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Am 26 Januar 2023 ermordeten israelische Spezialeinheiten der „Mista’aravim“ (auf Deutsch Arabisierte) neun Palästinenser*innen im Flüchtlingslager von Jenin in der Westbank. Deren Modus Operandi besteht darin, sich als Araber*innen zu verkleiden, um effektiver in der Westbank operieren zu können. Bei einer Militärrazzia in genau diesem Flüchtlingscamp ermordeten Soldat*innen der israelischen Armee am 11. Mai 2022 die berühmte Journalistin Shireen Abu Akleh. Das wurde zunächst bestritten, seit September wird es auch von israelischer Seite zugegeben. Bei der gestrigen Aktion wurden zudem 20 weitere Menschen verletzt, einige schwer. Unter den Opfern sind auch zwei Teenager und eine alte Frau. Auch in Jerusalem erschossen Soldat*innen einen Palästinenser. Die insgesamt 13 Morde von gestern reihen sich ein in einen Monat, der als „tödlichster Januar seit 20 Jahren“ betitelt wird. Als Reaktion auf die Ereignisse hat die korrupte Palästinensische Autonomiebehörde (PA) erklärt, die Sicherheitskoordination mit Israel aufzukündigen. Das hatte sie in der Vergangenheit schon gemacht, der Austausch von nachrichtendienstlichen Informationen fand aber trotzdem statt.

Deutsche Propaganda

Wie gewohnt berichten deutsche Massenmedien über die Vorgänge einstimmig und mit denselben Vokabeln – so umschreibt die Süddeutsche Zeitung das Massaker mit dem Wort „Konfrontation“, Tagesschau.de verwendet „Militäreinsatz“; die NZZ formuliert sogar „der verfehlte Einsatz“, quasi ein Unfall, für den niemand etwas kann. Es folgt die ebenfalls bekannte Erklärung, dass das israelische Militär auf irgendeine drohende Gefahr reagiert habe. Auf Raketen aus Gaza folgen Luftschläge auf „Militärbasen“. Danach gebetsmühlenartig Warnungen vor einer möglichen „Eskalation“. Doch für die Palästinenser*innen gibt es diese „drohende“ Eskalation nicht, sie ist permanent Realität. Ihr Alltag ist seit über 75 Jahren geprägt von Militärbesatzung, Zerstörung, Tötung, Angst und Willkür. Mit dieser gezielten Verschleierung werden die zionistischen Verbrechen in Palästina aktiv aus Deutschland unterstützt.

Verstärkter Widerstand in der Westbank

Die Verbrechen von gestern finden nicht im luftleeren Raum statt. Seit einigen Monaten nehmen militante Aktionen gegen die Besatzungsmacht zu, vor allem die Jugend, die nur die Heuchlerei um Oslo, den Verrat durch die eigene Administration (PA) und die ausweglose Situation kennt, kämpft an der Front. Verschiedene neue Gruppen, so z.B. die berüchtigte „Höhle der Löwen“ aus Nablus, kooperieren über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Der verstärkte bewaffnete Widerstand geht einher mit einer zunehmenden gemeinsamen Identifikation von Palästinenser*innen im gesamten Palästina, das heißt derjenigen in Gaza, in der Westbank und im „48“ genannten Teil Palästinas, der heute offizielles israelisches Staatsgebiet ist. Seit im April und Mai 2021 Palästinenser*innen in 48 und Gaza für Sheikh Jarrah (in der Nähe von Jerusalem) demonstrierten und überall im Land populärer Widerstand organisiert wurde, nannte man die Welle von Protestaktionen in Palästina „Aufstand der Einheit“.

Faschist*innen an der Macht

Gleichzeitig hat im Kernland mit der Bildung des 73. Kabinetts die Faschisierung der Regierung und politischen Landschaft eine neue Stufe erreicht. Zwar ist allseits bekannt, dass die Siedler*innen-Bevölkerung seit Jahren immer rechter, rassistischer und einflussreicher wird, das zeigen nicht nur die erhöhte Anzahl an Siedler*innen-Angriffen gegen Palästinenser*innen in der Westbank. Und natürlich sind weder Benjamin Netanyahu noch Naftali Bennet Linke oder auch nur Moderate. In der aktuellen Regierungskoalition sind jedoch nun sechs Parteien vereinigt, die nationalistischer, konservativer, ultra-religiöser und rechtsradikaler kaum sein könnten. Eine der Parteien mit dem Namen „Otzma Yehudit“ steht in der Tradition von Meir Kahane, einem US-amerikanischer Rabbiner dessen Lehren in Israel verboten wurden, nachdem sein Schüler, Baruch Goldstein 29 betenden Palästinenser*innen in einer Moschee in Hebron erschoss. Mehrere designierte Minister sind vorbestraft. In Bezug auf das zu lösende Problem real existierender Palästinenser*innen in dem Land, das man für sich beansprucht, sind nahezu alle Parteien der Meinung, ein palästinensischer Staat dürfe aus Sicherheitsgründen nicht existieren. Auch soll der Siedlungsbau weiter vorangetrieben werden. Mitglieder von der „Religious Zionist Party“ und „Otzma Yehudit“ wollen die gesamte Westbank annektieren und die Apartheid und Siedlerkolonialismus auf dem gesamten Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer endlich offen ausüben. Die israelischen Proteste gegen die Regierung, über die auch hier berichtet wird, richten sich nicht gegen diese verbrecherischen Positionen, sondern in erster Linie gegen die Korruption von Netanjahu und sein Vorhaben, ein Gesetz zu verabschieden, dass den obersten Gerichtshof entmachten würde.

Quo Vadis?

Die Zukunft ist offen, doch die Situation ist brandgefährlich. Man kann sich nur fürchten vor dem, was eine faschistische Regierung im Stande ist anzurichten, in einem bis an die Zähne bewaffneten Land, gestärkt durch eine Siedler*innengesellschaft, in der Rassismus und Entmenschlichung der Kolonisierten bereits in der Schule geübt wird und bei der nahezu alle Siedler*innen militärisch ausgebildet sind. Die Palästinenser*innen haben längst bewiesen, dass sie nicht aufgeben werden und immer Widerstand leisten werden. Das gilt besonders vor dem Hintergrund verschärfter Repression und noch mehr Gewalt durch die Besatzungsarmee und Siedler*innen.

Was bedeutet das für uns, die wir hier kämpfen? Deutschland, das beinhaltet Politiker*innen, Journalist*innen und ganz normale Staatsbürger*innen, ist ideologisch und materiell, politisch und ökonomisch mitschuldig an den Verbrechen, die bis heute in Palästina verübt worden sind. Wir können nur dafür kämpfen, dass das nicht auch für zukünftige Verbrechen gilt. Dazu müssen wir die Lügen der bürgerlichen Medien, Parteien und Verbände demaskieren und die Wahrheit sagen.

#Titelbild: IDF-Soldat*innen 2017 in Jerusalem.

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Die israelische Menschenrechtsorganisation B‘Tselem dokumentiert Verbrechen gegen die Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten. Mit ihren Berichten trug sie maßgeblich dazu bei, dass auch andere NGOs das Apartheidsregime Israels offen ansprachen. Bahram Ghadimi hat mit der Vorsitzenden der Organisation, Orly Mozhgan Noy, über ihre Arbeit gesprochen.

Erzählen Sie zunächst ein wenig über sich selbst, bevor wir über Ihre Arbeit sprechen. Sind Sie in Israel geboren?

Ich bin in Teheran, Iran, geboren. Wir sind Ende Januar 1979 in der Hochphase der Revolution nach Israel eingewandert. Das heißt, genau am selben Tag, an dem der Schah den Iran verließ, verließen auch wir den Iran. Als ich aus dem Iran ausgewandert bin, war ich achteinhalb Jahre alt, und als Kind habe ich natürlich die tiefe Bedeutung der Revolution, die Beweggründe der Menschen und ihre Forderungen nur sehr oberflächlich verstanden. Konkret habe ich nur verstanden, dass sich die Lage sehr geändert hat. Unsere Einwanderung vollzog sich so schnell, dass für unsere Eltern keine Zeit blieb, um uns ruhig und ernsthaft zu erklären, warum wir unser Land verlassen und an einen anderen Ort ziehen.

Wann haben Sie Ihre Aktivität in B´Tselem begonnen und welches sind Ihre jetzigen Aufgaben?

Meine Tätigkeit in B’Tselem ist nur ein Teil meiner politischen und menschenrechtlichen Aktivitäten und eigentlich ein späterer Teil. Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren als politische Aktivistin tätig: Sowohl in meinem Job als Journalistin, in Menschenrechts- und politischen linken Institutionen als auch bei Aktivitäten im Zusammenhang mit der Forderung nach Gerechtigkeit.

Seit sieben Jahren bin ich im Vorstand von B´Tselem und habe nun, wie Sie bereits feststellten, seit dem 19. Juli 2022 den Vorsitz der NGO übernommen. Die Arbeit unserer Aktivisten ist so strukturiert, dass sie den Vorsitzenden des Vereins in gewisser Weise begleiten und – wenn notwendig – unterstützen: So beispielsweise bei der Durchsetzung der öffentlichen Ziele des Vereins, bei den Tätigkeiten zur Umsetzung dieser Ziele sowie bei der Unterstützung des Vorsitzenden in anderen Belangen. Dies bedeutet zugleich eine Art der Überwachung wie auch der Unterstützung unserer Arbeit.

