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In der deutschen Linken über Israel und Palästina zu sprechen, war stets schwierig. Wer sich positiniert, muss mit Angriffen rechnen, bei denen es lange nicht mehr um sachliche Auseinandersetzung geht. Diese Erfahrung macht auch die linke israelische Diaspora in Deutschland. Peter Schaber hat mit Yossi Bartal ausführlich über die ganze Palette umstrittener Themen diskutiert, Teil I könnt ihr heute lesen, Teil II erscheint morgen früh.

Yossi Bartal lebt in Berlin und ist in queeren und antirassistischen Zusammenhängen aktiv.

Der äußerliche Anlass dafür, dass wir heute einen Kaffee miteinander trinken und das Gespräch aufnehmen, ist ja, dass Du kürzlich – wieder einmal, muss man sagen – von deutschen Linken auf Twitter wegen Deiner pro-palästinensischen Positionen als „Antisemit“ bezeichnet wurdest. Mich wundert es immer wieder, wie leicht einigen so ein Vorwurf über die Lippen geht. Als ich mit 14 oder so Kommunist wurde, war einer der Faktoren dafür die Erinnerung an die Shoa und der Wunsch, so etwas solle nie wieder geschehen. Und der Vorwurf „Antisemit“ erschien mir aus der Perspektive stets als ein sehr schwerwiegender, weil es ja nicht schlimmeres gibt, als einer zu sein. Aber in dieser Debatte wird er verwendet, als hätte der Begriff gar keine ernstzunehmende Bedeutung …

Da sind ein paar Punkte drin, bei denen man ansetzen kann. Also zum einen: Die Shoa und Antisemitismus gleichzusetzen, woraus dann folgt, Antisemitismus ist nur bei Nazis zu finden. Da würde ich den Vorwurf zunächst in Schutz nehmen: Rassismus, Antisemitismus sind ja keine Phänomene, die irgendwie begrenzt sind auf Rechtsextremismus. Dass die Analyse auf verschiedene Formen von Antisemitismus – von links, rechts, oben, unten – abzielt, ist ja eigentlich für eine Gesellschaftskritik ganz richtig und wichtig. Man muss ja kein Nazi-Glatzkopf sein, um antisemitisch zu denken oder zu agieren. Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass die rechten Varianten von Rassismus und Antisemitismus, per Definition dazu neigen, den „Anderen“ gewalttätig zu bekämpfen oder sogar zu vernichten. Deswegen müssen wir Wege finden, Rassismus, Homophobie, Sexismus usw. nicht nur unter Rechten zu thematisieren, ohne gleichzeitig faschistische Politik zu verharmlosen. Mit der Inflation des Antisemitismus-Vorwurfs, vor allem wie er in Deutschland betätigt wird, wird aber leider genau das gemacht.

Solche Antisemitismus-Vorwürfe gibt es aber nicht nur in Deutschland und dabei scheint Israel für viele der zentrale Punkt geworden zu sein, an dem sich Antisemitismus heutzutage manifestiert.

In der Tat. Der Begriff „Israel“ als Bezeichnung für einen Staat, ein Volk und zudem noch für das „Heilige Land“ – all diese Topoi haben in unserer christlich geprägten Gesellschaft eine sehr zentrale Funktion im Diskurs. Das heißt, es gibt immer eine Art Überbeschäftigung mit dem Thema. Das bleibt auch heute so, selbst wenn nicht alle mehr die Bibel zuhause liegen haben. In allen westlichen Zeitungen wird unglaublich viel über Israel berichtet. Jeder Deutsche weiß, wie der israelische Premier heißt – und oft auch noch die Namen vieler anderer Politiker. Wenn man dieselben Leute aber fragt, wie heißt der polnische Premier, also der eines Nachbarlandes dessen Bevölkerung vier mal größer ist als Israel, wissen sie das oft nicht.

Würdest du dieses Interesse pauschal als antisemitisch deuten?

Nein, aber dass dieses Interesse außerordentlich ist, ist ein Fakt. Und natürlich hat das nicht nur mit der Besatzungssituation oder mit den tollen Partys in Tel-Aviv was zu tun, sondern auch mit einer bestimmte historische Haltung gegenüber Juden. Und dann ist die Frage, was es bedeutet. Wann ist das antisemitisch, wann ist das philosemitisch, wann ist es einfach ein bisschen zu viel. Was der herrschende Antisemitismusdiskurs macht, ist dann einfach zu sagen: Alles was kritisch ist, alles, was negativ über Israel berichtet, ist zu viel, damit obsessiv und ist deshalb antisemitisch. Aber alles, was positiv ist, wird als begrüßenswert angesehen. Das finde ich heuchlerisch.

Da sind wir ja dann schon bei einem der Momente der offiziellen Definition des israelbezogenen Antisemitismus – den „doppelten Standards“. Die gibt es doch dann offenkundig …

Teilweise, aber was heißt das? Dieser Begriff der „doppelten Standards“ will sagen, dass Israel zu viel kritisiert wird, und dass sich darin Antisemitismus zeige. Dieses Argument ist erstmal nichts weiteres als Whataboutism. Es wird nicht gefragt, ob die Kritik stimmt oder nicht, sondern ob man das Gleiche auch an anderen Länder kritisiert. Das ist total gaga – als müsse ich persönlich vorweisen, wie viele Staaten ich heute schon kritisiert habe, bevor ich etwas über die israelische Besatzung sagen kann. Das kann man selbst als einen doppeltes Standard betrachten. Aber nichtsdestotrotz, irgendwas ist schon dran.

Klar, wenn irgendwelche Bürgerlichen alle anderen Staaten super finden und ausgerechnet Israel abschaffen wollen, dann ist das wahrscheinlich antisemitisch. Aber wenn du als Linker sagst: Ich will alle Staaten abschaffen, aber Israel find´ ich voll super – da spiegelt sich ja auch eine schräge Obsession.

Das sehe ich auch so: wenn ich schon irgendwo in Deutschland Doppelte Standards finde, ist das bei Linken, die die israelische Politik verteidigen. Die israelische Politik wird in der deutschen Öffentlichkeit mit viel mehr Leidenschaft in Schutz genommen, als die Besatzungspolitik der Türkei oder sogar den Afghanistan-Krieg, wo deutsche Soldaten stationiert sind. Damit wird klar – das Sprechen über Israel ist nicht normal. Und es kann auch nicht normal sein.

Wieso? Ich würde sagen, dass wir versucht haben, das tatsächlich so zu machen. Also zu sagen: Wenn wir uns einen bürgerlichen Staat anschauen, dann hat das zunächst nichts damit zu tun, ob der im heiligen Land liegt oder ob er sich als jüdischer Staat versteht. Sondern wir legen dieselben Kriterien an, die wir eben an bürgerliche Staaten anlegen, als Leute, die keine Fans von denen im Allgemeinen sind.

Ich finde den Versuch, ganz sachlich zu bleiben und zu sagen: wir beurteilen die Situation in Israel-Palästina wie in jedem anderen Land, richtig und lobenswert. Das ist eine gute Motivation und ich würde das unterstützen. Aber die Diskussion im Ganzen zu versachlichen, ist zum Scheitern verurteilt.

Warum eigentlich?

Die ganzen Begriffe, die da in dieser Debatte mitschwingen – Existenzrecht, Staatsräson, die Antisemitismusdefinitionen – haben alle irgendwie etwas Theologisches. Sie haben keine objektive Bedeutung. In Deutschland sprechen wir ja nicht von „Selbstbestimmungsrecht“ – ein klares völkerrechtliches Konzept – , sondern vom „Existenzrecht des Jüdischen Staates“ – das hat etwas Religiöses. Oder die „Solidarität mit Israel“ – da vermischt sich der Bezug auf den Staat damit, dass „Israel“ noch ein Name für Juden generell ist. Das alles wird so miteinander verschmolzen.

Und wegen dieser Gemengelage ist das Sprechen über Israel so schwierig. Es schwingt immer etwas Biblisches, etwas vom Holocaust, etwas aus der europäischen Geschichte der Jüdinnen und Juden mit. Und das alles zu trennen, ist nicht einfach . Es bleibt ein Minenfeld. 2500 Jahre Judentum haben eine so „reiche“ und widersprüchliche Geschichte an feindlichen Stereotypen hervorgebracht, dass man fast jede Kritik, wenn man will, in einen antisemitischen Kontext setzen kann. Und das wird sehr oft zynisch instrumentalisiert, auch in Fällen wo eindeutig ist, dass bestimmte Aussagen klar aus einer menschenrechtlichen Motivation heraus getätigt werden.

Ein Minenfeld sagst du, aber außerhalb dieser diskursiven Schränke leben tatsächliche Menschen, die Palästinenser*innen, die aufgrund der israelischen Politik unter miserablen Bedingungen zu leiden haben?

