In der deutschen Linken über Israel und Palästina zu sprechen, war stets schwierig. Wer sich positiniert, muss mit Angriffen rechnen, bei denen es lange nicht mehr um sachliche Auseinandersetzung geht. Diese Erfahrung macht auch die linke israelische Diaspora in Deutschland. Peter Schaber hat mit Yossi Bartal ausführlich über die ganze Palette umstrittener Themen diskutiert, Teil I könnt ihr heute lesen, Teil II erscheint morgen früh.
Yossi Bartal lebt in Berlin und ist in queeren und antirassistischen Zusammenhängen aktiv.
Der äußerliche Anlass dafür, dass wir heute einen Kaffee miteinander trinken und das Gespräch aufnehmen, ist ja, dass Du kürzlich – wieder einmal, muss man sagen – von deutschen Linken auf Twitter wegen Deiner pro-palästinensischen Positionen als „Antisemit“ bezeichnet wurdest. Mich wundert es immer wieder, wie leicht einigen so ein Vorwurf über die Lippen geht. Als ich mit 14 oder so Kommunist wurde, war einer der Faktoren dafür die Erinnerung an die Shoa und der Wunsch, so etwas solle nie wieder geschehen. Und der Vorwurf „Antisemit“ erschien mir aus der Perspektive stets als ein sehr schwerwiegender, weil es ja nicht schlimmeres gibt, als einer zu sein. Aber in dieser Debatte wird er verwendet, als hätte der Begriff gar keine ernstzunehmende Bedeutung …
Da sind ein paar Punkte drin, bei denen man ansetzen kann. Also zum einen: Die Shoa und Antisemitismus gleichzusetzen, woraus dann folgt, Antisemitismus ist nur bei Nazis zu finden. Da würde ich den Vorwurf zunächst in Schutz nehmen: Rassismus, Antisemitismus sind ja keine Phänomene, die irgendwie begrenzt sind auf Rechtsextremismus. Dass die Analyse auf verschiedene Formen von Antisemitismus – von links, rechts, oben, unten – abzielt, ist ja eigentlich für eine Gesellschaftskritik ganz richtig und wichtig. Man muss ja kein Nazi-Glatzkopf sein, um antisemitisch zu denken oder zu agieren. Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass die rechten Varianten von Rassismus und Antisemitismus, per Definition dazu neigen, den „Anderen“ gewalttätig zu bekämpfen oder sogar zu vernichten. Deswegen müssen wir Wege finden, Rassismus, Homophobie, Sexismus usw. nicht nur unter Rechten zu thematisieren, ohne gleichzeitig faschistische Politik zu verharmlosen. Mit der Inflation des Antisemitismus-Vorwurfs, vor allem wie er in Deutschland betätigt wird, wird aber leider genau das gemacht.
Solche Antisemitismus-Vorwürfe gibt es aber nicht nur in Deutschland und dabei scheint Israel für viele der zentrale Punkt geworden zu sein, an dem sich Antisemitismus heutzutage manifestiert.
In der Tat. Der Begriff „Israel“ als Bezeichnung für einen Staat, ein Volk und zudem noch für das „Heilige Land“ – all diese Topoi haben in unserer christlich geprägten Gesellschaft eine sehr zentrale Funktion im Diskurs. Das heißt, es gibt immer eine Art Überbeschäftigung mit dem Thema. Das bleibt auch heute so, selbst wenn nicht alle mehr die Bibel zuhause liegen haben. In allen westlichen Zeitungen wird unglaublich viel über Israel berichtet. Jeder Deutsche weiß, wie der israelische Premier heißt – und oft auch noch die Namen vieler anderer Politiker. Wenn man dieselben Leute aber fragt, wie heißt der polnische Premier, also der eines Nachbarlandes dessen Bevölkerung vier mal größer ist als Israel, wissen sie das oft nicht.
Würdest du dieses Interesse pauschal als antisemitisch deuten?