Ich habe heute Morgen auf Ihrer Facebook-Seite gesehen, dass Sie in der Stadt Jenin waren. Als Sie zurückkehrten, wurden Sie lange an einem Kontrollpunkt aufgehalten. Können sie den Grund erläutern?

Nun, B’Tselem hat vor ungefähr anderthalb Jahren einen Bericht veröffentlicht, in dem wir feststellen, dass in fast allen Gebieten unter israelischer Herrschaft, ein Apartheidsregime herrscht. Was mir passiert ist entspricht der Umsetzung dieser Apartheid, nämlich der Trennung der Menschen dieser Region aufgrund ihrer ethnischen Identität. Das Regime will nicht, dass israelische Juden und Palästinenser sich auf menschlicher Ebene treffen und sich anfreunden.

Die palästinensischen Gebiete der Westbank gliedern sich in drei Teile: Gebiet C, welches unter vollständiger israelischer Kontrolle steht. Gebiet B, welches unter militärischer israelischer Kontrolle steht, während die zivile Verwaltung in der Verantwortung der Palästinenser liegt. Und Gebiet A, welches die großen palästinensische Städte im Westjordanland umfasst, wie Ramallah, Bethlehem, Jenin, Nablus. Gemäß dem Oslo-Abkommen sollte dieses Gebiet sowohl in Bezug auf die Sicherheit als auch auf die zivile Verwaltung unter der vollständigen Kontrolle der palästinensischen Regierung stehen. Gesetzlich hat Israel den israelischen Juden den Zutritt diesem letztgenannten Gebiet vollständig untersagt. Meiner Meinung nach ist dies eine Art Gesetz, dem es nicht nur an Logik fehlt. Und sollte es irgendeine Logik darin geben, dann diejenige der Aufrechterhaltung und Stärkung des Apartheidregimes.

Ich habe Bekannte und Freunde in Jenin besucht und als ich zurückkehrte, war es für die Soldaten des Kontrollpostens sehr merkwürdig, dass eine jüdische Frau allein nach Jenin gefahren war. Besonders weil gestern früh [29. August 2022] die israelische Armee Jenin erneut angegriffen und beschossen hat, wobei mehrere Menschen verletzt und festgenommen wurden. Dementsprechend wird die Lage natürlich von Tag zu Tag sensibler. Aber für israelische Soldaten und für neunundneunzig Prozent der israelischen Juden ist es in der Tat sehr befremdlich, dass ein Jude ohne Waffe in die palästinensischen Gebiete einreist. Und dies ist meiner Meinung nach eine Tragödie. Wie sind wir an den Punkt gekommen, an dem wir keine Leute treffen und mit ihnen reden können ohne eine Waffe auf sie zu richten? Der einzige Weg, den wir gelernt haben, den Palästinensern gegenüberzutreten, ist, zu den Waffen zu greifen.

Können Sie uns etwas über die Geschichte von B´Tselem erzählen? Wann hat die NGO mit ihrer Arbeit begonnen? In welchen Bereichen arbeitet sie? Und weshalb ist eine solche Organisation nötig?

B´Tselem ist eine israelische Organisation und wurde vor fast 25 Jahren gegründet. Nach der Besetzung der palästinensischen Gebiete im Jahr 1967 behauptete Israel mehrere Jahre lang, dass die Besetzung nur vorübergehend sei und die Gebiete nach Friedensverhandlungen zurückgegeben würden. Mit der Zeit wurde jedoch immer deutlicher, dass Israel nicht die Absicht hatte, sich von diesen Gebieten zu trennen. Stattdessen wurden immer mehr illegale Siedlungen errichtet und Israelis dazu ermutigt, dort zu leben. Dies kann nur einhergehen mit der gleichzeitigen massiven Unterdrückung der Rechte der Palästinenser in der Region.

B’Tselem wurde mit dem Ziel gegründet, vor allem die Verletzung der Menschenrechte des palästinensischen Volkes in den besetzten Gebieten zu dokumentieren und die israelische Gesellschaft darüber zu informieren. Damals dachten wir, dass die Israelis vielleicht nicht wissen, was in den besetzten Gebieten passiert, was die Soldaten und die Siedler in den besetzten Gebieten tun. Deshalb war das erste Ziel, die Dokumentation darüber und die Information der Israelis über diese Menschenrechtsverletzung in den besetzen Gebieten.

Da die Besetzung im Laufe der Zeit viel umfassender und gewalttätiger wurde, schreiben wir inzwischen jedes Jahr mehrere Berichte: Jeder behandelt ein anderes großes Thema, wie beispielsweise die Enteignung von palästinensischem Land. Die Besatzung der West-Bank ist die eine Sache, aber durch die Enteignung des eigentlich palästinensische Besitzes geht dieses in den legalen Besitz der Israelis über und die ursprünglichen Eigentümer verlieren ihre Rechte daran.

Bedeutet dies, dass die israelische Regierung palästinensischen Besitz zugunsten von Israelis legal beschlagnahmt?

Ja, genau. Ein Beispiel ist eben die nach israelischem Recht legale Beschlagnahmung von palästinensischem Land zugunsten eines Israelis. Ein anderes Beispiel ist die Wasserfrage, die in dieser Region zu einem sehr kritischen Thema geworden ist. Dies ist einer der wesentlichen Aspekte der Arbeit von B´Tselem: Das Schreiben von Berichten zu wichtigen Themen.

Eine weitere zentrale Aufgabe ist die Zusammenarbeit mit internationalen Diplomaten, um sie mit tatsachengerechten und wahrheitsgemäßen Informationen zu versorgen, damit sie diese bei ihren politischen Entscheidungen in Bezug auf Israel berücksichtigen.

Glauben Sie, dass Ihre Berichte einer der Faktoren war, warum viele NGOs und internationale Foren Israel als Apartheidsregime anerkannten?

Zweifellos haben sie eine große Wirkung gehabt. Allerdings muss ich feststellen, dass es bereits zuvor palästinensische Institutionen gab, die Israel als Apartheidsstaat charakterisiert haben. Aber erst seitdem auch B’Tselems Israel als Apartheidregime bezeichnet hat, wurde diese Position von anderen internationalen Organisationen übernommen: So veröffentlichten beispielsweise Amnesty International oder auch Human Rights Watch etwas Vergleichbares ebenso wie noch weitere internationale Organisationen. Ohne Zweifel wurden jedoch diesbezüglich die ersten Schritte von B´Tselem unternommen.

Haben sie Beziehungen zu palästinensischen Gruppen und Organisationen und kooperieren sie mit diesen?

Ja, intensive. Bei allen relevanten Themen sind die palästinensischen Menschenrechtsinstitutionen natürlich eine der wichtigsten Adressen für eine Kooperation. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass Israel kürzlich sechs palästinensische Menschenrechtsorganisationen als terroristische Organisationen eingestuft und geschlossen hat. B´Tselem hat sich umgehend solidarisch erklärt und veröffentlicht, dass es sich um unsere Kollegen handelt, mit denen wir unsere Zusammenarbeit fortsetzen und die wir weiterhin unterstützen werden. Dies ist ein sehr wichtiger Teil unserer Arbeit.

Werden Sie im Rahmen Ihrer Aktivitäten von der israelischen Regierung unter Druck gesetzt?

Die israelische Regierung versucht seit Jahren, die Arbeit von Menschenrechtsaktivisten, sowohl von Organisationen als auch von Einzelpersonen, so weitgehend einzuschränken. Sie hat beispielsweise mehrere Gesetze erlassen, um Organisationen wie B’Tselem finanziell unter Druck zu setzen.

Allerdings ist es wichtig zu wissen, dass die Bedeutung des Apartheidsregimes darin besteht, palästinensische Institutionen zu terroristischen Organisationen zu erklären, ihre Büros zu schließen und ihre Mitglieder zu verhaften. Aber wir als israelische Juden – auch wenn die Regierung uns nicht mag – stehen unter dem Schutz dieses Apartheidsregimes und das nur, weil wir Juden sind.

Genau das ist einer der Vorteile, der Apartheid für Juden: Sie erlaubt es nicht, gegen jüdische Organisationen genauso vorzugehen wie gegen palästinensische Organisationen. Denn dies widerspricht der Logik der Apartheid. Vielleicht wird sich die Situation eines Tages auch für uns ändern, so dass wir uns darauf vorbereiten müssen. Möglicherweise werden eines Tages auch unser Büro geschlossen oder unsere Aktivisten verhaftet. Wir bereiten uns zwar auf diesen Tag vor, aber ich glaube derzeit nicht, dass ein solcher Tag nahe ist.

Viele Menschen in Europa, insbesondere die Regierungen, betrachten die Boykott- und Desinvestitionsbewegung in Israel, d.h. den BDS, als antisemitische Bewegung. Wie stehen Sie dazu?

Ich möchte feststellen, dass es nicht nur um BDS geht, sondern dass Israel seit seiner Unabhängigkeit den Holocaust politisch instrumentalisiert. Er dient nicht nur als eine Keule um Kritiker mundtot zu machen, sondern auch als ein Vorhang, mit dem er seine eigenen Verbrechen verschleiert. Diese Methode ist so weit fortgeschritten, dass jegliche Kritik an Israels Politik als antisemitisch diffamiert wird. Und ich muss sagen, als Jüdin gibt es wenige Sachen, die mich mehr aufregen als diese Methode. Weil sie die größte Tragödie, die meinem Volk widerfahren ist, mit Füßen tritt und sie als Instrument missbraucht.