Ja, und deswegen müssen wir uns damit zu konfrontieren und können nicht darauf verzichten, die Zustände in Israel-Palästina zu kritisieren. Noch Schlimmer – das israelische Modell einer repressiven „ethnischen Demokratie“ wird weltweit immer populärer. Aber wie kann diese Debatte fruchtbar sein? Ich würde sagen, was du gesagt hast – „normale“ Staatskritik, Kolonialismuskritik – das stimmt alles, da glaube ich auch, dass es die richtige Herangehensweise ist. Aber wir müssen auch anerkennen -in diesem Feld können sie nie völlig neutral wirken. Und gerade auch für Deutsche. Ich meine, wenn du sagtest, du kamst zum Antifaschismus aus der Ablehnung des Holocaust, dann beschreibt das ja die Erfahrung von vielen hier.

Wir müssen aber analysieren welche Rolle diese Bezugnahme auf den Holocaust für Deutschland, den deutschen Nationalismus heute spielt. Das „neue“ Deutschland legitimiert sich ja geradezu daraus, zu behaupten, man habe aus dem Holocaust „gelernt“ und habe jetzt den Auftrag, ein zweites Auschwitz zu verhindern. Und die Verteidigung Israels wird da zu einem wichtigen Element der deutschen Staatsräson. Der neue deutsche Nationalismus legitimiert sich so selbst: Man kann wieder stolz Deutscher sein, weil Deutschland an der Seite Israels steht. Deutschland steht in dieser Erzählung für Frieden in der Welt, gegen die bösen Islamisten, für einen zivilisatorischen Auftrag. Und diese Erzählung hat ja ihre Funktion. Wenn du irgendeinen normalen Hipster in Neukölln fragst: Willst du für Deutschland sterben? Der wird nein sagen. Wenn du ihn fragst: Willst du für das Existenzrecht Israels dein Leben geben, dann wird er anders reagieren. Für das Klientel von Grünen und SPD ist diese Erzählung wichtig, es ist eine Art, Deutschland neu zu formieren. Und natürlich: Ein Angriff auf Israel ist in diesem Kontext auch ein Angriff auf das deutsche Mainstreamselbstbild. Ich betrachte daher meine sogenannte „Israelkritik“ hierzulande in erster Stelle als Deutschlandkritik.

Du sprichst hier über eine Funktion, die die Bezugnahme auf Jüdinnen oder der Staat Israel für Deutschland hat – das hat ja eine lange Geschichte.

Ganz genau. Die Geschichte der Juden in Europa als Minderheit hatte immer eine bestimmte Funktion für die Mehrheitsgesellschaft. Sie war hunderte Jahre lang dadurch bestimmt, dass man den Juden so eine Hilfsfunktion für den Feudalismus, dann den Kapitalismus zugewiesen hat, aber so, dass man zugleich mit dem Finger auf sie zeigen konnte, wenn etwas schief gelaufen ist. Das findet sich immer noch bei denen, die auf Israel als den „ganz bösen“ Kolonialismus schauen, aber etwa die eigene Kolonialgeschichte nicht sehen wollen. Auch wenn das zugegeben eher ein Randphänomen ist in den deutschen Debatten.

Die weiter verbreitete Erzählung ist ja, dass Israel doch ein ganz toller demokratischer Rechtsstaat wäre. Was natürlich Palästinenser*innen insbesondere als fanatische, hasserfüllte und halb verrückte Subjekte dastehen ließ. Und das betrachte ich tatsächlich als die primäre Funktion von Israel im deutschen Diskurs, als ein Ort wo Rassismus, vor allem gegen Muslime, legitimiert wird. Alleine die Existenz von Palästinenser*innen ist eine große Störung für diesen nationalen Narrativ Deutschlands. Und jetzt mit der geplanten Annexion, wo allen klar wird, dass Israel immer mehr zu einem Apartheidsstaat wird, muss man sich ernstlich fragen, was sagt eigentlich diese Staatsräson Deutschlands über den hiesigen Umgang mit Rassismus und Imperialismus.

Du hast jetzt von Israel als einem „Apartheidsstaat“ gesprochen. Aus Perspektive der, ich sag mal, „linken“ Israelfans ist das antisemitisch, weil es Israel dämonisiert..

Klar, aber auf den Apartheid-Begriff, der eine präzise Definition hat, bestehe ich trotzdem. Der Begriff „Dämonisierung“ hingegen kann keiner richtig definieren und der Vorwurf ist zumeist einfach Blödsinn. So wie insgesamt der sogenannte „3-D Test für Antisemitismus“, der angeblich zwischen legitimer Kritik an Israel und Antisemitismus unterscheiden sollte. Abgesehen davon, dass dieser „Test“ von einem rechtstextremen israelischen Politiker entworfen wurde, ist er einfach sehr dumm. Und das wird dann auch von radikalen Linken aufgegriffen. Das liest man dann in der Graswurzelrevolution. Jedes „D“ ist einfach falsch. Das könnte man nie auf einen anderen Staat anwenden.

Ich meine, „Dämonisierung“? Was „dämonisieren“ wir denn als Linke nicht, wenn wir dagegen sind? Oder „Delegetimierung“ des Staates Israel. Was bedeutet das denn? Es bedeutet, nicht damit einverstanden zu sein, dass ein Staat sich nach Rasse oder Ethnie definiert. Darum geht es. Die befürchten dann die „Zerstörung Israels“, aber darum geht es nicht, mal abgesehen davon, dass es auch gar nicht zerstört werden kann. Das ist diese Mär, dass Israel so existenziell bedroht wäre. Israel ist eine Atomwaffenmacht und keine arabische Armee könnte militärisch auch nur einen Zentimeter von israelischem Territorium einnehmen. Klar gibt es eine Bedrohung, es gibt Milizen wie Hizbollah, aber das ist keine faktische Bedrohung der Existenz Israels.

Wenn man also als Linke*r Nationalstaaten im Allgemein „delegitimiert“, warum nicht im Fall Israels?

Das ist genau der Trick dieses Tests – bei „Delegitimierung“ schwingt immer mit: Der Staat wird abgeschafft, alle werden ermordet, es kommt das zweite Auschwitz. Das ist immer die Sprache, die benutzt wird. Aber darum geht es nicht. Im israelischen Parlament sitzt eine Partei, die ich unterstütze, die „Gemeinsame Liste“ – ein bisschen wie die HDP in der Türkei. Und die vertreten auch eine Position, die in diesem Delegitimierungsdiskurs als „Zerstörung des Staates Israel“ gilt, aber was damit gemeint ist, ist: Gleiche Rechte für alle. Das ist für mich so schockierend: Wie kann es sein, dass es „verboten“ ist, zu sagen: ich will kein religiöses oder ethnisches Fundament dieses Staates?

Diese Kritik ist ja universell. Und du meintest ja: Wie können dauernd diese Vorwürfe kommen, wenn man über Israel spricht, obwohl man genau das Gleiche über alle Staaten sagt? Das liegt an so einer Fetischisierung der Idee eines jüdischen Staates, als einer Art Traum, als eines Schutzortes. Aber sie verstehen nicht, dass dieser Staat so gar nicht funktioniert.

So funktioniert ja generell kein Staat. Der ist ja nie „Schutzpatron“ seiner Bürger. Das ist ja gar nicht wofür ein Staat da ist …

Das sowieso. Aber auch nochmal konkreter. Weil man so ein Traumbild dieses Staates hat, blendet man dann in der deutschen Linken auch vieles aus. Die Zusammenarbeit mit faschistischen Diktaturen etwa, die Jüdinnen und Juden ermordet haben. Argentinien ist da das krasseste Beispiel. Viele unserer Genoss*innen in Israel sind Argentinier*innen, Flüchtlinge aus Argentinien. Zehn Prozent der Ermordeten während der Diktatur in Argentinien waren Jüd*innen. Und Israel hat mit dieser Diktatur zusammengearbeitet. Oder auch in Südafrika: viele Jüd*innen waren Teil des Widerstands gegen die Apartheid und Israel hat mit dem Apartheidsregime kooperiert.

Für Israel selber ist diese „Schutzfunktion“ auch nicht der wichtigste ideologische Kitt. Da ist es eher diese Gemengelage von Nationalismus und religiösen Topoi. Dieses klassische Motto des säkularen Zionismus „Es gibt keinen Gott, aber er hat uns das Land versprochen“ ist einer weiteren religiösen Aufladung der israelischen Politik gewichen. Es gibt so einen messianischen Enthusiasmus, der für die Mobilisierung der israelischen Bevölkerung durch einen religiös aufgeladenen Nationalismus gebraucht wird. Das hat mit einer „Schutzfunktion“ weniger zu tun als mit heldenhaften Märchen über die Bibel. Das wollen viele hier nicht wahrnehmen, dass es da nicht um Adornos Imperativ geht, sondern wenn überhaupt, dann um einen göttlich-messianischen Imperativ.

