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Noch bevor die Fußball-WM der Herren in Katar losgegangen war, wurde die Vergabepraxis an das Emirat scharf kritisiert. Während der Spiele riefen die tausenden toten Arbeiter:innen und die Situation von FLINTA*s allerlei symbolischen Protest von Innenministerin Nancy Faeser, über die deutsche Nationalmannschaft, bis hin zum Einzelhändler REWE hervor; aber auch die Ultras in deutschen Stadien machten Boykottaufrufe. Was der Gegenstand der Kritik, also die WM, die Fifa und der DFB mit dem Kapitalismus zu tun haben, analysiert Raphael Molter hier.

Die Geburt des Wettbewerbs – Kapitalismus und Fußball

Schon vor über viertausend Jahren spielten die Menschen Fußball. Belege gibt es dafür auf der gesamten Welt verteilt. Ob in China des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung (damals genannt Cuju), im antiken Griechenland oder im frühmittelalterlichen England: Menschen spielen offensichtlich seit langer Zeit mit einem Ball an ihren Füßen. Und doch beginnt die uns bekannte Zeitrechnung des Spiels im imperialistischen England Mitte des 19. Jahrhunderts. 1848 schufen Studenten der Universität Cambridge Regeln für das Spielen mit einem Lederball und binnen zweier Jahrzehnte waren nicht nur die ersten offiziellen Fußballvereine gegründet, sondern auch der erste Fußballverband: die Football Association (FA).

Doch das Phänomen der Mannschaftsgründung bedeutete keinen Bruch in der langen Historie. Auch Vorausprägungen des konstituierten Fußballs kannten die Einteilung in Mannschaften. Neu war die Gründung eines eigenständigen Fußballverbands, der nicht nur die simple Organisation von Fußballspielen zur Aufgabe hatte und dieses neuartige Phänomen blieb nicht einzigartig. Fußballverbandsgründungen waren elementarer Bestandteil für die Durchsetzung des beliebtesten Hobbies der Welt. Doch warum eigentlich?

Verstehen wir die Entwicklung des „modernen Fußballs“ nicht als eine Entwicklung im Reagenzglas (was es zweifelsohne nicht war), so muss sich der Blick zu den umliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse richten. Fußball fand damals größtenteils als Sport der Arbeiterklasse statt, bei der sich nicht nur körperlich betätigt wurde, sondern der auch die Fans in seinen Bann zog. Man könnte in dem Zusammenhang wohl oder übel davon sprechen, dass der Sport seit je her eine befriedende, weil ablenkende Funktion innehat. „Brot und Spiele“, um dem Alltag kurz entfliehen zu können, war damals wesentliches Element und zeigte sich auch in der Fortführung des Profifußballs während der Corona-Pandemie. Lieber Geisterspiele in leeren Stadien und Konsument:innen auf der Couch, als ein Jahr ohne Fußballübertragungen. Außerdem hätten die Verbände und Vereine auf den Großteil ihrer Einnahmen verzichten müssen (die mediale Verwertung brachte dem deutschen Profifußball in der letzten Saison Einnahmen von knapp 1,5 Mrd. Euro ein, ein Anteil von rund 40 Prozent).

Und damit sind wir beim Verhältnis von Fußball und Kapitalismus. Das Spiel um das runde Leder existiert nicht in einem luftleeren Raum. Stattdessen ist es Teil der kapitalistischen Gesellschaften, zunächst als Ablenkung und Freizeitbeschäftigung, mittlerweile müssen wir aber von einem Milliardengeschäft reden. Dafür verantwortlich zeigt sich die expansive Dynamik der uns umgebenen Wirtschaftsordnung, die den Fußball erschlossen hat und damit aus einem nicht-kapitalistischen bzw. vor-kapitalistischen Raum das Produkt Profifußball schuf, das wir heute kennen. Die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse im Fußball ist natürlich nicht durch Zauberhand geschaffen worden, sondern kennzeichnet sich durch konkrete Ereignisse.

Nehmen wir dafür die Geschichte des Deutschen Fußball-Bunds (DFB), der ja aktuell quasi um Kritik bettelt. Der DFB hat seit vielen Jahrzehnten eine Monopol-Stellung inne, die ihn quasi unverzichtbar für die Organisation des Fußballs macht und auch im Grundgesetz durch die verankerte Autonomie des Sports (Art. 9 GG) festgeschrieben ist. Doch bis zur Einrichtung des deutschen Faschismus 1933 befand sich der bürgerlich-konservative Verband in Konkurrenz: Arbeiterfußball fand von ihm unabhängig statt, man hatte durch den Arbeiterturn- und Sportbund (ATSB) einen eigenen Verband mit über 2 Millionen Mitgliedern.