Nein, aber dass dieses Interesse außerordentlich ist, ist ein Fakt. Und natürlich hat das nicht nur mit der Besatzungssituation oder mit den tollen Partys in Tel-Aviv was zu tun, sondern auch mit einer bestimmte historische Haltung gegenüber Juden. Und dann ist die Frage, was es bedeutet. Wann ist das antisemitisch, wann ist das philosemitisch, wann ist es einfach ein bisschen zu viel. Was der herrschende Antisemitismusdiskurs macht, ist dann einfach zu sagen: Alles was kritisch ist, alles, was negativ über Israel berichtet, ist zu viel, damit obsessiv und ist deshalb antisemitisch. Aber alles, was positiv ist, wird als begrüßenswert angesehen. Das finde ich heuchlerisch.
Da sind wir ja dann schon bei einem der Momente der offiziellen Definition des israelbezogenen Antisemitismus – den „doppelten Standards“. Die gibt es doch dann offenkundig …
Teilweise, aber was heißt das? Dieser Begriff der „doppelten Standards“ will sagen, dass Israel zu viel kritisiert wird, und dass sich darin Antisemitismus zeige. Dieses Argument ist erstmal nichts weiteres als Whataboutism. Es wird nicht gefragt, ob die Kritik stimmt oder nicht, sondern ob man das Gleiche auch an anderen Länder kritisiert. Das ist total gaga – als müsse ich persönlich vorweisen, wie viele Staaten ich heute schon kritisiert habe, bevor ich etwas über die israelische Besatzung sagen kann. Das kann man selbst als einen doppeltes Standard betrachten. Aber nichtsdestotrotz, irgendwas ist schon dran.
Klar, wenn irgendwelche Bürgerlichen alle anderen Staaten super finden und ausgerechnet Israel abschaffen wollen, dann ist das wahrscheinlich antisemitisch. Aber wenn du als Linker sagst: Ich will alle Staaten abschaffen, aber Israel find´ ich voll super – da spiegelt sich ja auch eine schräge Obsession.
Das sehe ich auch so: wenn ich schon irgendwo in Deutschland Doppelte Standards finde, ist das bei Linken, die die israelische Politik verteidigen. Die israelische Politik wird in der deutschen Öffentlichkeit mit viel mehr Leidenschaft in Schutz genommen, als die Besatzungspolitik der Türkei oder sogar den Afghanistan-Krieg, wo deutsche Soldaten stationiert sind. Damit wird klar – das Sprechen über Israel ist nicht normal. Und es kann auch nicht normal sein.
Wieso? Ich würde sagen, dass wir versucht haben, das tatsächlich so zu machen. Also zu sagen: Wenn wir uns einen bürgerlichen Staat anschauen, dann hat das zunächst nichts damit zu tun, ob der im heiligen Land liegt oder ob er sich als jüdischer Staat versteht. Sondern wir legen dieselben Kriterien an, die wir eben an bürgerliche Staaten anlegen, als Leute, die keine Fans von denen im Allgemeinen sind.
Ich finde den Versuch, ganz sachlich zu bleiben und zu sagen: wir beurteilen die Situation in Israel-Palästina wie in jedem anderen Land, richtig und lobenswert. Das ist eine gute Motivation und ich würde das unterstützen. Aber die Diskussion im Ganzen zu versachlichen, ist zum Scheitern verurteilt.
Warum eigentlich?
Die ganzen Begriffe, die da in dieser Debatte mitschwingen – Existenzrecht, Staatsräson, die Antisemitismusdefinitionen – haben alle irgendwie etwas Theologisches. Sie haben keine objektive Bedeutung. In Deutschland sprechen wir ja nicht von „Selbstbestimmungsrecht“ – ein klares völkerrechtliches Konzept – , sondern vom „Existenzrecht des Jüdischen Staates“ – das hat etwas Religiöses. Oder die „Solidarität mit Israel“ – da vermischt sich der Bezug auf den Staat damit, dass „Israel“ noch ein Name für Juden generell ist. Das alles wird so miteinander verschmolzen.