Aber setzt sich diese Fixierung auf den Staat Israel nicht auch in den kritischen Diskursen fort? Zwei Staaten, ein Staat, der Frontalangriff auf den Staat und seine Zerschlagung – aber so Konzepte wie etwa das des Demokratischen Konföderalismus Abdullah Öcalans – oder ähnliche, ohne Bezug auf die Kurd*innen – spielen da keine Rolle, oder? Es wäre ja nicht so abwegig, zu sagen: Wir arbeiten an einer Kein-Staaten-Lösung und bauen Beziehungen zwischen den Communities im Land auf und ringen dem Staat so Terrain ab …

Es gibt einen interessanten Diskurs, der jetzt im Kommen ist und der in die Richtung Konföderalismus geht – wenngleich auch immer noch staatlichen. Die Situation ist ja, dass die revolutionären Bewegungen zerschlagen sind oder nie da gewesen waren. Seit Langem findet in der palästinensischen Linken eine NGOisierung statt. Auch die israelische Linke hängt an europäischen Geldern und Interessen. Außerstaatliches Denken ist da nicht weit verbreitet – und die Situation ist eine andere als im von vier Staaten besetzten Kurdistan.

Worüber aber jetzt in Israel gesprochen wird, ist eine konföderale Lösung, in deren Rahmen man ohne Grenzen über die nicht mehr reale Zwei-Staaten-Lösung hinausgehen kann. Das beinhaltet zum Beispiel auch, davon abzulassen, Siedlungen zu räumen. Ich muss auch sagen, Siedlungen zu räumen, ist jetzt auch nicht mein großer Traum, da leben Menschen. Es ist ein krass rassistisches Gebilde, aber dennoch leben da Menschen. Warum ist meine Siedler-Tante unmoralischer als meine Eltern, die innerhalb der anerkannten Grenzen von Israel auch auf palästinensischem Land wohnen? Da sind 19 Jahre Differenz, das eine Land wurde 1948 besetzt, das andere 1967.

Das Land insgesamt ist eigentlich ein zusammenhängendes Territorium, Israel/Palästina. Die jüdische, muslimische und christliche Bevölkerung hat religiöse und kulturelle Bezüge zum ganzen Land. Ich fand immer die Zweistaatenlösung ist keine Lösung, Gaza und die Westbank irgendwie zusammen zu basteln, das ergibt sowieso keinen lebensfähigen Staat. Nun ist es aber auch so, dass es in Palästina staatliche Strukturen gibt – nur ohne staatliche Unabhängigkeit – und das hat schlimme Auswirkungen. Aber zugleich sehen auch viele Palästinenser*innen dieses Scheitern jetzt. Auch die Auflösung der Palästinensischen Autonomiebehörde ist durchaus etwas, was debattiert wird. Diskutiert werden auch Konzepte mit offenen Grenzen aber mit Selbstbestimmungsrecht, also ein wenig angelehnt an Belgien oder die Schweiz. Das ist nicht antistaatlich, aber schon ein großer Fortschritt.

In welchen Kreisen wird dieser Ansatz diskutiert?

Es gibt eine Initiative, die heißt „Eine Heimat, zwei Staaten“. Das ist eine Mischung aus Hippie-Siedler*innen, linksradikalen Aktivist*innen, palästinensischen Israelis und einigen Palästinenser*innen in der Westbank, die aber eher undercover agieren. Das wird natürlich in intellektuellen Kreisen innerhalb Israel debattiert. Aber auch in Palästina gibt es natürlich die Diskussion: Was, wenn die Zwei-Staaten-Lösung endgültig vom Tisch ist? Edward Said und die linken Gruppen haben das immer so gesehen, aber sie haben nie so wirklich konsequent darüber nachgedacht, was das zum Beispiel für Jüdinnen und Juden heißt? Wie sieht eine jüdische Existenz in einem gemeinsamen Palästina aus?

Aber es bleiben Diskurse oder Wunschträume. Also weder steht eine Massenbewegungen, noch militärische Macht hinter dieser Idee, was ja im Mittleren Osten stets heißt, es bleibt bei der Idee. Weil am Ende wird ja so ein Diskurs wahrscheinlich weder von Israel, noch von der Hamas akzeptiert …

Von Hamas als Bewegung nicht, nein. Aber die wissen auch nicht genau, was sie wollen. Sie haben schon die Zwei-Staaten-Lösung de facto akzeptiert. Sie meinten zwar „wir akzeptieren das nicht“, aber zugleich: Wir rufen eine Waffenruhe für 100 Jahre aus, also faktisch akzeptierte man das. Abgesehen davon haben die auch keine ernstzunehmende „militärische Macht“.

Naja, vielleicht nicht gegen den Staat Israel, aber wohl doch gegen oppositionelle Bewegungen innerhalb Palästinas …

Ja, die polizeiliche Repression ist da, aber daran würde ich nicht das Scheitern der palästinensischen Opposition festmachen. Das hat eher mit Verzweiflung zu tun. Man ist in einer Sackgasse. Genauso die israelische Linke. Wir sind in einer Sackgasse, obwohl viele in der israelischen Linke jetzt sagen würden, die Bewertung ist, es ist ein Apartheidsstaat und die Antwort ist eine demokratische Einstaatenlösung, müssen dennoch Kräfte wie die Kommunistische Partei und die Gemeinsame Liste an der Zweistaatenlösung festhalten, weil die PLO als Vertretung der Palästinenser*innen daran festhält und wir nicht für die Palästinenser*innen entscheiden können, was sie wollen sollen. Und so warten alle , dass etwas passiert. Und mit der Annexion könnte sich diese Situation ändern – auch wenn es eher schlimmer als besser wird, aber die Starre könnte aufgebrochen werden.

Und wenn wir von hier aus zurück zum Thema Antisemitismus kommen, dann muss man sagen: Wenn man so an dieser Mär vom jüdischen, demokratischen Staat festhält, wie das seine Verteidiger*innen tun, verliert man jeden Kontakt zur Wirklichkeit. Die Realität ist eine andere, Israel ist keine Demokratie. Nach 53 Jahren Besatzung und jetzt mit der Annexion wird das wirklich allen klar. Wer heute in Israel von „Apartheid“ spricht, sind nicht mehr die Linksradikalen sondern auch die führenden Köpfe der zionistischen Linke. Es ist total Mainstream. Es wird dann einfach nur noch schräg, jedem Antisemitismus zu unterstellen, der diesen Begriff verwendet.

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In Palästina stehen Frauen* gegen patriarchale Gewalt und Besatzung auf; tausende nehmen an den Demonstrationen teil – konsequent ignoriert von westlicher Berichterstattung. Haydar Kizilbas und Alia Ka haben sich für lower class magazine mit Fidaa Zaanin, einer Palästinensischen Aktivistin aus Gaza, die seit einigen jahren in Deutschland lebt, getroffen, um über die Tal3at Bewegung der Palästinensischen Frauen zu sprechen. Fidaa forscht zu Feminismus und Genderstudies und ist in der palästinensischen Community in Berlin aktiv

Am 26. September gab es in Berlin eine Kundgebung in Solidarität mit der und als Teil der Tal3at Bewegung. Was waren die Anliegen der Protestierenden?

Wir haben den Aufruf für Tal3at gesehen, was übersetzt so etwas bedeutet wie „Wir gehen auf die Straße“. Mit Wir sind Frauen* gemeint. Palästinensische Frauen* überall auf der Welt, egal wo sie sind, haben sich entschieden, auf den Aufruf zu reagieren und auf die Straße zu gehen.

„Tal3at“ bedeutet auf die Straße zu gehen, um gegen Gewalt zu protestieren, alle Formen von Gewalt, egal, welches System hinter dieser Gewalt steckt. Der Aufruf kam in den Wochen nach der Ermordung von Israa Ghrayeb. Sie war ein junges palästinensisches Mädchen, das in Beit Shaour, im Westjordanland von ihrer Familie umgebracht wurde. Wir haben nicht viele Details zu diesem Fall, aber es ist kein Einzelfall. Solche Dinge passieren in Palästina. Es gibt Statistiken, die besagen, dass 38 Frauen* in 2018 ermordet wurden. Und immer noch wird über viele Ermordungen überhaupt nicht berichtet, oder andere Todesursachen werden angegeben. Deswegen hat Tal3at Frauen* dazu aufgerufen auf die Straße zu gehen, um die Gewalt gegen Frauen* anzuprangern, und um klarzumachen, dass es keine Befreiung für das palästinensische Volk gibt, ohne die Befreiung der Frauen* in Palästina. Man kann das Thema der Frauen*befreiung nicht auf später verschieben, nachdem die Befreiung des palästinensischen Volkes erreicht wurde.

Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass palästinensische Frauen* Teil der politischen Bewegung sind und eine führende Rolle einnehmen. Kannst du uns einen kurzen historischen Überblick über die Rolle der Frauen* in der palästinensischen Widerstandsbewegung geben?