Erst die »Gleichschaltung« durch den deutschen Faschismus ermöglichte es dem DFB, die bis heute bekannte, unangetastete Stellung einzunehmen und schuf die Voraussetzungen, damit der DFB auch in der Bundesrepublik Deutschland quasi unverändert weiterarbeiten konnte. Geholfen haben dürften natürlich auch einige personelle Verbindungen, denn der DFB ist ebenfalls ein Paradebeispiel für die Post-Nazifizierung der BRD: Etliche DFB-Funktionäre bis in die späten 1960er Jahre hinein wiesen eine mit der NSDAP verwobene Vergangenheit auf (Stichwort Peco Bauwens als DFB-Präsident während des »Wunders von Bern«) und hatten gute Kontakte in das Bundeskanzleramt unter Hans Globke. Die Gleichschaltung 1933 darf als wichtigste Vorbedingung der kapitalistischen Erschließung des deutschen Fußballs gelten, denn die Monopolisierung der Fußballorganisiation durch bürgerliche Fußballverbände ist offensichtlich eine innere Notwendigkeit der Organisation des kapitalistischen Fußballs: Kapitalismus im Sport kommt nicht ohne Verbände aus.

»Ideelle Gesamtkapitalisten« unter sich

Das besondere Verhältnis von Fußball und Verbänden zeichnet sich demnach durch eine besondere Organisierung des Sports aus. Uns muss klar sein, dass es den idealtypischen Sport sowieso nicht geben kann. Die von uns in ihn hinein interpretierten Werte und Ideale kommen mal mehr, mal weniger zum Vorschein und sind von den konkreten sozialen Strukturen bedingt, die ihn umgeben und organisieren.

Aber welche Merkmale sind überhaupt konstituierend für Fußballverbände? Interessanterweise ist die grundgesetzlich verankerte Autonomie des Sports und damit auch des DFB eigentlich so nicht ganz zutreffend, denn der Politikwissenschaftler Timm Beichelt schreibt in seinem Buch »Ersatzspielfelder« von einer Halb-Autonomie. Der Staat nimmt Einfluss auf die Sphäre Fußball, egal ob auf kommunaler oder auf Bundesebene. Vermeintliche Fußballthemen werden bisweilen auch auf der Innenminister:innen-Konferenz behandelt und insbesondere die Polizei nimmt starken Einfluss auf die Ausgestaltung des Fußballs. Polizeigewalt bei Auswärtsfahrten, überzogene Polizeikessel, erniedrigende Kontrollen, die »Datei Gewalttäter Sport«: Die Liste ist quasi endlos und zeigt auf, dass auch der Repressionsapparat Polizei ein hohes Interesse in Bezug auf Fußball an den Tag legt. Diese beiden Ebenen lassen sich folglich nicht trennen: Fußball und Staat sind im Kapitalismus miteinander verwoben. Sie gewährleisten in Zusammenarbeit die Organisierung von Fußballspielen und der Staat nimmt mithilfe der Polizei erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung durch die Fans.

Fußballverbände nehmen dabei jedoch durch ihr Monopol zur Organisierung des Fußballs eine Absicherung der Kapitalakkumulation im Fußball vor. Sowohl die FIFA aktuell in Katar (mit geschätzten Einnahmen rund um die 6 Milliarden US-Dollar), als auch der DFB durch seinen Tochterverband der Deutschen Fußball Liga (DFL) organisieren den Imperativ der Profitmaximierung und sind die Agentinnen der Kommerzialisierung: Sie organisieren die Mehrwertaneignung im Fußball. Dass in den Verbänden alle machtvollen Akteure des Fußballs organisiert sind, macht ihre Rolle dadurch nur noch spannender. Denn für die Teilnahme am organisierten Betrieb (egal ob Verein, Spieler*in, Berater oder Unternehmen als Sponsoren) ist eine direkte oder indirekte Ausrichtung nach dem Verband notwendig. Fußballverbände versammeln damit in sich alle Akteure, die von der Mehrwertaneignung profitieren (Vereine, Berater, Unternehmen) oder für die Mehrwerterzielung direkt verantwortlich sind (Spieler). Demnach können Verbände nicht als simpler Block an der Macht des Fußballs bezeichnet werden, sie müssen vielmehr verschiedene Interessen innerhalb ihrer Institution ausgleichen und allgemeine Interessen daraus ableiten. Und woran könnte uns das an dieser Stelle erinnern?

