Hauses ab.

Als ich nach Hause kam, waren alle meine Kameraden da. Wir haben die Demonstration besucht. Während der gesamten Demonstration waren Polizisten in Zivil unter uns. Als ich meine Rede halten wollte, waren die Genossen besorgt. Sie dachten, ich könnte Angst haben und etwas sagen, das alles ruiniert. Ich sagte: „Wir haben nichts zu verlieren, und wir haben unsere Brust schon vor langer Zeit zum Schutzschild für ihre Kugeln gemacht. Der Klang ihrer Schüsse bricht nur die Angst in unseren Herzen. Wir werden bis zum Ende Widerstand leisten!“ Als ich diese Worte sagte, wuchs die Begeisterung unter den Arbeitern. Von diesem Moment an ging ich nicht mehr in mein Haus zurück und war ständig unterwegs.

Ich konnte mich fünf Tage lang im Keller der Fabrik verstecken. Danach musste ich sieben Monate lang untertauchen. Während dieser Zeit wurden alle meine Bankkonten gesperrt. Sie gaben bekannt, dass ich aus der Fabrik entlassen worden war. Als ich untergetaucht war, kam die Polizei oft zu unserem Haus, und meine Kinder konnten nicht in Ruhe zur Schule gehen. Die Polizei folgte ihnen zur Schule und fragte die Lehrer, ob ihr Vater dort aufgetaucht sei. Meine Frau leidet an Multipler Sklerose, normalerweise erhält sie kostenlose Medikamente von der iranischen Lebensmittel- und Medizinorganisation und dem Roten Halbmond. Als sie mich nicht aufhalten konnten, verweigerten sie meiner Frau ihre Medikamente. Das Regime hat sogar den Roten Halbmond infiltriert, die Arbeit dieser internationalen Organisation wird von der iranischen Regierung kontrolliert und gegen Aktivisten wie mich eingesetzt. Vier Jahre sind bereits vergangen und wir müssen ihre Medikamente immer noch viermal so teuer auf dem Schwarzmarkt kaufen.

In welchem Verhältnis stehen eure Kämpfe zu anderen Kämpfen im Iran?

Im Jahr 2018 erreichten wir bei den Protesten einen Punkt, an dem sich die Klassensolidarität auf der Straße manifestierte. Anstatt ein Kommuniqué herauszugeben oder einen offenen Brief zur Unterstützung der verhafteten Arbeiter zu schreiben, waren wir auf der Straße, unterstützten sie, schrien und protestierten gegen die Verhaftungen. Diese Proteste dauerten 37 Tage und waren einer der längsten Straßenstreiks der damaligen Zeit. Als wir eines Tages erfuhren, dass die Lehrer verhaftet worden waren, änderten wir die Richtung des Marsches und gingen zum Bildungsministerium. Dort, vor dem Ministerium, riefen wir den Slogan der Gewerkschaft der Arbeiter und Lehrer. Auch als die Studenten an der Universität Teheran eine Aktion zu unserer Unterstützung abhielten und einige von ihnen verhaftet wurden, hörten wir nachts davon und am nächsten Morgen, als wir auf die Straße gingen, sangen wir das Lied „Mein Klassenkamerad“. Das war der Wendepunkt, der zeigte, dass unsere Gewerkschaft nicht nur auf dem Papier stand, sondern real war, auf der Straße.

Eines der Industriezentren, das eurer Fabrik am nächsten liegt, ist Haft-Tappeh Agro-Industrial. Ich habe gehört, dass ihr eine Zeit lang gemeinsame Aktionen durchgeführt haben. Kannst du dazu mehr erzählen?

Um die Bedeutung dieser Verbindung zu verstehen, muss man sich die Geschichte der Kämpfe in beiden Fabriken ansehen. Das Unternehmen Haft-Tappeh blickt auf eine lange Geschichte von Kämpfen und aus ihnen hervorgegangene Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung zurück. Auch das Stahlwerk hatte seine eigene Geschichte des Kampfes. In den 1980er-Jahren gab es dort aktive Arbeiter, von denen viele von den Kräften der Islamischen Republik verhaftet, gefoltert und entlassen wurden. Wir waren zwei große protestierende Fabriken. Als wir unsere Proteste und Streiks durchführten, stellten wir fest, dass unsere Streiks und die Streiks von Haft-Tappeh jedes Mal innerhalb einer Woche zusammenfielen. Wir beobachteten die Streikankündigungen von Haft-Tappeh und versuchten, unsere Proteste mit dieser Bewegung in Einklang zu bringen. Haft-Tappeh hat dasselbe getan. Sie haben zugesehen, wenn wir zum Streik aufgerufen haben, und haben ihre Aktionen mit unseren abgestimmt.

Im Verlauf der Zeit verspürten wir das Bedürfnis, gemeinsam zu denken und nach und nach wuchsen wir. Als der Kampf voranschritt und die Zeit verging, basierte alles auf Entscheidungen, die wir gemeinsam trafen. Was auch immer geschah, wir haben uns gegenseitig konsultiert. Es war wichtig, dass alle wussten, welche Maßnahmen wir ergreifen würden, denn wir standen dem Kapitalismus und seiner Mafia gegenüber, die vom Staat unterstützt wurden. Der Staat ist der Eigentümer der Polizei, der Eigentümer der Diktatur.

Deshalb mussten wir gemeinsam handeln, denn unsere Macht beruht auf der Tatsache, dass wir eine große Masse sind, und in dieser Vereinigung finden wir unsere Klassenidentität. Deshalb müssen wir gemeinsam denken, um Vertrauen in uns selbst zu gewinnen, um unsere Macht zu erlangen. Wir konnten keine individuellen und irrationalen Handlungen riskieren.

Denkst du, dass eure Proteste eine Form der Organisation geschaffen haben, die es vorher nicht gab?

Die Verhaltensweisen, die wir heute in der iranischen Arbeiterklasse beobachten, haben ihre Wurzeln in den Erfahrungen der Stahlarbeiter. Eine geteilte Erfahrung der Arbeiter ist die der Demütigung, die Erfahrung der Unbedeutsamkeit ihrer eigenen Existenz. Es gibt Arbeiter, die denken, dass ihre Stimme nichts bewirkt. In der Struktur der Islamischen Republik wurde ihnen ihre Stimme immer gestohlen. Ob sie nun wählen oder nicht, ihre Stimme ist gestohlen. Sie haben also das Gefühl, dass ihre Stimme wertlos und unbedeutend ist.

Aus diesem Grund haben wir uns vorgenommen, kleine Ausschüsse zu bilden. Das heißt, wenn wir fünf Abteilungen in der Fabrik hatten, haben wir in jeder Abteilung zwei oder drei kleine Ausschüsse gebildet. An diesen Ausschüssen, die in die Struktur der Fabrik und ihrer Abteilungen eingebettet waren, waren viele Arbeiter beteiligt. Themen wie Gesundheit, Sicherheit usw. waren die Anliegen der Arbeiter selbst, und sie brachten sogar die Probleme zur Sprache, die einige Arbeiter außerhalb der Fabrik hatten, und versuchten, Lösungen dafür zu finden. In diesen kleinen Ausschüssen ist es uns gelungen, die Arbeiter zusammen zu bringen und der Zersplitterung ein Ende zu setzen.

Die Idee zur Gründung dieser Ausschüsse wurde nicht in einer Nacht erdacht. Sie wurde aus unserem täglichen Leben und unseren Problemen abgeleitet. In vielen Fällen wurden die Schlussfolgerungen, zu denen wir kamen, von der Geschichte der Kämpfe der Arbeiterklasse genährt. Es ist nicht so, dass wir neue Konzepte geschaffen haben, aber wir haben neue Formen und Strukturen hervorgebracht.

Nach der Bildung der Ausschüsse und im Verlauf unserer Proteste kamen wir zu dem Schluss, dass diese Ausschüsse zusammenkommen, sich beraten und Ideen austauschen sollten. So entstand die Notwendigkeit, eine Generalversammlung innerhalb der Fabrik zu gründen, um sich zusammenzusetzen und die Wochen, in denen wir protestiert hatten, zu analysieren und über die Zukunft und aktuelle Fragen zu diskutieren. Beispielsweise darüber, wie wir auf die staatlichen Sicherheitsmaßnahmen reagieren sollten.

Was waren eure Überlegungen gegen die staatliche Repression?

Ich erinnere mich, dass wir irgendwann während unserer Proteste zu dem Schluss kamen, dass bei jeder Demonstration eine andere Person sprechen sollte. Wenn wir bei allen Protesten dieselbe Person als Rednerin oder Redner mitnehmen würden, könnte die Polizei sie identifizieren, sie angreifen und verfolgen. Deshalb haben wir beschlossen, bei jedem Protest eine andere Person aus einem anderen Ausschuss sprechen zu lassen. Nun konnte der Staat nicht nur eine Person verhaften und um alle Sprecher zu verhaften, musste er ein Manöver mit höheren Medienkosten durchführen. Auf diese Weise würden wir in der Gesellschaft besser bekannt sein, denn wenn nur ein oder zwei Arbeiter verhaftet würden, hätte die Nachricht nicht so viel Reichweite, aber die Verhaftung von dreißig oder vierzig würde eine massive Reaktion in den Medien hervorrufen. Auf diese Weise haben wir auch den Individualismus innerhalb der Ausschüsse selbst vermieden; wir haben es vermieden, bekannte Persönlichkeiten zu schaffen, denn es bestand die Möglichkeit, dass dieselben Ausschüsse in der Zukunft die Richtung ändern und gegen die Arbeiter und die Generalversammlung arbeiten würden. Es bestand also ein Bedarf an Abwechslung, um Gleichheit und Gleichgewicht zu schaffen. Und das Wichtigste war, dass alle Arbeiter das Gefühl hatten, dass sie an den Entscheidungen und Maßnahmen beteiligt waren.

Wir hatten damit gerechnet, dass unsere Proteste lang sein würden, wir mussten Rotationen entwickeln, um Ermüdung und Burnout zu vermeiden. Wir spürten, dass die Proteste die Frage der Löhne hinter sich gelassen hatten und wir direkt gegen die Regierung und die von ihr protegierte Mafia kämpften. Wir wussten, dass es anstrengend werden würde und dass die Repressionen stärker werden würden.

Die Proteste haben uns zwar Verhaftungen eingebracht, aber auch den Vorteil, dass unsere Stimme in der Gesellschaft Gehör gefunden hat. Ich glaube, dass unsere Stimme heute nicht mehr auf Ahwaz oder den Iran beschränkt ist. Die Stimme unserer Bewegung ist jetzt international. Wir haben gesehen, wie Stahlarbeiter in Argentinien oder in Europa ihre Fahnen zu unserer Unterstützung erhoben haben. Das waren mit die schönsten Momente, die wir erlebt haben, Momente, die uns ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben, denn wir haben gesehen, dass unsere Stimme nicht nur die Straßen und Fabriken erreicht, in denen wir leben, sondern dass sie gewachsen und international geworden ist.

Sind diese genannten Formen der Organisierung heute noch gültig?

Aufgrund der großen Repression werden diese Organisationsformen heute halb klandestin praktiziert. Wir glauben, dass beispielsweise die jüngsten Streiks der Tagelöhner weitgehend von der Struktur unserer Organisation inspiriert wurden, die aus mehreren Ausschüssen und einer Generalversammlung besteht.

Bei den Protesten der einzelnen Arbeiter kann man nicht gerade von Komitees sprechen, aber verschiedene und verstreute Sektionen streiken und dann versuchen dieselben Sektionen Versammlungen in verschiedenen Städten zu bilden. Durch die Beziehungen, die wir mit den Genossen der Ölarbeiter haben, wissen wir, dass ihre Organisationsform auch von unserer inspiriert ist. Außerdem wurden sechs Monate nach der Gründung unserer Organisation, als es in Ahwaz eine Überschwemmung gab, Volkskomitees gebildet. Wir als Arbeiter unterstützten diese Komitees, indem wir Dämme bauten und die Menschen mit dem Nötigsten versorgten. Obwohl die Islamische Republik uns unterdrückt, wachsen unsere Ideen von Tag zu Tag und wir sehen unsere Art der Organisation in der Gesellschaft. Wir wollen aber bewusst nicht, dass diese Form der Organisation auf unseren Namen eingetragen wird. Wir haben es mit einem diktatorischen Staat zu tun, und wenn wir verkünden, dass diese Form der Organisation die unsere ist, können wir angegriffen werden und werden Verluste erleiden.

In Anbetracht der aktuellen Lage im Iran, wie siehst du die Zukunft unserer Gesellschaft und die Zukunft der Stahlwerker?

Wir haben Hoffnung. Wenn wir auf unser Handeln in den letzten zehn Jahren zurückblicken, stellen wir fest, dass wir anfangs zu zweit waren, dann fünf, zehn und schließlich Tausende von Menschen. Wir sehen, wie dieses allmähliche Wachstum, diese Bündelung der Kräfte, verlaufen ist. Ich erinnere mich, als wir vor fünf Jahren vor dem Bildungsministerium protestierten, kam ein Lehrer und hielt eine Rede.

Als wir protestierten, versuchten die Rentner, eine noch neue Bewegung, sich besser zu organisieren. Ich will nicht sagen, dass unsere Proteste die Achse aller sozialen Proteste im Iran sind, aber wir glauben, dass in diktatorischen Staaten die Traditionen des Straßenkampfes weitergegeben werden. Das heißt, als wir auf die Straße gingen, haben wir etwas von den Bewegungen der Lehrer und Rentner gelernt. Vielleicht ergänzen wir sie. Wenn wir die Rentnerbewegung im Rahmen des diktatorischen Systems im Iran betrachten, sehen wir ein sehr wichtiges Potenzial.

Die Lebensweise der Rentner verleiht ihrer Bewegung ein großes Potenzial; auch wenn dieses Potenzial nicht konstant ist und ihre Organisation jung ist, haben wir es mit Menschen zu tun, die mindestens dreißig Jahre in den Fabriken gearbeitet haben. Heute haben wir einen älteren Menschen vor uns, der radikal ist. Seine Redeweise und seine Literatur sind radikaler als die der Arbeiter, weil er nichts zu verlieren hat. Was wir heute brauchen, ist ein Dialog zwischen der Arbeiter- und der Rentnerbewegung. Nicht nur, um Verbindungen zu schaffen, sondern auch, um uns daran zu erinnern, dass beide Bewegungen nahe beieinander liegen und ein großes Potenzial haben.

Die letzten Worte gehören dir…

Ich möchte noch einmal betonen, dass wir heute in jeder Gesellschaft, wenn wir eine Organisation auf praktischer Ebene gründen wollen, die psychologischen Bedingungen der Gesellschaft und die systematische Demütigung, die die Menschen erleiden, nicht ignorieren dürfen. Und wenn wir sie berücksichtigen, sehen wir, dass es viel Hoffnung für diese Proteste und Organisationen gibt, zu wachsen. Die protestierende iranische Gesellschaft ist in zwei Gruppen geteilt. Ich denke, dass es derzeit eines der Hauptanliegen der rechten und der monarchistischen Strömungen ist (1), die Nachrichten, die die Arbeiter betreffen,zu kontrollieren und den politischen Diskurs der Arbeiter zu unterdrücken. Es kann gesagt werden, dass die Verschwörung der Medien sehr klar und offensichtlich ist. Sie versuchen immer, die Basis, die Arbeiterbewegung und die Demonstranten zu „zusätzlichen“ Akteuren zu machen und ihre Errungenschaften zuvereinnahmen. Daher ist es sehr wichtig, dass wir nicht nur unsere Stimme im Protest erheben, sondern auch unsere Ideen und unseren politischen Diskurs erklären und verbreitern. Die Arbeiterbewegung hat eine schwierige Aufgabe, aber es wird ein sehr guter Kampf sein.

# Titelbild: https://shahrokhzamani.com/2018/12/20/free-ahvazsteel/

Anmerkungen

(1) Zu den rechten Strömungen gehören sowohl die staatlichen rechten Strömungen als auch die bürgerliche Opposition im Ausland (z. B. die Monarchisten). In jeder Periode, in der Proteste auf die Straße gehen, versucht die Seite, die gerade nicht an der Regierungsmacht ist, die an der Macht befindliche Seite dafür verantwortlich zu machen und zu behaupten, dass die Proteste auf die Korruption oder die Unzulänglichkeiten der anderen Seite zurückzuführen sind. Auf diese Weise wird das gesamte System von der Klinge der Proteste verschont und die Proteste werden für die Interessen der verschiedenen Seiten genutzt. Ebenso versuchen die kapitalistischen Banden, die im Ausland gegen das Regime der Islamischen Republik opponieren und sich um den Sohn des letzten iranischen Königs geschart haben, von diesen Bewegungen zu profitieren, um das Regime zu verurteilen, als ob es während der Herrschaft des Monarchen Pahlavi keine Ausbeutung und Unterdrückung gegeben hätte.

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Thailand als Land der Semiperipherie befindet sich irgendwo in der Schwebe zwischen Zentrum und Peripherie. Wir haben einen Text der thailändischen Genoss:innen von dindeng übersetzt, der sich die Frage stellt, wie Staat, Macht und Gewalt sich in ihrem Kontext auf ihre Kämpfe auswirken.

Autor: Yung Kay

Wir sind hier an der Schnittstelle zwischen Zentrum und Peripherie, und wenn es irgendwo möglich sein sollte, diese in Einklang zu bringen, dann sicherlich hier. Nicht nur Thailand, sondern auch andere Regionen, die in der gleichen globalen ökonomischen Gruppe des mittleren Einkommens gefangen sind. Kann es eine Interaktion zwischen der Peripherie und dem Zentrum geben?

Im Moment befinden wir uns in Nordthailand. Hier sind wir zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Wir haben Geflüchtete von jenseits der Grenze gesehen, die von den Eiswägen aus in die tadellos sauberen  Co-Working Spaces liefern und mühelos an den professionellen E-Mail-Schreibern in ihren klimatisierten Räumen vorbeigleiten.