Ja, klar. Es ist nichts neues, dass palästinensische Frauen* in politische Kämpfe involviert sind. Sogar schon unter dem britischen Mandat in den 1930er-Jahren haben Frauen* angefangen, ihre eigenen Gemeinschaften zu gründen, hauptsächlich um anderen Frauen* in sozialen Fragen zu helfen. Aber schlussendlich haben sie dann auch politische Arbeit gemacht, weil soziale Fragen eben politisch sind. Auch das Persönliche ist schlussendlich politisch. Nachdem Palästina von den Zionist*innen kolonialisiert wurde, waren Frauen* natürlich in der ersten Intifada aktiv. Sogar sehr stark. Sie haben Flugblätter geschrieben, ausgeteilt und echte politische Arbeit gemacht.

Später waren sie auch Teil von politischen Organiserungsstrukturen. Sie wurden eingesperrt. Sie waren eben nicht nur die Frauen* von palästinensischen Männern. Sie waren nicht nur die Ehefrauen der Gefangenen. Sie selbst, palästinensische Frauen*, haben politische Arbeit unter dem Kolonialismus gemacht. Aber danach, mit der zweiten Intifada und der Form, die der Widerstand angenommen hat, wurde die Rolle, die Frauen* eingenommen haben, immer kleiner. Grade nach dem Oslo-Abkommen, durch die Mengen an Geld, das nach Palästina floss und dadurch, wie der Widerstand NGO-isiert wurde, wurden auch ihre politischen Kämpfe vereinnahmt.

Die Probleme der palästinensischen Frauen* wurden so aus dem Kontext genommen. Sie reden über Armut, aber niemand redet über die Ursachen von Armut unter dem Kolonialismus. Sie sprechen über Kinderehen, aber nicht darüber was die Ursachen sind, wo die Wurzeln des Problems liegen. Sie sprechen über diese Themen ungeachtet der politischen und ökonomischen Aspekte oder der Gesetze, die die Israelis den Palästinenser*innen aufzwingen. Also wir sehen, es ist nicht das erste Mal, dass Frauen* auf die Straße gehen und politische Arbeit machen.

Ich habe einige der Slogans der Tal3at Bewegung gesehen: „Es gibt keine nationale Befreiung ohne die Befreiung der Frau“. Dieser Slogan wird ja auch von anderen z.B der kurdischen Befreiungsbewegungen, im Mittleren Osten ähnlich formuliert…

Es ist auch wichtig zu sagen, dass sehr oft Frauen* sogar in politischen Räumen ausgeschlossen und von ihren eigenen Genossen marginalisiert wurden. Ich habe das Gefühl, dass Frauen* immer alternative Ideen und Strategien für die Befreiung Palästinas hatten. Aber die Männer haben gesagt: „Nein, es muss auf unsere Art und Weise getan werden, nicht auf die, die ihr euch vorstellt. Weil wir Prioritäten haben“.

Und genau das ist es, was Tal3at in Frage stellt, in dem gesagt wird: nein, wir sind hier, um umzudefinieren, was es bedeutet, gegen Kolonialismus zu kämpfen und wie wir uns eine befreite Gesellschaft vorstellen, in der alle Menschen gleich sind, in einem befreiten Palästina. Also was die Frauen* sagen ist: „Nein, ihr könnt uns nicht ausschließen, ihr könnt nicht so weitermachen, wie ihr es die letzten 70 Jahre getan habt“. Wir sagen nein, wir werden es auf unsere Art machen, und nicht auf die Art, auf die ihr, die Männer, es haben wollt.

Ist diese Bewegung eine spontane oder stehen längere Organisierungsprozesse dahinter? Und was sind die Perspektiven für diese Bewegung?

Es ist eine ganz spontane Bewegung. Wie ich gesagt hatte, wurde sie ausgelöst durch die Ermordung von Israa Ghrayeb. Viele Frauen* innerhalb der 1948er-Gebiete haben sich aufgelehnt und haben gesagt: Nein, wir werden jeden Tag umgebracht und wir sollten nicht mehr schweigen und zum Schweigen gebracht werden. Und wir sollten nicht nur darüber sprechen, wenn Israelis uns umbringen, weil wir auch an diesen für uns angeblich „sichersten“ Orten umgebracht werden, in unserem Zuhause, dort wo die meisten Morde passieren, durch Mitglieder der eignen Familie.

Der sicherste Ort für Frauen*, das Zuhause, wird zum Tatort. Es gibt einen Anstieg der Morde an Frauen*, der sogenannten Ehrenmorde, in Palästina besonders innerhalb der 1948er-Gebiete. Und es spricht Bände, dass die Mordrate innerhalb der Gebiete, die von Israelis kontrolliert werden, höher sind als im Westjordanland und in Gaza. Es kommt auch im Westjordanland und Gaza vor, aber nicht so oft wie an Orten wie Haifa, Jaffa, Umm al-Fahm und anderen Städten innerhalb der 1948 besetzten Gebiete. Die Tal3at Proteste haben ja auch in Haifa angefangen. Und wir haben auf deren Aufruf geantwortet, in Berlin, Gaza, Beirut und in den Geflüchtetenlagern. Frauen* waren überall. Und das ist auch was Tal3at einzigartig macht. Sie haben es sich nicht nur zum Ziel gemacht, nur das Patriarchat zu zerstören, sondern die Bewegung stellt auch die Grenzen in Frage, die die Kolonialisten uns aufgezwungen haben. Es macht deutlich, dass wir eine Einheit sind, egal wo wir sind, im historischen Palästina oder sogar in den Geflüchtetenlagern und in Europa.

In Deutschland wird über die Proteste geschwiegen. Gleichzeitig ist es ja oft so, dass wenn es um die Palästinensische Sache geht, der Großteil der sogenannten Linken auf die Frauen* zeigt und sagt, dass die palästinensische Freiheitsbewegung Frauen* unterdrückt und, dass wir eine generelle Befreiung brauchen und alle Formen von Unterdrückung betrachten müssen. Aber jetzt gerade schweigen eben diese Leute darüber, dass palästinensische Frauen* kollektiv zu diesen Protesten aufgerufen haben. Warum eigentlich?

Natürlich, als ich zu dem Protest am 26. September vor dem Rathaus Neukölln gegangen bin, ist mir aufgefallen, dass keine deutsche Presse da war. Und normalerweise sind sie immer da, wenn es etwas über Palästina gibt. Und plötzlich, wenn wir gegen diese Sache protestieren, ist niemand da und es gibt keine Solidarität der feministischen Bewegung oder von den sogenannten Feminist*innen hier in Deutschland.

Ich frage mich, warum die nicht gekommen sind. Wenn man ihnen nichts Böses unterstellen möchte, könnte man sagen, dass sie vielleicht einfach nichts davon wussten. Aber ich denke, es hatte auch etwas mit den Slogans zu tun. Weil die Frauen* gesagt haben: „Althowra did al thakaria w’al isti3maar“, also „Revolution gegen das Patriarchat und den Kolonialismus“. So haben die deutschen Feminist*innen vielleicht verstanden, dass die Proteste sich nicht nur gegen palästinensische braune Männer richten, sondern, dass sie auch gegen Zionismus sind. Und das ist der Konflikt hier in Deutschland. Man kann das zionistische Regime für sie so nicht kritisieren und man darf auch nicht darüber reden.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Leute hier die Proteste verfolgt haben. Weil Tal3at online gesagt hat, dass sie aufgefordert wurden auf zionistische Feminist*innen zuzugehen. Die wollten bei den Protesten mitmachen, um gegen Gewalt an palästinensischen Frauen* zu protestieren. Tal3at hat dazu nein gesagt, sie sagten: nicht dieses Mal. Wir stellen uns gegen die Hegemonie, die Israelis versuchen auf unseren Diskurs auszuüben, weil dieser politischer Raum uns gehört. Tal3at geht für eine befreite Gemeinschaft auf die Straße, in der jede*r dieselben Rechte hat, in einem befreiten Palästina. Sie gehen nicht auf die Straße, um gleiche Rechte oder keine Diskriminierung in einem kolonialen Staat einzufordern. Das ist nicht der Zweck, weil sie gleiche Rechte für alle Palästinenser*innen fordern. Deswegen passt es vielleicht einfach nicht in die Kriterien der Deutschen hier. Nach dem Motto: „Wie könnt ihr es wagen Israel zu kritisieren und nicht nur eure palästinensischen brauen Männer?“ Und deswegen glaube ich auch, dass sie das nicht in den Medien ausschlachten können.

Als palästinensische Frau, die nach Deutschland gekommen ist, wurde ich oft gefragt wie das Leben von Frauen* in Gaza ist. Ich antworte immer: „Du meinst von palästinensischen Frauen* in Gaza, die nicht nur das Patriarchat bekämpfen, sondern auch unter einer Blockade, unter israelischer Besatzung leben müssen?“ Aber wenn ich sagen würde: „Okay, mein Leben in Gaza ist die Hölle, ich bin eine queere Person, die verfolgt wird…“ Das könnte sehr einfach in den deutschen Medien ausgeschlachtet und gegen mich und meine eignen Leute verwendet werden. Weil es ihnen nicht um mich geht. Es geht ihnen darum, wie sie mich für ihre Zwecke benutzen können. Und ich glaube, das ist das Problem.