Das ist für mich als Jüdin deshalb auch deshalb so schmerzhaft, weil es weltweit echten und zunehmenden Antisemitismus gibt, aber mit seiner Politik bekämpft Israel nicht diesen echten Antisemitismus, sondern missbraucht den Antisemitismus als politische Keule. Gleichzeitig verhandelt sie mit internationalen Führern, die antisemitischen Gruppen nahestehen und lädt sie öffentlich als Gast der israelischen Regierung ein, um mit ihnen militärische Geschäfte abzuschließen. Sie verschließt also wegen finanzieller und militärischer Vorteile die Augen vor echtem Antisemitismus, während gleichzeitig Menschenrechtler als Antisemiten diffamiert werden.

Wenn aus ihrer Sicht die Arbeit des BDS richtig ist, wie schätzen dann die Unterstützer des BDS die Arbeit von B´Tselem ein?

B´Tselems Arbeit ist unabhängig vom BDS. BDS bedeutet nicht, dass alles Israelische boykottiert werden soll – möglicherweise gibt es allerdings Leute, die es so auslegen. Aber dies ist dann eine falsche Interpretation der politischen Ideen des BDS. Der BDS boykottiert lediglich diejenige Zusammenarbeit, aus welcher Israel politische und sonstige Vorteile erzielt. Dies hat jedoch nichts mit B’Tselem zu tun. Gleichzeitig respektieren und verstehen wir es aber, wenn Palästinenser die Arbeit des BDS so deuten, dass es keinerlei Beziehungen zu israelischen Organisationen geben soll. Denn wir wollen den Menschen unter der Besatzung nicht vorschreiben, wie sie kämpfen sollen – dies ist die Entscheidung der Palästinenser selbst.

Wie schätzen Sie den Stand der öffentlichen Meinung in Israel bezüglich der Palästinenserfrage ein? Halten Sie den Traum vom Frieden zwischen den beiden Nationen und die Zwei-Staaten-Lösung noch für möglich?

Dies sind zwei verschiedene Probleme. Ich weiß nicht, ob es praktikabel ist, zwei unabhängige Staaten zu bilden. Aber meiner Meinung nach, sollte der internationale Druck darin bestehen, Unterdrückung und Besatzung in den besetzten palästinensischen Gebiete zu beenden: Stopp des Baus illegaler Siedlungen; Stopp der israelischen Militäroperationen in den besetzten Gebieten.

Ob es letztlich eine Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung geben soll – wir als Menschenrechtsorganisation haben keine Stellungnahme dazu, wie dieser Konflikt beendet werden soll. Unser einziges Ziel ist die Beendigung der Menschenrechtsverletzungen und dies ist nicht möglich, ohne die Beendigung der Apartheid und die Besetzung der palästinensischen Gebiete.

Es ist interessant zu wissen, was gewöhnliche Israelis über Aktivisten wie Sie denken. Ich meine damit nicht rechtsextreme Gruppen in Israel, sondern die Israelis im Allgemeinen. Wie verhalten sich diese Ihnen gegenüber, wenn sie hören, dass Sie die Rechte der palästinensischen Nation verteidigen?

Ich denke, Menschen wie ich, die offensichtlich nicht-zionistische Juden sind, machen weniger als ein Prozent der israelischen Bevölkerung aus. Wie Sie sich vorstellen können, werden wir nicht sehr geachtet. Ich bin Journalistin und die Artikel, die ich verfasse, werden von Dutzenden Menschen in dem Sinne kommentiert, dass ich eine Spionin oder ein innerer Feind sei, dass ich dies oder jenes tun müsse oder des Landes verwiesen werden sollte und so weiter. Es gibt zahlreiche solcher Kommentare. Aber ich führe mir immer wieder vor Augen, dass meine Situation trotz all dieser Vorwürfe immer noch viel, viel komfortabler und sicherer ist als die Situation meiner rechtlosen palästinensischen Freunde. Mir als Jüdin kann dagegen nichts passieren.

Welche Perspektive sehen Sie – aufgrund Ihrer Erfahrung – in dieser Situation einerseits für die Aktivitäten von B´Tselem und andererseits für die gesamte Region (d.h. Israel und Palästina)?

Sehen Sie, jahrelang dachten wir wirklich, dass wir mit unseren Informationen und Berichten die jüdischen Israelis davon überzeugen könnten, dass diese Situation niemandem nutzt. Warum sollen wir unsere Kinder und Enkel zur Armee schicken und zulassen, dass sie ein anderes Volk unterdrücken? Denn solange die Besatzung andauert, wird der palästinensische Widerstand weitergehen. Wir waren uns sicher, dass die Israelis dies eines Tages verstehen und die Politik ändern würden.

Nun müssen wir jedoch erkennen, dass die Denkweise der israelischen Gesellschaft sich immer weiter nach rechts entwickelt: In Richtung von mehr Gewalt, von vermehrter Unterdrückung, von zunehmender Landnahme, von verstärktem Bau illegaler Siedlungen usw. Wenn ich mir heute eine Zukunft vorstellen möchte, dann nur in der Hoffnung, dass die internationale Gemeinschaft erkennen wird, dass die Verteidigung Israels zugleich eine Beteiligung an diesen Verbrechen Israels bedeutet. Um der Rechte beider Völker willen, sowohl des palästinensischen als auch des israelischen, sollte die internationale Gemeinschaft Druck auf Israel ausüben und es zwingen, von dieser Politik gegenüber den Palästinensern Abstand zu nehmen. Das heißt, sie müssen Israel an einen Punkt bringen, an dem dieses erkennt, dass es nicht länger vorteilhaft ist, die Gebiete weiter zu besetzen und jeden Tag mehrere Millionen Palästinenser zu unterdrücken und ihre Rechte zu negieren. Und die Einzigen, die Israel davon überzeugen können, dass ihnen ihre aktuelle Politik auch selbst schadet, ist die internationale Gemeinschaft.

Lassen Sie mich Ihnen als Iranerin abschließend etwas sagen: Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass mir als neunjährige iranische Einwanderin, noch bevor ich aus dem Flugzeug ausgestiegen und einen Fuß auf israelischen Boden gesetzt habe, mehr Rechte in diesem Land zustanden als einer palästinensischen Familie, die hier seit hunderten von Jahren lebt. Das versetzt mich in eine kolonialistische Lage.

Der Besatzer nimmt dem Besetzen den Respekt, aber der Besatzer selbst verdient überhaupt keinen Respekt. Für uns ist die gesamte Situation sehr beschämend. Wenn wir etwas von unserer Menschlichkeit und Selbstachtung retten wollen, müssen wir diese Situation beenden. „Solange es nur einen Gefangenen auf der ganzen Welt gibt, gibt es nirgendwo auf der Welt Freiheit.“

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Ein Reisebericht aus Palästina in Schlaglichtern von Kreuzberg United 

Von Ende Juli bis Mitte August waren wir Teil einer internationalen Delegation nach Palästina. Nach einer mehrtägigen politischen Tour zunächst durch israelisches Staatsgebiet und später durch die Westbank, ging es für eine Woche nach Farkha, einem kleinen Ort nahe Salfeet. Dort veranstaltete die Palestinian Peoples Party (PPP), die Erbin der historischen kommunistischen Partei, zum 27. Mal das „Farkha-Festival“ für Jugendliche aus Palästina und der ganzen Welt. Mit dabei diesmal Internationalist:innen aus Deutschland, Österreich, Dänemark, Italien und Kurdistan. Bei der Rundreise und bei politischen Vorträgen und kulturellen Programm, sowie der Freiwilligenarbeit auf dem Festival konnten wir viel lernen und erleben, wovon wir in ein paar Schlaglichtern berichten wollen.

Das Land

Kurz und knapp zum allgemeinen Verständnis: Palästina ist seit der Staatsgründung Israels 1948 im Großen und Ganzen in drei Teile gespalten. Ein Großteil wurde dabei offizielles Gebiet dieses Staates; die Palästinenser:innen nennen diesen Teil deshalb auch die ’48er-Gebiete‘. Die Westbank (zu deutsch: Westjordanland, da westlich des Flusses Jordan) ist eine weit kleinere Landfläche im Osten, die aus einem komplizierten Gewirr aus vom israelischem Staat militärisch kontrolliertem Gebiet, völkerrechtlich illegaler Siedlungen und kleinen unzusammenhängenden Abschnitten sogenannter palästinensischer Autonomie besteht. Hinzu kommt nun noch der abgeriegelte, belagerte und überbevölkerte Gaza-Streifen, ein Freiluftgefängnis im Westen an der Mittelmeerküste und der Grenze zu Ägypten.

Über die ganze Delegationsreise hinweg erleben wir das Land in seiner ganzen Schönheit und seiner ganzen Verzweiflung zugleich. Dazu gehören die Jahrtausende alten Olivenhaine, die bunten Märkte und historischen Städte und Häfen, aber auch die Trostlosigkeit heruntergekommener Dörfer und Behelfsbehausungen. Der bedrückende Anblick von Orten der Vertreibung, Bauruinen und offener Armut. Die Gewalt und Brutalität der Besatzung werden insbesondere in der Westbank unübersehbar. Die meterhohen Mauern, die Militärbasen und der Stacheldraht sind ihre beton- und stahlgewordenen Zeugnisse. Die Checkpoints und Siedlungen sind handfester Ausdruck von Schikane und Landraub. In Hebron (arabisch Khalil) konzentriert sich all das besonders beklemmend mitten in der Altstadt. Dort sind ganze Viertel abgeriegelt und so gut wie gänzlich gesäubert. In anderen schützen nur Gitter oder Netze über den Straßen vor Müll und Steinen, die Siedler aus den oberen, bereits übernommenen Stockwerken herabwerfen. Gegen Urin, Säure und Metallstangen schützen sie nicht. Überall zeugen Wandmalereien vom Leid der Hinterbliebenen Ermordeter und von der Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Der Weltenwechsel beim Übertreten der Grenze des offiziellen Staatsgebietes Israels ist dabei besonders eindrücklich.