Fußballverbände sehen in ihrer Organisierung wie die kleinen Geschwister des bürgerlichen Staates aus: Sie sind für die Aufrechterhaltung des Systems verantwortlich, die Fußballverbände für die Verwertung des Produkts Profifußballs, der Staat insgesamt für die Organisation der kapitalistischen Gesellschaft. Beide können nicht simplifizierend als »Institutionen des Kapitals« abgestempelt werden (oder doch?), in ihnen prallen verschiedene Interessen aufeinander und schaffen damit die Verhältnisse, die wir vorfinden. Im Fußball wie gesamtgesellschaftlich. Karl Marx und Friedrich Engels begründen mit der materialistischen Staatstheorie einen Ansatz, der feststellen konnte, dass Kapitalismus und die Form Staat einander bedingen. Ähnliches finden wir im Fußball vor. Marx Vergleich vom Staat als Maschinensystem (MEW, Bd. 23, S. 400ff.) kann uns deshalb auch weiterhelfen, um die konkrete Funktionsweise der Fußballverbände zu verstehen. Marx schreibt in seinem Vergleich davon, dass der Staat wie ein Maschinensystem funktioniert, die den Produktionsprozess strukturiert und ihn für die arbeitenden Menschen determiniert. Die einzelne Maschine kann vom Menschen autonom bedient werden, ein Maschinensystem funktioniert autonom und gliedert die umliegenden Arbeitsprozesse nach seinen Bedürfnissen: »(Die) Maschine entwickelt wie der Staat ein Eigenleben, produziert Gesetzmäßigkeiten auch für diejenigen, die die Maschine entworfen haben und bedienen« sagt der Staatstheoretiker Andreas Fisahn dazu. Na, hört sich das nach dem an, wie die Fußballverbände, allen voran die FIFA, aktuell rumeiern?

»Wirtschaftliche Leitplanken setzen«

Der institutionalisierte Fußball geht mit dem Kapitalismus Hand in Hand. Der »marktkonforme Fußball« (C. Bartlau) ist nicht einfach korrumpiert worden. Die kapitalistische Landnahme des Fußballs und seine Kommodifizierung, also sein »Zur-Ware-Werden« fallen nicht vom Himmel, sondern haben konkrete strukturelle Verhältnisse zur Bedingung. Die Herstellung des Monopols zur Organisierung des Fußballs durch bürgerliche Verbände nimmt dementsprechend die wichtigste Hürde des kapitalistischen Fußballs und lässt sich analog zum Gewaltmonopol des Staats erklären: Wir können kaum außerhalb der Verbände organisiert Fußball spielen, wodurch sich die Verbände unentbehrlich machen.

Der Zwangscharakter des institutionalisierten Fußballs zeigt sich überall: Auch Fans, die überhaupt keinen Bock mehr auf Kommerz und korrupte Funktionäre haben und sich dem entziehen wollen, können nicht entfliehen. Ein Beispiel gefällig? Als der Hamburger Sport-Verein Mitte des letzten Jahrzehnts beschloss, seine Profiabteilung auszugliedern und damit die Strukturen kapital-konform zu transformieren und für Investoren attraktiv zu werden, zog die damals einflussreiche Ultra-Gruppierung Chosen Few die Konsequenzen daraus und verabschiedete sich vom eigenen Verein. Stattdessen gründete man den HFC Falke, und befindet sich in den Niederungen der Bezirksligen und finden damit immer noch im verbandsorganisierten Fußball statt. Ausweg? Fehlanzeige.

Gleiches dürfte auch für gänzlich andere Forderungen stehen, die dieser Tage von vielen linksliberalen Fußballfans ausgehen: Rücktritt des unsäglichen FIFA-Präsidenten Infantino oder eine stärkere Haltung des DFB gegenüber der FIFA. Solche Ansätze verfehlen, trotz sympathischer Ausrichtung auf dem ersten Blick, ihr Ziel. Der kommerzialisierte Fußball mag ein Produkt seiner Zeit sein, aber er ist kein natürliches Gebilde, wo jeder Kampf automatisch fehlschlägt und nichts ändert. Fußball lässt sich ändern, wenn wir uns damit beschäftigen, wie die heutigen Verhältnisse überhaupt entstehen konnten. Und die Verbindung von Fußball und Kapitalismus macht deutlich: Der Kommerz-Fußball funktioniert nur als institutionalisierte Variante mit Fußballverbänden. Die Kapitalakkumulation ist im Fußball durch die Verbände organisiert. So wundert es auch nicht, dass der Geschäftsführer des Bundesliga-Vereins FC Augsburg noch während der ersten Corona-Welle davon sprach, dass die Liga „wirtschaftliche Leitplanken“ setzen müsse. Damit zielte er eigentlich auf die verschiedenen Fraktionsinteressen der Profivereine innerhalb der DFL ab, doch das Bild der Leitplanken verdeutlicht uns, wohin die Reise gehen muss: Indem wir die Leitplanken des kapitalistischen Fußballs infrage stellen, schaffen wir uns Auswege.