Thailand selbst ist zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Noch heute ist es ein „wichtiger Nicht-Nato-Verbündeter“, der gegenüber unseren Genossen in Peking endlos Lippenbekenntnisse abgibt. In Wirklichkeit sind unsere Glanzzeiten als kolonialer Vorposten des Kalten Krieges längst vorbei. Thailand bröckelt langsam vor sich hin und ist ein Relikt der alten bipolaren Welt, erdrückt von autoimperialistischer Aufblähung und gefangen in längst überholten, vom Ausland aufgezwungenen Dogmen.

Wie kann man das unter einen Hut bringen?

Lokal

Um mit einer Versöhnung zu beginnen, müssen wir zunächst versuchen zu bestimmen, was die Peripherie und was das Zentrum ist. Eine einfache Möglichkeit, dies zu tun, ist ein Blick auf die Verteilung des BIP im gesamten Königreich zu werfen. Bangkok verzehrt alles. Ein schwarzes Loch, das Wohlstand und Arbeit aus dem ganzen Land ansaugt. Fast 50 Prozent des Reichtums des Landes liegen in Bangkok, während nur 22 Prozent der Bevölkerung dort leben, von denen ein Großteil inländische oder ausländische Wanderarbeiter*innen sind. Von diesem Reichtum befindet sich natürlich der größte Teil in den Händen der Bourgeoisie. 

Seit seiner Gründung in der Mitte des 18. Jahrhunderts hat Bangkok seine Außenposten im ganzen Königreich ausgebaut. Chiang Mai im Norden, Khon Kaen und Korat im Isaan, Had Yai und Nakorn Si Thammarat im Süden. Diese Außenposten dienen dem Zweck, die Peripherie ins Zentrum zu integrieren. Die Thaifizierungspolitik der explizit faschistischen Regierung in den 1930er Jahren war nicht nur ein kultureller Imperialismus, sondern auch ein wirtschaftliches Programm, mit dem sie die Peripherie und den Kern miteinander versöhnen wollte, indem sie die Peripherie in den ökonomischen Einflussbereich des Kerns aufnahm.

Der Norden ist pro Kopf die ärmste Region, was vor allem auf die Armut in Mae Hong Son zurückzuführen ist – zweifellos die Provinz, welche geografisch, wirtschaftlich, kulturell und in Bezug auf die Reichweite der Regierung am weitesten vom Kern entfernt ist – die Einheimischen sagen oft, dass Mae Hong Son nicht Thailand ist. Mae Hong Son ist der Ort, aus dem viele der oben erwähnten subalternen Arbeiter stammen oder durch den sie kommen. Sie sind alle auf die eine oder andere Weise Flüchtlinge, sowohl diejenigen, die im Inland geboren sind, als auch diejenigen, die von jenseits der Grenze kommen, denn die Grenze bedeutet sehr wenig, wenn sie so weit draußen in der Peripherie liegt. 

International

Bangkok ist zwar das imperiale Zentrum Thailands, wird aber selbst immer mehr Teil der globalen Peripherie des Kapitals. Einst war es das Bollwerk des amerikanischen Imperiums im Kampf gegen den Kommunismus in Südostasien – Milliarden von Dollar wurden in die Hauptstadt gepumpt, um sie vor den Bauern zu schützen, die sie erobern und ihren Reichtum umverteilen wollten.

Zu diesem Zeitpunkt wurde der „tiefe Staat“ im eigenen Land geschmiedet. Der republikanische Faschismus, der Thailand von den dreißiger Jahren bis in die frühe Nachkriegszeit hinein beherrschte, wurde von einer mehr auf die Dritte Welt ausgerichteten, bündnisfreien Stimmung bedroht. Die republikanischen Elemente des früheren offen faschistischen Regimes wurden verworfen, auch wenn viele ihrer Ideale erhalten blieben und der Republikanismus wurde durch ein Programm zur Aufwertung der Monarchie ersetzt, um sie zur wohlwollenden Fassade der Nation zu machen. Man machte sich ihre religiösen und feudalen Patronagenetze zunutze und kombinierte sie mit dem nationalistischen militaristischen Faschismus der vorangegangenen Generation von Führern. Das Militär, die Monarchie und das Kapital verbündeten sich gegen die Arbeiter und den Kommunismus, ein Bündnis, das vom globalen Kapital über die Fänge des US-Imperiums heftig unterstützt und ermöglicht wurde.

Das Königreich wurde zu einer wichtigen Operationsbasis, von der aus Aggressionen gegen Nachbarstaaten gestartet wurden. Obwohl das Kapital in Vietnam, Laos und Kambodscha kleinere Rückschläge hinnehmen musste, war diese Aggression letztlich erfolgreich. In den 90er Jahren, als die Bedrohung durch die Arbeiter nachließ, wurde Bangkok weitgehend sich selbst überlassen, die Schmiergelder waren gestrichen worden und die imperiale Aufblähung begann. Heute ist der Verfall in ganz Bangkok offensichtlich: eine absurd überfüllte Stadt, deren Boulevards mit leeren Ladenfronten buchstäblich versinken, während sich das Meer langsam das Land zurückholt, auf dem immer noch glitzernde neue Einkaufszentren und Eigentumswohnungen errichtet werden.

Für das obere Ende der Bourgeoisie musste sich jedoch nichts ändern. In dem Unterbietungswettlauf des Kapitals, immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten für die Gewinnung von so viel Überschuss wie möglich, stagniert Thailand jedoch. Die brutale Gewinnausbeutung kann in nahe gelegenen Ländern wie Bangladesch und Birma billiger durchgeführt werden. Heute gleiten makellose Teslas mühelos über die rissigen Straßen und an den verfallenden Slums vorbei – ihre Fahrer sind sich der Fäulnis, die sie umgibt, überhaupt nicht bewusst und wissen nicht, dass sie nur noch mit Abgasen fahren, dass das Kapital sie im Stich lässt, obwohl der Gestank bleibt.

Diejenige, die die Fäulnis aus erster Hand kennen, ist natürlich die Arbeiterklasse. Die jüngsten Zahlen zeigen, dass die Verschuldung der thailändischen Haushalte inzwischen 90 % des BIP übersteigt und damit an elfter Stelle in der Welt steht, wobei der Großteil dieser Schulden auf Haushalte mit niedrigem Einkommen entfällt.

Die Wirtschaft braucht dringend massive Investitionen und eine Generalüberholung, aber die Säulen, die die Nation stützen, sind am Wanken. Das Militär, die Monarchie, die Bürokratie und das Parlament sind allesamt völlig unfähig, etwas anderes zu tun als den Status quo aufrechtzuerhalten. Diese Institutionen sind durch ihre aufgeblähten Klientelnetzwerke verankert und gebunden und werden durch den tiefen Staat eingeengt, der seinerseits durch das Dogma der thailändischen Vergangenheit aus der Mitte des 20. Jahrhunderts gebunden ist. Heute aber ist er kein wichtiger Außenposten des globalen Imperiums mehr, sondern nur noch ein Relikt.

Der einzige sinnvolle Reformversuch kam in Gestalt von Thaksin Shinawatra. Im Guten wie im Schlechten war Thaksin eine revolutionäre Kraft in der thailändischen Wirtschaft, politisch wollte er die Nation ins 21. Jahrhundert bringen. Obwohl seine Politik immer noch fest im Dienste der Bourgeoisie stand, wurde er als zu große Bedrohung für die bereits erwähnten aufgeblähten dogmatischen Institutionen des Staates und des Kapitals angesehen. Sie setzten ihn gewaltsam ab und arbeiteten unermüdlich daran, jegliche Überreste von Reformen zu vernichten, und bewiesen damit ihre Unfähigkeit, sich dem Tempo des globalen Kapitals anzupassen.

Wir sind nicht allein

Diese Gefahr ist weltweit keine Seltenheit. Haltet Ausschau nach Ländern mit einer großen Bevölkerung, die hauptsächlich vom Land kommt und die im letzten halben Jahrhundert eine massive Verstädterung erfahren und eine Produktionsbasis entwickelt haben. Achtet auf die verräterischen Anzeichen von sich ausbreitenden Städten, die sowohl eine wehrhafte einheimische Elite als auch eine massive Slumbevölkerung beherbergen. Beachtet die geografische Peripherie, d. h. die Teile des Landes, die vom Zentralstaat praktisch nicht regiert werden. Schaut auch die politische Gewalt an, auf der diese zeitgenössischen Versionen des Staates aufgebaut wurden, wobei US-Geheimdienstmitarbeiter im Hintergrund lauerten. Brasilien, Indonesien, Südafrika, Mexiko, usw.

Diese Länder dienen als eine Art Vermittler zwischen dem Kern und der Peripherie. Niedrige Unterleutnants des globalen Kapitals. Nur wenige erklimmen die Leiter in die oberen Ränge, wobei Südkorea eine der wenigen großen Nationen ist, die in die Bruderschaft des Zentrums eingetreten ist. Thailands Führer blicken neidisch dort hin und fragen: „Warum können wir das nicht haben?“

Die Antwort ist, dass Südkorea im Auftrag des Kapitals, genauer gesagt seiner Vollstrecker, des US-Imperiums, gezwungen wurde, jegliche Souveränität aufzugeben. Südkorea, ein Staat mit einer so absurden Geschichte, voller grotesker Gewalt und brutaler Unterwerfung, wurde weitgehend mit Gewalt und als Ergebnis eines außergewöhnlichen Ereignisses in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zum perfekten kapitalistischen Staat geformt. Ein paar andere Fälle in Ostasien, nämlich Taiwan und Singapur, basieren mehr auf Zufällen der Geschichte als auf geschickter innenpolitischer Führung oder klugem Wirtschaftsmanagement. Eine Gemeinsamkeit besteht jedoch darin, dass die Souveränität im eigenen Land fast völlig fehlt und in Wirklichkeit in den Händen des Westens und des globalen Kapitals liegt.

Die thailändischen Eliten waren nicht bereit, dieses Maß an Souveränität aufzugeben, wie wir 1973 gesehen haben, oder vielleicht wurde ihnen auch nie die Gelegenheit dazu gegeben. Wie auch immer, es scheint, dass sie am Ende an ihr eigenes Märchen von einem „besonderen“, tapferen kleinen Staat glaubten, der in der Lage war, sich gegen Kolonialreiche zu behaupten. In Wirklichkeit hat Thailand lediglich Platz gemacht für das britische Empire und dessen Nachfolger, das Kapital des 20. Jahrhunderts, unterstützt von seinem Vollstrecker, dem US-Imperium. Als Thailand nach dem Kalten Krieg nicht mehr von Nutzen war, verlor das Imperium das Interesse. Zum Glück für die koreanische und taiwanesische Bourgeoisie sorgten unsere Genossen weiter nördlich dafür, dass sie in den Augen des Imperiums relevant blieben, und so wurden sie in den Kern, die Bruderschaft der „fortgeschrittenen Volkswirtschaften“, aufgenommen.

„Warum können wir das nicht haben?“ – schreit der thailändische tiefe Staat dem Kapital zu.

„Weil ihr zu irrelevant seid“, antwortet das Kapital beiläufig und stößt auf taube Ohren.

Gewalt

Um die Politik in diesen Ländern mit mittlerem Einkommen im Vergleich zur wahren Peripherie und zum wahren Zentrum zu definieren, müssen wir die Gewalt verstehen. In den Ländern des Zentrums ist explizite politische Gewalt selten. Natürlich gibt es diese Art von permanenter unterschwelliger Gewalt und Unterwerfung, die man in fortgeschrittenen Volkswirtschaften findet, aber sie bricht selten in massenhafter politischer Brutalität aus. Die wahre Peripherie ist jedoch von Gewalt geprägt. Gleich jenseits unserer westlichen Grenze ist Gewalt im Alltag allgegenwärtig, sie ist der wichtigste Faktor bei fast allen Entscheidungen der Arbeiterklasse. In unserem Erleben gibt es jedoch ein unbehagliches Verständnis von Gewalt, ein Verständnis, das sie erlebt hat und nur äußerst ungern noch einmal erleben möchte.

Die thailändische Politik ist gespickt, aber nicht übersät mit politischen Massakern, einige sichtbar, andere nicht. Phumi Bhoon, Thammasat, Black May, Tak Bai, Krue Se und Ratchaprasong sind in den Köpfen des Proletariats fest verankert. Dies sind Fälle, in denen der Staat gezeigt hat, dass er bereit und in der Lage ist, öffentlich Massengewalt anzuwenden. Viele in der Arbeiterklasse erinnern sich auch an die Gewalt des Krieges gegen die Drogen Mitte der 2000er Jahre, an die Verhaftungen, die spontanen brutalen Verhöre und die massenhaften, fast unsichtbaren außergerichtlichen Morde – die so weit verbreitet und doch irgendwie so unauffällig waren. Im vorigen Jahrhundert sahen sich diejenigen, die den Revolutionären des Aufstands Unterschlupf gewähren wollten, mit Morden und staatlicher Brutalität konfrontiert, die öffentlich bis heute völlig ignoriert werden, an die sich aber diejenigen, die sie erlebt haben, noch erinnern.

Wenn man bereit ist, die Macht des Staates herauszufordern, ist Gewalt auf individueller Ebene nicht so sehr eine Bedrohung, sondern eine Unvermeidlichkeit. Wie viele Aktivist*innen wurden allein in den letzten zehn Jahren geschlagen, gefoltert oder in überfüllte sadistische Gefängnisse geworfen? Ihre Geschichten und Erfahrungen, ihr Blut, sind eine abschreckende Botschaft für alle anderen, die mutig genug sind, es ihnen gleichzutun. Sie sind die Überlebenden, viele andere wurden einfach ermordet, entsorgt, manchmal am Telefon mit ihren Angehörigen, ihre Leichen wurden in den Mekong geworfen.

Natürlich ist die Gewalt in Thailands innerer Peripherie eine weitaus allgegenwärtigere Facette des täglichen Lebens. Diejenigen, welche auf „Land leben, das ihnen nicht gehört“, sind der ständigen Gefahr einer gewaltsamen Vertreibung ausgesetzt. Für Migrant*innen, die in das Zentrum reisen um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, ist das Leben von Gewalt am Arbeitsplatz und in den städtischen Slums geprägt. Insbesondere Frauen sind in der Sexindustrie, einem historischen Hort frauenfeindlicher Barbarei, der übrigens im Dienste der aus den USA importierten Kolonialtruppen des letzten Jahrhunderts errichtet wurde, entsetzlicher Gewalt ausgesetzt – heute führen die Söhne und Enkel dieser Truppen das Erbe ihrer Vorfahren fort.

Diese Art von Gewalt, sowohl die gegenwärtige als auch die historische, sowohl die sichtbare als auch die unsichtbare, stellt eine ständige Bedrohung für diejenigen dar, die ihre gegenwärtigen Bedingungen ändern wollen. Im August, in den ersten Tagen der Protestbewegung 2020 Bangkok und fast 50 Jahre nach dem Massaker an der Thammasat-Universität, kämpften Student*innen auf der Straße gegen die Polizei. Für viele von ihnen war es die erste Erfahrung mit staatlicher Gewalt. Als sie in der Chulalongkorn-Universität Zuflucht vor dem Tränengas suchten, hallte im ängstlichen Flüstern die Erinnerung an die Thammasat-Universität wider: „Könnten sie es wieder tun? Ich glaube, sie könnten es wieder tun?“ Die Angst ist weit verbreitet und berechtigt – eine Angst, die im globalen Zentrum unbekannt ist, aber nur allzu bekannt in der wahren Peripherie.

In unserer Lebenswelt hat der Staat unter Beweis gestellt, dass er die Fähigkeit zu expliziter Massengewalt hat, diese jedoch im Kontext eines allgemeinen Friedens existiert. Diejenigen, die den Status quo in Frage stellen wollen, geraten in eine schwierige existenzielle Lage.

Wie lässt sich das unter einen Hut bringen?

Eine Chance

Vielleicht sind wir nicht zwischen einem Tiger und einem Alligator gefangen, sondern befinden uns vielmehr in der besten der beiden Welten.

Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, geht allmählich in den Todeskampf über. Vor allem aber wird das US-Imperium immer weniger in der Lage sein, die Rolle des Vollstreckers zu spielen. Aber was passiert mit der halben Peripherie, wenn der Kern zusammenbricht? Wenn die Westgoten Rom plündern? …eine Gelegenheit bietet sich. 

Wir kennen die brutale Unterdrückung gut genug um zu ahnen, womit wir es zu tun haben. Der Reichtum der Bourgeoisie präsentiert sich im gleichen Rahmen wie die Notlage der Arbeiterklasse, und zwar auf eine Weise, wie sie es weder im Zentrum, noch in der wahren Peripherie wagen würde. Die bröckelnde Wirtschaft ist eine Bedrohung für das Proletariat, aber auch für die Bourgeoisie – eine Bourgeoisie, die immer selbstgefälliger, langsamer und aufgeblähter wird, steht einem Proletariat gegenüber, das ungeduldig, unzufrieden und immer mutiger wird.

Die Arbeiteraristokratie des Kerns ist nicht in der Lage, das Kapital wirklich herauszufordern ohne ihre materiellen Annehmlichkeiten zu verlieren. Hier, im Norden, im Isaan, haben wir Bangkok im Visier. Wir haben das Potenzial, den Reichtum des Zentrums in die Hände der Peripherie zu bringen, ein Potenzial, das für einen Großteil des übrigen Planeten unerreichbar ist.

Gleichzeitig bedeutet diese mittlere Malaise aber auch, dass wir vorerst wenig Handlungsspielraum haben. Wir sind darauf angewiesen, dass der Zusammenbruch des globalen Zentrums uns die Gelegenheit bietet, mit dem Kapital, mit unserem heimischen Zentrum, in Konflikt zu geraten. Hier warten wir ab und bereiten uns still vor. Wenn es irgendwo passieren kann, dann sicherlich hier.