Die Spaltung

Unsere Reise beginnt bei Nazareth bei den jungen Genoss:innen der Israeli Communist Party (ICP, hebräisch Maki), die jüdische und arabische israelische Staatsbürger:innen im Kampf gegen Besatzung und Ausbeutung vereint. Beim späteren Zusammentreffen mit den Genoss:innen in der Westbank fällt auf, wie groß der Keil ist, der zwischen diese beide Seiten getrieben wird. Auf der einen Seite, im Staat Israel, kämpfen Palästinenser:innen gegen die Unterdrückung als Staatsbürger:innen zweiter Klasse an. Währenddessen finden sich die auf der anderen Seite in einer Situation wieder, in der ihnen derselbe Staat als militärische Besatzung gegenübertritt und ihnen gar nichts zugesteht, außer einer korrupten Kollaborationsregierung, die in ein paar zerstreuten Flecken Land auf dem Rücken ihrer Bevölkerung ein wenig Staat spielen darf.

So fällt uns im Nachhinein auf, wie ausgesprochen wertvoll der Kontakt auch mit der ICP/Maki und ihre erstmalige Teilnahme am Farkha-Festival ist. So können wir die linke Perspektive und den Kampf auf beiden Seiten der Mauer kennenlernen und werden Zeuge davon, wie der gemeinsame Kampf der Jugend über die Trennung hinweg eine Stärkung erfährt. Wichtig ist auch, dass wiederholt klar gemacht wird: Sich auf die Spaltungslinie entlang von Religion und vermeintlicher Ethnie einzulassen, würde der Logik des Zionismus, und damit der falschen ideologischen Rechtfertigung des politischen Projektes Israel folgen. Hier waren wir sehr froh über die Teilnahme und inhaltlichen Beiträge des Genossen von der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost, der die Vereinnahmung des Judentums für diesen Staat als einen Gewaltakt an progressiven Jüd:innen, wie denen seiner Organisation, zurückwies. Wir begreifen: Die Überwindung der aufgezwungenen Spaltung findet im gemeinsamen politischen Kampf statt. Die beste Voraussetzung dafür findet sich aber in der persönlichen Begegnung.

Die Arbeit

Tragendes Element des Farkha-Festivals ist die gemeinsame Freiwilligenarbeit im Dorf. Wir werden in gemischte Gruppen aufgeteilt, die sich auf Baustellen in den kommunalen Schulen, dem Kindergarten, der Dorfklinik, oder dem ökologischen Garten betätigen. Jeden Morgen werden wir in aller Frühe geweckt durch ein lautes „Yallah, shabab, good morning!“, das uns für die Arbeit frisch macht. Diese Volunteer-Work, mit der unser Tag beginnt, hat seit dem Sozialisten Tawfiq Ziad eine lange Tradition in der palästinensischen Linken.

Wir verstehen schnell, warum: Hier erleben wir Arbeit auf eine ganz neue Weise. Zuhause, in unseren Seminaren zur Kritik der politischen Ökonomie und im Alltag begegnen wir unserer Tätigkeit in ihrem Zwangsgewand der Lohnarbeit. Wir lernen, wie sie uns zur Nötigung und zum Prozess unserer Ausbeutung wird und dass die Minutendieberei und das Getrödel der Beginn des Klassenkampfes im Kleinen sind. Hier verkehrt sich dies. Wenn wir den Nutzen unser Arbeit für die Gemeinschaft erkennen, beginnen wir, den Spaß an unserem Schaffen zu entdecken. Wir fangen an, darin aufzugehen, alles aus uns herauszuholen und uns selbst in unser Werk und die Verbesserung der Arbeitsprozesse einzubringen. Wir beginnen damit auch, uns gegenseitig und uns selbst auf eine ganz neue Weise kennenzulernen. Es mag nicht viel sein, was wir am Ende vollbringen. Aber es ist die kurzzeitig erlebte Ahnung, dass unsere Zukunft nicht einfach die Beseitigung alles bedrückenden Bestehenden, sondern auch die praktische Schaffung des Neuen sein wird. Eines Neuen, in dem wir die Gegebenheiten nach unseren eigenen Zielen und Zwecken umformen und die Dinge selbst in die Hand nehmen. Und wir erkennen, dass wir das nur zusammen schaffen werden.

Der Widerstand

Gegen Mitte des Festivals werden wir eingeladen, uns an einer Demonstration gegen den aktuellen Siedlungsbau in dem kleinen Ort Beit Dajaan zu beteiligen. Dieses Dorf befindet sich in der Situation, durch bestehende israelische Siedlungen so gut wie gänzlich vom Rest des palästinensischen Landes in der Westbank abgeschnitten zu sein. In dieser Lage sieht es sich nun mit einem weiteren Akt der Kolonialisierung konfrontiert: Ein einzelner Siedler ist drauf und dran, sich unter dem Schutz des israelischen Militärs rund die Hälfte der landwirtschaftlichen Fläche ihres Ortes unter den Nagel zu reissen.

Diese Siedlungspolitik, bei der israelische Bürger sich Landflächen aneignen und diese damit im Gleichschritt mit der militärischen Gewalt faktisch für den Staat Israel annektieren, ist im Übrigen selbst dem internationalen Recht nach unbestritten illegal. In voller Ignoranz dieser alltäglichen Gewalt schlägt die reine Existenz von Widerstand gegen diese Landnahme besonders in Deutschland regelmäßig Wellen der heillosen Empörung. So auch in diesem Fall: Die deutsche Presse berichtete über diese hilflose Aktion der Gegenwehr gegen eine militärisch abgesicherte Enteignung, als wäre sie ein niederträchtiger Terrorakt. In unserer Wahrnehmung aus erster Hand hingegen war dieser Tag ein Ausdruck der Alltäglichkeit der Gewalt und des Leides, der für die Menschen vor Ort ein trauriges, wöchentliches Ritual darstellt.

Nur ausnahmsweise sahen wir einmal die scharfen Waffen auf uns gerichtet, atmeten wir den Qualm der Granaten, stolperten wir übereinander her, weil wir wegen des Tränengases nichts mehr sahen, spürten wir die Härte der sogenannten ‚rubber coated bullets‘, die nichts anderes sind als Stahlkugeln in einer dünnen Plastikummantelung, die bekanntermaßen Augen und Schädelknochen zertrümmern können. Es war Glück, dass wir den Tag ohne schwerwiegende Verletzungen überstehen konnten – vier anderen Jugendlichen erging es weit schlimmer. Wo wir nur einen einzigen Tag‘Gast waren, sind Leid und Tod Stammgast.

Und wenn sich die deutsche Öffentlichkeit über die Gegenwehr gegen die Vernichtung der palästinensischen Lebensgrundlage hier wieder in gewohnter moralischer Überlegenheit zu empören wusste, können wir nur eins sagen: Wer über militärische Besatzung nicht sprechen möchte, über Landnahme, rassistische Schikane und Unterdrückung, über das Abgraben von Wasser, über Überausbeutung in der Industrie, über die zwangsweise Diaspora und alltägliche Gewalt und über den ebenso alltäglichen Einsatz von Kriegswaffen gegen (oft minderjährige) Zivilist:innen – wer von all dem nicht reden möchte, der soll von den Steinen in den Händen von Kindern, die der Enteignung des Landes ihrer Großeltern durch die Übermacht des größten Militärapparates der gesamten Region entgegensehen, schweigen.

Es gilt zu verstehen: Wie in jedem Herrschaftsverhältnis bedeutet auch hier der Normalzustand Gewalt. Jede Haltung, die sich in Ignoranz dessen auf einen scheinheiligen Appell an den Frieden zurückzieht, macht sich mit dieser Brutalität gemein. Es kann keinen Frieden geben, wo die Gewalt der Besatzung den Ton angibt. Es kann dazu auch keine Neutralität geben – jeder Versuch einer solchen Positionierung führt auf die Seite des Unterdrückers. Niemals werden wir uns diesem Unrecht schweigend zur Seite stellen können und niemand, der oder die eine Leidenschaft für das Leben empfindet, darf das jemals mit sich durchgehen lassen.

Die Jugend

Bei aller politischen Information und Diskussion, ist der Kern des Festivals die persönliche Begegnung als kämpfende junge Menschen. Und so liegt darin auch die prägendste Erfahrung dieser paar Tage. Die Freude, dass wir als Ausländer:innen uns für ihr Leben und ihren Kampf interessieren und daran ein Stück weit teilhaben, die Leidenschaft, mehr über uns zu erfahren, und die herzliche Gastfreundschaft bringen uns nicht selten in Verlegenheit. All das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es sind, die am meisten von unserem Gegenüber lernen können.