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Hannah Hollemans Buch über die „Dust Bowl“, eine der größten Umweltkatastrophen der jüngeren Geschichte, beginnt mit einer Erinnerung: Alles sei schlimmer und schlimmer geworden, bezeugt Melt White, einer der Überlebenden. Der Staub verdunkelte den Tag, alles wurde schwarz. Die Sandstürme zerstörten die Lungen der Kinder. Eine Hölle auf Erden, „viele Menschen starben“ und „einige dachten, es sei ein Eingriff Gottes, eine Strafe.“ Etwa 7500 Menschen starben, Hunderttausende flohen. Die in den 1930er-Jahren unter dem Namen „Dust Bowl“, auf Deutsch etwa Staubschüssel, Verödung und Austrocknung der Great Plains in den USA und Kanada wurde zu einem Synonym für eine Umweltkatastrophe schlechthin. John Steinbeck schrieb über ihre Auswirkungen Romane, Woodie Guthrie besang sie.

Die historische „Dust Bowl“ ist einige Jahrzehnte vorbei. Aber der Fall bleibt exemplarisch, nicht nur, weil „Dustbowlifizierung“, also die menschengemachte Verödung von Böden und ganzen Regionen, nicht aufgehört hat, ein Problem zu sein. Die historische „Dust Bowl“ zeigt ein paar Aspekte ganz deutlich: Eingebettet war sie in eine Phase des (weißen) Siedlerkolonialismus, ihr ging die Vertreibung der indigenen Bevölkerung vorher. Die Ursache der Katastrophe liegt in einer Wirtschaftsweise, die so schnell wie möglich so viel wie möglich aus der Erde rausholen will. Cash, Cash, Cash – nach uns kommt die Sintflut.

Und, so Hannah Holleman, in den Jahrzehnten vor der Katastrophe häuften sich sowohl Warnungen vor der Bodenerosion wie es zugleich „zureichendes Wissen und technisches Know-How gab, um die wachsende Krise anzugehen“. Trotzdem passierte sie. Mehr noch: Seit damals hat sich an den verheerenden Auswirkungen kapitalistischer Agrikultur nichts geändert. Man verließ nie jenen Weg, der da heißt: Business as usual.

I

Die Nacht vom 2. auf den 3. September 1984, Slums in der indischen Provinzhauptstadt Bhopal. Familien sitzen in ihren selbstgebauten Hütten, diejenigen, die man später „Überlebende“ nennen wird. Ihre Zeugnisse wird die Autorin Suuroopa Mukherjee viel später zusammentragen. „Was verbrennst du, dass es mir die Kehle zuschnürt“, wird sich eine Überlebende an die Frage eines Mannes erinnern. „Mir ist plötzlich sehr heiß geworden“, wird sich ein Rikscha-Fahrer erinnern. Und dass er dann nachhause ging, sich hinlegte, um 2:30 aufwachte, als Rauch unter seiner Tür hindurch in den Raum kroch. „Da fing das Husten an“.

Konservativen Schätzungen zufolge starben in dieser Nacht und in darauffolgenden Tagen in Bhopal etwa 8000 Menschen bei einem „Unfall“ in einer riesigen Chemiefabrik des US-Konzerns Union Carbide Corporation (UCC). 40 Tonnen giftiges Gas traten aus, Hunderttausende leiden unter Spätfolgen der Verseuchung – noch Generationen später. Bis heute ist der Ort kontaminiert und niemand fühlt sich verantwortlich, die Verschmutzungen zu beseitigen. Die Ursachen auch hier, in den Worten von Greenpeace: „Die Hauptursache für das Desaster lag in der Unternehmenspolitik begründet, ohne Rücksicht auf die Menschen Profit zu machen.“ Die Katastrophe war keine der Technik. Sondern des Geschäftsmodells.