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Imperialismus – kaum ein Schlagwort wird so sinnentleert benutzt wie dieses. Während aktuell von westlichen Regierungen der „russische Imperialismus“, gemeint ist der Angriffskrieg in der Ukraine, gegeißelt wird, wird das eigene militärische Agieren und die Unterstützung antikommunistischer Putsch- und Regierungsprojekte auf allen Kontinenten selbstverständlich nicht unter diesem Begriff gefasst, genausowenig die ökonomischen Bedingungen, die zu weltweit krasser Ungleichheit führen. Aber auch für Teile der Linken, insbesondere in Deutschland, sind Imperialismus und auch Antiimperialismus begriffliche Leerstellen, bzw. Codewort für irgendwas, das man beides in der Vergangenheit verortet und irgendwie schlimm ist. Damit das nicht so bleibt haben wir das Buch „Die globale Perspektive“ von Torkil Lauesen herausgegeben, in der Hoffnung, diese Leerstelle aus linker, revolutionärer Perspektive zumindest etwas füllen zu können. Wir veröffentlichen hier unser Vorwort zum Buch, das Ihr in der Buchhandlung eures Vertrauens, oder direkt beim Unrast-Verlag bestellen könnt.

Am 24. Februar 2022 marschierten Streitkräfte Russlands in der Ukraine ein. Die „Spezialoperation“, wie der Kreml den Angriffskrieg nennt, belebte auch in den westlichen Konzern- und Staatsmedien die Debatte um einen Begriff, der zumindest in der bürgerlichen Öffentlichkeit zuvor als ein Ding des 20. Jahrhunderts erschien. „Imperialismus“, allerdings fast ausschließlich in Gestalt des „russischen Imperialismus“, war nun wieder in aller Munde. Die FDP-nahe „Friedrich Naumann Stiftung für Freiheit“ veranstaltete ein Online-Panel mit „Expert:innen“ zum Thema „Russian Imperialism for Dummies“, die US-Regierung versammelte Diskutant:innen zur Frage der „Dekolonialisierung Russlands“ und der als Jugendlicher im Stamokap-Flügel der SPD geschulte Bundeskanzler erklärte in einem Gastbeitrag für die FAZ: „Der Imperialismus ist zurück in Europa.“

Aber war er denn je weg? Das kommt darauf an, was man darunter versteht. Olaf Scholz lässt es uns wissen: Die EU sei die „gelebte Antithese zu Imperialismus und Autokratie“. Imperialismus betreiben in dieser Weltsicht also zufällig immer die geopolitischen Gegner des Westens. China und Russland agieren „imperialistisch“, die USA und ihre stets willigen Partner dagegen „verteidigen“ sich – und sei es tausende Kilometer entfernt am Hindukusch. Oder sie „helfen“ – wie im Jemen, in Mali oder in Libyen. Ob diese „Hilfe“ Millionen Tote mit sich bringt und die von ihr beglückten Nationen als Failed States zurücklässt, spielt dabei keine Rolle. Imperialisten sind immer die anderen.

Das war im Ersten Weltkrieg nicht anders. „Mitten im Frieden überfällt uns der Feind“, klagte Kaiser Wilhelm II. in seiner Thronrede am 6. August 1914. Und die SPD sprang ihm bei: „Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. (…) Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei“, schwor der Fraktionsvorsitzende der Partei, Hugo Haase, die „Volksgenossen“ auf den heiligen Verteidigungskrieg ein. Das Parteiblatt „Vorwärts“ legte nach: „Wenn die verhängnisvolle Stunde schlägt, werden die vaterlandslosen Gesellen ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen.“ Natürlich musste dieser Burgfrieden mit der eigenen Bourgeoisie gerechtfertigt werden und man fand die Beschönigung des eigenen „sozialistischen“ Bellizismus im selben moralisierenden Begriff des Gegners, den noch der heutige SPD-Kanzler nutzt: Der russische Despotismus und Imperialismus sei das wesentlich größere Übel als Deutschland und zudem sei man ja aus heiterem Himmel angegriffen worden.

Zwei Jahre und Hunderttausende Tote später verfasste W.I. Lenin in Zürich seine Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, die 1917 zum ersten Mal erschien. Der russische Revolutionär hatte für die durchaus theoretische Schrift klare praktische Interessen. Es ging darum, die Arbeiterbewegung aus der Krise zu befreien, in die sie geraten war, weil die sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale ein Klassenbündnis mit „ihren“ nationalen Herren geschlossen hatten und in den Krieg gezogen waren.

Lenin führte den Begriff „Imperialismus“ auf Veränderungen in der ökonomischen Basis des Kapitalismus zurück und entwickelte Kriterien für seine Verwendung. Imperialismus ist Kapitalismus in seinem „monopolistischen“ Stadium, also einer, in dem die Konzentrations- und Zentralisationstendenz des Kapitalismus zur Herausbildung marktbeherrschender Großkonzerne geführt hat. Er arbeitet die veränderte Rolle der Banken (Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital zu Finanzkapital) und die Rolle von Kapitalexporten bei der Aufteilung der Welt in Interessensphären heraus.

Die ökonomische Analyse ist ihm aber zugleich kein Selbstzweck. Der Imperialismus-Schrift voran gingen bereits mehrere kleinere Arbeiten zur Stellung der revolutionären Arbeiterbewegung zum Weltkrieg (z.B. „Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Kriege“ von 1914, „Sozialismus und Krieg“ von 1915, „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ von 1916). Lenin will auf eine Position hinaus, die er in der Imperialismus-Schrift so umreißt: „In der Schrift wird der Beweis erbracht, dass der Krieg von 1914 – 1918 auf beiden Seiten ein imperialistischer Krieg (d.h. ein Eroberungskrieg, ein Raub- und Plünderungskrieg) war, ein Krieg um die Aufteilung der Welt, um die Verteilung und Neuverteilung der Kolonien, der ‚Einflußsphären‘ des Finanzkapitals usw.“ Und er will die Frage klären, warum die vor Kriegsbeginn noch auf Solidarität des Proletariats gegen den Bellizismus der Herrschenden setzenden Parteien der II. Internationale nun das Bündnis mit ihrer nationalen Bourgeoisie einging, um die Arbeiter:innen der anderen Nationen abzuschlachten.

Im Zentrum seiner Erklärung steht der „Parasitismus“ der imperialistischen Nationen, die zu Vehikeln der Ausplünderung des Rests der Welt werden. Er zitiert eine erstaunlich prophetische Passage des englischen Ökonomen John Atkinson Hobson: „Der größte Teil Westeuropas könnte dann das Aussehen und den Charakter annehmen, die einige Gegenden in Süd-England, an der Riviera sowie in den von Touristen am meisten besuchten und von den reichen Leuten bewohnten Teilen Italiens und der Schweiz bereits haben: ein Häuflein reicher Aristokraten, die Dividenden und Pensionen aus dem Fernen Osten beziehen, mit einer etwas größeren Gruppe von Angestellten und Händlern und einer noch größeren Anzahl von Dienstboten und Arbeitern im Transportgewerbe und in den letzten Stadien der Produktion leicht verderblicher Waren; die wichtigsten Industrien wären verschwunden. Die Lebensmittel und Industriefabrikate für den Massenkonsum würden als Tribut aus Asien und Afrika kommen. (… ) Mögen diejenigen, die eine solche Theorie als nicht der Erwägung wert verächtlich abtun, die heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in jenen Bezirken Südenglands untersuchen, die schon jetzt in eine solche Lage versetzt sind, und mögen sie darüber nachdenken, welch gewaltiges Ausmaß ein derartiges System annehmen würde, wenn China der ökonomischen Herrschaft ähnlicher Gruppen von Finanziers, Investoren, von Beamten in Staat und Wirtschaft unterworfen würde, die das größte potentielle Profitreservoir, das die Welt je gekannt hat, ausschöpfen würden, um diesen Profit in Europa zu verzehren.“

Die in den imperialistischen Zentren beheimateten Monopolkonzerne eignen sich über – so würde man heute sagen – Global Value Chains den Mehrwert aus der ganzen Welt an. Und damit sind sie in der Lage, einen kleinen Teil der Beute an die privilegiertesten Arbeiterschichten der eigenen Nation weiterzugeben, um sich sozialen Frieden zu erkaufen. Diese „Arbeiteraristokratie“ bildet die Klassenbasis des sozialdemokratischen Opportunismus und Sozialchauvinismus.

Der politische Inhalt des Opportunismus und Sozialchauvinismus ist für Lenin stets das Klassenbündnis mit der „eignen Bourgeoisie“, auf deutsch: die „Sozialpartnerschaft“: „Das Bündnis einer kleinen bevorrechteten Arbeiterschicht mit ‚ihrer‘ nationalen Bourgeoisie gegen die Masse der Arbeiterklasse, das Bündnis der Lakaien der Bourgeoisie mit ihr gegen die von ihr ausgebeutete Klasse“, wie er in „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ formuliert.

Nun ist aber die Arbeiteraristokratie für Lenin noch eine selbst in den entwickelten kapitalistischen Ländern stets kleine Schicht des Proletariats. Mit dieser Einschränkung brach der dänische Kommunistische Arbeitskreis (KAK) in den 1960er-Jahren und entwickelte die „Schmarotzerstaat“-Theorie, die nachzuweisen suchte, dass ohne den Wegfall der globalen Abhängigkeiten die Arbeiterklasse im Westen zu keiner Revolution fähig sei. „Die Arbeiterklasse hat keine Chance, die Kapitalistenklasse zu stürzen und den Sozialismus aufzubauen, bevor das Fundament der Kapitalistenklasse durch den Kampf und zumindest teilweisen Sieg der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas erschüttert wurde“, schrieb der Gründer der Schmarotzerstaat-Theorie, Gotfred Appel 1966. Die Gruppe, aus der später die sogenannte Blekingegade-Bande hervorging, der auch der Autor des vorliegenden Bandes angehörte, setzte die Theorie konsequent in die Praxis um: Auf Agitation für den „heimischen“ Klassenkampf wurde zugunsten von Umverteilungsaktionen in den Globalen Süden verzichtet. Die der Theorie entsprechende Praxis war der Bankraub für Befreiungsbewegungen.

1989/1990 endete diese Praxis mit der Verhaftung mehrerer Genossen, darunter Lauesen, und mehrjährigen Haftstrafen. 2017 erschien „Die globale Perspektive“ zunächst auf dänisch, ein Jahr später auf englisch. Der Band liefert nicht nur historisch interessante Passagen zur kolonialen Frage in der Arbeiterbewegung sowie zur Geschichte der Imperialismus-Theorie und des Antiimperialismus. Er knüpft auch inhaltlich an die früheren Arbeiten der Schmarotzerstaat-Theorie an, wenngleich er deren Spitze, revolutionärer Klassenkampf sei in den Metropolen quasi unmöglich, abschwächt.

Wichtig ist aber: Er bleibt bei der „globalen Perspektive“, also einer Sicht auf die Klasse, die nicht beim jeweils „nationalen“ Proletariat stehen bleibt, sondern Imperialismus als weltumspannendes System begreift, in welchem auch die Klasse nur als Weltarbeiterklasse zu fassen ist. Wertschöpfung hat hier auch immer mit der Unterordnung der Mehrheit der Nationen unter die imperialistischen Big Player zu tun. Und die „nationalen“ Arbeiterklassen sind nicht mehr als Sektionen der einen Weltarbeiterklasse. Daraus ergeben sich weitreichende Fragen: Mit welchen Mechanismen vollzieht sich der Surplus-Transfer aus der Peripherie in die Metropolen? Welche Auswirkungen hat das auf die Lebensrealitäten der Klasse dort wie hier? Und auf welchen gemeinsamen Nenner sind die Interessen der in sich gespaltenen Weltarbeiterklasse zu bringen, um sie als kämpfendes politisches Subjekt zu konstituieren?

Die so aufgeworfenen Fragen sind keine bloß theoretischen Spielereien. Eine revolutionäre Linke, die sich in Deutschland neu aufstellt, wird das nur auf Grundlage einer ausgearbeiteten Imperialismustheorie können. Und dazu kann sie den Input aus internationalen Debatten ganz gut gebrauchen. Schriften wie „Die Globale Perspektive“ gibt es auf deutsch sicherlich zu wenige. Im englischsprachigen Raum sind mit Intan Suwandis Arbeiten zu Arbeitsarbitrage und Globalen Wertschöpfungsketten, John Smith‘s „Imperialism in the 21st Century“ oder Zak Copes „The wealth of (some) nations“ neben den Werken Lauesens zahlreiche Bücher vorhanden, die geeignet sind, eine Imperialismustheorie auf der Höhe der Zeit zu formulieren. In Deutschland sieht es da magerer aus. Wir hoffen, mit der in diesem Band vorliegenden Übersetzung anzufangen, diese Lücke zu schließen.

Torkil Lauesen // Die globale Perspektive – Imperialsmus und Widerstand // Unrast Verlag // 24 €

# Titelbild: NASA

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Der mittlerweile vier Wochen andauernde Aufstand gegen das Regime im Iran weitet sich immer weiter aus. Nach Streiks in der petrochemischen Industrie haben auch die Arbeiter in der Zuckerrohrindustrie von Hafttapeh in Solidarität mit dem Aufstand die Arbeit niedergelegt. Wir dokumentieren hier den Streikaufruf.

An die Weggefährten! An die Unterdrückten!

Der Protest und der Aufstand der Töchter der Sonne und der Revolution ist in seiner vierten Woche.

Die kämpfenden jungen Männer und Frauen haben mit der Parole „Zan, Zendegi, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) die Straßen und die Gassen zum erbeben gebracht. Sie wollen sich im glorreichen Kampf für Emanzipation und Gleichheit, von Ausbeutung und Unterdrückung, von Diskriminierung und Ungleichheit befreien.

Unsere Kinder, die in den Straßen für die Befreiung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit einstehen, brauchen unsere Unterstützung!

In dieser Situation wo das Blut unserer Kinder den Asphalt der Straßen färbt, hat der Beginn des Streiks im petrochemischen Sektor dem Kampf neue Hoffnung und neues Leben eingehaucht.

Die gerechte Erwartung der Kinder der Arbeit und des Leides ist es, dass ihre ausgebeuteten Väter, Mütter, Brüder und Schwestern zu ihnen halten und die Zahnräder der Produktion zum stehen bringen.

Heute am 10.Oktober ist der erste Funken dieser Solidarität und Einheit mit der leidenschaftlichen Beteiligung der Arbeiter der Petrochemieanlage in Buschehr, Der Raffinerie von Abadan und der Raffinerie in Asaluye gefallen. Die Solidarität der Arbeiter mit ihren Kindern, ihren Brüdern und Schwestern auf der Straße ist das dringende Gebot der Bewegung!

Die Gewerkschaft der Zuckerrohrarbeiter von Hafttapeh begrüßt den Streik der Öl- und Petrochemie in Solidarität mit den Protestierenden auf den Straßen.

Unsere Kinder, unsere Brüder und Schwestern erwarten, dass alle anderen Sektoren der Produktion sich dem Streik anschließen und den Generalstreik ausrufen, da die Emanzipation von Unterdrückung und Ausbeutung nur durch Solidarität möglich ist.

Ehrbare und bewusste Arbeiter und Leidtragende!

Der Aufstand der Frauen muss unterstützt werden. Die Töchter dieses Landes haben sich entschlossen eine große (gesellschaftliche) Transformation zu vollziehen, eine Transformation die auch die Befreiung der Frauen in anderen Regionen mit sich bringen wird. Dieser würdevolle Aufstand muss mit dem Streik der Arbeiter in jeder Ecke dieses Landes verbunden werden!

Für die Befreiung von Diskriminierung und Unterdrückung, von Armut und Elend…für Brot und für Freiheit! Lasst uns die Töchter der Sonne und der Revolution nicht alleine lassen!

An euch Töchter der Sonne und der Revolution:

Im kommenden Morgen des Sieges, wird sich die Welt vor euch verneigen, denn ihr lehrt allen Aufrichtigkeit und Widerstand.

Es lebe die Klassensolidarität und Vereinigung der Arbeiter:innen für die Emanzipation.

Vorwärts zum Generalstreik!

10.10.2022

Gewerkschaft der Arbeiter von Hafttapeh

# Titelbild: anf

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„Bis heute scheint die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik im kollektiven Gedächtnis weitestgehend frei von widerständigem Handeln“ heißt es in der Einleitung von Simon Goekes knapp 400 Seiten umfassende Studie zur Beziehung von Gewerkschaften und migrantischen Kämpfen in der Bundesrepublik. Goekes Ziel ist es für den Zeitraum von 1960 bis 1980, eine Zeit in der betriebliche sowie außerbetriebliche Kämpfe nicht selten von immigrierten Arbeiter:innen in der BRD geführt wurden, unser kollektive Gedächtnis zu erweitern. In fünf Kapiteln legt Goeke eine recht umfassende Recherche zu einem Thema vor, welches sowohl bei Historiker:innen der Arbeiterbewegung, als auch bei Migrationsforscher:innen meist nur eine Randnotiz wert ist. Eine wichtige Ausnahme stellt Manuela Bojadžijevs Die windige Internationale: Rassismus und Kämpfe der Migration von 2007 dar.