Und wegen dieser Gemengelage ist das Sprechen über Israel so schwierig. Es schwingt immer etwas Biblisches, etwas vom Holocaust, etwas aus der europäischen Geschichte der Jüdinnen und Juden mit. Und das alles zu trennen, ist nicht einfach . Es bleibt ein Minenfeld. 2500 Jahre Judentum haben eine so „reiche“ und widersprüchliche Geschichte an feindlichen Stereotypen hervorgebracht, dass man fast jede Kritik, wenn man will, in einen antisemitischen Kontext setzen kann. Und das wird sehr oft zynisch instrumentalisiert, auch in Fällen wo eindeutig ist, dass bestimmte Aussagen klar aus einer menschenrechtlichen Motivation heraus getätigt werden.
Ein Minenfeld sagst du, aber außerhalb dieser diskursiven Schränke leben tatsächliche Menschen, die Palästinenser*innen, die aufgrund der israelischen Politik unter miserablen Bedingungen zu leiden haben?
Ja, und deswegen müssen wir uns damit zu konfrontieren und können nicht darauf verzichten, die Zustände in Israel-Palästina zu kritisieren. Noch Schlimmer – das israelische Modell einer repressiven „ethnischen Demokratie“ wird weltweit immer populärer. Aber wie kann diese Debatte fruchtbar sein? Ich würde sagen, was du gesagt hast – „normale“ Staatskritik, Kolonialismuskritik – das stimmt alles, da glaube ich auch, dass es die richtige Herangehensweise ist. Aber wir müssen auch anerkennen -in diesem Feld können sie nie völlig neutral wirken. Und gerade auch für Deutsche. Ich meine, wenn du sagtest, du kamst zum Antifaschismus aus der Ablehnung des Holocaust, dann beschreibt das ja die Erfahrung von vielen hier.
Wir müssen aber analysieren welche Rolle diese Bezugnahme auf den Holocaust für Deutschland, den deutschen Nationalismus heute spielt. Das „neue“ Deutschland legitimiert sich ja geradezu daraus, zu behaupten, man habe aus dem Holocaust „gelernt“ und habe jetzt den Auftrag, ein zweites Auschwitz zu verhindern. Und die Verteidigung Israels wird da zu einem wichtigen Element der deutschen Staatsräson. Der neue deutsche Nationalismus legitimiert sich so selbst: Man kann wieder stolz Deutscher sein, weil Deutschland an der Seite Israels steht. Deutschland steht in dieser Erzählung für Frieden in der Welt, gegen die bösen Islamisten, für einen zivilisatorischen Auftrag. Und diese Erzählung hat ja ihre Funktion. Wenn du irgendeinen normalen Hipster in Neukölln fragst: Willst du für Deutschland sterben? Der wird nein sagen. Wenn du ihn fragst: Willst du für das Existenzrecht Israels dein Leben geben, dann wird er anders reagieren. Für das Klientel von Grünen und SPD ist diese Erzählung wichtig, es ist eine Art, Deutschland neu zu formieren. Und natürlich: Ein Angriff auf Israel ist in diesem Kontext auch ein Angriff auf das deutsche Mainstreamselbstbild. Ich betrachte daher meine sogenannte „Israelkritik“ hierzulande in erster Stelle als Deutschlandkritik.
Du sprichst hier über eine Funktion, die die Bezugnahme auf Jüdinnen oder der Staat Israel für Deutschland hat – das hat ja eine lange Geschichte.
Ganz genau. Die Geschichte der Juden in Europa als Minderheit hatte immer eine bestimmte Funktion für die Mehrheitsgesellschaft. Sie war hunderte Jahre lang dadurch bestimmt, dass man den Juden so eine Hilfsfunktion für den Feudalismus, dann den Kapitalismus zugewiesen hat, aber so, dass man zugleich mit dem Finger auf sie zeigen konnte, wenn etwas schief gelaufen ist. Das findet sich immer noch bei denen, die auf Israel als den „ganz bösen“ Kolonialismus schauen, aber etwa die eigene Kolonialgeschichte nicht sehen wollen. Auch wenn das zugegeben eher ein Randphänomen ist in den deutschen Debatten.