Union Carbide Corporation gehörte dann zu Dow Chemical, also jenem Konzern, der Agent Orange für den Vietnamkrieg herstellte – mit unaussprechlichen Folgen für Mensch und Natur in dem vom Imperialismus angegriffenen Land. Dow Chemical – nunmehr nach einer Fusion 2017 als DowDupont – hat heute natürlich ein „Sustainability“ – Department und man kann sich auf der Homepage des Chemieriesen neben grünen Bildchen von Bäumen durchlesen, wie der Konzern führend in Nachhaltigkeit werden will und wie gut er jetzt schon der Welt hilft.

Das Greenwashing-Gesabbel hat das Milliardenunternehmen natürlich nicht davon abgehalten, weiter die Umwelt zu zerstören, wofür Dow dann auch auf Nummer 1 der aktuellen Toxic-100-Liste der größten Luftverpester rangiert.

Auch nach Bhopal hieß es also: Business as usual.

II

Noch jüngeren Datums ist ein anderes, ebenfalls global rezipiertes Mega-Event der Umweltzerstörung: Die Ölpest im mexikanischen Golf von 2010. Die meisten werden sich an die schockierenden Bilder der brennenden Plattform und der mit Öl überzogenen Pelikane erinnern; und an die Schlagzeilen, die von der größten Katastrophe dieser Art sprachen. Auch hier weiß man: Die Arbeiter*innen der „Deepwater Horizon“ wussten, dass mit der Ölplattform etwas nicht stimmt. Was tat die Betreiberfirma? Man ließ einfach die Alarme und Sicherheitsmechanismen abstellen, damit es auf dem Weg in den Abgrund nicht piepst oder blinkt.

Die Folgen der Katastrophe für die Region sind bis heute dramatisch. Und was passierte? Die Muttergesellschaft der Betreiberfirma, Britisch Petroleum (BP), musste Schadenersatz zahlen, entließ den zuständigen CEO Anthony Bryan Hayward – mit 1,5 Millionen Dollar Abfindung und 17 Millionen Dollar Pension. Die Beseitigung der Schäden erfolgte, wie man es von einer Firma wie BP erwarten würde. Rund 1 Million Liter einer Chemikalie – Corexit 9500 – wurde auf das Öl gesprüht, um es unter die Meeresoberfläche zu drücken. Im Aufsichtsrat der Firma, die Corexit herstellt, sitzt auch BP selbst. Corexit ist selbst giftig, in Großbritannien ist es verboten. Anwohner*innen, interviewt in dem Film „Die Grüne Lüge“ von Werner Boote und Kathrin Hartmann, beschreiben die „Reinigung“ von BP als beinahe schädlicher als die Ölkatastrophe selbst.

BP sieht das anders. Man klopfte sich auf die Schulter, weil man so selbstlos und schnell reagiert hatte. Und wie jeder andere Multi dieser Größe, setzt man auf gelegentliches „Greenwashing“, betont die eigenen Leistungen bei der Förderung „alternativer Energien“ und beteuert, Schritt für Schritt weg vom Öl zu wollen. Auch BP veröffentlicht brav seine „Sustainability“-Reports mit irgendwelchem Blabla. Und auch BP ist auf der Toxic-100-Liste, auf Platz 14.

So dramatisch Deep-Water-Horizon war, und so viele sich auch den Kinofilm dazu reingezogen haben: Für BP war danach Business as usual.

III

In ihrem Buch über die „Dust Bowl“ schreibt Hannah Holleman, sichtlich verwundert: „Sieht man sich die Grauen und die menschliche Tragödie der 1930er-Dust-Bowl an, möchte man meinen, unsere Gesellschaft würde alle ihre Kräfte zusammennehmen, um zu verhindern, dass eine solche ökologische und soziale Verheerung sich wiederholt. Und doch wiederholen wir nicht nur die Fehler der Vergangenheit in viel größerem Rahmen, sondern diejenigen, die mit der Macht und dem Kapital ausgestattet sind, um es zu können, verfeinern die Methoden ökologischer Zerstörung und sozialer Verelendung weit über die Vorstellungskraft von Dust-Bowl-Überlebenden wie Melt White hinaus.“

Warum eigentlich? Warum wiederholen sich Generation um Generation vorhersehbare ökologische und soziale Desaster? Und was könnten wir tun, damit das nicht mehr passiert? Eines der fundamentalen Probleme in der Ökologiebewegung ist, dass uns jeden Tag, in Schule, Universitäten, Medien, Filmen, Büchern, durch Expert*innen und Politiker*innen die Umkehrung einer einfachen Wahrheit eingeredet wird. Das Unmögliche – nämlich die Folgen des Kapitalismus mit kapitalistischen Mitteln zu beseitigen – wird als einzig „realistische“ Möglichkeit präsentiert. Und das einzig für das Überleben der Menschheit Realistische – nämlich die Überwindung des Kapitalismus – wird im besten Fall als jugendliche Spinnerei, im schlimmsten Fall als Weg in die Katastrophe diffamiert.