„Nicht die streikenden Türken vor dem Tor 3 der Ford-Werke, sondern der schüchtern in die Kamera blickende Portugiese Rodrigues de Sá brannte sich in das kollektive Gedächtnis ein, als er zum millionsten ›Gastarbeiter‹ ernannt, feierlich empfangen wurde und als Geschenk ein Moped erhielt.“

Auf Basis dieser Schieflage untersucht Goeke die „gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen migrantischen Protesten, Gewerkschaften und Studentenbewegung“. Durch die Recherche in Archiven von Gewerkschaften und linken Gruppen, sowie dem Zusammentragen von Zeitzeug:inneninterviews gibt Goeke einen tiefen Einblick in die Lebenswelten sogenannter Gastarbeiter:innen ein. Analytisch bewegt sich Goekes Studie zwischen Geschichtswissenschaften, Arbeitssoziologie, Migrations- und Geschlechterstudien. Die Frauenfrage behandelt Goeke nicht losgelöst sondern als Querschnittsthema in allen Kapiteln. Hierbei versäumt er es nicht eine politisch-ökonomische Einbettung in die Dynamiken der Wirtschaftsentwicklung in Deutschland, sowie den Herkunftsländern der migrantischen Arbeiter:innen anzubieten. So erfahren wir im zweiten Kapitel, dass Migrant:innen, die von Unternehmen als Streikbrecher:innen eingesetzt werden sollten nicht selten selber mitstreikten. So zeigten laut Joachim Hoffmann im Frühjahr 1963 bei den Metallarbeiterstreiks in Baden-Württemberg besonders die italienischen und spanischen Arbeiter eine hohe Kampfbereitschaft und „erwiesen sich als erfahrene und entschlossene Kämpfer für die Arbeiterinteressen.“ Nationalistische Vorbehalte und Vorurteile der deutschen Kollegen wurden so im praktischen Kampf überwunden.

Goeke erzählt zwar von den klassischen Wilden Streiks wie der der migrantischen Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss 1973, jedoch auch von den alltäglichen Kämpfen migrantischer Arbeiter:innen und einiger deutscher Kolleg:innen für die allumfassende Eingliederung der sogenannten Gastarbeiter:innen in ihre Branchengewerkschaften. Die Wahl migrantischer Kolleg:innen in Betriebsräte und später auch als hauptamtliche Gewerkschaftssekräter:innen mit der spezifischen Aufgabe migrantische Arbeiter:innen als Gewerkschaftsmitglieder zu organisieren war zwar eine Errungenschaft in Fragen migrantischer Arbeiterorganisierung, jedoch zeigt Goeke auch auf, wie die gewählten Kollegen nicht unbedingt die radikalsten Verbesserungen für die migrantischen Arbeiter:innen forderten, sondern oft schlussendlich in der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsdynamik verharrten. Die Aktivitäten verschiedenster sozialistischer Gruppen sind in diesem Lichte besonders interessant, denn sowohl sozialistische Parteien, Organisationen und Gruppen aus dem In- und Ausland unterhielten in der Zeit eine aktive politische Betriebsarbeit und agitierten gezielt auf den Muttersprachen der migrantischen Arbeiter:innen in den Betrieben – teilweise mit wöchentlichen oder monatlichen Publikationen auf verschiedenen Sprachen.

Schlussendlich zeigt Goekes Band wie das Nachkriegsdeutschland des Westens spätestens ab den 1960er Jahren zum „Einwanderungsland wider Willen“ wurde – denn trotz restriktiver Arbeits- und Aufenthaltsbestimmungen und Abschiebungen von Anführer:innen von Streikaktionen blieben viele Tausende der arbeitenden Gäste aus der Türkei, aus Jugoslawien, Spanien, Italien oder Griechenland und machten Deutschland zu ihrer neuen Heimat. Goeke zeigt die „multinationale Arbeiterklasse“ Deutschlands lebendig auf und schließt mit Mietstreikskämpfen und den Kindergeldkomitees der 1980er Jahre ab – ein Jahrzehnt in dem sich viele der migrantischen Kämpfe von den Betrieben auf die Sphäre der Reproduktion ausweiteten.

Eine gelungene Studie für alle, die keine Scheu vor wissenschaftlichen Aushandlungen haben und die Geschichte der westdeutschen Gastarbeit mit all ihren Widersprüchen besser verstehen wollen.

Simon Goeke: »Wir sind alle Fremdarbeiter!« Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960-1980, 2020, Verlag Ferdinand Schöningh, 386 Seiten, 62 Euro

# Titelbild: Pierburg-Streik 1970

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Von Bahram Ghadimi und Shekoufeh Mohammadi

Unter dem Schutz von Schreien, welche die Nacht durchdringen, nimmt eine Frau ihr Kopftuch ab und wirft es tanzend in das auf der Straße lodernde Feuer, damit aus dem Herzen von mehr als vier Jahrzehnten Unterdrückung und Repression ein Weg zu Licht, Freiheit und Gerechtigkeit eröffnet werden kann. Es gibt viele solcher Brände und unzählige dieser Frauen, welche die Flammen mit dem Schleier nähren, der ihnen vom Regime der Islamischen Republik Iran als Kleiderordnung auferlegt wurde, um sie zu unterdrücken. Unerschrocken weben sie mit ihren Haaren ein Seil aus Bewusstsein und Widerstand, um den Gefängniszaun zu umgehen, der uns seit Jahren mit Mauern der Armut, Dächern der Erniedrigung und Fenstern aus Lügen gefangen hält.

Der Funke dieses Feuers wurde entzündet, als das Lächeln im Gesicht einer kurdischen Frau namens Mahsa (Gina) Amini ausgelöscht wurde. Eine 22-jährige Frau, die mit ihrem Bruder nach Teheran gereist war, um Verwandte zu besuchen, wurde von der Sittenpolizei der Islamischen Republik unter dem Vorwand verhaftet, sie halte sich nicht an die Kleiderordnung. In Gewahrsam schlug ihr ein Polizist auf den Kopf, so dass sie das Bewusstsein verlor. Mahsa wurde ins Krankenhaus eingeliefert und starb einige Stunden später. Schon in den ersten Stunden des Wartens und der Protestaktionen vor dem Kasra-Krankenhaus in Teheran war die Familie von Mahsa Amini nicht allein; die Mütter aller anderen Wegbereiter auf dem Weg in die Freiheit haben sie begleitet, damit dieser Kampf ein weiterer Stern am Himmel dieser dunklen Nacht wird, in der seit Jahren der Traum von einem hellen Horizont geträumt wird: mit dem Aufstand der Hungrigen im Winter 2018, mit den Protesten im Herbst 2019, mit dem Aufstand der Durstigen (Proteste gegen Wasserknappheit) im Sommer 2021 und mit Hunderten von Protesten und Streiks von Arbeitern, Lehrern, Rentnern, Studenten und Gewerkschaftern im ganzen Iran. So wird der Schrei „Tod dem Diktator“ und die Parole „Brot, Arbeit, Freiheit“ zu einer gemeinsamen Stimme, der die Ohren der Unterdrücker nicht mehr entkommen können.

Und wir können unsere Mobiltelefone keinen Moment aus den Augen lassen: Telegram ist der Kanal, der uns mit einer Heimat verbindet, die wir vor Jahren zurücklassen mussten und in die wir immer noch zurückkehren wollen. Jeden Augenblick erhalten wir von unseren Freunden im Iran Nachrichten über die Geschehnisse in verschiedenen Städten und Ortschaften, ein Foto, ein Video, eine Meldung:

Eine Person wird in Teheran verhaftet. Wir haben diesen Satz noch nicht zu Ende gelesen, als die Nachricht der Verhaftung von Aktivisten in der Provinz Aserbaidschan eintrifft… dann wird Minu Majidi in Kermanshah durch einen direkten Schuß der Polizei getötet… die Studentenwohnheime der Universität von Shiraz werden angegriffen… in Ashnaviyeh greift die Polizei die Menge an und tötet zwei Menschen…in Izeh wird der Belagerungszustand ausgerufen… überall im Iran schlagen Flammen aus den Barrikaden und die Menschen sind auf den Straßen… in Quchan wird das Gebäude der Staatsanwaltschaft in Brand gesteckt… in Anzali hat das Volk die Stadt erobert… in Esfarayen reißen sie die riesigen Transparente mit Bildern von Khamenei und anderen Persönlichkeiten des Regimes herunter… in Ahvaz, wo sich die Menschen seit Jahrzehnten gegen die rassistische staatliche Repression wehren und der Kampf der Arbeiter immer noch stark ist, verwandelt die Solidarität mit den Protestierenden in anderen Städten, insbesondere in Kurdistan, die Straßen in ein Schlachtfeld… Die Stadt Qom, eines der religiösen Symbole des Regimes, ist zu einem Kriegsgebiet geworden, und in der konservativen Stadt Mashhad, einem der wichtigsten Stützpunkte des Staates, wird ein Polizeipräsidium angegriffen und mit allen darin befindlichen Patrouillen in Brand gesetzt… In Teheran wird von einem Polizeipräsidium aus auf Demonstranten geschossen, einige Stunden später steht das Gebäude in Flammen.

Die Parole „Frau, Leben, Freiheit“, welche der Ruf der ersten spontanen Proteste war, umfasst immer noch die wichtigsten Forderungen des iranischen Volkes. Dieser Slogan, einer der wichtigsten Slogans der Frauen von Rojava gegen den männlichen Chauvinismus, hat aus symbolischen Gründen ein starkes Echo im Iran gefunden: In der kurdischen Sprache hat Gina eine gemeinsame etymologische Wurzel mit dem Wort Jian, das Leben bedeutet. Gleichzeitig ist es eine Parole gegen den staatlichen Machismus, der seit mehr als vierzig Jahren im Namen des Islam die verschiedenen Mechanismen des Kapitalismus im Iran anführt: Privatisierung, die Schaffung von Freihandelszonen und Industriekorridoren, unkontrollierte Ausbeutung und die Zerstörung des Lebens von Arbeitern und verarmten Menschen. Gleichzeitig ist die Ermordung von Gina ein weiteres Beispiel für die von der Islamischen Republik unterstützten Feminizide; und schließlich ist seit dreiundvierzig Jahren die Freiheit, sowohl politisch als auch gesellschaftlich, eine der zentralen Forderungen im Iran.

Und wir warten immer noch auf Nachrichten, die aufgrund der landesweiten Blockade des Internetzuganges durch den iranischen Staat nur tröpfchenweise kommen. Währenddessen steigt die Zahl der verletzten und getöteten Demonstranten weiter an.

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Von A-Küche

Am 27.04.2022 verstarb Marcel K. an den Folgen des Polizeieinsatzes vom 20.04.2022 in Berlin Schöneweide. Die Polizei lügt und leugnet die Tat. Marcel war 39 Jahre und krank. Er hatte Krätze, oft Krampfanfälle und eine offene Wunde am Bein. Marcel trank Alkohol seitdem er 6 Jahre alt war. Er lebte auf der Straße. Oft war er in sozialen Einrichtungen untergebracht, die er aber schnell wieder verließ und in sein Kiez, nach Schöneweide, zurückehrte. Hier hatte er Freunde und fühlte sich zu Hause. Er war im Kiez bekannt, Feuerwehr, Rettungskräfte und die Polizei kannten seine Krankheiten, wussten von seinem Schmerzen. Notunterkünfte mochte er nicht, hier wurde er beklaut oder durch kleine Tiere gebissen.

Sein letztes Lebensjahr begann am 22.12.21 im Krankenhaus. Wenige Tage später wurde er mit seiner offenen Beinverletzung aus dem Krankenhaus geschmissen. Er ging zurück in den Kiez in eine Filiale der Deutschen Bank. Dort war es warm, da waren seine Freunde. Aktivist:innen kamen vorbei, brachten warmes Essen und versorgten sein Bein. Die Wochen vergingen und oft kamen die Cops und warfen die Menschen aus der Filiale. Das ärgerte ihn, denn danach war sein ganzes hab und Gut meist weg. Oft musste er auf Grund der Krampfanfälle ins Krankenhaus, das er nach einigen Tagen wieder verlassen musste. Dann beschloss die Deutsche Bank, ihre Filiale aus Sicherheitsgründen für ihre Kund:innen über den Winter zu schließen. Marcel saß nun tagsüber in der Kälte auf einer Bank und schlief mal auf einen Dachboden, in einen Hauseingang oder in einen Hinterhof. In eine Notunterkunft wollte er nie wieder, nachdem sich die Wunden der Tierbisse von dort entzündeten.

Den Aktivist:innen fiel es immer schwerer, seine Wunden auf offener Straße zu versorgen. Ins Krankenhaus wollte er nicht, denn da wurde ihm nie geholfen. In den folgenden Wochen kam es immer wieder zu kurzen Krankenhausaufenthalten, sein Bein entzündete sich immer schlimmer und er konnte kaum noch laufen. Die Polizei ging eines Nachts durch den Kiez, um obdachlose Menschen zu vertreiben. Es wurden immer weniger um ihn herum. Ende März 2022 saß er mit Freund:innen auf einer Bank und sie hörten im Radio einem Fußballspiel zu. Sie freuten sich schon auf warmes Essen, das, wie jeden Freitag, von Menschen aus dem Umland gekocht wurde. Plötzlich flogen Eier aus dem Wohnhaus gegenüber und verfehlten Marcel nur knapp. Kurze Zeit später kam die Polizei und ermahnte Marcel und die anderen wegen Ruhestörung. Er war wütend, dass die Cops nicht zum Wohnhaus sind, denn man wollte ihnen mit den Eiern wehtun. Marcel hatte Hunger und die Menschen mit dem Essen kamen zum Verteilen. Doch die Bullen gingen dazwischen und erklärten ihnen „sie möchten doch bitte wo anders Essen verteilen, die würden ja hier drauf warten und so würde man sie ja nicht los“. Außerdem wäre das jetzt eine polizeiliche Maßnahme und da wäre es „eh nicht drin“. Die Menschen drehten mit dem Essen um und Marcel musste hungrig einschlafen.

Am 16.04. gab es dann eine Kundgebung gegen die Verdrängung obdachloser Menschen in Schöneweide auf Grund dieser Vorfälle. Marcel genoss den Tag, es gab warmes Essen und gute Musik, für ihn war es eine Party. Er bedankte sich bei den Organisator:innen, besorgte eine Schachtel Pralinen für alle. Seinen Freund:innen erzählte er noch einen Tag später, dass es der schönste Tag seines Lebens war. Noch nie hatte es so eine Party für ihn gegeben.

Am 20.4 suchte er am Abend mit zwei Freunden einen Schlafplatz. Diesmal wollten sie im Innenhof der Brückenstr.1 hinter dem Waschcenter schlafen. Sie legten sich hin, Marcel trank noch ein Schluck Bier, stellte seine Flasche hin und schlief ein. Gegen 23 Uhr, wurde er durch lautes Gebrüll wach. Er und seine Freunde sprangen auf. Es war die Polizei. Marcel verspürte starken Schmerz am verletzen Bein, er schrie vor Schmerz, schmiss dabei seine Flasche Bier um. Es war ein Cop, der an sein Bein zog. Seine Freunde rannten weg. Sie konnten nur aus der Ferne zusehen wie immer mehr Cops auf Marcel einschlugen, sie setzen Pfefferspray ein. Marcel lag leblos am Boden, ein Krankenwagen wurde gerufen. Marcel wurde reanimiert und ins Krankenhaus gebracht.

In der Pressemittelung der Polizei vom 21.04.2022 stand später: „Der alkoholisierte 39-Jährige versuchte weiter, sich den polizeilichen Maßnahmen zu entziehen, litt dann aber plötzlich unter Atemnot und verlor das Bewusstsein. Die Beamtinnen und Beamten leiteten umgehend Reanimationsmaßnahmen ein und alarmierten einen Rettungswagen. So konnte er stabilisiert werden und kam mit dem Rettungswagen zur weiteren Behandlung und stationären Aufnahme in ein Krankenhaus.“

Aktivist:innen versuchten später seinen Verbleib ausfindig zu machen. Bei Anrufen in Krankenhäusern wurde Marcels Aufenthalt stehts verneint. Der Rettungsdienst behauptete, es hätte keinen Transport in ein Krankenhaus aus Schöneweide gegeben. Beim Versuch, die Tat öffentlich zu machen, wurden Aktivist:innen von der Polizei kriminalisiert. Am 2.6 erfuhren dann seine Freund:innen, dass Marcel tot ist. Er starb am 27.4.2022 an den Folgen des Polizeiangriffs vom 20.04.2022. Marcel ist tot, die Polizei hat ihn ermordet.

Mehr Infos bei der A-Küche

#Titelbild: Malteser Obdachlosenhilfe

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Uns wird das Geld aus der Tasche gezogen – Woche für Woche mehr. Und das wird auch so weitergehen, wenn sich nicht langsam eine Bewegung gegen den Preisanstieg formiert. Lasst uns dieser Entwicklung Kritik von links entgegensetzen und unsere Klasse unterstützen, ihre Stimme zu erheben.

Das Kapital verschlechtert unsere Lage

Was das Statistische Bundesamt für April mit einer Inflationsrate von 7,4 Prozent beschreibt, trifft breite Teile der Bevölkerung noch weit härter. Denn die Energiepreise sind viel stärker gestiegen als um „nur“ 7,4 Prozent und genauso die Preise vieler Grundnahrungsmittel: Gurken, Tomaten und pflanzliche Öle sind in den letzten zwei Monaten beispielsweise um jeweils circa 30 Prozent teurer geworden. Und Lebensmittel sind eben das, was wir notwendig zum Leben brauchen und wofür wir schon vorher einen beträchtlichen Teil unseres Einkommens ausgegeben haben – zumindest von dem, was nach der Miete noch übrig bleibt. Die Lage ist ernst für uns und sie wird noch ernster: Die Supermarktkette Aldi hat angekündigt, ihre Lebensmittelpreise in der nächster Zeit um weitere 20 bis 50 Prozent zu erhöhen. Die anderen Supermärkte werden da selbstverständlich mitgehen. Und auch bei den Energiepreise ist keine Normalisierung in Sicht.

Wenn man die Berichte großer Medien verfolgt, kann man den Eindruck gewinnen, die Inflation falle vom Himmel oder folge irgendeinem Naturgesetz. Die BILD-Zeitung ist sich nicht zu blöd, sogar von einem „Inflationsmonster“ zu sprechen. Doch die Preise erhöhen sich nicht selbst – sie werden erhöht, und zwar von Lebensmittelkonzernen und Supermarkt-Ketten. Wir können hier eindeutig Verantwortliche und Profiteure benennen. Allein die Eigentümerfamilien von Aldi und Lidl besitzen ein Vermögen von zusammen über 100 Milliarden Euro und haben während, beziehungsweise „dank“ der Corona-Pandemie nochmal ordentlich weiteren Reichtum angehäuft. Der bürgerliche Mainstream würde solche Leute in Russland als „Oligarchen“ bezeichnen.