Die weiter verbreitete Erzählung ist ja, dass Israel doch ein ganz toller demokratischer Rechtsstaat wäre. Was natürlich Palästinenser*innen insbesondere als fanatische, hasserfüllte und halb verrückte Subjekte dastehen ließ. Und das betrachte ich tatsächlich als die primäre Funktion von Israel im deutschen Diskurs, als ein Ort wo Rassismus, vor allem gegen Muslime, legitimiert wird. Alleine die Existenz von Palästinenser*innen ist eine große Störung für diesen nationalen Narrativ Deutschlands. Und jetzt mit der geplanten Annexion, wo allen klar wird, dass Israel immer mehr zu einem Apartheidsstaat wird, muss man sich ernstlich fragen, was sagt eigentlich diese Staatsräson Deutschlands über den hiesigen Umgang mit Rassismus und Imperialismus.
Du hast jetzt von Israel als einem „Apartheidsstaat“ gesprochen. Aus Perspektive der, ich sag mal, „linken“ Israelfans ist das antisemitisch, weil es Israel dämonisiert..
Klar, aber auf den Apartheid-Begriff, der eine präzise Definition hat, bestehe ich trotzdem. Der Begriff „Dämonisierung“ hingegen kann keiner richtig definieren und der Vorwurf ist zumeist einfach Blödsinn. So wie insgesamt der sogenannte „3-D Test für Antisemitismus“, der angeblich zwischen legitimer Kritik an Israel und Antisemitismus unterscheiden sollte. Abgesehen davon, dass dieser „Test“ von einem rechtstextremen israelischen Politiker entworfen wurde, ist er einfach sehr dumm. Und das wird dann auch von radikalen Linken aufgegriffen. Das liest man dann in der Graswurzelrevolution. Jedes „D“ ist einfach falsch. Das könnte man nie auf einen anderen Staat anwenden.
Ich meine, „Dämonisierung“? Was „dämonisieren“ wir denn als Linke nicht, wenn wir dagegen sind? Oder „Delegetimierung“ des Staates Israel. Was bedeutet das denn? Es bedeutet, nicht damit einverstanden zu sein, dass ein Staat sich nach Rasse oder Ethnie definiert. Darum geht es. Die befürchten dann die „Zerstörung Israels“, aber darum geht es nicht, mal abgesehen davon, dass es auch gar nicht zerstört werden kann. Das ist diese Mär, dass Israel so existenziell bedroht wäre. Israel ist eine Atomwaffenmacht und keine arabische Armee könnte militärisch auch nur einen Zentimeter von israelischem Territorium einnehmen. Klar gibt es eine Bedrohung, es gibt Milizen wie Hizbollah, aber das ist keine faktische Bedrohung der Existenz Israels.
Wenn man also als Linke*r Nationalstaaten im Allgemein „delegitimiert“, warum nicht im Fall Israels?
Das ist genau der Trick dieses Tests – bei „Delegitimierung“ schwingt immer mit: Der Staat wird abgeschafft, alle werden ermordet, es kommt das zweite Auschwitz. Das ist immer die Sprache, die benutzt wird. Aber darum geht es nicht. Im israelischen Parlament sitzt eine Partei, die ich unterstütze, die „Gemeinsame Liste“ – ein bisschen wie die HDP in der Türkei. Und die vertreten auch eine Position, die in diesem Delegitimierungsdiskurs als „Zerstörung des Staates Israel“ gilt, aber was damit gemeint ist, ist: Gleiche Rechte für alle. Das ist für mich so schockierend: Wie kann es sein, dass es „verboten“ ist, zu sagen: ich will kein religiöses oder ethnisches Fundament dieses Staates?
Diese Kritik ist ja universell. Und du meintest ja: Wie können dauernd diese Vorwürfe kommen, wenn man über Israel spricht, obwohl man genau das Gleiche über alle Staaten sagt? Das liegt an so einer Fetischisierung der Idee eines jüdischen Staates, als einer Art Traum, als eines Schutzortes. Aber sie verstehen nicht, dass dieser Staat so gar nicht funktioniert.