Zugegeben: Die Lage der palästinensischen Jugend ist prekär. Jeder und jede hat jemanden an die Militärbesatzung verloren. Die allgemeine Situation ist sehr bedrückend. So streben viele im Zuge der jüngsten Neoliberalisierung danach, irgendwie Karriere zu machen. Sie wollen um jeden Preis im Ausland studieren oder arbeiten, um zumindest für sich selbst und ihre Familie ein klein wenig Perspektive zu schaffen. Auf der anderen Seite erleben wir aber auch einen beeindruckenden jugendlichen Kampfgeist. Viele wollen sich mit der Beerdigung ihrer Hoffnung auf Befreiung, mit der endgültigen Verewigung der Unterwerfung und auch insbesondere mit der Anpassung und dem Aufgeben der alten Generationen der linken Bewegung nicht abfinden. Wie auf vielen Wänden, prangt auf ihren T-Shirts das Portrait des lateinamerikanischen Revolutionärs Ernesto ‚Che‘ Guevara. Von ihm stammt der Ausspruch: „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“.

Dass in diesem Satz etwas Wahres steckt, entdecken wir in den persönlichen Freundschaften, die wir mit den Jugendlichen und teils sehr jungen Kindern, oft ohne gemeinsame gesprochene Sprache, schließen. Unsere jeweiligen Lebens- und Kampfsituationen mögen sehr verschieden sein – wir erkennen dennoch unsere Gemeinsamkeit in diesem unverkennbaren jugendlichen Drang nach einem Aufbruch. Von der besonderen Stärke, in der unsere Genoss:innen diesen zum Ausdruck bringen, können wir nur Kraft schöpfen. Zwischen all dem Tanzen und Klatschen zu traditionellen und sozialistischen Liedern ertönt in unnachgiebiger Regelmäßigkeit aus allen Kehlen ohrenbetäubend laut die Parole: تحيا الشبيبة الشيوعية – Tahya alshabibat alshuyueia – es lebe die kommunistische Jugend!

Die Perspektive

Die Situation der sozialistischen Sache in Nah-Ost ist ernst. Der israelische Staat verhält sich unter wachsendem Einfluss rechtsextremer Kräfte immer aggressiver und ist drauf und dran, die innere Apartheid auf den Gipfel zu treiben und die absolute Unterwerfung der Bevölkerung der Westbank endgültig zu zementieren. Die ehemalige Führung der einstigen Befreiungsbewegung gibt sich der Korruption und Kollaboration immer weiter hin und verstärkt die Repressionen nach innen. Der realpolitische Ansatz einer Zwei-Staaten-Lösung ist ungeachtet aller leeren internationalen Appelle durch die faktische Entwicklung in just diesem Augenblick endgültig vom Tisch. Die ganze Situation schreit nach einem sozialistischen Kampf um eine ganzheitliche Befreiung und für ein gerechtes multireligiöses Zusammenleben. Den Takt dafür gibt aber die Besatzungsmacht selbst an – die Zeit rennt.

Unsere Gastgeberin, die Peoples Party (PPP), lehnt den bewaffneten Kampf als Strategie in der aktuellen Situation zugunsten eines popular struggle, also eines breiten Kampfes der Bevölkerung, ab. Wir müssen hoffen, dass es ihr gelingt, eine Bewegung in enger Zusammenarbeit mit den Genoss:innen im israelischen Staat in Gang zu setzen, die dem Tatendrang der Jugend und der allgemeinen Enttäuschung über den zersetzenden Kurs aller herrschenden Kräfte ein Ventil bietet. Eine Bewegung, die die progressiven Kräfte stärkt und in eine handlungsfähige Position bringt. Und wir müssen alles daran setzen, unseren Teil dazu beizutragen – sowohl durch die tatkräftige Unterstützung des lokalen Kampfes, wie auch durch einen effektiven Kampf im imperialistischen Zentrum. Denn hier, bei uns zuhause im Westen, ist die Stabilisierung der dortigen Besatzung Teil des Interesses der Herrschenden. Wir kämpfen also nicht aus Großzügigkeit für jemand anderes, wir kämpfen einen gemeinsamen Kampf, Seite an Seite. Solidarität ist eben nicht nur Zärtlichkeit. Solidarität ist auch eine Waffe – lernen wir gemeinsam, sie schlagkräftig zu bedienen. Es gibt einiges zu tun. Auf geht’s, Jugend – Yallah, shabab!

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Michael Sappir ist israelischer Publizist, lebt in Leipzig und studiert Philosophie. Er organisiert sich bei Die Linke.SDS sowie Jüdisch-israelischer Dissens (JID Leipzig).

Eine der größten Schwierigkeiten, in Deutschland über Palästina/Israel zu sprechen, liegt in den Begrifflichkeiten begraben. In Deutschland sozialisierte Menschen erschrecken sich häufig darüber, dass wir, die wir aus dem Land kommen, gelegentlich salopp von „den Juden“ und „den Arabern“ sprechen – anstatt von „Israelis und Palästinenser:innen“. Doch so ist die Alltagssprache vor Ort, und zwar sowohl die hebräische als auch die arabische. Diese begriffliche Einordnung beruht auf einer realen Unterteilung: Die Menschen werden vor allem nach diesen zwei Kategorien einsortiert und unterschiedlich behandelt.

Im Gegensatz zu anderen modernen Nationalstaaten begreift sich der Staat Israel nicht als Staat aller seiner Bürger:innen – diese Phrase gilt in Israel als linksextreme Provokation – und noch nicht einmal als Staat seiner jüdischen Bürger:innen, sondern als Staat des jüdischen Volkes überhaupt. Entsprechend genießen als jüdisch eingeordnete Nichtbürger:innen ganz offiziell Rechte, die selbst jene Staatsbürger nicht genießen, die als nichtjüdisch eingestuft werden.

Die größte nichtjüdische Minderheit unter den israelischen Staatsbürger:innen ist mit 20 Prozent jene, die vom Staat als „israelische Araber“ klassifiziert wird. Die große Mehrheit davon versteht sich als Palästinenser:innen. Hierzu kommen die ca. 4.5 Millionen Palästinenser:innen, die unter der Besatzung leben, die ebenfalls unter einem separaten (Un)Rechtsregime leben. Im israelischen Alltag ist diese Unterscheidung auch eine räumliche Teilung: Es gibt „arabische Städte“, „jüdische Städte“, und „gemischte Städte“ in denen es wiederum getrennte Stadteile gibt. Nur selten ziehen Menschen ins Gebiet des anderen Volks um; die Trennung wird vom Staat konsequent gefördert. Vor dem Hintergrund solcher systematischen, institutionalisierten Trennung zwischen „Juden“ und „Arabern“ entfaltet sich eine weitere Begriffsdebatte: Darf man dazu „Apartheid“ sagen? Der neue Bericht von Amnesty International kommt zu einer eindeutigen Antwort: Ja, man kann. Die reflexartigen Abwehrreaktionen israelischer Regierungsvertreter:innen wurden laut, noch bevor der Bericht erschienen war. In Deutschland wollen viele diese Debatte ersticken, noch bevor sie begonnen hat: Von Anfang an wird die Anwendung des Begriffs im israelischen Zusammenhang als antisemitisch abgetan. So vermeidet man, sich mit der Begründung der schwerwiegenden Vorwürfe auseinanderzusetzen.

Bekannte Fakten, brisante Konsequenzen

Dabei geht es um einen Bericht, der mit 280 Seiten das Ergebnis von über vier Jahren kollektiver Forschungsarbeit vorstellt. Er geht gezielt der Frage nach, ob Israels Politik gegenüber den Palästinenser:innen die Schwelle des Verbrechens der Apartheid erreicht oder nicht. Der Bericht macht deutlich, dass es hier nicht um einen direkten Vergleich mit Südafrika geht, sondern um die völkerrechtliche Bedeutung von „Apartheid“ als Rechtsbegriff: Laut Artikel II der Anti-Apartheidkonvention von 1973 zählen zu diesem Tatbestand etwa „unmenschliche Handlungen, die zu dem Zweck begangen werden, die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten und aufrechtzuerhalten und diese systematisch zu unterdrücken“. Die aggressiven Reaktionen auf den Bericht kommen nicht nur daher, dass Amnesty dies bejaht. Obwohl die Beweisgrundlage, die der Bericht vorstellt, weitgehend aus vorheriger Forschung stammt, z.B. aus den Berichten von Human Rights Watch und B’Tselem, markiert der Bericht eine Fortentwicklung in mehrfacher Hinsicht.

Erstens ist der Umfang der Analyse breiter als bei den meisten internationalen Berichten: Ähnlich, wie es im palästinensischen Narrativ schon lange der Fall ist, wird das gesamte Hoheitsgebiet des Staats Israel als eine systematische Einheit untersucht, hierzu zählt das „Kerngebiet“ (inklusive annektierter Golanhöhen und Ost-Jerusalem) sowie die besetzen palästinensischen Gebiete.

Beachtenswert ist dabei, dass auch die Wurzeln des Systems, die in der Zeit der Staatsgründung 1948 liegen, erörtert werden; ebenso die Thematisierung des Umgangs mit den palästinensischen Geflüchteten und ihren Nachkommen. Dieses Thema ist ein zentrales Thema für die palästinensische Befreiungsbewegung und umgekehrt wichtig zum Verständnis israelischer Handlungsweisen.

Darüber hinaus sind auch die Empfehlungen des Berichts brisant: Der Bericht fordert den Staat Israel auf, das Apartheidsystem abzubauen, und er fordert alle Staaten sowie die UNO auf, alle politischen und diplomatischen Werkzeuge einzusetzen, um sicherzustellen, dass israelische Behörden dieser Forderung tatsächlich nachkommen. Amnesty ruft beispielsweise zur internationalen strafrechtlichen Untersuchung des Staates Israels und vieler seiner Politiker:innen auf. Auch weist der Bericht darauf hin, dass Staaten, die die Anti-Apartheidkonvention unterzeichnet haben, dazu verpflichtet sind, mutmaßliche Apartheidverbrecher:innen in ihrem Staatsgebiet prompt zu untersuchen und gegebenenfalls der völkerrechtlichen Justiz zu übergeben. Diese Pflicht betrifft nicht zuletzt die BRD. Nicht zu übersehen ist daneben, dass die Empfehlungen (u.a. ein Waffenembargo, Sanktionen, die Überprüfung von Investitionen durch Firmen, und ein durch Regierungen durchgesetzter Boykott von Siedlungsprodukten) begrenzte Formen von Boykott, Desinvestition, und Sanktionen umfassen.