Auch der ständige Verweis allein auf den Krieg in der Ukraine verschleiert, wie Konzerne profitieren. Und er dient dazu, die Bevölkerung für die Interessen des Kapitals einzuspannen. Die Lebensmittelkonzerne und Supermarkt-Ketten haben die Preise schon vor Beginn des Krieges stark erhöht und haben jetzt eine bequeme Ausrede um damit weiterzumachen. Auch am Benzinpreis kann man sehen, wie der Krieg als Ausrede vorgeschoben wird: Von Anfang Februar bis Anfang März steig dieser um 28 Prozent. Die Ölkonzerne aber haben ihre Marge um 145 Prozent erhöht – das sind fast 30 Cent mehr pro Liter.

Kapitalistische Politiker:innen und Medien erzählen bereits seit Wochen, dass „uns“ wegen des Krieges schwere Zeiten bevorstehen – ja, dass wir uns sogar darauf einstellen sollen zu frieren. Das trifft allerdings nicht auf sie selbst zu und vor allem nicht auf die Großkapitalist:innen, sondern „nur“ auf die Arbeiter:innenklasse und kleine Selbstständige – die allerdings die große Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Indem die Herrschenden von „uns“ sprechen, wollen sie uns vermitteln, alle Einwohner:innen Deutschlands säßen im selben Boot, als gäbe es eine Einheit über Klassengrenzen hinweg. Sie erklären es für „uns“ zur patriotischen Pflicht, diese schweren Zeiten kritiklos zu ertragen – „für den Frieden“, wie sie sagen. Doch eigentlich geht es ihnen darum, dass der Imperialismus der führenden Staaten von NATO und EU sich gegen den russischen Imperialismus durchsetzt. Dafür wollen sie die Bevölkerung hinter sich vereinen. Und bisher sind sie damit recht erfolgreich. Aber um Frieden geht es ihnen nicht. Und wenn wir wirklich zum Frieden in der Ukraine beitragen wollen, können wir das nicht als brave Untertanen tun, sondern gerade umgekehrt nur durch den Einsatz für Deeskalation und damit in erster Linie mit dem Kampf gegen den deutschen Imperialismus.

Natürlich hat der Preisanstieg auch mit dem Krieg und den Sanktionen der NATO und ihrer Verbündeten zu tun. Aber erstens dürfen wir dem Kapital hier keine Ausreden für die Preissteigerungen durchgehen lassen und zweitens zeigt das auch nur wieder, dass die internationale Arbeiter:innenklasse die Kosten der Kriege tragen muss, die die imperialistische Konkurrenz hervorbringt. Wir haben kein Interesse an ihren Kriegen.

Die Lage zusammenfassend kann man sagen: Die hohe Inflation bedeutet für breite Teile der Bevölkerung, dass der Lebensstandard sinkt. Wir können uns weniger leisten. Viele können die laufenden Kosten für Strom, Heizung und Treibstoff nur noch stemmen, wenn sie auf anderes verzichten. Für einige ergibt sich aktuell sogar eine Existenzkrise und eine gesundheitliche Gefahr. Um zumindest auf dem gleichen Niveau zu bleiben, müssten sich unsere Löhne, Gehälter und Sozialleistungen im gleichen Maß erhöhen, wie die Preise der Waren steigen, die wir täglich kaufen (müssen).

Wir können uns nur selber retten

Viele Menschen sind wegen des enormen Preisanstiegs besorgt, wütend oder verzweifelt. Das wird in den nächsten Monaten auch so weitergehen und sich verstärken, solange sich die Lage weiter verschärft. Trotzdem hat sich bisher in den Betrieben nur begrenzt etwas bewegt und auch auf den Straßen gab es bisher wenig Protest gegen die gestiegenen Lebenshaltungskosten – vom 1. Mai abgesehen. Doch ohne gewerkschaftlichen und politischen Kampf wird sich kaum etwas daran ändern, dass Lebensmittelkonzerne, Supermarkt-Ketten und Ölkonzerne uns immer höhere Preise abverlangen, dass wir die Kosten des Krieges und der Aufrüstung tragen sollen und dass sich unser Lebensstandard verschlechtert. Wir als Linke können dazu beitragen, dass sich Protest formiert

Vor allem sollten wir schauen, wie wir uns in den Betrieben gemeinsam für mehr Lohn beziehungsweise Gehalt einsetzen können – ob im Rahmen einer Tarifrunde oder auch nicht. Denn staatliche Preisbegrenzungen oder Unterstützungszahlungen für die Bevölkerung können die Lage nur kurzfristig abmildern. Dauerhaft verbessern sie unsere Lage nicht und vor allem stärken sie auch nicht wirklich die Macht unserer Klasse, die wir brauchen, um langfristig etwas zu bewegen. Wenn wir uns hingegen mit unseren Kolleg:innen im Betrieb zusammentun und für bessere Bezahlung einsetzen, haben wir nicht nur Aussicht auf mehr Geld, sondern stärken auch unsere Stellung dem Unternehmen gegenüber. Besonders aus antikapitalistischer Sicht ist der Fokus auf den Betrieb wichtig. Denn als Ort, an dem wir arbeiten, ist er die Keimzelle des Klassenkampfes. Dort haben wir als Arbeiter:innen strukturelle Macht – weil ohne unsere Arbeitskraft nichts läuft.

Auch wenn gewerkschaftliche Kämpfe nicht auf Tarifauseinandersetzungen beschränkt bleiben sollten, ist es sinnvoll, die diesjährigen Tarifrunden im Auge zu haben und dort kämpferische Perspektiven zu stärken. Für die chemische Industrie hat die IG BCE (Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie) im April bereits einem übergangsweisen Abschluss zugestimmt, den die Kommunistische Organisation als „Burgfrieden für’s Kapital“ kritisiert. Die Kapitalseite hat den Ukraine-Krieg hier als Grund angeführt, weshalb Geld fehle und den Forderungen der Gewerkschaft nicht nachgekommen werden könne. Auch in der noch laufenden Tarifrunde für 330.000 Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst findet die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände Ausreden, während der Staat gleichzeitig über 100 Milliarden Euro für militärische Aufrüstung einplant. Und für die ab Oktober anstehende Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie kündigt die Kapitalseite bereits an, dass die Beschäftigten „Einschnitte in den gewohnten Wohlstand“ akzeptieren müssten.

Die Gewerkschaften sollten sich nicht auf diese Ausreden des Kapitals einlassen und damit zu Verwirrung und Unentschlossenheit innerhalb unserer Klasse beitragen. Stattdessen brauchen wir einen klaren Klassenstandpunkt und einen wirklichen Kampf für Tariferhöhungen oberhalb der Inflationsrate. Bei aller Kritik an der Führung der DGB-Gewerkschaften und sozialpartnerschaftlicher Verhandlungsführung sollte nicht vergessen werden, dass für die Abschlüsse in erster Linie das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit entscheidend ist.

Aber auch über die Betriebe hinaus können wir in der Öffentlichkeit aktiv sein. Am 1. Mai wurde der Preisanstieg an vielen Stellen mehr oder weniger kämpferisch aufgegriffen – mit Mottos wie „Preise runter – Löhne hoch!“. Das ist ein guter Beginn, aber eine einzelne Demonstration reicht bei Weitem nicht, um unsere Position zu stärken. Wir können noch weitere Demonstrationen organisieren oder auch andere Aktionsformen ausprobieren. Zum Beispiel Aktionen oder Infostände in der Nähe von Discountern oder Einkaufszentren organisieren, Flyer verteilen und mit den Leuten ins Gespräch kommen, um gemeinsam aktiv zu werden.

Dabei halte ich es für wichtig, dass wir Aktionen organisieren, die massentauglich sind. Wir sollten also den Anspruch haben, auch Menschen zu erreichen, die noch nicht links politisiert sind, denn das ist die Mehrheit unserer Klasse eben nicht. Wirklichen Druck aufbauen können wir nicht mit Demonstrationen, an denen nur Leute aus der linken Szene teilnehmen – wir brauchen breitere Teile unserer Klasse. Da der Preisanstieg viele betrifft und beschäftigt, bietet dieses Thema eine gute Möglichkeit, um mit neuen Leuten in Kontakt zu kommen.

Die Perspektive ist antikapitalistisch

Um zum Thema aktiv zu werden, brauchen wir als Linke zunächst eine schlüssig formulierte Kritik am Preisanstieg, den Ausreden von Konzernen und Politiker:innen und auch an dem imperialistischen Krieg in der Ukraine und der Beteiligung des NATO/EU-Blocks. Und wir brauchen Vorschläge, wie sich unsere Lage unmittelbar verbessern kann. Das sogenannte „Entlastungspaket“ der Bundesregierung hilft an dieser Stelle kaum. Außerdem benachteiligt es Menschen mit geringem Einkommen, die wie in jeder Krise auch jetzt am stärksten betroffen sind. Für weitere Maßnahmen wie eine Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel gibt es im Bundestag bisher Kritik – so unsinnig diese auch begründet sein mag.

Wie kann eine tatsächliche Entlastung für die Arbeiter:innenklasse also aussehen? Sollten wir staatlich angeordnete Preissenkungen, eine Mehrwertsteuersenkung oder finanzielle Unterstützung vom Staat fordern? Diese und weitere Fragen sollten wir als Linke diskutieren, um in der Öffentlichkeit mit klarer Kritik und konkreten Vorstellungen auftreten zu können.

Doch wir sollten auch über kurzfristige Entlastung hinausdenken und den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt werfen. Während wir uns nämlich Sorgen machen, wie wir über die Runden kommen, läuft es für das Kapital fantastisch: „Deutsche Konzerne zahlen 70 Milliarden Euro Dividende – so viel wie noch nie“ titelete der Spiegel anfang April. Dass wir zu wenig haben, liegt nicht daran, dass es zu wenig gäbe. Der Großteil ist bloß in den Händen einiger weniger Großkapitalist:innen. Für einige Branchen ermöglicht die aktuelle Krise sogar noch Extraprofite: Unter anderem Supermarkt-Ketten, Ölkonzerne, die Logistikbranche und Waffenhersteller machen aktuell Bombengeschäfte. Der Hunger der einen ist der Profit der anderen.

Dass dieses System nicht unseren Interessen dient, spüren viele. Ganze 31 Prozent der Bevölkerung in Deutschland halten das politische System der Bundesrepublik für eine Scheindemokratie. Und tatsächlich geht es im Kapitalismus nicht um die Bedürfnisse der Bevölkerung, sondern in erster Linie um das Interesse des Kapitals. Dieses bestimmt sowohl die Politik im Land selbst als auch die Außenpolitik. Mitreden können die Bürger:innen nicht wirklich. Am Ende ist die kapitalistische parlamentarische Demokratie auch nur eine Herrschaftsform, die die kapitalistische Gesellschaftsordnung aufrechterhalten soll.

Dass viele Menschen dem System gegenüber skeptisch sind, bedeutet aber nicht, dass sie das kapitalistische Gesellschaftssystem auch wirklich verstanden haben. Viele erklären sich die Scheindemokratie der BRD auf eine ganz andere, falsche Weise und folgen dabei teilweise rechten Verschwörungserzählungen, die sehr wenig mit der Realität zu tun haben und keine Perspektive für Veränderung und echte Demokratie bieten. Im Gegenteil: sie sind gefährlich. Auch den Preisanstieg können Rechte ideologisch besetzen und für ihre Zwecke instrumentalisieren. Wir dürfen ihnen dafür nicht den Raum lassen und müssen das Thema endlich ernsthaft aufgreifen. Sowohl der Preisanstieg als auch das kapitalistische Gesellschaftssystem insgesamt müssen von links kritisiert und angegangen werden.

Die aktuelle Krise für breite Teile der Bevölkerung ist eine Folge des kapitalistischen Systems und der imperialistischen Konkurrenz. Ihr gingen eine ganze Reihe weiterer Krisen allein in den letzten Jahrzehnten voraus. Und es werden weitere folgen, solange der Kapitalismus herrscht. Diese zukünftigen Krisen drohen sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht noch dramatischer zu werden als die aktuelle. Das kapitalistische System bietet uns keine Zukunft, egal wo – auch in AlbanienGriechenlandSri Lanka und Indonesien gibt es aktuell Proteste gegen den Preisanstieg und die Krise.

Ausgehend von den Alltagsproblemen unserer Klasse müssen wir aus einer internationalistischen Perspektive dafür kämpfen unsere Lage zu verbessern, in den Klassenkämpfen zu lernen und uns letztendlich vom Kapitalismus zu befreien.

#Foto: 8. März, Karanfilli Adam

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Es geht um viel weniger als damals und zugleich um viel mehr. Als am 1. Mai 1886 in den ganzen USA mehrtägige Streiks begannen, kämpften die Arbeiter:innen um eine Reduzierung der Arbeitszeit von zwölf Stunden. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken waren miserabel. Für die zwölf Stunden Schufterei gab es im Schnitt lumpige drei Dollar, Gegenwert eines mageren Essens im Restaurant. In Chicago/Illinois kam es im Zuge der Streiks zum sogenannten Haymarket Massacre, als die Polizei das Feuer auf die dort versammelten, unbewaffneten Arbeiter:innen eröffnete und Dutzende tötete. Die Ereignisse begründeten die Tradition des 1. Mai als Kampftag der Arbeiter:innenklasse.

Dass die Polizei am 1. Mai 2022 auf Demonstrant:innen scharf schießt, ist eher unwahrscheinlich. Auch ist der Acht-Stunden-Tag bereits Realität und sonst manches besser geworden in der Arbeitswelt seit 1886, zumindest hierzulande. Insofern geht es am diesjährigen Kampftag der Arbeiter:innenklasse um weniger als damals – aber eben zugleich um so viel mehr. Zwei Jahre Pandemie haben die Gesellschaft weichgekocht und neue Möglichkeiten der Observanz, Kontrolle und Repression eröffnet. Das schuf eine gute Grundlage für das, was wir seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine erleben. Es werden Weichen für eine Aufrüstung und Militarisierung ohnegleichen gestellt.

Die Kehrseite: Die Herrschenden sind dabei, die hinteren Wagen abzukoppeln. Die „Überzähligen“, „Unnützen“ liegen ihnen nur noch auf der Tasche. Es droht ein umfassender Sozialabbau, eine Forcierung der Umverteilung von unten nach oben. Um all das abzusichern wird die Repression weiter angezogen. Vor diesem Hintergrund kann es für diesen 1. Mai nur ein Motto geben:

Raus auf die Straße! Widerstand leisten gegen die offensichtlichen Faschisierungstendenzen!

Noch ist die Ausgangslage gut, noch ist die Öffentlichkeit da. Darum ist es so wichtig, Versuche beim Namen zu nennen und energisch zu bekämpfen, wie momentan etwa in Berlin, wo versucht wird, das Demonstrationsrecht durch die Hintertür zu kassieren. In der Hauptstadt will gerade ein ebenso reaktionärer wie größenwahnsinniger Bezirksfürst namens Martin Hikel die Revolutionäre- 1. Mai- Demo von Neukölln nach Kreuzberg torpedieren.

Hikel ist der Bezirksbürgermeister von Neukölln, auf diesem Posten Nachfolger des Protofaschisten Heinz Buschkowsky und dessen Ziehtochter Franziska Giffey, die es auf den Stuhl des Stadtoberhauptes geschafft hat. Aus seiner rassistischen Gesinnung hat der 2,08 Meter große SPD-Mann gleich zu Anfang kein Hehl gemacht. Er zog die Razzien in Neukölln auf, die sich angeblich gegen „Clan-Kriminalität“ richten, aber hauptsächlich große Teile der Bevölkerung im Kiez stigmatisieren. Dafür ließ er sich bundesweit von den bürgerlichen Medien feiern, tauchte mit TV-Teams persönlich in Shisha-Bars auf – natürlich erst nachdem bewaffnete Polizeibeamte die Lokalitäten „gesichert“ hatten.

Dieser Mann und seine Spießgesellen also versuchen momentan die Revolutionäre-1. Mai-Demo, die vom Hertzbergplatz über die Sonnenallee, den Kottbusser Damm und die Adalbertstraße bis zum Oranienplatz in Kreuzberg führen soll, mit einem Trick zu verhindern, der derart dummdreist ist, dass man sich als Beobachter:in nur an den Kopf fassen kann. Er hat auf wichtige Punkte der Demo-Route, von der seine Leute zum Zeitpunkt ihrer Planungen nichts geahnt haben wollen, unter dem Motto „Neukölln feiert den 1. Mai“ fünf Veranstaltungen, sogenannte „Straßenfeste“, gelegt. Die Anlässe dieser „Feste“ sind dermaßen an den Haaren herbeigezogen, dass niemand ernsthaft leugnen kann: Hier geht es offensichtlich nur darum, den Demo-Organisator:innen Steine in den Weg zu legen. Es ist Hikels Hindernisparcour, der da aufgebaut wird.

„Mit Kinder- und Familienfesten, Flohmarkt, Live-Musik und einem öffentlichen Fastenbrechen steht der 1. Mai in diesem Jahr für die Vielfalt und das friedliche Miteinander in Berlins buntestem Bezirk“, heißt es in einer Mitteilung auf der Homepage des Bezirksamtes. Verlogener geht es kaum!