Es sind die Auswirkungen dieses ideologischen Angriffs, der dann dazu führt, dass auch engagierte Aktivist*innen dem Irrtum erliegen, Antikapitalismus sei nicht notwendig, um die Welt zu retten. Als Jakob Augstein kürzlich die prominente Fridays-For-Future-Sprecherin Luisa Neubauer fragte, wie sie´s mit dem Kapitalismus hält, antwortete sie: „Ideologische Kämpfe entzweien uns und führen zu einer Starre. Ich fände es nice, würden wir mal besprechen, was in den nächsten drei Jahren passieren sollte.“ Ihre These ist: Man kann die drohende Menschheitskatastrophe abwenden, wenn man technisch und durch Gesetzesnovellen eingreift. Und das könne man unter den jetzigen Macht- und Produktionsverhältnissen machen. Wenn man dann auch noch gegen den Kapitalismus sein will, okay, aber das eine und das andere hat für sie offenbar nichts miteinander zu tun.

IV

Aber das Gegenteil ist der Fall. Unrealistisch sind nicht die Rufe nach der Überwindung des Kapitalismus. Unrealistisch ist es, zu glauben, die Katastrophe ließe sich abwenden, wenn wir auf „Einsicht“ politischer Entscheidungsträger*innen und „Verantwortung“ von Konzernen setzen. Der Kapitalismus kennt keine „Beschränkung“ oder „Zähmung“, die ihn davon abhalten würde, zum Zwecke der Akkumulation von Kapital Mensch und Natur zu vernutzen. Wird ein Bereich dieser schrankenlosen Anhäufung unattraktiver – aus welchen Gründen auch immer – wandert Kapital zwar in einen anderen, aber nur, weil diese Wanderungsbewegung „grün“ angemalt wird, ändert sich nichts am Wesen des Mensch-Natur-Verhältnisses im Kapitalismus. Und das hat sich seit seiner Durchsetzung nicht verändert. Wie Karl Marx schrieb, entwickelt die kapitalistische Produktion zwar Technik und Kombination des Produktionsprozesses, aber nur „indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“

Anders gesagt: Hätte Joe Kaeser anstatt die Siemens-Beteiligung an der Kohle-Mine in Adani durchzuziehen stattdessen in eine Lithium-Mine für Elektroautobatterien im chilenischen Antofagasta investiert, wären wir der „Weltrettung“ auch keinen Schritt näher gekommen. Konzerne haben ein Ziel: Profit. Und sie haben in den vergangenen Jahrzehnten und manche in Jahrhunderten Methoden und Techniken entwickelt, um den zu erzielen. Verschließt sich ihnen ein Geschäftsfeld, ziehen sie in ein anderes. Drückt man ihnen Emissionspapiere auf, bereichern sie sich eben am Emissionshandel.

Ihren Zweck, Profit zu machen, bemänteln Konzerne immer schon mit den hübschesten Phrasen. War es in Zeiten einer kämpferischen Arbeiter*innenbewegung en vogue zu betonen, wie fair man seine Untergebenen behandelt und wie viele Arbeitsplätze man schafft, so passt zu klima- und umweltbewegteren Zeiten eben ein anderer Diskurs: Nachhaltigkeit, „Grüne“ Technologien, Umweltfreundlichkeit in der entsprechenden Ästhetik.

V

Der Kapitalismus ist letztlich mehr als eine bestimmte Weise zu wirtschaften. Der kurdische Revolutionär Abdullah Öcalan beschreibt ihn als das jüngste Entwicklungsstadium eines ganzen Zivilisationsstrangs, der auf der endlosen Anhäufung von Mehrprodukt/Mehrwert sowie der Konzentration gesellschaftlicher Macht beruht. Seine Überwindung ist ein universeller Prozess, der alle gesellschaftlichen Bereiche einschließt: Von patriarchalem Verhalten über das vorherrschende szientistische Wissenschaftsparadigma bis zu den defizitären Formen bürgerlicher „Demokratie“, vom Privateigentum an den Produktionsmitteln über den Finanzsektor bis zur Staatlichkeit und ihrem Grenzregime.