Nicht Sicherheit, sondern Demographie

In Deutschland verurteilen auch „Linke“ ungeachtet der Faktenlage den Apartheidsvorwurf an sich. In der israelischen Linken beobachtet man dagegen eine andere Diskussion: Im Westjordanland praktiziert Israel Apartheid, das gilt inzwischen als offensichtlich – die Frage sei lediglich, ob auch das System innerhalb des offiziellen Staatsgebiets zurecht so bezeichnet werden könnte.

So wird dem Bericht von dieser Seite vorgeworfen, er ignoriere die „Grüne Linie“ – die ehemalige Grenze zwischen Israel und den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten. Ganz im Gegenteil ist jedoch einer der größten Verdienste des Berichtes, die legalistische Trennung der Rechtslagen entlang der Grünen Linie in ein umfassendes System israelischer Kontrolle einzuordnen. Ähnlich wie der Schriftsteller Nathan Thrall argumentiert, stellt diese Trennlinie nicht die Grenze zwischen zwei verschiedenen Regimes dar, sondern lediglich die zwischen verschiedenen Spielarten eines einzigen Trennungsregimes. Der Vorwand der getrennten Regimes erlaubt, so Thrall, liberalen Zionist:innen und fremden Regierungen Israel tatkräftig zu unterstützen, und gleichzeitig  die Besatzung wirkungslos zu verurteilen.So schreiten Apartheid und Landnahme ungestört voran.

Der Amnesty-Bericht greift explizit die gängige Legitimierung der Trennung und Landnahme an. Dem Bericht zufolge können „Sicherheitsbedürfnisse“ zwar einen Teil dieser Maßnahmen rechtfertigen, lange aber nicht alle. Dazu zählen beispielsweise die erwähnte Segregation der Wohngebiete sowie Einschnitte ins Familienleben, wie etwa, dass Palästinenser:innen, die israelische Staatsbürger:innen heiraten, nicht zu diesen über die Grüne Linie ziehen dürfen. Hinter dem Schleier der „Sicherheitsbedürfnisse“ hebt der Bericht wesentliche organisatorische Prinzipien des israelischen Regimes hervor: Demographie und territoriale Kontrolle. Auch das beliebte Totschlagargument zionistischer Propagandist:innen – Es gibt doch Araber:innen im Parlament! – wird in die Schranken gewiesen und kontextualisiert: Die politische Partizipation der Palästinenser:innen wird in jedem israelischen Hoheitsgebiet eingeschränkt, wenn auch nicht überall auf gleiche Weise.

Selbst „arabisch-israelische“, d.h. palästinensische Abgeordnete dürfen nicht die Definition des Staates als „jüdischen Staat“ infrage stellen, und entsprechend auch nicht jene 65 Gesetze kritisieren, die ihre Marginalisierung und Ungleichbehandlung legitimieren. Ein Versammlungsrecht genießen Palästinenser:innen im Westjordanland so gut wie gar nicht, während es im offiziellen Staatsgebiet durch aggressive Polizei und Staatsanwaltschaft für palästinensische Staatsbürger:innen systematisch eingegrenzt wird.

Tiefenstruktur des Siedlerkolonialismus

In der Solidaritätsbewegung für die palästinensische Befreiung wird der Bericht dafür gelobt, die Apartheid als solche anzuerkennen, jedoch dafür kritisiert, diese nicht bei ihrer Ursache zu benennen: dem Siedlerkolonialismus, zu Recht. Diese Schwäche sollte nicht nur Palästinenser:innen und uns Sozialist:innen an ihrer Seite ärgern, sondern auch all jene, die sich um den antisemitischen Missbrauch solcher Vorwürfe ehrliche Sorgen machen; denn ohne die Ursachen zu benennen, bleibt rätselhaft, warum ausgerechnet Israel eine solche grausame Politik umsetzt.

Eine materialistische Analyse, die (siedler-)kolonialistische Dynamiken mit einzubeziehen weiß, entmystifiziert die Entstehung eines solchen Systems und macht deutlich: Apartheid ist eine Spielart des Siedlerkolonialismus, der mit Patrick Wolfe „kein Ereignis, sondern eine Struktur“ ist, die überall in verschiedenen Formen einer „Logik der Elimination der Einheimischen“ verfolgt. Sobald Menschen nämlich in ein Land fliehen, um dort eine neue Gesellschaft zu gründen, greift die Dynamik des Siedlerkolonialismus. Israels obsessive Sorge um Kontrolle und Demographie, sein Drang zur Expansion, sind im siedlerkolonialen Kontext keine Ausnahme, sondern die Regel. Die Indigenen, die sich nicht den Zielen der Siedler:innen beugen, müssen aus dem Weg geräumt werden. In Nordamerika gelang das den Europäer:innen vor allem durch Genozid; in Israel konnte die ethnische Säuberung ab 1948 nicht so weit gehen, stattdessen mussten die verbleibenden Indigenen räumlich eingegrenzt und kontrolliert werden. Um sie und ihren unvermeidlichen Widerstand dauerhaft unter Kontrolle zu halten, braucht es ein System der Trennung und der Unterdrückung – mit einem Wort: Apartheid.

Dekolonisierung jetzt!

Forschung und Berichte haben die Unterdrückung der Palästinenser:innen nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu beenden. Zu diesem Zweck kann der Amnesty-Bericht beitragen. Er gibt eine sehr klare Sicht darauf, wie das Problem strukturiert ist, wozu er Unmengen an Beweisen in einem rechtlich abgesteckten und geprüften Rahmen zusammenbündelt. Als Mittel für Kämpfe um das richtige Bewusstsein, für Rechtsstreitereien und für die Diplomatie ist das hilfreich. Doch die Forderung an den Staat Israel, sein Apartheidsystem abzubauen, grenzt an Sinnlosigkeit. Die im Bericht dargelegte Diagnose macht deutlich, dass die israelische Apartheid nicht vom israelischen Staatswesen zu trennen ist. Nehmen wir diese Befunde ernst, müssen wir feststellen: Hier geht es um Dekolonisierung. Und das ist auch die Forderung der palästinensischen Befreiungsbewegung. Die bürgerlichen von Amnesty empfohlenen Druckmittel sind zu einer solchen revolutionären Veränderung ein Beitrag – doch nicht ausreichend.

Die entscheidenden Akteur:innen in einem dekolonialen Kampf sind zuallererst die kolonisierten Menschen. Für die erfolgreiche Dekolonisierung fehlt es den Palästinenser:innen aber aktuell an einer vereinten, entschlossenen Führung, die breite, organisierte Unterstützung aller Teile der durch israelische Herrschaft zersplitterten palästinensischen Bevölkerung genießt. Umgekehrt bedeutet die Überwindung des Siedlerkolonialismus, anders als die Befreiung vom klassischen Ausbeutungskolonialismus, eine Neukonstituierung der politischen Gemeinschaft inklusive jener Siedler:innen, die bereit sind, in Gleichberechtigung mit den Indigenen zusammen zu leben. Dies impliziert eine wichtige Rolle für Israelis. Leider ist nur eine verschwindende Minderheit unter den israelischen Linken bereit, sie anzunehmen. Die liberalen Kräfte, die im israelischen Kontext als „(zionistische) Linke“ verstanden werden, streben weiterhin nur ein weniger brutales Teilungs- und Unterdrückungsregime an, das nachhaltig die zionistische Kontrolle in Palästina sichert.

Für eine erfolgreiche Dekolonisierung braucht es aber nur eine kleine Minderheit der Siedlergesellschaft. Sie wird sicherlich wachsen, wenn eine vereinte palästinensische Führung den Weg in die Zukunft beschreitet. Beide verlangen zudem aktive Solidarität von internationalistischen Sozialist:innen auf der ganzen Welt. Unsere Aufgabe ist es, in unseren eigenen imperialistischen Staaten, Druck zu machen, die Unterstützung des Siedlerkolonialismus in Palästina nicht mehr mitzutragen!

Bildquelle: https://www.flickr.com/photos/eriktorner/12552492244

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Die PalästinenserInnen schrieben sich zur Kommunikation gegenseitig Notizen, die sie an Steine banden und zwischen den Baracken hin und her warfen. Dort wo sie auf den Boden fielen, wurden sie gelesen, wenn sie an jemanden aus dieser Baracke adressiert war, wurde die Notiz übergeben, wenn sie aber an andere adressiert war, wurde sie einfach weiter geworfen. Diese Methode haben auch wir ausprobiert.

Das Interview ist ursprünglich in türkischer Sprache erschienen auf Yeni Özgür Politika: https://www.ozgurpolitika.com/haberi-israil-esir-kampindan-kurdistan-a-154645. Für leichtere Verständlichkeit wurde die deutsche Übersetzung an einigen Stellen leicht angepasst. (Teil 3 von 3, Teil 2 findet ihr hier)

Von EMRULLAH BOZTAŞ
Übersetzt von Tekoşin Şoreş & Kerem

Während des Gesprächs erzählte uns Xalid Çelik, dass es vom ersten bis zum 26. Tag der Gefangenschaft intensive Folter gegeben hat. Jene, die besonders zur Vernehmung ausgesucht wurden, kamen nie wieder zurück. Sie waren komplett verschollen. Er berichtet uns über die zwei Jahre, die er in Gefängnissen in Israel und Syrien verbracht hat und wie er schließlich in die Berge Kurdistans und in Freiheit gelangt ist.