Besonders das geplante Fastenbrechen ist an Verlogenheit und Perfidie nicht mehr zu übertreffen. Der Sprecher des Demo-Bündnisses Martin Suchanek hat es in einer Erklärung auf den Punkt gebracht: „Dass ausgerechnet der SPD-Bürgermeister Hikel, der dafür bekannt ist sich medienwirksam bei Razzien bei migrantischen Gewerbetreibenden abblitzen zu lassen – genau derselbe Martin Hikel, dessen ehemaliges Projekt „konfrontative Religionsbekundung“ auf einem Generalverdacht auf muslimische Jugendliche beruhte – nun sein Herzen für den Islam gefunden hat, scheint mehr als unglaubwürdig.“ Suchanek macht auch noch auf einen fachlichen Fauxpas aufmerksam, der ebenfalls die wahren Absichten entlarvt. Das viel bedeutsamere Zuckerfest finde erst am nächsten Tag statt, zudem wurde die Uhrzeit mit 19 Uhr glatt mindestens eine Stunde zu früh angesetzt, da das Fastenbrechen erst bei Sonnenuntergang beginnt.

Bündnissprecherin Aicha Jamal spricht von einer „Instrumentalisierung des letzten Iftar im Fastenmonat Ramadan seitens des Bezirksamt Neukölln“. Dies sei „nicht nur grotesk, sondern auch undemokratisch“. Mit Blick auf die Razzien gegen „Clankriminalität“ sagte Jamal: „Unter dem Vorwand organisierte Kriminalität zu bekämpfen führt Martin Hikel seit Jahren eine rassistische Hetzkampagne zu Lasten des gesamten migrantischen Kleingewerbes in Neukölln, welches tagtäglich unverhältnismäßigen Razzien ausgesetzt wird. Er unterstützt Projekte, die dazu führen, dass wir uns die Mieten nicht mehr leisten können und aus Neukölln verdrängt werden. Migrantisches Leben interessiert ihn nur, wenn es dazu dienen kann, das Image des Bezirkes aufzupolieren, um ihn interessanter für Investoren und Besserverdienende zu machen.“

Diese Agenda Hikels lässt sich auch beim Flohmarkt auf dem Hermannplatz erkennen. Veranstalter ist hier nämlich Spotlight, ein Verein, so schreibt das Bündnis in seiner Erklärung, „der seine Spenden offenbar von Signa erhält“. Signa ist der Konzern des dubiosen und rechtslastigen österreichischen Milliardärs Rene Benko, der in vielen deutschen Metropolen und auch im Ausland mit hochwertigen Immobilien jongliert. Jenem Konzern, wie Suchanek es formuliert, „der auf Biegen und Brechen mit SPD-Bausenator Geisel gegen den Willen der Anwohner den Karstadt am Hermannplatz abreißen und einen Luxuspalast aufbauen“ wolle.

In der Erklärung des Demo-Bündnis heißt es dazu: „Signas Gründer René Benko ist nicht nur einer der reichsten Menschen der Welt, er ist zudem mutmaßlicher Großspender der rechtsextremen FPÖ. Das wurde 2019 durch das Skandalvideo von H. C. Strache bekannt. Benko plant ein gigantisches
Neubauprojekt am Hermannplatz, welches erheblichen Einfluss auf die Mietpreisentwicklung der Umgebung haben wird und deshalb bei vielen Bewohner:innen Neuköllns unbeliebt ist. Dies beweisen die 6.000 Unterschriften, die von einer Anwohner:inneninitiative gegen Benkos Pläne gesammelt wurden. Die Initiative Hermannplatz habe des öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass Benko mit kulturellen Projekten versucht, die Akzeptanz für seine Bauvorhaben in der Bevölkerung zu steigern.“

Die ganze Aktion ist ganz offensichtlich ein Alleingang Hikels und seiner Leute. Die Bezirksversammlung (BVV) war nicht in die Planung der fünf Veranstaltungen eingebunden. Das bestätigte Ahmed Abed, BVV-Abgeordneter für Die Linke in Neukölln, am Mittwoch auf Twitter. Nach Informationen vom Lower Class Magazine liefen die Planungen auch komplett an Sarah Nagel von der Linkspartei, der Stadträtin für das Ordnungsamt und Jochen Biedermann, stellvertretender Bezirksbürgermeister, Bezirksstadtrat und Leiter des Geschäftsbereichs Stadtentwicklung, Umwelt vorbei.

Wie es aussieht, hat der Bezirkschef für die Planung und Umsetzung der Veranstaltungen am 1. Mai eine von ihm selbst, vor allem für seine Razzien geschaffene Stabsstelle genutzt: die Koordinierungsstelle für öffentliche Sicherheit und Ordnung, in deren Aufgabenbeschreibung auf der Bezirkshomepage steht: „einschließlich Problemimmobilien sowie die Planung und Koordinierung von Verbundeinsätzen u. a. zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“.

Die Linksfraktion in der Bezirksversammlung hat sich in einer Erklärung auf die Seite der Demo-Organisatoren gestellt. Darin heißt es: „Wenn SPD-Bürgermeister Hickel wirklich Straßenfeste organisiert, um damit eine Demo zu behindern, würde dies die Einschränkung des Versammlungsrechts bedeuten. Wir fordern klar: Die 1. Mai-Demo muss wie geplant stattfinden!“ Ferat Koçak, Neuköllner und Mitglied im Abgeordnetenhaus für Die Linke, erklärte ausserdem, Hikel behindere mit seinem Vorgehen „das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und blockiert die Demo“. Offenbar wende er dieselbe Strategie an, mit der in Kreuzberg mit dem „Myfest“ operiert wurde – also eine Entpolitisierung des 1. Mai mittels Eventisierung.

Tatsächlich beweist SPD-Mann Hikel mit seinem Vorgehen überdeutlich, welche Prioritäten er setzt. Er tritt das Versammlungsrecht mit Füßen, den „Investoren“, die sich die halbe Stadt unter den Nagel reißen, rollt er dagegen mit Vergnügen den roten Teppich aus. Jeglicher Widerstand und jegliches positives Signal für eine Organisierung gegen diese Pläne sollen verhindert und gestört werden. Deshalb kann es in diesem Jahr nur umso mehr heißen:

Heraus zum 1. Mai!

Jetzt erst Recht!

Yallah Klassenkampf!

Dokumentation zum Revolutionären 1. Mai in Berlin:

# Titelbild: 1. Mai 2021, Copyright: 2021 PM Cheung

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„Serê cîlo çarçella
Benda te me ey Zagros
Baranek hûr hûr barî
Mervanê’m şehîd ketî“

Wenn Genossen und Genossinnen fallen tut das weh. Tausende Emotionen, Erinnerungen, Versatzstücke kommen hoch, ziehen an den Augen vorbei. Und heute ist genau so ein Tag.

Heval Serfiraz Nîdal ist am 10. April 2022 in Rojava nach Kampf gegen eine Krebserkrankung von dieser Welt gegangen.

Wenn ich mich mit Genossen und Genosssinnen über Gefallene unterhalte kommt manchmal die Frage auf, ob man viel Zeit gemeinsam verbracht habe, sich besonders intensiv kennen würde. Denke ich an Heval Serfiraz müsste ich auf den ersten Blick wohl beide Fragen verneinen. Gerade einmal vier Wochen begegneten wir uns, kannten uns nicht aus unseren Kindheitstagen oder gemeinsamer politischer Organisierung.

Revolutionen sind mächtig. Sie bringen tausende Dinge hervor, das Gute, das Schlechte und das Unbestimmte. Und die Revolution in Kurdistan hat ihren Beitrag dazu geleistet, dass sich die Wege von mir und Heval Serfiraz in Rojava kreuzten, für 28 Tage. Und 28 Tage gemeinsam in einer Revolution zu kämpfen, zu leben, zu lachen und zu weinen sind intensiv, lehrreich und unvergesslich.

Die Märtyrer sterben nicht. All diejenigen, die länger mit der kurdischen Freiheitsbewegung und revolutionären Organisationen weltweit zusammengearbeitet haben kennen diesen Satz. Er ist weit mehr als eine Floskel oder pathetisches Gerede, denn der Satz drückt eine grundlegende philosophische Annäherung an das Leben selbst aus. Denn Märtyrer sterben deshalb nicht, weil die Militanten sie weiterhin in ihren Herzen tragen und in ihren Handlungen, Werte und Prinzipien repräsentieren. Dabei geht es nicht um einen Todeskult. Denn wie es viele Revolutionär:innen bereits gelebt haben, lieben wir das Leben so sehr, dass wir bereit sind dafür das eigene Leben zu geben.

Heval Serfiraz war unser Kommandant für den Frontabschnitt an welchem wir im Februar 2021 eingesetzt waren. Wir waren drei Freunde, Internationalisten, welche im Februar noch etwas unsicher in dem Dorf eintrafen, in welchem Serfiraz uns in Empfang nahm und welches für die kommenden Wochen unser Zuhause wurde.

Was uns allen direkt auffiel war die Wärme und der unglaublich gute Humor unseres Verantwortlichen und das in einer Situation in der uns zuerst nicht zu Lachen zu Mute war. Die türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldnertruppen hatten sich seit ein paar Wochen wortwörtlich auf das kleine Dorf festgeschossen, welches von kurdischen, assyrischen und arabischen Kämpfern verteidigt wurde.

Eines Abends war ich zur Nachtwachse gemeinsam mit Serfiraz eingeteilt. Meine erste an diesem Abschnitt und es lag ein Schleier dichten Nebels über dem Gebiet. Kein gutes Wetter, sofern man davon ausgeht ein Angriff könnte stattfinden. Meine Hände waren schwitzig, mein Körper angespannt und ich versuchte Krampfhaft die tausenden Geräusche zu unterscheiden. Serfiraz legte seine Hand an meine Schulter und sagte, dass Angst ein normales Gefühl sei, es ginge aber darum sie steuern zu können. Heval Serfiraz schaffte es mit nur wenigen Worten genau die Ruhe zu erzeugen die es an einem Ort wie der Front braucht, unterschätzte die Lage aber auch nicht. Er verstand es sehr gut eine militante Führung im Alltag und organisatorisch zu entwickeln. Das notwendige Gleichgewicht aus Zärtlichkeit, Zugewandtheit und notwendiger Härte. Allen und vor allem auch sich selbst gegenüber.

Es regnete viel in diesen Tagen, das Dorf glich einem Moor, so tief sanken wir teilweise in den Schlamm ein. Er ließ es sich dennoch nie nehmen, einen tägliche Rundgang zu machen, jede Position und jeden Freund einmal am Tag zu sehen und sich nach deren Befinden zu erkundigen. Serfiraz war zwar unser Kommandant, aber er delegierte nicht nur arbeiten, sondern packte selbst da an wo es notwendig war, für keine Arbeit war er sich zu schade.

Er hatte das große Talent militärische Disziplin mit menschlicher Art und Weise zu leben. Es gab kaum einen Abend, an welchem wir nicht zusammen saßen, Tawla spielten, dutzende Teegläser leerten, an manchen Tagen gemeinsam aßen an anderen gemeinsam nichts aßen oder in der feuchten Erde froren. Serfiraz sprach drei Sprachen, kurdisch, türkisch, arabisch. Denn auch für ihn war die Sprache ein Schlüssel zur Welt, zumal in unserer Einheit wirklich die gesamte Sprachbreite Rojavas repräsentiert war, und die Sprache des Gegenübers zu erlernen bzw. zu sprechen war für ihn eine wichtige Geste des gegenseitigen Respekts. Für mich legte er damit eine große Wertschätzung den eigenen Genossen gegenüber an den Tag, da er selbst bereit war neues zu lernen um sie zu verstehen, er ging nicht davon aus, dass alle ihn verstehen müssten.

Heval Serfiraz war ein sehr neugieriger Mensch, er wollte alles Wissen, über die Lage der revolutionären Kräfte in Europa, über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Vor allem aber begrenzte sich sein Interesse nicht lediglich auf die „harten“ politischen Fragen. Wir diskutierten über den Einfluss von Mode, Popkultur und Musik auf die jeweiligen Gesellschaften. Und Heval Serfiraz hatte eine Eigenschaft, die uns allen als Militante leitend sein sollte: Er schämte sich nicht zu fragen, wenn er etwas nicht wusste oder verstand. So saßen wir teilweise Abende zusammen und übersetzten gemeinsam die Bedienungsanleitungen notwendiger Gerätschaften vom englischen ins kurdische und anschließend ins arabische oder türkische. In all diesen Erinnerungen bleibt für mich immer besonders prägend, dass er bei weitem kein Dogmatiker war. Unsere Diskussionen reichten von Lenins Imperialismustheorie, der Rolle Stalins, Neuerungen in den Programmen der weltweiten kommunistischen Parteien, Diskussionen mit einem anarchistischen Genossen über die Ukraine und Machno, über unsere Lieblingsrezepte unserer jeweiligen Küchen bis hin zur zentralen Rolle der LGTBIQ-Bewegung bei den Gezi-Protesten in der Türkei.

Er war ein wandelnder Erzähler, konnte seine Werdung zu einem militanten der MLKP mit Leben füllen, erzählte auch von seinen eigenen Erfahrungen in der Türkei, Kurdistan oder den türkischen Gefängnissen. Er machte diese Entwicklung greifbar. Ein lebendes Vorbild.

Als wir nach mehreren Worten aufbrachen, erinnere ich mich noch an unseren Händedruck des Abschieds und unser Versprechen, uns wiederzusehen, die feste Umarmung und unser gemeinsames herzliches Lachen.

Lieber Freund, heute habe ich den Namen kennengelernt, den dir deine Mutter bei deiner Geburt gab. Welat. Dein Familienname Yildiz. Land der Sterne. Serfiraz yoldaş, ich werde dich vermissen, genau wie hunderte Andere dich vermissen und in ihren Herzen tragen werden. Und auch ich werde dich bei mir tragen, unabhängig davon wo ich mich befinde und in den Sternenhimmel schauen werde. In meinem oder in deinem Land. Welat.

#Deniz Nîdal

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Am vergangenen Dienstag fanden zeitgleich in mehreren Städten im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg Hausdurchsuchungen statt, unter anderem von einer Person, die im Linken Zentrum Lilo Herrmann lebt. Sie bauen auf fadenscheinigen Vorwürfen auf, bei denen es um die Beteiligung an Aktionen gegen die faschistische Gruppe „Identitäre Bewegung“ und um eine angebliche Beteiligung an der sogenannten „Stuttgarter Krawallnacht“ gehen soll. Diese aktuellen Ereignisse sind dabei nur das neueste Kapitel im Agieren der Repressionbehörden gegen linke Aktivist*innen und Strukturen.

Das rechte Auge zuzudrücken, während man solch harte Vorgehensweisen gegen Antifaschist*innen und Kommunist*innen einsetzt, hat Kontinuität. Wir erinnern uns noch gut daran, als 2020 in Hamburg 28 Hausdurchsuchungen – als Teil des größten Verfahrens gegen eine linke Organisation in Deutschland seit Jahrzehnten – stattfanden. Ziel des Angriffs der Staatsgewalt, der mit dem „Schnüffel-Paragraphen“ 129a geführt wurde, war der Rote Aufbau Hamburg. Der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft wird kriminalisiert, faschistische Organisierungen werden aber vom Staat gedeckt.

Gerade erst informierte die Rote Hilfe e.V. zum Tag der politischen Gefangenen am 18. März darüber, dass in Deutschland aktuell mindestens 15 Menschen wegen ihrer politischen Betätigung im Knast sitzen. Die Antifaschistin Lina ist trotz geringer Beweislast seit über 500 Tagen inhaftiert. Der linke Aktivist Jan aus Nürnberg ist seit sechs Monaten in Haft, acht weitere hat er laut Urteil noch vor sich. Allein im Raum Stuttgart saßen in den letzten Monaten, teils bis heute, mit Findus, Dy und Jo drei aktive Linke im Knast. Ebenso mehrere kurdische Aktivist*innen, darunter Merdan – für den Vorwurf einer Mitgliedschaft in der PKK, deren Kriminalisierung dem türkischen Staat in die Hände spielt. Am kommenden Freitag, 25.03., ist der Prozess des Kommunisten Chris angesetzt, bei dem von der Anklage mehrere Monate Haft ohne Bewährung gefordert werden. Vorgeworfen wird ihm, nach jahrelanger Kriminalisierung seines politischen Einsatzes, eine Beteiligung an den Silvesterspaziergängen an der JVA Stuttgart-Stammheim, die dort seit den Zeiten der RAF-Gefangenen Tradition haben.

„Ganz allgemein und konkret im Fall von Chris geht es bei staatlicher Repression nicht nur darum, Einzelne für angebliche Straftaten zu verurteilen; den Verfolgungsbehörden geht es um viel mehr“, schreibt das Solibündnis zu Chris‘ Prozess. „Politische Strömungen der Linken, die Widerstandsformen entwickeln und anwenden, die das Maß des Konformen überschreiten, werden mit Repression überschüttet. Sobald Proteste und Strukturen als potenzielle Gefahr wahrgenommen werden, wird zugelangt und in akribischer Kleinarbeit alles verfolgt, was kriminalisierbar ist.“

Gefängnisstrafen stellen die momentan extremste Forme der Repression gegen linke Aktive in der BRD dar, denen verschiedene andere vorausgehen: von Kontrollen, Geldstrafen und Arbeitsstunden über Einträge im Führungszeugnis, Hausdurchsuchungen bis hin zu Gewahrsam und Bewährung. Das Vorgehen der BRD gegen antikapitalistische und antifaschistische Bewegungen scheint seit Jahren an Aggression zuzunehmen. Auffällig sind die Bündelung unzusammenhängender Tatvorwürfe sowie immer häufigere absurd hohe Strafmaße, die Kriminalisierung von Praktiken, welche früher gerade so als Ordnungswidrigkeiten galten, und Paragraphen, die offensichtlich vor allem der Überwachung linker, antiimperialistischer, revolutionärer Gruppierungen dienen.

Dabei sollte unsere Empörung über all diese Umstände keineswegs als Überraschung missverstanden werden. Revolutionäre linke Praxis stellt die herrschende Ordnung nicht nur in Frage, sondern greift sie an. Die Staatsgewalt, die der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems dient, wird natürlich gegen diejenigen Aktivist*innen und Bewegungen gerichtet, die ihm gefährlich werden können. Die Krisen des Kapitalismus spitzen sich zu und mit ihnen wächst der Widerstand, der von den Repressionsorganen des Staates niedergeschlagen werden soll.