Das ist eine Mammutaufgabe und deshalb schüchtert es ein. Man glaubt, es wäre einfacher und sicherer, erst mal ne Nummer kleiner aufzutischen. Häufig tendiert man dazu, wenn man eines der Probleme identifiziert hat, das der Kapitalismus aufwirft, zu sagen: Lösen wir erst mal das. Alles auf einmal ist ja unrealistisch. Aktuell hieße das dann: Sorgen wir erstmal für die Reduktion von Treibhausgasen, den Rest können wir auch danach machen, denn hier drängt es. Eine solche Herangehensweise tut so, als würde sie „realistisch“ sein, weil sie einen überschaubaren Themenbereich angeht.

Aber wenn man den tausendmal gesagten Satz, dass es „system change“ braucht, um im „climate change“ nicht abzusaufen, ernst nimmt, dann ist das kleinteilige Flicken mit der vom Kapitalismus gezimmerten Nadel genauer betrachtet eben doch unrealistischer. Am Versuch der Überwindung des Kapitalismus kann man scheitern; am Versuch der Fortsetzung des Kapitalismus wird man definitiv scheitern.

# Titelbild: Szene aus der “Dust Bowl”, wikipedia

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Seit sich in der Bundesrepublik eine Debatte darüber entwickelt hat, jener Schicht von Couponschneidern, die von der Arbeit anderer und der Zerstörung der Natur in Saus und Braus leben, die Grundlagen ihrer gesellschaftlichen Macht zu entziehen, wurde im deutschen Journalismus ein altes neues Genre wiederbelebt: Das Stiefellecken bei Multimilliardären.

Im Wochentakt erklären uns Experten (hört, hört!), neoliberale Politikerdarsteller und neuerdings auch die Kaviarfresser selbst, warum schon Diskussionen um Enteignungen wirklich gar nicht gehen. Es wird über den „Hass“ schwadroniert, der den wehrlosen Multimilliardären entgegenschlägt. Dabei wollen sie doch nur unser aller Bestes! Und überhaupt gebe es ja ohne sie nichts, denn bekanntlicherweise ist es ja René Benko, der eigenhändig Häuser errichtet – und nicht unterbezahlte rumänische oder ostdeutsche Bauarbeiter; und es ist Stefan Persson, der Kleidung herstellt – und nicht halbtot geschundene Näherinnen samt ihrer Kinder in Bangladesch; und klar, es ist der gute alte Dieter Schwarz, der die billigen Erdbeeren für unsere sommerlichen Obstschalen erntet – und nicht Migranten mit einem Tagelohn von unter einem Euro auf spanischen Sklavenplantagen.

Dass der ehrbare Berufsstand der Wirtschaftsjournalisten nicht in der Lage ist, zu verstehen, wo aktuell der Reichtum herkommt, geschenkt. Aber dem Redaktör ist offenbar nichts zu schwör. Und so schaffen es die fleißigen Federn sogar, über den Ursprung der Kohle vieler deutscher Monopolistenclans ein Auge zuzudrücken. Oder auch zwei.

So brachte das manager-magazin in seiner aktuellen Ausgabe eine einfühlsame Story über die zwei Dynastieerben Susanne Klatten und Stefan Quandt, denen BMW, Altana, SGL Carbon und ein paar andere Unternehmen in die Wiege gelegt wurde. „Viele Menschen denken, das Geld fliegt einem einfach zu“, steht auf dem Cover des Softpornos für Möchtegern- und wirklich Reiche. Über der Headline thronen die beiden zum Herrschen Geborenen und versuchen, ihre gepflegten Gesichter zu etwas zu bewegen, was wohl ein Lächeln sein soll.

Man möchte demjenigen, der dieses Cover designed hat, ins Gesicht schreien: Was ist falsch mit Dir, Alter? Wie kommst du auf die Idee, man könne zwei Ausbeuter, deren Erbe wortwörtlich aus dem firmeneigenen Konzentrationslager stammt, so abbilden? Da, wo der Layouter noch schlichtweg mit der Entfremdung seiner Arbeit argumentieren kann, gibt es für den Redakteur kaum noch eine Ausrede. Der lässt in seiner Zusammenfassung des Interviews (und etwas anderes kennt der Autor dieser Zeilen nicht, weil ich bin ja nicht völlig durch und kaufe mir für neun Euro die Klatten-Quandt-Story) die beiden Erben nochmal aus der vollen Tiefe ihrer ökonomischen Kenntnisse schöpfen: „Wir wissen, dass Umverteilung noch nie funktioniert hat“, sagt Frau Klatten.