Die ganze Sache mit über Palästina in Deutschland reden… Es geht auch nicht nur um diese Proteste. Wenn sie es nicht im Sinne der Besatzung benutzen können, dann berichten sie natürlich nicht darüber, sie sprechen nicht darüber. Es ist ein anderer Diskurs. Ich kann mich erinnern wie sie über den Frauen*streik in Tel Aviv berichtet haben: „Es ist so cool, es ist so bunt… Palästinensische Frauen* gehen zusammen mit israelischen Siedlerinnen* auf die Straße… Das ist so gut und wir lieben das, das ist, wie wir es gerne hätten“. Aber das ist nicht richtig. Sie haben über den Streik berichtet und haben mir viele Fragen zu dem Streik gestellt. Ich habe darauf geantwortet, dass ich aus Gaza komme und mir deswegen nicht erlaubt wird, in das besetzte Tel Aviv zu gehen. Ich würde niemals zu einer Demonstration gehen auf der israelische Soldatinnen* stehen, nur weil sie Frauen* sind. Einfach eine Frau* zu sein ist für mich keine Gemeinsamkeit, es ist eine politische Frage. Ich könnte mit so einer Frau* den ganzen Tag demonstrieren und am nächsten Tag kann sie an einem Checkpoint eine Waffe an meinen Kopf halten. Das sind aber nicht die Worte, die diese Leute hören wollen.

Was wären deiner Meinung nach die Pflichten von internationalistischen Revolutionär*innen und auch linken Bewegungen hier in Deutschland, um eure Kämpfe zu unterstützen?

Ich würde sagen Solidarität. Transnationale feministische Solidarität mit Palästina, im Kontext des Lebens unter dem Siedlerkolonialismus. Die Leute sollten unsere Sache weitertragen. Informationen weiterzugeben, kann ein revolutionärer Akt sein. Damit Leute von den Protesten hören, durch palästinensische Stimmen. Das ist das Wichtigste, dass sie palästinensische Frauen* sprechen hören. Es ist gut, dass ihr wir ein Interview zusammen führen. Das ist ein Akt der Solidarität. Wir können ihn nach Palästina schicken und die Frauen*, die sich dort organisieren werden wissen, dass es Leute in Deutschland gibt, die daran interessiert sind, über Tal3at zu erfahren. Und, dass ihr dem Diskurs darüber, wie nationale Befreiung aussehen sollte, zustimmt. Und es ist wichtig zu sagen, dass Palästina nicht befreit werden kann, so lange Frauen* nicht befreit sind. Auch in unseren Räumen hier in Deutschland, Großbritannien und überall. Als Internationalist*innen dürfen wir nicht zulassen, dass dieses Thema auf später verschoben wird. Auf Arabisch sagen wir: „Du kannst kein freies Palästina auf den Gebeinen von toten palästinensischen Frauen aufbauen“. Wir werden das nicht zulassen. Das ist nicht wonach wir streben. Es geht darum den Diskurs von Tal3at und den Frauen*, die auf der Straße protestieren aufzugreifen. Wir fordern Solidarität.

#Bildquelle: wikimedia commons

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Am 17.09.19 wurde in Israel gewählt. Im Vorfeld kündigte Benjamin Netanjahu zunächst an, bei seiner Wiederwahl das Jordantal annektieren zu wollen, zwei Tage vor der Wahl ließ er auch noch kurzerhand den Bau einer neuen israelischen Siedlung in der Westbank genehmigen. Mittlerweile ist zwar klar, dass Netanjahu und seine Partei an Stimmen verloren haben, eine Ende seiner Herrschaft und des Staates Israels über die palästinensische Bevölkerung ist damit aber nicht in Sicht. Wir haben mit Baha Hilo, einem palästinensischen Aktivisten und Mitbegründer von „To Be There“ über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Wahlen, Netanjahus Ankündigung das Jordantal annektieren zu wollen und die Auswirkungen der Wahlergebnisse auf Palästina gesprochen.

In Deutschland war überall von den „Wahlen in Israel“ zu lesen. Wo liegen die Grenzen innerhalb der Wahl, wer darf wählen und wer nicht ?

Obwohl der Staat Israel das Leben und die Freiheiten von fast 7 Millionen Palästinenser*innen kontrolliert (2 Millionen in Gaza, 3 Millionen im Westjordanland, 300.000 in Jerusalem und 1,7 Millionen in Israel), wird die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung von der Wahl ausgeschlossen. Ihre Abwesenheit bei den israelischen Wahlen wird durch das israelisches Grundgesetz legitimiert. Sieben Millionen Palästinenser*innen haben keine sogenannte „israelisch jüdische Identität“, weder laut Pass noch real existierend. Deswegen dürfen die meisten von ihnen nicht wählen gehen. Konkret bedeutet das, dass alle in Gaza, in der West Bank und in Jerusalem lebende Palästinenser*innen nicht an Wahlen in Israel teilnehmen dürfen. Trotzdem werden sie vom israelischen Staat kontrolliert und stetig diskriminiert.

Die palästinensische Bevölkerung, die in Israel lebt, sind die einzigen Palästinenser*innen, die zur israelischen zur Wahl gehen dürfen. Die einzigen Bewohner*innen des Westjordanlandes, denen es erlaubt ist, an den israelischen Wahlen teilzunehmen, sind israelische Siedler*innen.

Menschen ohne „israelische Identität“ haben also kein Wort bei den Wahlen zu melden. Welche Bedeutung hat das für die palästinensische Bevölkerung?

Aus der Abwesenheit der palästinensischen Bevölkerung bei den israelischen Wahlen resultiert, dass diese Palästinenser*innen für viele einfach nicht mehr existieren. Das ist auch ein Ziel von Israel und seinen Unterstützer*innen. Vor allem für die Palästinenser*innen, die in Israel leben und die, welche innerhalb der israelischen Grenzen von Jerusalem leben, ist das hoch problematisch.

Die Palästinenser*innen, die in Israel leben, werden von Israel, auch im Pass, arabische Israelis genannt. Die Palästinenser*innen, die in den israelischen Grenzen von Jerusalem leben, werden von Israel „ständige Bewohner Jerusalems“ genannt. Durch ihre Nichtbenennung und damit Nichtexistenz als Palästinenser*innen kann somit auch vom Staat verschleiert werden, dass sie einer stetigen Diskriminierung ausgesetzt sind. Die Verteidiger des Staates Israels machen bei dem Motto „Wir benennen sie nicht, daher existieren sie nicht, daher sind sie auch keiner Diskriminierung ausgesetzt“ ebenso mit. Verteidiger des Staates Israels und Israel selbst verleugnen damit die diskriminierende rassistische Realität und die bloße Existenz von Palästina und Palästinenser*innen. Palästina existiert aber, ebenso Palästinenser*innen, überall auf der Welt.

Um die Öffentlichkeit von dieser Realität abzulenken, denke ich, dass uns der Staat Israel erlaubt, noch teilweise das besetzte Westjordanland (mit Ausnahme von Jerusalem) und den Gazastreifen zu bewohnen. Damit können wir an den Wahlen zur PA (Palestine Authority, Palästinensische Autonomiebehörde, Anmerkung Redaktion) teilnehmen, einer Behörde, die unter jeglicher, vor allem finanzieller und militärischer, Herrschaft des Staates Israel im Westjordanland und im Gaza Streifen tätig ist. Sie steht unter totaler Kontrolle von Israel. Die Wahlen zur PA finden also unter israelischer Militärherrschaft statt.

Du sagst zwar, dass euch im besetzten Westjordanland erlaubt wird zu leben, allerdings gestaltet sich die Situation hier ja auch sehr kompliziert für Palästinenser*innen.

Ja, in der West Bank gibt es drei Zonen, A, B und C. In den Zonen A und B, ebenso wie in Gaza, erlaubt Israel der PA, öffentliche Dienstleistungen zu kontrollieren und zu versorgen, dazu gehören z.B. der Bekämpfung der Kriminalität, Organisation von Straßenverkehr, Gesundheitswesen, Schulen und so weiter. Aber die sogenannte „Sicherheit“ kontrolliert Israel, ebenfalls ist es der PA nicht erlaubt, Palästinenser*innen vor israelischen militärischen Angriffen zu schützen oder die Grenzen zu kontrollieren. Als zum Beispiel die US-Kongressabgeordnete Rashida Talib ihre Großmutter besuchen wollte, welche in der Nähe von Ramallah lebt (Ramallah gehört zur Zone A, die Umgebung zur Zone B, Anmerk. Redaktion), hinderte sie der Staat Israel daran. Kann er ja auch, er kontrolliert ja die Grenzen.

Die Zone C steht unter voller Kontrolle von Israel, also auch öffentliche Dienstleistungen.

Alle Zonen werden regiert von der israelischen Militärregierung.

Zurück zu den Wahlen: Netanjahu kündigte an, das Jordantal annektieren zu wollen. Welche Konsequenzen hätte das für die palästinensische Bevölkerung?