Hatten die israelischen SoldatInnen erfahren, wer ihr wart?

Die Israelis wussten nicht, dass wir von der PKK waren. Am ersten Tag hatten sie uns gefragt, wer wir waren. Wir hatten diese Ausweise. Die haben wir ihnen dann gezeigt. Später haben wir erfahren, dass es auch andere solcher Camps gab und dass auch dort GenossInnen waren. Wir wussten bis dato nichts über die anderen FreundInnen. Dass die Freunde auf der Burg Arnon gefallen waren, haben wir erst dort erfahren und dann auch ein Gedenken organisiert. Unter den Gefallenen war auch mein Bruder Kemal. Die Freunde Abdullah Kumral, Irfan Ay und Mustafa Marangoz waren auch darunter. Sie waren aktive Militante der PKK. Ich kann mich an die Gesichter von allen erinnern.

Irgendwann begannen die Vernehmungen unter Folter. Zahlreiche PalästinenserInnen überlebten diese nicht. Viele waren danach behindert. Von denen, die „speziell ausgesucht“ wurden, mal ganz zu schweigen. Diese waren danach komplett verschollen.

Wir hatten unter uns einen Beschluss gefasst, den uns ein junger Mann aus Qamishlo, der auch bei uns war, vorgeschlagen hatte. Er lebt noch und er möge hoffentlich noch lange leben. Er meinte, dass wir nicht sagen sollten, dass wir Fedais sind (Menschen, die ihr ganzes Leben dieser Sache gewidmet haben und bis zum Tod kämpfen), sondern arme Menschen aus Qamishlo, die hier zum Arbeiten wären. Wir sollten sagen, dass es in unserem Land Arbeitslosigkeit gebe, wir keine Schulen besucht hätten und deshalb auch die arabische Sprache nicht sprechen. Außerdem sollten wir ihnen vorwerfen, dass wir ihretwegen nicht mehr arbeiten könnten, weil sie uns gefangen hielten. Dieser junge Mann aus Qamishlo war selbst syrischer Soldat und geriet so in Gefangenschaft. Auf diese Aussage hatten wir uns geeinigt. Ein, zwei von uns haben dann bei der Vernehmung gesagt, dass wir aus Syrien sind. Einer von diesen war Mehmet Teşk, der später dann in Mazgirt (Anm. d. Red.: Kreisstadt in Dêrsim in Nordkurdistan) gefallen ist. Wir sagten “Wir sind Syrer, aus dem Dorf X, ihr könnt die anderen fragen“. Wir sagten das zwar, aber jedes Mal schickten sie uns mit schlimmer Folter, Schlägen und Beleidigungen wieder zurück in unsere Baracken. So vergingen 26 Tage.

Wir blieben bei der Vernehmung konsequent und änderten nichts an unseren Aussagen. Drei weitere Freunde sagten, dass sie irakische Kurden seien, weil sie sich nicht sicher waren, ob sie „syrische Kurden“ sagen sollten, da Syrien und Israel im Krieg waren. Deshalb behaupteten sie, sie seien irakische Kurden. Ein paar andere erzählten, dass sie iranische Kurden seien und dass sie in ihrer Heimat Unterdrückung erfahren hatten. Von dem verletzten Freund wussten wir zu dem Zeitpunkt nichts, erst später haben wir von ihm erfahren.

Die Zeit verging, der Herbst kam. Währenddessen wurden die Plätze der Palästinenser ständig gewechselt. Sie haben dort Schlimmes durchgemacht. Derweil hatten auch wir ein wenig Arabisch gelernt. Einmal brachten sie einen neuen ins Camp, den wir fragten, ob es in seinem früheren Lager irgendwelche Kurden gegeben hatte. Als er sagte, dass er auf PKKlerInnen getroffen war, fühlte es sich so an, als hätte er uns die Welt geschenkt. Es reichte uns, dass wir „Hizb al Umaal al Kurdistan“ (Anm. d. Red.: Arabisch für Arbeiterpartei Kurdistans) aus seinem Mund verstanden. Wir waren in dieser Sache also nicht allein. Es waren jeweils fünf, vier und drei Freunde. Nach gründlicher Recherche fanden wir heraus, dass sogar der Freund Seyfettin Zoğurlu, einer der bekanntesten FreundInnen, unter ihnen war.

Wir fragten uns durch und brachten in Erfahrung, wer sich in welchem Camp befand. Unsere PalästinenserInnen nutzten ihre bekannte Steinwurfmethode. Wir probierten das auch. Der Freund Seyfettin hieß Selim. Wir hatten einen Brief geschrieben und ihn von unserer Situation informiert. Nach kurzer Zeit kam schon eine Antwort. Er informierte uns über Gefallene und Gefangene. So bekamen wir einen besseren Überblick über die Situation. Später besuchte das Rote Kreuz die Gefangenenlager. Ab Winterbeginn konnten wir auch über das Rote Kreuz Briefe an andere Lager schicken. Diese Briefe waren ausführlicher. Die Israelis hatten nichts dagegen und erlaubten das. Vereinzelt ließen sie manche von uns frei. Zum Beispiel, wenn sie erfuhren, dass jemand irgendein libanesischer Händler war. Ihr Ziel war, alle Fedais zu versammeln, um mehr Klarheit zu schaffen. Ähnlich wie in türkischen Kerkern, wurden auch dort täglich die Gefangenen gezählt. Wir erfuhren, dass bei diesen Zählungen auch der türkische MIT-Geheimdienst immer dabei war. Wenn sie bekannte Gesichter sahen, nahmen sie die Leute mit. Deshalb verhielten wir uns nach Erlangung dieser Information besonders vorsichtig. Aufgrund seiner Position und auch seines Alters schickten wir unsere Berichte immer an den Freund Seyfettin. Wir berichteten ihm, was passiert und wie die Situation und unsere Haltung im Gefangenenlager war. Für uns war das wie eine Rückkehr. Er bewertete unsere Haltung positiv, was uns ein wenig erleichterte. An Newroz kam von ihm eine Notiz mit der Info, dass er eine Newroz-Erklärung auf Arabisch vorbereitet hätte und dass wir in unseren Camps die PalästinenserInnen versammeln und ihnen diese Erklärung vorlesen sollten. Darin ging er auf die Bedeutung von Newroz, dem Wert, den die PKK dem Fest beimisst und was es für das arabische Volk bedeutet, ein. In manchen Camps waren bis zu vierhundert Personen. Wir versammelten alle und lasen ihnen die Erklärung vor.

Es gab im Lager einen Kurden aus Kobanê, der wirklich zum Arbeiten gekommen war. Er sprach gut Arabisch. Im Lager waren zwar viele Kurden, aber keiner von ihnen sprach wirklich gut Arabisch. Diesem Jungen sagte ich, dass er diese Erklärung lesen  und den Leuten sagen solle „Ey Şebab (Anm. d. Red.: Junge Menschen auf Arabisch), heute ist der Newroz-Feiertag der Völker im Mittleren Osten, allen voran des kurdischen Volkes“. Es wurde auch vom Schmied Kawa erzählt (diese Geschichte ist Teil der Newroz-Legende). Die Erklärung wurde verlesen und gab den PalästinenserInnen Motivation, sodass alle gemeinsam klatschten. Wir hatten gemeinsam mit den PalästinenserInnen ein Theaterstück vorbereitet, das die Geschichte von Newroz erzählte. Fünfzehn Tage lang bereiteten wir uns vor. Junge AraberInnen hatten dieses Theaterstück gespielt. Als die Szene kam, an der Kawa den Hammer auf den Kopf von Dehak schlägt, entbrannten Applaus und Jubel. Die israelischen SoldatInnen beobachteten uns von weitem. Als die Szene des Hammers begann, dachten sie, dass drinnen jemand hingerichtet würde und stürmten zu uns. Am Anfang gab es Gerangel, bis einer von den inhaftierten KommandantInnen der DFLP ihnen erklärte, was Sache war und warum diese Szene inszeniert wurde. Danach gingen sie und wir waren erleichtert, unsere Aufgabe erfüllt zu haben.

Wie sind Sie aus dem Gefangenenlager freigekommen? Können Sie uns über ihre Gefühlslage berichten, als Sie freikamen?

Wir sind nicht alle gleichzeitig freigekommen. Bei mir ging es ein wenig schneller und es kam unerwartet. Eines Tages wurde an der Tür mein Name ausgerufen. Ich fragte mich, was nun wohl geschehen würde. Dann sah ich, dass vor der Tür ein paar MitarbeiterInnen vom Roten Kreuz standen. Als ich sie sah, sagte ich zu mir selbst: „Keine Vernehmung“. Sie öffneten die Tür und bedeuteten mir, ich solle rauskommen. Alles was ich besaß, hatte ich bei mir. Was hatte ich denn schon? Eine Uhr, ein wenig Geld, mehr nicht. Das Geld war nicht meins, sondern gehörte der Gruppe, das mir anvertraut worden war. Im Lager war auch ein anderer Kurde aus Kobanê, der Muhammed Avareş hieß. Er war von der Baracke nebenan. Ein paar Mal hatten wir laut hin und her gerufen und gesprochen. Ich wusste noch nicht was los war, da sagte er schon auf Kurdisch: „Bruder, Gratulation, du kommst jetzt auch frei“. Da hatte ich verstanden, dass ich nun aus dem Camp entlassen werden würde. Doch dann kam das nächste Problem. Weil wir gesagt hatten, dass wir aus Syrien wären, wollten sie uns an Syrien übergeben. Wir stiegen in einen Jeep und wurden weggefahren. Ich warf ein Blick zurück, sah das Camp und die Freunde und wurde emotional.