Die zwei, drei logischen Dinge, die man dazuschreiben könnte, kennt der Wirtschaftsprofi vom manager-magazin natürlich nicht. Erstens: Klar, für euch würde eine Umverteilung von oben nach unten nicht funktionieren, weil euer gottverdammter Reichtum auf der Armut anderer fußt. Und zweitens: Andere Arten von „Umverteilung“ betreibt ihr jeden Tag, indem ihr Mehrwert abschöpft. Wem das noch immer nicht einleuchtet, der kann sich‘s drittens historisch noch eindrucksvoller verdeutlichen: Ein Teil des Reichtums dieser Leute kommt aus Arisierungen, also der antisemitisch-rassentheoretischen Variante einer Umverteilung.

Dass das den hochgebildeten Alphajournalisten vom manager-magazin nicht auffällt, ist zwar ärgerlich. Aber wir müssen es auch von der positiven Seite sehen: So können wir uns wenigstens weiterhin an den großformatigen BMW-Anzeigen in den Blättern der Spiegel-Gruppe, zu der das Machwerk gehört, erfreuen und hin und wieder braust vor den superinvestigativen Videobeiträgen auf Spiegel-Online auch weiterhin ein hübsches Auto durch die Werbeeinschaltung.

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Mehr als 4,4 Millionen Kinder in Deutschland wachsen in Armut auf, 14 Millionen Menschen sind armutsgefährdet – viele darunter trotz Vollzeitarbeit. Hunderttausende können ihre Mieten in den Metropolen nicht mehr bezahlen; und diejenigen, die noch über dem Minimum leben, verdienen sich ihren Lebensunterhalt oft im Schweiße ihres Angesichts und weit entfernt von den Träumen, die sie sich vielleicht irgendwann einmal für ihre Zukunft ausgemalt hatten. So sieht die Realität in einem der reichsten Länder der Erde aus. Jenseits der Zonen relativen Wohlstands hat der Kapitalismus die Welt längst in eine Mad-Max-Kulisse verwandelt, in der Krieg, Ressourcenmangel und Hunger jedes Jahr Millionen Menschenleben auslöschen.

Das ist die Welt, in der wir leben. Wir da unten. Dann gibt es da aber noch eine andere Welt. In dieser anderen Welt leben Leute wie Verena Bahlsen.

Bahlsen ist 25 und stinkreich. Von Beruf ist sie Tochter. In der Debatte um Kevin Kühnerts Versuch, die Sozialdemokratie wiederzubeleben, sprach sie kürzlich als Gegenpart des Jung-SPDlers irgendwelches für sich genommen belangloses Zeug. „Ich bin Kapitalistin“, sagt sie da. Und: „Mir gehört ein Viertel von Bahlsen, das ist toll. Ich will mir ’ne Segel-Yacht kaufen und solche Sachen“, sagt die Tochter ihres Vaters.

Das ist trivial. Aber es ist wichtig, dass Leute wie Bahlsen überhaupt in der Öffentlichkeit auftauchen. Denn ganz oben ist man kamera- und interviewscheu.

Verirren sich die Töchter und Söhne der wirklich kriminellen Clans dann doch einmal in die Lifestyle-Seiten der Boulevard-Blätter oder werden von neoliberalen Wirtschaftsjournalisten porträtiert, ist der Tenor meistens: Guckt mal, was die alles haben. So viel Bling-Bling und Boote und Autos und schau, der hat nen Hummer auf dem Teller. Die Reichen sind Vorbilder. Eifert ihnen nach, aber Gottseibeiuns, nehmt ihnen nichts weg! Denn das ist dann eine Neiddebatte, mahnen die selben Schmutzmagazine, die noch jedem Geflüchteten ohne Pass die Nike-Schuhe madig machten.

Der vernünftige Kern jeder Neiddebatte aber ist die Frage: Warum sind wenige so unfassbar reich und so viele so arm? Wir müssen darüber reden, woher denn eigentlich der Reichtum dieser Leute kommt. Wer produziert was und wo? Und wer verdient wie daran?

Und wenn wir dann schon dabei sind, können wir auch über die deutsche Besonderheit in der Kapitalistenklasse reden: Viele der wohlhabendsten Ausbeuter kommen bis heute aus alten kapitalistischen Familienclans, die irgendwann im ausgehenden 19. oder beginnenden 20. Jahrhundert Kapital angehäuft und es zwei Weltkriege hindurch vermehrt haben. Auch Bahlsen teilt diese Geschichte: Segel-Verenas Vorfahren ließen während des Hitler-Faschismus Zwangsarbeiter für sich schuften.

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