87% des Jordantals sind Gebiet C, also sowieso schon unter totalen Kontrolle von Israel. Im Jordantal leben etwa 120.000 Palästinenser*innen, wobei Jericho (Zone A, Anm, d. Red.) die größte palästinensische Gemeinschaft ist. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt dort. Der Rest ist über alle Gebiete verstreut. Die meisten der 50 palästinensischen Gemeinschaften, welche sich in der Region befinden, müssen jetzt schon entweder damit leben, dass ihre Häuser abgerissen werden oder flüchten. Der israelische Staat hat das Land palästinensischer Familien beschlagnahmt und geraubt, indem er in diesem Bereich militärische Zonen, militärische Ausbildungsplätze oder, falls eine Militärzone nicht in Betracht kam, Naturschutzgebiete eingerichtet hat.

Allein an diesem Beispiel zeigt sich, dass das diskriminierende und kriminelle Verhalten Israels gegenüber den Palästinenser*innen seit der Gründung der israelischen Regierung in unserem Land präsent ist. Es ist nicht schockierend, dass ein solcher Ministerpräsident ein solches Wahlversprechen geben wird. Palästinenser*innen wurde der freie Zugang zu ihrem Land und Besitz im Jordantal verweigert, seitdem der Staat Israel die Mehrheit genau diesen Tals zu geschlossen militärischen Zonen erklärt hat. Das Jordantal ist schon jetzt de facto eine geschlossene israelische Militärzone. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die vollständige Annexion des Gebietes erklären. Netanjahus Ankündigung, das Jordantal zu annektieren, verstehe ich deswegen nur als weiteres Versprechen des amtierenden Premierministers, uns noch mehr zu kontrollieren, als eh schon.

Hast du eine Ahnung, warum das Jordantal Israel so wichtig ist?

Der Staat hatte, wie in vielen anderen Fällen, den Aufbau des Militärs im Jordantal mit der israelischen „Sicherheit“ begründet. Im Zusammenhang damit ist interessant, was die Weltbank herausgefunden hat. Wenn die Palästinenser*innen ihr Land im Jordantal zurückgewinnen würden, könnten sie wohl mit dem Land etwa eine Billion USD jährlich erwirtschaften. Wirtschaftlich unabhängige Palästinenser*innen scheinen also eine Gefahr für die israelische Sicherheit darzustellen.

Kann durch die israelische Wahl dann noch irgendetwas für die palästinensische Bevölkerung verändert werden?

Genau das diskutiert die palästinensische Bevölkerung in Israel. Es gibt diejenigen, welche die (arabische) Partizipation als einen Weg sehen, den Staat zu verändern und Diskriminierung zu verringern. Und es gibt diejenigen, welche gegen die Teilnahme an den Wahlen sind, weil sie denken, das eine Wahl niemals grundlegende Rechte für Palästinenser*innen in Israel bringen kann. Das ist auch logischer, denn eine Gleichstellung wird ja schon vom israelischen Grundgesetz an und für sich verweigert, indem es nur Menschen zur Wahl zulässt, die eine israelische Identität haben. Und es ist auch sehr wichtig zu betonen, dass auch die Palästinenser*innen, die eine „arabisch israelische“ Identität haben, niemals die selben Rechte erfahren werden, wie die Menschen mit einer israelisch jüdischen Identität.

Unter der israelischen Herrschaft haben die Palästinenser*innen alle Arten von staatlicher Gewalt erlebt. Mord, Diebstahl von privaten Besitz und Land, Verweigerung aller möglichen Freiheiten, Wohnungsabrisse, massive Einschnitte in die Bewegungsfreiheit, Beschränkung des Zugangs zu den Ressourcen, einschließlich Land und Wasser. Alles, was dem Staat Israel einfällt um unser Leben zu kontrollieren, hat er schon gemacht.

Die Parteien, die man in Israel wählen kann, egal ob linker oder rechter Flügel, sind sich in einem alle gleich: sie stehen unter zionistischer Herrschaft (auch die arabischen Koalitionen). Die Unterschiede zwischen ihnen sind sehr gering, zum Beispiel bei Fragen, ob mehr oder weniger Lebensmittel in den Gazastreifen gelangen sollten oder nicht. Kleine Zugeständnisse gab und gibt es immer. Aber bei wesentlichen Fragen, zum Beispiel nach der generellen Frage der Freiheit der Palästinenser*innen oder dem generellen Zugang zur Nahrung, sind sie sich einig. Diese Fragen stehen nämlich gar nicht zur Debatte. Es wird also keine großen Veränderungen geben. Der Kampf im israelischen Parlament war schon immer ein Kampf zwischen verschiedene Parteien, welche die israelische Kontrolle über Palästina und die Palästinenser*innen behalten wollen.

Es ist daher falsch anzunehmen, dass die israelischen Wahlen dazu verhelfen können, in Palästina weniger Schaden zu verursachen, geschweige denn uns einen Schritt näher an Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit und Selbstbestimmung zu bringen.

Egal was am Ende jetzt nach der Wahl noch rauskommt: die Palästinenser*innen werden weiterhin unter israelischer Kontrolle leben müssen, unabhängig davon, wer die israelische Exekutive inne hat. Solange der Staat Israel auf der Grundlage einer ausschließenden nationalistischen Ideologie basiert, und das tun linker und rechter Flügel, wird die palästinensische Bevölkerung unterdrückt und ihnen alle Grundfreiheiten verweigert.

# Interview mit Baha Hilo

# Interview und Übersetzung Lena Spix

# Titelbild : Mauer in Bethlehem

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Die israelische Punk-Band Helem aus Tel Aviv singt über „Den großen Verrat“ der israelischen herrschenden Klasse. Das LCM sprach mit dem Sänger Ran D und dem Gitarristen Ran W über ihre Musik und wie es ist, links und Punks in Tel Aviv zu sein.

Helem“ hat im Hebräischen mehrere Bedeutungen. Was verbindet ihr damit?
Ran W: Helem hat eine doppelte Bedeutung, zum einen bedeutet es „Schock“. Aber es hat auch eine Andere: In Polen gab es früher eine Stadt namens Helem. Im traditionellen jüdischen Geschichtenerzählen waren alle Bewohner dieser Stadt dumm. Zum Beispiel gab es eine Brücke, die in der Mitte kaputt war. Und die Bewohner von Helem überlegten, was sie machen sollten. Also beschlossen sie, ein Krankenhaus darunter zu bauen, damit jeder, der fallen würde, versorgt werden konnte. Helem wurde zu einem Ausdruck im Hebräischen. Man sagt, dies ist ein Zustand von helem, nichts funktioniert so, wie es sollte, alles geht schief.
Ran D: Helem ist auch eine Möglichkeit, eine irrationale Denkweise zu beschreiben. Es ist die Art und Weise, wie die Dinge in Israel gehandhabt werden.
Ran W: Und es gibt Hunderte von Beispielen für solche Dinge. Es wird eine Brücke gebaut und wieder abgerissen, weil sie zu schmal für die Gleise ist.
Ran D: Helem hat auch eine dunklere, nicht so bekannte Bedeutung. Helem, die Stadt in Polen, hat eine wirklich traurige Geschichte. Früher gab es eine wirklich große jüdische Gemeinde, von der nur wenige hundert am Ende des Zweiten Weltkriegs überlebt hatten. Unser Name ist nicht mit dem Holocaust verbunden, aber er hat damit zu tun. Ich glaube nicht, dass viele Menschen in Israel wissen, dass Helem eine echte Stadt war.

Ihr bezeichnet euch selbst als Antifa-Punks, was bedeutet das für euch?
Ran D: Antifaschist in Israel zu sein, ist etwas nicht so grundlegendes. Wenn man über den Faschismus spricht, haben die Menschen das Bild von Uniformen im Kopf. Wir alle wissen um das Ausmaß, das die Geschichte des Nazismus-Faschismus in Israel hat. Und die Leute sind nicht bereit zuzugeben, dass wir unter einer faschistischen Herrschaft leben, weil es nicht gleich aussieht. Es ist nicht Mussolini, es ist nicht Hitler, es ist dieser verdammte Netanyahu. Und um das klarzustellen: Ich vergleiche ihn nicht mit ihnen, aber die Auflösung ist die gleiche, die Methoden sind unterschiedlich.
Aber ein Punk und Antifa zu sein, ist auch ein Privileg mit all den Verbindungen, die ich im Laufe der Jahre durch den Fußball, mit anarchists against the wall oder Menschen, die mit Geflüchteten arbeiten, aufgebaut habe. Ich denke also, jeder findet seinen eigenen Ausdruck dafür, was es in unserer Szene bedeutet, ein Antifaschist zu sein.