So funktioniert ja generell kein Staat. Der ist ja nie „Schutzpatron“ seiner Bürger. Das ist ja gar nicht wofür ein Staat da ist …
Das sowieso. Aber auch nochmal konkreter. Weil man so ein Traumbild dieses Staates hat, blendet man dann in der deutschen Linken auch vieles aus. Die Zusammenarbeit mit faschistischen Diktaturen etwa, die Jüdinnen und Juden ermordet haben. Argentinien ist da das krasseste Beispiel. Viele unserer Genoss*innen in Israel sind Argentinier*innen, Flüchtlinge aus Argentinien. Zehn Prozent der Ermordeten während der Diktatur in Argentinien waren Jüd*innen. Und Israel hat mit dieser Diktatur zusammengearbeitet. Oder auch in Südafrika: viele Jüd*innen waren Teil des Widerstands gegen die Apartheid und Israel hat mit dem Apartheidsregime kooperiert.
Für Israel selber ist diese „Schutzfunktion“ auch nicht der wichtigste ideologische Kitt. Da ist es eher diese Gemengelage von Nationalismus und religiösen Topoi. Dieses klassische Motto des säkularen Zionismus „Es gibt keinen Gott, aber er hat uns das Land versprochen“ ist einer weiteren religiösen Aufladung der israelischen Politik gewichen. Es gibt so einen messianischen Enthusiasmus, der für die Mobilisierung der israelischen Bevölkerung durch einen religiös aufgeladenen Nationalismus gebraucht wird. Das hat mit einer „Schutzfunktion“ weniger zu tun als mit heldenhaften Märchen über die Bibel. Das wollen viele hier nicht wahrnehmen, dass es da nicht um Adornos Imperativ geht, sondern wenn überhaupt, dann um einen göttlich-messianischen Imperativ.
Aber setzt sich diese Fixierung auf den Staat Israel nicht auch in den kritischen Diskursen fort? Zwei Staaten, ein Staat, der Frontalangriff auf den Staat und seine Zerschlagung – aber so Konzepte wie etwa das des Demokratischen Konföderalismus Abdullah Öcalans – oder ähnliche, ohne Bezug auf die Kurd*innen – spielen da keine Rolle, oder? Es wäre ja nicht so abwegig, zu sagen: Wir arbeiten an einer Kein-Staaten-Lösung und bauen Beziehungen zwischen den Communities im Land auf und ringen dem Staat so Terrain ab …
Es gibt einen interessanten Diskurs, der jetzt im Kommen ist und der in die Richtung Konföderalismus geht – wenngleich auch immer noch staatlichen. Die Situation ist ja, dass die revolutionären Bewegungen zerschlagen sind oder nie da gewesen waren. Seit Langem findet in der palästinensischen Linken eine NGOisierung statt. Auch die israelische Linke hängt an europäischen Geldern und Interessen. Außerstaatliches Denken ist da nicht weit verbreitet – und die Situation ist eine andere als im von vier Staaten besetzten Kurdistan.
Worüber aber jetzt in Israel gesprochen wird, ist eine konföderale Lösung, in deren Rahmen man ohne Grenzen über die nicht mehr reale Zwei-Staaten-Lösung hinausgehen kann. Das beinhaltet zum Beispiel auch, davon abzulassen, Siedlungen zu räumen. Ich muss auch sagen, Siedlungen zu räumen, ist jetzt auch nicht mein großer Traum, da leben Menschen. Es ist ein krass rassistisches Gebilde, aber dennoch leben da Menschen. Warum ist meine Siedler-Tante unmoralischer als meine Eltern, die innerhalb der anerkannten Grenzen von Israel auch auf palästinensischem Land wohnen? Da sind 19 Jahre Differenz, das eine Land wurde 1948 besetzt, das andere 1967.