Diese Vorgehensweisen sind vor allem Spaltungs- und Einschüchterungsversuche, denen wir nicht nachgeben dürfen. Wir müssen ihre Unterteilung in „gute und schlechte“ Protestformen, in „legitimen und kriminellen“ Widerstand ablehnen, denn diese Unterteilung folgt den Definitionen des bürgerlichen Staates. Konsequenter linker Widerstand wird unumgänglich in Konfrontation mit der Staatsgewalt geraten, da er sich gerade gegen diese richtet. Fügen sich Teile der linken Bewegung der staatlichen Einteilung unserer Protestformen, entfernen wir uns voneinander. Die einen sollen in reformistische Bahnen gelenkt werden, bis sie nicht mehr im Antagonismus zum herrschenden System stehen, die anderen werden weiter die volle Brutalität des Staates zu spüren bekommen und damit in ihrer Praxis gehindert.

Das Aufgeben revolutionärer antikapitalistischer Politik darf keine Option sein. Ein organisierter Umgang mit Repression gegen unsere Genoss*innen und konsequenter Zusammenhalt ist stattdessen unsere Antwort auf staatliche Angriffe. Das äußert sich in den zahlreichen Solikreisen, die sich für die Betroffenen bilden, in der Arbeit der Roten Hilfe und insgesamt in der Fortsetzung antifaschistischer, antimilitaristischer, klassenkämpferischer und nicht zuletzt revolutionärer Praxis.

„Wir dürfen uns nicht von ihren Schikanen und Machenschaften einschüchtern lassen, sondern gemeinsam Widerstand leisten. Ihr draußen, ich drinnen.“ – Dy, inhaftierter Antifaschist aus dem „Wasen-Verfahren“

Dass die revolutionäre Bewegung in Deutschland sich nicht einschüchtern lässt und handlungsfähig bleibt, zeigt sich auch in den direkten Antworten auf die Hausdurchsuchungen in Baden-Württemberg am vergangenen Dienstag. Nachdem den Betroffenen schon direkt am Morgen von ihren Genoss*innen Beistand geleistet wurde und es erste Solidaritätsbekundungen aus zahlreichen anderen Städten gab, kam es noch am Abend desselben Tages zu spontanen Kundgebungen, Aktionen und Demonstrationen unter anderem in Stuttgart, Tübingen, Magdeburg und Hamburg. Mehrere hundert Menschen, aus verschiedenen Spektren und mit verschiedenen Hintergründen, gingen in Stuttgart als direkte Reaktion gemeinsam auf die Straße und machten klar, dass sie sich nicht abschrecken lassen und auch hinter der verfolgten Praxis stehen.

Unsere Parolen sind keine leeren Phrasen, wenn wir sie umsetzen. Zeigt euch also solidarisch, indem ihr weitermacht!

# Titelbild: indymedia, Knastspaziergang 2021/22 in Stuttgart Stammheim

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Kleinteiligte algorithmische Steuerung ist auf dem Vormarsch in die Arbeitwelt. Elmar Wigand hat, inspiriert durch Lektüre von Simon Schaupps Studie „Technopolitik von unten.“ und Gesprächen mit dem Autoren, 40 vorläufige Thesen zu dieser Entwicklung aufgestellt. Eine Möglichkeit diese Thesen und das Thema allgemein zu diskutieren ist folgende Veranstaltung mit dem Arbeitssoziologen Simon Schaupp in Berlin:
Wenn dein Boss ein Algorithmus ist. Solidarität & Widerstand in digital gesteuerter Niedriglohnarbeit. Samstag, 26. März 2022, 19:00 Uhr, Café Wostok, Weitlingstr. 97, 10317 Berlin-Lichtenberg. Live-Stream auf youtube.

Was haben Ryanair-Pilot:innen, Spieler des FC Schalke 04, Fahrradkuriere von Lieferando und Arbeiter:innen bei Amazon gemein? Sie alle werden digital erfasst, analysiert, kontrolliert und bewertet. Während die Spieler des FC Schalke zumindest beim Spiel selbst noch frei entscheiden können (oder müssen), sieht es in der Nachbearbeitung des Spieltags, im Training oder beim Scouting neuer Talente schon anders aus. Piloten haben durch Automatisierung und maschinelle Steuerung faktisch immer weniger zu tun – auch wenn die Verantwortung für Leib und Leben der Passagiere gleich bleibt. Ermüdung (Fatigue) durch ständiges Starren auf Bildschirme, ständige Wachsamkeit bei faktischem Nichtsmehrtunmüssen, ist gerade bei Langstreckenflügen eines ihrer größten Probleme. Während dessen sollen Amazon-Arbeiter:innen durch kleine mobile Endgeräte (Handys/Armbanduhren) nicht nur gelenkt, sondern auch getrackt und durch Vibrationen gezielt manipuliert werden.

Wir haben es mit wichtigen Umwälzungen zu tun, die menschengemacht sind und daher von der Mehrheit der Menschen auch gestaltet, vielleicht sogar zum Scheitern gebracht werden können. Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung sind Lohnabhängige. Wir müssten uns als solche bloß organisieren…

Die folgenden Thesen dienen als Grundlage für Diskussionen. Sie sind nicht in Stein gemeißelt, sondern vorläufig und als Einladung zu verstehen, sie gemeinsam weiter zu entwickeln.

  1. Algorithmische Steuerung zielt auf die Entwertung der Arbeitenden und ihrer Tätigkeit zwecks Steigerung des Profits.
  2. Die Entwertung der Arbeit durch algorithmische Steuerung geschieht durch totalitäre Überwachung, Kontrolle und Angst vor Strafe.
  3. Die Arbeitsleistung der Beschäftigten soll ergänzend zu Überwachung und Kontrolle auch durch Anreize und Belohnungssysteme gesteigert werden.
  4. Die algorithmische Steuerung geht Hand in Hand mit Automatisierung, Digitalisierung und virtueller Vernetzung.
  5. Es gibt keinen Weg zurück in den vorherigen Zustand. Die Technologien, die der algorithmischen Steuerung zugrunde liegen – Smartphones (mobile Endgeräte), digitale Plattformen (Webseiten, Google Maps, Clouds, Apps etc.), soziale Medien (Chatgruppen, Slack, Discord etc.), Kontroll- und Analyseprogramme – sind nicht mehr wegzudenken. Sie müssen aber ganz dringend anders gedacht, demokratisch kontrolliert und zum Wohle der Allgemeinheit umfunktioniert werden.
  6. Es gibt zwei Entwicklungslinien, die teils konkurrieren, sich zum Teil ergänzen: Roboterisierung (das vollständige Ersetzen menschlicher Arbeit) und Automatisierung menschlicher Arbeit samt algorithmischer Steuerung. Derzeit scheint die algorithmische Steuerung größere Gewinnerwartungen zu versprechen. Die Robotertechnik hinkt den Zukunftserwartungen hinterher, die seit den 1970er Jahren als Science-Fiction oder Dystopien kursierten.
  7. Eine neue Technologie setzt sich nie automatisch und linear durch, sondern wird in verschiedenen Milieus und Klassen und Rechtsrahmen (Nationalstaaten) teils völlig unterschiedlich interpretiert, akzeptiert, abgelehnt oder bekämpft.
  8. Die Durchsetzung einer neuen Technologie gelingt den Herrschenden und Besitzenden selten so, wie sie es sich vorstellen. Sie ist ein Ergebnis von Klassenkämpfen, die auf historischen Erfahrungen basieren und aufsetzen. Gesellschaften, Klassen und Milieus weisen große Unterschiede in der Nutzung und Akzeptanz von Technologie auf.
  9. Der Motor der Entwicklung sind Krisen des Kapitals – Überakkumulation, Verwertungskrisen, Profit- und Kreditklemmen, Klassenkämpfe und (verlorene) Kriege. Die Hoffnung des Kapitals besteht darin, einen neuen mittelfristigen Boom durch Umwälzung der Verhältnisse und Verdrängung der alten Ökomomie zu schaffen.
  10. Wir sind Zeugen einer technologische Revolution, die auf allen Ebenen angreift. Ihr sind die bestbezahlten Lohnabhängigen – Piloten, Fußball-Bundesliga-Spieler, Ärzte und IT-Spezialist:innen – ebenso unterworfen wie die am schlechtesten bezahlten wie z.B. scheinselbständige Fahrer:innen von Uber Eats, Amazon Flex und andere.
  11. Der technologische Angriff betrifft also nicht nur Niedriglohnarbeiter:innen, sondern alle Beschäftigten. Es handelt um eine Umwälzung, die nicht nur aus moralischen oder menschenrechtlichen Gründen gesamtgesellschaftliche Beachtung verdient.
  12. Die algorithmische Steuerung ist ein technologischer Angriff auf Facharbeit, Tarifverträge und Lohnniveaus.
  13. Der technologische Angriff geht einher mit einem juristisch-betriebswirtschaftlichen Angriff auf Arbeitsstandards, der parallel stattfindet, aber sich nicht im Gleichschritt vollzieht: Scheinselbständigkeit, Franchising, Sub-Subunternehmertum, Auslagerung, Arbeit auf Abruf, Kettenbefristung.
  14. Der einzelne Arbeiter, die einzelne Arbeiterin soll leicht ersetzbar sein. Oder das zumindest glauben. Die Arbeitenden werden von Software und mobilen Endgeräten so gesteuert, dass sie immer weniger Qualifikation und Anlernzeit benötigen.
  15. Die algorithmische Steuerung entkoppelt die Arbeit auch weitgehend von der landesüblichen Nationalsprache, so dass ein rudimentäres Englisch bzw. internationales Pidgin-English ausreicht, um arbeiten zu können. Dadurch vergrößert, ja globalisiert sich das Einzugsgebiet, aus dem die Beschäftigten kommen. Es entsteht, zumindest in Metropolregionen, eine bunt gemischte internationale Belegschaft.
  16. a) Der unpersönliche Algorithmus soll die Steuerung durch menschliche Vorgesetzte ersetzen. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass intensives Management hohe Kosten verursacht, die eingespart werden müssen. b) Die Arbeitenden frustriert es, keine direkten Ansprechpartner:innen selbst für grundlegendste Anliegen zu haben.
  17. Dem (Alb-)Traum einer vollständigen algorithmischen Steuerung liegt ein falsches Menschenbild zu Grunde, das lautet: Es gibt keine Gesellschaft, nur unverbundene, vereinzelte Individuen, die sich dauerhaft durch unpersönliche Kommunikation, Maschinen und Programme steuern lassen.
  18. a) Die landläufige Annahme, dass der Mensch Fehler macht, aber die Technik nahezu perfekt funktionieren könnte ist falsch. Technik, Management, Logistik und Geldflüsse funktionieren meist fehlerhaft bis mangelhaft – vor allem schmerzt das bei Lohn, Boni und Trinkgeld, die meist zu Lasten der Beschäftigen falsch berechnet werden. b) Darin hat sich im Vergleich zum Fabriksystem wenig geändert: Ohne das geheime Wissen der Beschäftigten und deren Umgehungsstrategien läuft fast nichts. Auch die Computersteuerung der Arbeit muss von den Arbeitenden stets umgangen, relativiert oder sogar ausgetrickst werden, damit der Laden läuft.
  19. Die technischen Möglichkeiten und der Druck zur Kostensenkung und Profitmaximierung verleiten das Management zu kriminellen Handlungen gegenüber Beschäftigten (Lohnraub, Trinkgelddiebstahl, Arbeitszeitbetrug), Zulieferern, Subunternehmern und Kunden.
  20. a) Beschäftigte, die algorithmischer Steuerung unterworfen sind, empfinden einen grundlegenden Mangel, der sie – in der derzeitigen Entwicklungsstufe – fast automatisch zu arbeitgeberunabhängiger Organisierung treibt. b) Beschäftigte haben – wie alle Menschen – das natürliche Bedürfnis nach Sozialisierung, Anerkennung, Austausch, Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit, Orientierung, Gerechtigkeit; sie entwickeln daraus Organisierung und Interessenvertretung, im Konfliktfall auch Renitenz.
  21. Beschäftigte, die algorithmischer Steuerung unterworfen sind, empfinden die Verhältnisse, denen sie unterworfen sind, als zynisch, ungerecht, ineffizent und unnatürlich.
  22. Humor, Spott und Zynismus sind deutliche Vorboten von Rissen im System der Herrschaft. Diese Ausdrucksformen sind zweischneidig und müssen genau interpretiert werden, da sie die Herrschaft stabilisieren können – als folgenloses Dampfablassen – oder aber die Herrschaft erschüttern können – als Vorform arbeitgeberunabhängiger Organisierung. Humor kann eine Waffe sein.
  23. Viele Beschäftigte sind hoch qualifiziert und daher von der Arbeit unterfordert. Sie sind durch wirtschaftliche Verwerfungen (Perspektivlosigkeit in der Heimat), oft auch nur für eine Zwischenzeit (Studium, Warten auf etwas Besseres) in dieser Arbeit gelandet. Der Impuls, Betriebsräte und Gewerkschaftsgruppen zu gründen rührt auch aus dem Bedürfnis, brach liegende Fähigkeiten einzusetzen und zu entwickeln. Die Weiterbildungs-, Gestaltungs- und Aufstiegsmöglichkeiten von Betriebsräten und Gewerkschaften sind eine Art „zweiter Bildungsweg“ oder alternative Karriere.
  24. Traditionelle Formen wie Betriebsräte, Betriebsgruppen und Gewerkschaften oder vergleichbare Vorformen entstehen derzeit fast zwangsläufig.
  25. Hard Power (Union Busting) setzt darauf, arbeitgeberunabhängige Organisierung im Keim zu ersticken.
  26. Soft Power versucht die Bedürfnisse nach arbeitgeberunabhängiger Organisierung aufzugreifen und zu pervertieren, zu karikieren, zu unterwandern und zu korrumpieren.
  27. Management und Arbeiterunruhe sind zwei korrespondierende Säulen. In Deutschland reagieren Management und Co-Management recht sensibel auf Veränderungen im Verhalten der Beschäftigten, insbesondere wenn es um Renitenz, Streiks und ähnliche Formen geht.
  28. Management, Co-Management und ihre Hilfskräfte interessieren sich in Deutschland mehr für Arbeiterunruhe und Risse im System der Arbeit als (selbsternannte) Revolutionäre, (eingebildete) Linke und (sogenannte) Radikale. (Vermutlich werden sie auch diesen Text intensiver studieren und ernster nehmen, als die eigentliche Zielgruppe dieser Zeilen 😉 .)
  29. Die Aufgabe von Radikalen (Linken, Klassenkämpfer:innen, Sozialist:innen & utopischen Romantiker:innen etc.) dürfte es sein, das Salz in der Suppe oder die Hefe im Teig zu sein. Also als verschwindende Minderheit dennoch Prozesse voran zu treiben und Organisierung schmackhaft zu machen.
  30. Die traditionelle Gewerkschaftsbewegung – in Deutschland bestehend aus sozialdemokratisch dominierten Industriegewerkschaften – hat aus verschiedenen Gründen (derzeit noch) große Probleme, algorithmisch gesteuerte Beschäftigte zu organisieren. Möglicherweise ist sind andere Formen – berufsständische, syndikalistische oder Mischformen – passender bzw. attraktiver.
  31. Die traditionellen Gewerkschaftsapparate finanzieren sich über Abgaben von einem Prozent vom Monatslohn dauerhaft tätiger Festangestellter, der durch Tarifverträge und periodische Steigerungen erhöht werden soll. Dieses Modell greift oftmals ins Leere, wenn die Fluktuation der Belegschaft sehr hoch ist und der Gewerkschaftsbeitrag von den Beschäftigten als zu hoch empfunden wird. Zudem erscheint das Lohnniveau der Gewerkschaftssekretäre vielen Niedriglohnbeschäftigen obszön.
  32. Für Niedriglöhner:innen, die am Monatsende kaum Geld über haben, sind 1 Prozent des Brutto-Lohnes eine zu hohe Abgabe. Hier muss die Abgabe ein Teil des zur Verfügung stehenden monatlichen Geldes sein (nach Abzug von Miete, Krankenversicherung, Monatsticket), nicht des Bruttoverdienstes. Oder die Finanzierung der Organisation bzw. Kampagne muss über Spenden und Fundraising erfolgen.
  33. Professionelle Gewerkschaftsapparate und ihre Angebote bieten den Beschäftigten (derzeit) nicht das was sie suchen und was ihnen fehlt.
  34. Möglicherweise müssen neue Formen gefunden werden. Möglicherweise müssen auch ganz alte Formen wieder belebt werden – Arbeitervereine, Gewerkschaftslokale, Gilden oder Ähnliches.
  35. Das Zusammenkommen unterschiedlichster Menschen aus unterschiedlichsten Ländern – bei Berliner Supermarkt-Lieferdiensten wären das z.B. Indien, Argentinien, Ghana, Deutschland, Tunesien, Algerien – kann Spaß machen und bereichernd sein. Gerade wenn die Arbeit unterfordert und langweilig ist, entstehen fast automatisch Cliquen und Freundschaften, Spiele und Palaver.
  36. Die Beschäftigten besitzen mehr Produktions- oder Organisationsmacht als sie glauben.
  37. Viele Online-Firmen – Amazon, Lieferando, Gorillas, Zalando – leben vom Marken-Image bzw. einem Mythos, der oft mehr Geld wert ist als ihre Produktionsanlagen.
  38. Das digitale Proletariat arbeitet an zwei neuralgischen Schnittstellen: Der Programmierung und Optimierung der Software und der Auslieferung zum Kunden auf den letzten Metern. Der letzte Meter, der direkte Kundenkontakt, kann im Konfliktfall genutzt werden, um das Marken-Image anzugreifen.
  39. Der Konsumstreiks (Boykott) ist eines der ältesten Mittel der Arbeiterbewegung, das auf seine Wiederentdeckung wartet. Viele historische Streiks wurden erst durch einen flankierenden Konsumstreik gewonnen.
  40. Die algorithmische Steuerung und Erfassung betrifft nicht nur die Beschäftigten, sondern auch Kundinnen und Kunden. Möglicherweise besteht im Data-Mining, der Erfassung und Manipulation der Konsument:innen und ihres Verhaltens, sogar der produktivere Teil des gesamten Geschäftsmodells – wie im Fall von Facebook und Google. Daher haben die Kund:innen ebenfalls allen Grund, sich angegriffen zu fühlen (etwa in ihrer informationellen Selbstbestimmung) und sich mit Lohnabhängigen zu solidarisieren, wenn diese im Arbeitskonflikt sind.
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Das Interview führten die Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Gröpelingen und die Stadtteilinitiative Bergfidel Solidarisch mit Débora Nunes vom Direção Nacional do MST (Bewegung der Arbeiter:innen ohne Land in Brasilien)

Kannst du uns zu Beginn des Interviews erklären, was die MST ist?