Worüber singt ihr denn dann?
Ran D: Wenn du in einer Punkband singst, gibt es feste Themen, über die du singen solltest. Jeder wird über einen Freund singen, der zum Spitzel wurde. Jeder wird davon singen, kein Geld zu haben und der originellste und wahrhaftigste zu sein. Das tun wir auch. Ein Punk zu sein bedeutet, Punk zu sein, und ich liebe das Format. Ansonsten versuche ich, über die israelische Realität zu singen. Der Titel unseres neuen Albums lautet „habgida hagdola“, was grob übersetzt „Der Große Verrat“ bedeutet, was auch das Hauptthema ist. Alle Songs vervollständigen ein Bild davon, wie es ist, in diesen Tagen in Israel zu leben. Die Leute werden auf dich zukommen und fragen: „Was? Bist du ein Linker?“ Als ob es ein Fluch wäre, keine politische Haltung. Sie versuchen, uns als Verräter darzustellen. Die erste Regel im Faschismus ist, die Leute glauben zu lassen, dass es einen äußeren Feind gibt, die zweite ist, sie glauben zu lassen, dass es einen inneren Feind gibt. Und sie versuchen, uns zu diesem Feind zu machen. Ich denke, die Geschichte wird sie dafür verurteilen. Sie sind die wahren Verräter. Sie sind diejenigen, die gegen die israelische Gesellschaft vorgehen.

Spielt ihr auch Shows mit internationalen Bands?
Ran D: Als Teil einer DIY-Szene mache ich auch Booking und Promotion für andere Bands. Ich kontaktiere viele Bands, die ich für links halte. Und einige sagen: „Ich bin nicht bereit, mit meiner Band nach Israel zu kommen, wegen der Apartheid und des Faschismus in Israel.“ Und ich stimme ihnen zu. Die Apartheid existiert und der Faschismus ist an der Macht. Aber es ist nicht so einfach, wie sie es zu beschreiben versuchen. Innerhalb Israels gibt es eine Minderheit von Menschen, die gegen dieses System kämpfen. Und wie kann man den Leuten den Mittelfinger zeigen, die die Scheiße leben und mit Gefängnis und Geldstrafen bezahlen, um Aktivisten zu sein? Ich sehe es als Beleidigung an, wenn Leute sagen, dass sie nicht kommen, weil Israel faschistisch ist. Es ist, als würde man mir sagen, dass ich Israel sei, aber ich bin nur eine Person, die in Israel geboren wurde.

Wir unterstützen auch BDS. Es ist mir scheißegal, ob Madonna in Israel spielt. Aber der Boykott von Punk-Bands aus Israel ist genau das Gegenteil von der Unterstützung Palästinas. Wir singen über Palästina, wir kämpfen für die Freiheit unserer Brüder und Schwestern in Palästina und auch in Israel. Aber mir zu sagen, dass der Boykott die Meinung des Premierministers ändern wird, ist so dumm wie es nur geht. „Oh verdammt, die Punks werden nicht kommen“. Das ist ihm egal! Denn Madonna wird das Geld nehmen. Die großen Künstler werden kommen, auch wenn es einen Boykott gibt. Aber du, der Kleine, der in meiner Wohnung schlafen wird, in arabischen Restaurants isst und in einem linken Viertel unterkommt. Du boykottierst uns? Du? Du boykottierst Israel nicht, du boykottierst mich, Ran und zwei andere Typen wie uns.

Seid ihr auch in sozialen Kämpfen engagiert?
Ran D: Einige von uns mehr, einige von uns weniger. Aber im vergangenen Jahr haben wir alle eine klare Aussage gegen die Abschiebung der Flüchtlinge in Tel Aviv gemacht. Es sollte eine „Evakuierung“ von rund 35.000 Immigranten aus dem Süden Tel Avivs geben, meinem verdammten Viertel. Und wie viele andere Menschen auch, nahmen wir an den großen Demonstrationen teil. Es war der erste politische Erfolg, den wir seit Jahren hatten. Nicht nur gegen die Mauer anschreien. Es wurde Realität. Die Flüchtlinge wurden nicht vertrieben.
Ran W: Die Regierung hob die Entscheidung auf.
Ran D: Es war das erste Mal in der Geschichte, dass sie sich für etwas interessierten, was die Linken sagen. Sie nennen uns „Pretty Souls“, weil wir angeblich schwach sind. Aber ich sehe das nicht als Beleidigung an.

Ihr „Pretty Souls“ seid eine Minderheit.
Ich denke, die Linken und Punks sind auch in Deutschland eine Minderheit, aber es ist viel bequemer. Zum einen, weil die Leute dich nicht auf der Straße verurteilen. Wenn man in Berlin, Hamburg oder Leipzig lebt, wird man nicht angeschaut, als ob man aus dem Weltraum gefallen wäre. Versuch mal, mit einem Iro durch Jerusalem zu gehen, weißt du, was mit dir passieren wird? Es wird Scheiße sein. Du wächst auf und wirst ständig verprügelt. Deshalb ziehen die meisten von uns Punks nach Tel Aviv. Außerdem sind wir Arbeiterklasse-Punks, alle von uns haben Jobs, sonst kannst du nicht überleben. Und deshalb sind wir weniger solidarisch miteinander, denn wir müssen die ganze Zeit arbeiten und Geld ist immer ein Thema. Man kann sein Leben nicht leben, und deshalb ziehen viele Menschen nach Berlin. Weißt du, jetzt gibt es einen beliebten Aufkleber, der sagt: „Unterstütze deine lokale Antifa, ziehe nicht nach Berlin“.

Ist das auch euer Ansatz?
Ran D: Ich bin ein Sohn von marokkanischen Einwanderern. Wir haben nicht die Papiere, um nach Europa zu ziehen, auch wenn wir es wollten. Aber trotzdem möchte ich immer noch denken, dass ein Teil davon daran liegt, dass ich dort sein will, wo es zählt. Der Kampf ist dort, wo meine Gemeinschaft ist.
Ran W: In Israel können wir zumindest mit unserer Musik und unseren Song etwas Einfluss üben.

Singt ihr deshalb auf Hebräisch?
Ran D: Die meisten israelischen Bands aus den 90er Jahren sangen auf Hebräisch. Um das Jahr 2000 herum kam das, was wir die „American Wave“ nannten, nicht über Politik reden, lasst uns einfach nur Spaßpunk machen. Die Songs waren hauptsächlich auf Englisch, mit tollen Bands wie „Not On Tour“ und „Kids Insane“, die ein internationales Niveau erreichten. Im Jahr 2018 geschah die so genannte Wiedergeburt des israelischen Punk mit Bands wie „Jarada“, Nidfakta, Tarbut Ra‘a und uns Helem, die alle zu einer Gruppe von Bands zusammenwachsen, die nur auf Hebräisch singen und es von Herzen tun und nur darüber sprechen, was los ist. Es geht nicht um Spaß, vielleicht werden einige der Rhythmen Spaß machen, aber wenn man sich die Texte anhört, will man sich in den in den Kopf schießen.

Wie ist es, Teil dieser linken DIY-Punk-Szene in Tel Aviv zu sein?
Ran D: Die Punk-Szene in Tel Aviv ist ziemlich klein. Um es so auszudrücken: Wenn Exploited oder The Addicts kommen würden, kämen 400 Leute zu den Shows. Bei einer normalen Wochenendshow kommen etwa 150 Leute. Die meisten von ihnen sind links und viele sind Aktivisten. Es sind die Menschen, von denen man weiß, dass man sich auf sie verlassen kann, die Menschen, mit denen man den Glauben teilt, von der Gesellschaft abgelehnt zu werden, aber trotzdem einen Scheiß zu geben. Wir sind immer noch größtenteils Teil der Gesellschaft, in der wir leben. Als ich aufwuchs, war die Szene geteilt zwischen denen, die wir früher geistlose Punks nannten, die sich mit Alkohol und Gewalt beschäftigen. Nicht, dass ich gegen Alkohol und Gewalt wäre, es ist das Beste! (lacht) Aber du solltest auch andere Dinge tun. Ich meine, man kann Teil der community sein, ohne politisch aktiv zu sein, aber sei zumindest Teil davon! Sei kein Arschloch, wenn du 14- oder 15-Jährige triffst, die zu Konzerten kommen!

Danke, dass ihr zugestimmt habt, dieses Interview zu machen! Wie war eure Tour in Deutschland?
Ran D: Wir hatten zwei Wochen mit zehn Shows zusammen mit ZSK. Diese ganze Sache begann damit, dass wir sie per E-Mail kontaktierten: „Hey, wollt ihr vielleicht zusammen mit uns spielen?“ Es war eine unglaubliche Erfahrung für uns! Wir sind es gewohnt, alles DIY zu machen, und wir kamen mit einer Band dieser Größenordnung auf Tournee. Der Bus, die Hotels und die Backstages waren etwas, das wir noch nie erlebt hatten. Und die Jungs waren super cool! Für uns war klar, dass man, wenn man berühmt ist, ein Arschloch wird, weißt du. Aber es sind tolle Jungs! Und wir danken allen, die uns empfangen haben, alle waren so nett und herzlich in Potsdam, in Leipzig und Hamburg. Wir waren sogar Headliner von manchen Show! Ein großes Dankeschön an ZSK und allen, die uns geholfen haben.