Das Land insgesamt ist eigentlich ein zusammenhängendes Territorium, Israel/Palästina. Die jüdische, muslimische und christliche Bevölkerung hat religiöse und kulturelle Bezüge zum ganzen Land. Ich fand immer die Zweistaatenlösung ist keine Lösung, Gaza und die Westbank irgendwie zusammen zu basteln, das ergibt sowieso keinen lebensfähigen Staat. Nun ist es aber auch so, dass es in Palästina staatliche Strukturen gibt – nur ohne staatliche Unabhängigkeit – und das hat schlimme Auswirkungen. Aber zugleich sehen auch viele Palästinenser*innen dieses Scheitern jetzt. Auch die Auflösung der Palästinensischen Autonomiebehörde ist durchaus etwas, was debattiert wird. Diskutiert werden auch Konzepte mit offenen Grenzen aber mit Selbstbestimmungsrecht, also ein wenig angelehnt an Belgien oder die Schweiz. Das ist nicht antistaatlich, aber schon ein großer Fortschritt.
In welchen Kreisen wird dieser Ansatz diskutiert?
Es gibt eine Initiative, die heißt „Eine Heimat, zwei Staaten“. Das ist eine Mischung aus Hippie-Siedler*innen, linksradikalen Aktivist*innen, palästinensischen Israelis und einigen Palästinenser*innen in der Westbank, die aber eher undercover agieren. Das wird natürlich in intellektuellen Kreisen innerhalb Israel debattiert. Aber auch in Palästina gibt es natürlich die Diskussion: Was, wenn die Zwei-Staaten-Lösung endgültig vom Tisch ist? Edward Said und die linken Gruppen haben das immer so gesehen, aber sie haben nie so wirklich konsequent darüber nachgedacht, was das zum Beispiel für Jüdinnen und Juden heißt? Wie sieht eine jüdische Existenz in einem gemeinsamen Palästina aus?
Aber es bleiben Diskurse oder Wunschträume. Also weder steht eine Massenbewegungen, noch militärische Macht hinter dieser Idee, was ja im Mittleren Osten stets heißt, es bleibt bei der Idee. Weil am Ende wird ja so ein Diskurs wahrscheinlich weder von Israel, noch von der Hamas akzeptiert …
Von Hamas als Bewegung nicht, nein. Aber die wissen auch nicht genau, was sie wollen. Sie haben schon die Zwei-Staaten-Lösung de facto akzeptiert. Sie meinten zwar „wir akzeptieren das nicht“, aber zugleich: Wir rufen eine Waffenruhe für 100 Jahre aus, also faktisch akzeptierte man das. Abgesehen davon haben die auch keine ernstzunehmende „militärische Macht“.
Naja, vielleicht nicht gegen den Staat Israel, aber wohl doch gegen oppositionelle Bewegungen innerhalb Palästinas …
Ja, die polizeiliche Repression ist da, aber daran würde ich nicht das Scheitern der palästinensischen Opposition festmachen. Das hat eher mit Verzweiflung zu tun. Man ist in einer Sackgasse. Genauso die israelische Linke. Wir sind in einer Sackgasse, obwohl viele in der israelischen Linke jetzt sagen würden, die Bewertung ist, es ist ein Apartheidsstaat und die Antwort ist eine demokratische Einstaatenlösung, müssen dennoch Kräfte wie die Kommunistische Partei und die Gemeinsame Liste an der Zweistaatenlösung festhalten, weil die PLO als Vertretung der Palästinenser*innen daran festhält und wir nicht für die Palästinenser*innen entscheiden können, was sie wollen sollen. Und so warten alle , dass etwas passiert. Und mit der Annexion könnte sich diese Situation ändern – auch wenn es eher schlimmer als besser wird, aber die Starre könnte aufgebrochen werden.
Und wenn wir von hier aus zurück zum Thema Antisemitismus kommen, dann muss man sagen: Wenn man so an dieser Mär vom jüdischen, demokratischen Staat festhält, wie das seine Verteidiger*innen tun, verliert man jeden Kontakt zur Wirklichkeit. Die Realität ist eine andere, Israel ist keine Demokratie. Nach 53 Jahren Besatzung und jetzt mit der Annexion wird das wirklich allen klar. Wer heute in Israel von „Apartheid“ spricht, sind nicht mehr die Linksradikalen sondern auch die führenden Köpfe der zionistischen Linke. Es ist total Mainstream. Es wird dann einfach nur noch schräg, jedem Antisemitismus zu unterstellen, der diesen Begriff verwendet.