Die MST ist die Bewegung der Arbeiter:innen ohne Land in Brasilien. Sie ist 1984 aus den strukturellen Notwendigkeiten der damaligen Zeit entstanden. Nach dem 2. Weltkrieg hat die kapitalistische Entwicklung zu tiefgreifenden Veränderungen in der Landwirtschaft geführt. Es wurden immer größere Maschinen und immer mehr Chemie eingesetzt. Viele Menschen wurden von ihren Ländereien vertrieben. Sie zogen in die Städte, wo sie weder Arbeit noch ein Zuhause oder Zukunftsaussichten erwarteten. Die Bewegung ist entstanden, um eben diese Arbeiter:innen vom Land zu organisieren und einen Zugang zu Land zu erkämpfen. Denn es braucht Zugang zu Land, um Arbeit, Gesundheit und ein Zuhause für Menschen zu garantieren. Und da der brasilianische Staat nicht bereit war, den Menschen diese Rechte zur Verfügung zu stellen, gab es die Notwendigkeit, sich zu organisieren und zu kämpfen. Die MST existiert inzwischen seit 38 Jahren. Sie ist die einzige ländliche Massenorganisation, die so lange existiert. Alle anderen Organisationen wurden von oben zerschlagen.

Die MST hat den Ansatz der Basisarbeit stark geprägt. Kannst du genauer ausführen, was das bedeutet? Welche Kriterien muss Basisarbeit erfüllen, damit sie einen transformativen Charakter hat?

Wenn wir von Basisarbeit sprechen, dann sprechen wir über zwei Dimensionen. Die erste Dimension ist die Organisierung. In den 80er Jahren gab es eine Masse an Arbeiter:innen ohne Land und ohne Arbeit, aber es gab keine Perspektive der Organisierung oder spontane Organisierungen. Der erste Schritt war deshalb, die landlosen Arbeiter:innen dazu einzuladen, sich zu organisieren. Menschen aus der Peripherie, aus den Favelas, Menschen, die keine Arbeit und nicht genügend Lebensmittel hatten. Die Botschaft der MST war: Es ist möglich, etwas zu bewirken, wenn wir uns organisieren. Der Staat wird von allein nichts machen. Nur wenn wir organisiert sind, können wir genügend Druck aufbauen.

Die zweite Dimension von Basisarbeit ist die Bildung des Bewusstseins. Es ist wichtig, dass Menschen verstehen lernen, wie die Gesellschaft aufgebaut und wie Ungleichheit organisiert ist, wie sie sich immer weiter fortsetzt. Oder warum manche Menschen kein Haus haben und andere zwei, drei oder viele Häuser. Nur wenn man das versteht, ist man bereit längerfristig zu kämpfen und weiß, wo und wie das passieren muss. Wenn die Energiepreise z.B. hoch sind, dann bleiben die meisten Menschen dabei stehen, sich darüber zu beschweren oder die Rechnung einfach nicht zu bezahlen, weil sie dazu nicht in der Lage sind. Basisarbeit bedeutet darüber hinaus zu lernen, das gesamte System infrage zu stellen. Zu begreifen, dass hohe Energiepreise nichts Natürliches sind, sondern ein Ergebnis der Privatisierung von Energie. Dass Energie aber ein Gemeingut ist, weil sie aus der Natur gewonnen wird, wie z.B. aus Wasser. Bei Basisarbeit geht es um eine bestimmte Art der Bewusstwerdung. Diese Bewusstseinsbildung ist ein permanenter Prozess. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Die Bewusstseinsarbeit der MST findet in den Mobilisierungen und Besetzungen von Land statt. Aber es gibt auch eine richtige politische Schule, wo Aktivist:innen ausgebildet werden [Escola Nacional Florestan Fernandes].

Mit der Basisarbeit verfolgen wir drei Ziele. Das erste Ziel ist die massenhafte Teilhabe der Arbeiter:innen, um Auseinandersetzungen und Kämpfe führen zu können. Dafür braucht es Multiplikator:innen oder multiplikatorische Effekte. Wir können nicht zehn Menschen bleiben, sondern jede der zehn Personen muss  wiederum zehn weitere Menschen aktivieren, anrufen, mitbringen, miteinbeziehen. Nur so können wir garantieren, dass genügend Menschen an dem Prozess teilnehmen.

Das zweite Ziel der Basisarbeit ist die Demokratisierung der Macht. Das bedeutet, Menschen zu befähigen, ihre Probleme selbst zu verstehen und in einem kollektiven Prozess Lösungen zu erarbeiten. Dazu gehört auch, den kapitalistischen Werten andere Werte gegenüberzustellen, wie z.B. Solidarität. Damit die Macht im Dienst der Mehrheit steht und die Probleme des Alltags gelöst werden können.

Das dritte Ziel der Basisarbeit ist der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Das Ziel ist also, den konkreten Kampf zu organisieren um langfristig mit Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Ausbeutung und der gesamten Unterdrückung zu brechen. Das setzt aber voraus, dass es stets eine Perspektive des Klassenkampfes gibt. Denn wir leben in einer Welt, in der sehr tiefe, an Klassen ausgerichtete Ungleichheiten und die ständige Ansammlung von Reichtum in den Händen Weniger und auf dem Rücken Vieler existieren. Eine klassenkämpferische Perspektive bedeutet hier, die Arbeiter:innen zu ermächtigen und auf grundlegendere Auseinandersetzungen vorzubereiten. 

Aber eines muss klar sein: Es gibt kein fertiges Rezept für Basisarbeit, sondern es gibt erstmal nur die Notwendigkeit als Ausgangspunkt. Wir müssen bereit sein, dort anzusetzen und einen permanenten politischen und ideologischen Kampf daraus zu entwickeln.

Kannst du etwas genauer ausführen, was für den Prozess der Teilhabe und Bewusstseinsbildung im Rahmen der Basisarbeit wichtig ist?

Am Anfang kommen Menschen aufgrund eines spezifischen Anliegens zur MST: Sie haben kein Land. Das Ziel ist aber, über die konkreten Kämpfe auch das Bewusstsein zu verändern und ein Verständnis dafür zu entwickeln, in welcher Realität wir leben und wie wir diese Realität in unserem Interesse verändern können. In Brasilien gibt es keine Kultur der politischen Teilhabe. Das gängige Verständnis ist, an Wahlen teilzunehmen – in Brasilien gibt es eine Wahlpflicht – und danach lebt man mit der repräsentativen Demokratie. Niemand fragt, ob es besser ist, eine Schule zu bauen oder eine Statue auf einem öffentlichen Platz. Diese Haltung stellen wir infrage. Wenn Menschen zu uns kommen, dann geht es darum, gemeinsam zu verstehen, dass es niemanden gibt, der unsere Probleme löst. Und auch, dass wir nicht von anderen abhängig sind, sondern dass sich nur etwas verändern wird, wenn wir selbst Hand anlegen. Wichtig dafür ist, dass sich Menschen als Teil dieses Prozesses fühlen, dass jede:r eine Aufgabe hat, dann sind sie bereit Verantwortung zu übernehmen.

Aber wir dürfen uns nichts vormachen. Wir laden Millionen von Menschen ein und natürlich bleiben nicht alle dabei. Wenn Menschen sehen, was wir erreicht haben, dann werden auch andere davon angezogen und verstehen, dass es wichtig ist, sich zu organisieren. Das ist zumindest unsere Erfahrung. Wenn wir am Anfang Menschen einladen, mit zu einer Besetzung zu gehen, dann kommen viele aus Angst vor Repression nicht mit. Es gibt bewaffnete Gruppen, die verhindern sollen, dass Land besetzt wird oder dass Menschen an solchen Besetzungen teilnehmen. Aber wenn sich die Gesellschaft solidarisch erklärt, wenn es Erfolge gibt, dann entsteht so ein gewisser Spirit. Dann merken Menschen, dass es voran geht, dass wir etwas bewirken können. Es geht nicht darum, etwas schön zu reden. Sondern die Hoffnung zu bewahren. Wie der Pädagoge Paulo Freire gesagt hat: Wir müssen hoffend weitermachen (esperançar = das ist eine Wortneuschöpfung aus hoffen, warten und machen). Die Bewegung muss diese Transformation ständig neu erschaffen.

Um nochmal zu verdeutlichen, was das bedeutet. Brasilien ist ein sehr christliches Land, bis heute. Es gibt viele Menschen, die die Ungleichheit in Brasilien damit begründen, dass es Gott so gewollt und die Menschen so erschaffen hat. Manche, die reich sind, manche, die arm sind und das ist eben so. Da müssen wir ansetzen, das bedeutet in Brasilien Basisarbeit zu machen. Solche Vorstellungen zu durchbrechen. Zu sagen: Nein, was sind die Prozesse, die dahinterstehen und warum haben manche Menschen viel und ganz viele fast nichts? Basisarbeit ist also eine pädagogische Reflexion, die einen kritischen Blick auf die Gesellschaft entwickelt. Wenn Menschen anfangen so etwas zu verstehen, dann fangen sie an, sich in die Bewegung zu verlieben. Dann entwickelt sich eine Leidenschaft für die Bewegung. Und es ist wichtig, dass die Menschen selbst Protagonist:innen in diesem Prozess sind.

Gibt es weitere Aspekte, die für das Konzept der Basisarbeit wichtig sind?

Essenziell für Basisarbeit ist, dass man die Realität der Menschen kennt, mit denen man zusammenarbeitet. Erst dann kann man verstehen, was die Menschen sagen und konkret mit ihnen arbeiten. D.h. die Aktivist:innen der MST, die in die Viertel gehen und Basisarbeit machen, müssen die Bedürfnisse und Realitäten der Menschen kennen. Sie müssen sowohl wissen, was in den Communities fehlt als auch was die Potentiale dort sind.

Ein weiterer Aspekt ist, dass Basisarbeit ein permanenter Prozess und mit dem Ziel verbunden ist, eine Massenbewegung entstehen zu lassen. Es ist gefährlich, sich zu isolieren. Wenn man Ungleichheiten aufbrechen will, darf man sich nicht isolieren. Denn wir haben mächtige Feinde, denen wir gegenübertreten. Die MST  ist im Süden von Brasilien entstanden, aber wir haben von Anfang an verstanden, dass wir keine lokale Bewegung bleiben dürfen, sondern eine landesweite Bewegung werden müssen. Weil es sonst für die Eliten sehr einfach gewesen wäre, uns zu zerstören und in kleinere Stücke aufzuteilen.

Wir haben viel über Organisierung und Politisierung gesprochen. Welche Rolle spielen soziale oder kulturelle Aktivitäten innerhalb der MST und wie tragen sie zur Politisierung bei?

Das ist eine sehr gute und wichtige Frage. Wir haben bei der MST dafür einen Begriff, wir nennen das „Mystik“ – aber es gibt ihn auch in anderen Bewegungen. Gemeinsame Feste, gemeinsame Rituale etc., das alles wird Mystik genannt. Denn Menschen sind keine Maschinen. Menschen haben Bedürfnisse, Gefühle. Die Mystik hat verschiedene Funktionen: Eine bestimmte Art der ländlichen Kultur und bestimmte Werte zu bewahren, die der Kapitalismus zerstört. Andere Werte infrage zu stellen, die Menschen mitbringen, wie Individualismus, Chauvinismus, Homophobie usw. Kulturelle Aktivitäten spiele hier eine wichtige Aufgabe. Gleichzeitig geht es bei der Mystik auch darum, zu zeigen, dass Kultur – also Theater, Musik etc. – kein Privileg der Oberschicht ist, sondern ein Teil von uns allen. Diese Mystik nährt unseren Kampf, aber es ist auch eine Art von Utopie, die wir darin feiern und ausüben. Mit den kulturellen Aktivitäten können wir die Utopien, die wir aufbauen wollen, schon ein Stück weit antizipieren. Denn es wird kein Wunder geben, nachdem wir plötzlich eine neue Gesellschaft haben, sondern wir müssen diese in einzelnen Schritten schon leben und neue Beziehungen zwischen uns entwickeln. Die Herausforderungen sind sehr groß und es wird nicht einfach sein, aber es ist möglich, es zu schaffen.

Wir würden gerne nochmal auf die aktuelle Situation zu sprechen kommen. Aktuell gibt es in Brasilien große Demonstrationen gegen den faschistischen Präsidenten Bolsonaro. Wie geht eine Organisation, die v.a. Basisarbeit macht, in so einer Situation mit solchen Protesten um?

Bedauerlicherweise sind wir in einer sehr traurigen Situation in Brasilien, auch einer sehr herausfordernden für alle Arbeiter:innen. Die Regierung ist letztendlich nichts anderes als eine Militärregierung; sie ist unglaublich korrupt, chauvinistisch, homophob usw. Es ist eine ultra-neoliberale Regierung, die alle öffentlichen Dienstleistungen, die es gab und selbst den Staat an sich zerstört. Hinzu kommen die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. In Brasilien gab es schon über 500.000 Tote. Mit der Pandemie ist auch der Hunger zurückgekommen. Über 50 % der Bevölkerung erfahren irgendeine Art der Ernährungsunsicherheit, über 20 Millionen Menschen haben keine Garantie für drei Mahlzeiten am Tag. Wir sind seit über einem Jahr dabei uns mit anderen Organisationen zusammen zu tun und die Leute auf die Straße zu mobilisieren. Denn diese Regierung ist noch tödlicher als das Coronavirus. Unsere Forderungen sind u.a.: Impfmöglichkeiten für alle, Essen auf dem Tisch und ein Ende dieser Regierung. Um das noch deutlicher zu machen: Wir sind gerade in Brasilien an einem Punkt, in dem wir den Kampf um Land und die Besetzungen nicht weiterführen können, weil wir um Brasilien als Land kämpfen müssen. Wir reden darüber auch in unserer Basis. Landbesetzungen können gerade keine Priorität haben, weil wir dafür kämpfen müssen, dass zumindest die bürgerliche Demokratie zurückkommt. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir den Kampf um Land wieder aufnehmen können.

Aber wir machen auch aktuell weiter Basisarbeit, weil viele Menschen von den Folgen dieser Politik betroffen sind, Hunger haben, arbeitslos sind, kein Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Bildung haben. In der Arbeit mit den Menschen in den dörflichen Gemeinden, der Peripherie, versuchen wir ein Bewusstsein dafür zu schaffen, woher die aktuellen Probleme kommen und wie sie entstanden sind. Und wir laden die Menschen dazu ein, sowohl gegen das Virus zu kämpfen als auch gegen die Regierung, um ein würdiges Leben führen zu können.

Du hattest vorhin gesagt, dass die politische Praxis nicht nur auf lokaler Ebene bleiben darf. Wie genau sieht die Zusammenarbeit des MST mit anderen Organisationen aus?

Die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Bewegungen spielt eine wichtige Rolle für die MST. Voraussetzung für eine Zusammenarbeit ist, dass es ein Verständnis von Klassenkampf gibt. Wir führen unterschiedliche Kämpfe, wir arbeiten zu unterschiedlichen Themen, aber der Feind ist der gleiche. Es ist wichtig, die verschiedenen Segmente der Arbeiter:innenklasse zu organisieren, sei es in der Obdachlosenbewegung, den Gewerkschaften, den Bewegungen für ein Recht auf Wasser, gegen Staudämme, Vertreibung etc. Es geht darum, sich zusammen zu tun. Die MST hat anderen Bewegungen, wie z.B. der MAN (Movimento de Atingidos pela Mineração; Bewegung der von Bergbau Betroffenen) geholfen, ihre Basisarbeit zu entwickeln oder eine Organisationsstruktur aufzubauen und dafür auch Aktivist:innen freigestellt. Es geht um Solidarität innerhalb unserer Klasse. Wir haben auch zu Bewegungen in anderen Ländern Beziehungen, denn auch hier kämpfen wir gegen dieselben Feinde, wie z.B. multinationale Unternehmen. Wir müssen verstehen, dass es nicht darum geht, besser als andere zu sein, sondern dass wir zusammen besser sind, um dem Feind die Stirn zu bieten.

Ich möchte am Ende nochmal eines betonen: Es gibt kein Rezept und keine Formel, die man einfach kopieren kann. Wir müssen immer lernen. Auch die MST hat immer von anderen Bewegungen gelernt und von der Quelle der anderen getrunken. Aus der Geschichte und von anderen zu lernen, ist wirklich wesentlich. Nicht nur von den Kämpfen, sondern auch der Theorie. Ich möchte mit einem Motto der Via Campesina, einem Zusammenschluss von Kleinbäuer:innen, der auf unterschiedlichen Kontinenten aktiv ist, enden: Internationalisieren wir die Kämpfe und internationalisieren wir die Hoffnung. Und auch die Parole von Marx „Proletarierer aller Länder, vereinigt euch“ ist so aktuell wie lange nicht mehr.

#Bildquelle: Agencia Brasil

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