Interview: Rafael Ramón

#Titelbild: Matthias Zickrow

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Die Massenproteste gegen die Hamas und die israelische Besatzung im Gaza-Streifen sind Ausdruck einer Neubewertung der sozialen Frage in Palästina. Gespräch mit dem in der Westbank lebenden Aktivisten Hassan von der Palästinensischen Volkspartei (Hizb al-Sha’b al-Filastini, PPP).

In den vergangenen Wochen ist es zu größeren Demonstrationen in Gaza – auch gegen die dort regierende Hamas – gekommen. Wie würdest du diese bewerten? Was sind die Forderungen?

Wenn man die Situation in Gaza betrachten will, muss man das größere Bild analysieren. Die Menschen sind in den letzten zwei Wochen in Gaza auf die Straßen gegangen, weil sie nichts mehr haben und ihnen keine andere Wahl bleibt. Die Bevölkerung dort lebt seit 1967 unter der Besatzung und nun mehr als 15 Jahre in einem großen Gefängnis; jeder Kontakt zu Außenwelt ist de facto unterbunden. Man muss sich vorstellen, wie die Lage ist, wenn man zwei Millionen Menschen auf einem Landstreifen zusammen sammelt, in dem es keinen Zugang zu Medikamenten und nicht ausreichend Nahrung gibt.

Die Menschen sind auf die Straßen gegangen unter dem Motto: Wir wollen Leben!. Es ist verständlich, dass sie verzweifelt sind, da sie weder Chancen noch Möglichkeiten haben und auch gerade keine bessere Zukunft sehen. Diese Situation ist bedingt durch die Schließung aller Ein- und Ausgangspunkte zur Außenwelt, also dem Belagerungszustand durch Israel. Die Demonstrationen richteten sich zunächst gegen die Hamas beziehungsweise deren Milizen, die die Macht und die Kontrolle im Gazastreifen behalten wollen. Denn das ist jene Macht, die die Bevölkerung alltäglich mitbekommt. Der tiefere Grund hinter der Unzufriedenheit liegt in der israelischen Besatzung und dem Belagerungszustand. Es ist nicht die Hamas, die Gaza dicht gemacht hat, sondern die israelische Armee. Hamas organisiert nur die internen täglichen Angelegenheiten, kontrolliert aber nicht die Grenzen. Dass keine Lebensmittel oder Rohrmaterialien reinkommen, dass eine hohe Arbeitslosigkeit besteht, dass es keine Arbeit und Fabriken gibt, liegt an denjenigen, die Gaza belagern.

Die Menschen haben in ihren Forderungen völlig recht. Das sind Leute, die sich ein menschliches Leben wünschen. Sie schaffen es jedoch nicht, gegen die Israelischen Besatzung etwas auszurichten, da sie nicht mit denen im täglichen Kontakt sind. Deswegen bleibt die Hamas übrig, die unfähig ist, radikale Veränderungen zu erwirken.

Die Bewegung, die heute auf der Straße steht und sich Wir wollen leben! nennt, ist die Kontinuität einer Bewegung, die es schon seit mehr als eineinhalb Jahren gibt und die damals auf die Grenzen zum israelisch besetzten Teil Palästinas zugelaufen ist. Seitdem gibt es jede Woche und fast jede Nacht Demonstrationen, widerständige Aktionen und den Versuch, dieses Gefängnis zu verlassen. Es ist eine komplexe Lage. Die Menschen leben unter Besatzung, sie brauchen Essen, Medikamente und sie wollen frei leben.

Wie siehst du die Rolle linker und revolutionärer Organisationen in diesen Entwicklungen?

Eine wichtiger Punkt in den letzten Bewegungen, der auch als ein positives Zeichen für die palästinensische Gesellschaft erwähnt werden muss, ist, dass die Organisatoren dieser Demonstration, die von der PA [Palästinensische Autonomiebehörde, A.d.R.] und der Hamas in Gaza verhaftet wurden und Repressionen erlitten haben, hauptsächlich aus den drei größeren politischen linken Parteien, PFLP [Volksfront zur Befreiung Palästinas, A.d.R], DFLP [Demokratische Front zur Befreiung Palästinas, A.d.R] und PPP, und anderen neueren linken und demokratischen Kräften kommen.

Diese bringen, und das ist sehr wichtig, den sozialen Aspekt in den Vordergrund. Oft wird dieser durch den Kampf gegen die Besatzung unbeachtet gelassen und zurück gestellt. Im Namen des Kampfes gegen die Besatzung wurden Fragen nach dem demokratischen Umgang miteinander, faschistischen Tendenzen, die Versorgungslage und die soziale Lage umgangen. Diese Bewegung jetzt ist für uns wichtig, weil sie diese Themen wieder angeht und ein gesellschaftliches Bewusstsein schafft.

Die Demonstrationen heute sind Teil des 70-jährigen Kampfes des palästinensischen Volkes für ihre Rechte auf Selbstbestimmung und gegen die Besatzung. Wir haben gelernt, nie aufzugeben und wir werden auch nie aufgeben. Deswegen werden die Palästinenser sich gegen jede Macht verteidigen, die sie entrechtet, sei es die Besatzung oder reaktionären Gruppierungen, die die Gesellschaft unterdrücken wollen. Wir haben gesehen, dass sich die Demonstrationen auch gegen die Hamas-Kräfte richten. Ohne damit die Hamas in irgendeiner Form in Schutz nehmen zu wollen, darf allerdings auch nicht aus den Augen verloren werden, dass die Belagerung Gazas der Hauptauslöser ist.

Jede Bewegung hat lang- und kurzfristige Effekte. Wir erhoffen uns von diesen Bewegungen, die von linken Kräften geführt wurden, dass sie einen positiven Effekt gegen die islamische Regierung in Gaza haben. Wir als Palästinenser sind nicht gegen das politische Handeln der Hamas, denn wir sind der Überzeugung, dass wir das Recht haben, gegen Israel Widerstand zu leisten. Besonders die Menschen in Gaza, die de facto in einem Gefängnis leben. Allerdings sind wir gegen die soziale Politik der Hamas, ihre islamische Regierung ist für Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Sie verhindert die Entstehung einer demokratischen Gesellschaft.

Deswegen können solche Bewegungen der Rolle linker Politik in Palästina neues Leben einhauchen und zu ihrer Erneuerung beitragen. Darauf hoffen wir. Die Linke kämpft für die Armen und unterdrückten Menschen und ihr Recht auf Arbeit, Gleichheit und für ein gutes Leben. Das muss man als soziale Frage sehen und man darf die Augen davor nicht verschließen. Durch die Belagerung von Gaza und den Kampf der Hamas gegen die Besatzung wurde dieser Aspekt zum Teil ignoriert.

Was erwartest du von der internationalen Linken?

Dieser Punkt ist sehr wichtig und sollte gut analysiert werden. Die Rolle der internationalen Linken war für uns als Palästinenser stets sehr wichtig. Die Linke und damit auch die palästinensische Linke hatte stets die Position, dass der Konflikt kein religiöser/historischer ist, sondern ein kapitalistischer beziehungsweise ein Klassenkonflikt. Die zionistische Bewegung ist als eine kapitalistische, imperialistische Bewegung nach Palästina gekommen, hat das Land ihren lokalen Besitzern geraubt und sie vertrieben. Mit Geldern großer imperialistischer Staaten, die hier investiert haben, wurden Firmen aufgebaut und eine Macht im Nahen Osten geschaffen, die den Einfluss der Imperialisten ausweiten soll.

Die Rolle der internationalen Linken zusammen mit der palästinensischen ist es diesen Analysepunkt in diesem System immer wieder festzuhalten. Wir müssen diesen Standpunkt verteidigen und die Menschen davon überzeugen, dass das die Hintergründe des Konflikts sind. Dass dieser Konflikt ein Klassenkampf ist: zwischen den wohlhabenden Klassen, die Interessen der westlichen Staaten vorantreiben und der lokalen indigenen Bevölkerung, die zum Großteil Bauern waren, denen das Land geraubt wurde. Wenn wir es nicht schaffen, dies klarzustellen, wird der Narrativ des religiösen Konflikts immer stärker, was zur Unlösbarkeit der Probleme und Erstarkung faschistischer und zerstörerischer Ansätze führt.

Es ist ein Klassenkampf, es ist eine Frage der Globalisierung, es ist eine Frage der Expansion kapitalistischer Staaten und des US-Imperialismus gegen die Völker – genauso, wie damals in Vietnam und Nicaragua und heute in Kurdistan. Nur mit linken Ansätzen und Ideen können wir die gesellschaftliche und soziale Freiheit des palästinensischen Volkes erkämpfen. Gerade deshalb brauchen auch jetzt die Palästinenser die Solidarität internationaler linker Kräfte. Verbunden mit den Demonstrationen in Gaza als einem Aufstand der Armen ist es die Aufgabe linker Organisation eben jene zu verteidigen und zu unterstützen.

# Interview und Übersetzung: Heyder Paramaz

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