„Bei der Vernehmung erklärte ich, dass ich Mitglied einer revolutionären Organisation aus Nordkurdistan sei. Der Begriff Kurdistan erzürnte diese Männer sehr.“

Da ich wieder mit einer Vernehmung gerechnet hatte, hatte ich mich nicht mal von den FreundInnen verabschiedet. Wir konnten uns nicht jedes Mal, wenn wir zur Vernehmung gingen, verabschieden. Jedes Mal verpassten uns die Israelis ordentliche Schläge, beleidigten uns und schickten uns wieder zurück. Letztendlich hatten wir verstanden, dass wir freikamen. Sie brachten uns an eine Grenze, wahrscheinlich irgendwo in der Gegend von den Golanhöhen an der israelisch-syrischen Grenze. Mit dem Kurden habe ich während der Fahrt ein paar Sachen besprochen, wobei wir auch dabei nicht in Ruhe gelassen wurden und ständig irgendwelche Tritte abbekamen, damit wir schwiegen.

Der Geheimdienst des syrischen Militärs holte uns ab und fuhr uns direkt nach Damaskus in ein Gefängnis. Dort wurden wir wieder vernommen. Sie steckten uns beide in einen kleinen Raum und verhörten uns anschließend separat. Zuerst kam der Alte dran. Er sagte, dass er alt und krank sei und deswegen das Roten Kreuz seine Freilassung erreicht hat, sein Sohn sei dort aber immer noch in Gefangenschaft. Sein Sohn war wirklich noch dort. Nach der ersten Vernehmung ließ der Geheimdienst ihn frei. Er kam, packte seine Sachen und ging. Mir sagten sie, dass ich noch warten solle. Eine Nacht verbrachte ich in dieser Zelle. Am nächsten Tag fragten sie, wer ich sei. Ich sagte ihnen, dass ich kein Arabisch könne, woraufhin sie mich fragten, warum ich kein Arabisch gelernt hatte. Ich antwortete: „Wenn ihr mir einen Dolmetscher bringt, dann erkläre ich euch das.“ Sie brachten einen jungen Mann aus Efrîn. Der Arme, er zitterte regelrecht vor Angst. Ich versuchte ihn ein bisschen zu beruhigen und sagte ihm, dass er nur zu übersetzen habe. Egal was geschehen würde, es werde nur mir etwas geschehen. Bei der Vernehmung erklärte ich den Mukhabarat (Anm. d. Red.: Bezeichnung für den syrischen Geheimdienst), dass ich kein Syrer, sondern Mitglied einer revolutionären Organisation aus Nordkurdistan sei. Der Begriff Kurdistan erzürnte diese Männer sehr. Um es klarer zu machen, nutzte ich dann die Worte „Hizb El Ummal El Kurdistan“ Das schockierte sie und sie fragten mich, wie das möglich sei und was ich hier zu suchen hätte. Worauf ich versuchte ihnen zu erklären, dass ich bei der Vernehmung in Israel gesagt hatte, ich sei Syrer. Der eine war für eine Sekunde still und fragte mich dann: „Komisch, und was sollen wir nun machen?“. Ich erwiderte: „Wallah, ich bin in eurer Hand, ihr könnt mich weiterhin hier festhalten, ihr könnt mich auch in den Irak schicken, oder mich den Türken oder Israelis übergeben. Das liegt in eurer Hand. Aber ich weiß, dass meine Freunde sich in Damaskus aufhalten, und dass es meine Partei sowohl im Libanon als auch im Bekaa-Tal gibt. Besser wäre es also, wenn ihr mich meiner Partei übergibt. Der Mann widersprach und akzeptierte nicht, dass es im Bekaa-Tal eine „Hizb El Ummal El Kurdistan“ oder sonst eine andere solche Partei gäbe und er hätte auch nie von einer solchen Partei gehört. Daraufhin sagte ich verwundert, wie es sein könne, dass er als Geheimdienstler nie von meiner Partei gehört habe. Ich bestand darauf, dass er meine Partei kennen müsste, worauf er mir mitteilte, dass wir uns später nochmal sehen würden. Dann schickte er mich wieder weg.

Sie brachten mich in einen engen Raum, in dem sich dreißig Personen aufhielten. Das war der Raum der Muslimbrüder. Sie waren bei den Konflikten in Hama und Homs 1981 verhaftet worden. Der, der mich in den Raum brachte, deutete auf mich und sagte zu ihnen, ich sei ein Gast und nicht wie sie. Dann zeigte er mir einen Platz, wo ich mich hinsetzen sollte. „Er wird hier bei euch bleiben, gebt ihm ein Kissen und drei Decken, sein Platz muss gemütlich sein“. Ich glaube, dass ich für Palästina gekämpft hatte, verschaffte mir Respekt bei ihm, aber da ich Kurde war, blieb ich weiterhin eingesperrt. Seiner Meinung nach tat er mir etwas Gutes, indem er mir in einem kleinen Raum, der allein durch den Atem von dreißig Personen erhitzt war, drei Decken und ein Kissen gab. Wer braucht da schon drei Decken, um sich zuzudecken? Sie brachten mich dann noch einmal zu einer Vernehmung, wo sie mir vorwarfen, dass ich ein israelischer Agent sei. Das regte mich natürlich sehr auf, weil wir gegen den Zionismus gekämpft hatten. Deshalb sagte ich, dass sie einen Dolmetscher holen sollten. Wieder kam der Junge aus Efrîn, den ich fragte, was der da zu mir sagte und dass ich Worte wie „Agent“ verstanden hatte. Dasselbe übersetzte mir dann auch der Junge ins Kurdische. Ich könnte von den Israelis geschickt worden sein.

Daraufhin habe ich dem Geheimdienstler alles ausführlich erklärt: „Ich bin ein Kämpfer, ein Guerilla der PKK. Ich befand mich in palästinensischen Lagern, um dort ausgebildet zu werden. Ich habe auch gegen den Zionismus gekämpft und bin dann in Gefangenschaft geraten. Vielleicht sagst du jetzt, dass die Israelis mich in Gefangenschaft zu einem Agenten gemacht haben. Ich kenne weder ihre Sprache, noch etwas anderes. Was könnte ich denn in deinem Land überhaupt anrichten?“ Er zeigte mit der Hand auf seine Schulter und sagte sehr erbost: „Hier sind 3-4 Sterne!“ (die seinen Rang im Geheimdienst deutlich machten). Er nahm einen Schlagstock und verpasste mir einen ordentlichen Schlag auf den Rücken, natürlich zusammen mit zahlreichen Beleidigungen. Wie könne ich bloß so sprechen. Daraufhin erwiderte ich: „Und du hast mich einen Agenten genannt“. Der Junge aus Efrîn zitterte vor Angst. Ich hatte ihm gesagt, dass er weiter übersetzen solle. Er sollte ihm sagen, dass ich diese Vorwürfe nicht akzeptieren würde. Danach brachten sie mich wieder zu den Muslimbrüdern.

„Nach ein paar Tagen kam wieder derselbe Hochrangige und sagte mir: „Schau, für dich ist die Entscheidung getroffen worden, dich den Türken zu übergeben.“

Nach circa einem Monat setzten sie mich in einen Minibus. Sechs oder sieben bewaffnete Personen überwachten mich während der ganzen nächtlichen Fahrt. In der Früh bemerkte ich auf einmal, dass wir in Qamishlo waren. Während der Fahrt in die Stadt sagte einer von den Wachen, dass sie mich an der Grenze der Türkei übergeben werden. Ich wusste bis dahin nicht, dass sie entschieden hatten, mich den TürkInnen zu übergeben. Dann brachten sie mich ins Gefängnis von Qamishlo, wo es nur Einzelzellen gab. Sie warfen mich in eine Zelle. Ich hörte die Stimmen von Leuten, auch von manchen, die Türkisch sprachen. Ein paar Tage später kam ein hochrangiger Militär und brachte mich in sein Zimmer. Er bat mich, Platz zu nehmen und ich setzte mich hin. Nachdem er mich fragte, ob ich Kurde sei oder einer kurdischen Organisation angehörte, sagte ich, dass ich von der „Hizb El Ummal El Kurdistan“ sei. Auch dieser Offizier sagte, dass es bei ihnen keine Organisation mit diesem Namen gebe. Jedes Mal, wenn er das beteuerte, wurde ich angespannter. Als er sagte, dass es hier die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) und die YNK (Patriotische Union Kurdistans) gäbe, denen man mich übergeben könne, wollte ich nicht gleich drauf eingehen. Ich erwiderte: „Ich habe eine Partei, warum übergebt ihr mich einer anderen Partei?“. Wir konnten uns nicht einigen und deshalb kam ich erneut in die Zelle. In der Zelle nebenan war einer von der türkischen Linken. Während seines Wehrdienstes war er mit seiner Waffe über die Grenze nach Syrien geflohen. Sie hatten ihn gefasst und eingesperrt. Irgendwie schaffte er es, in die Wand ein kleines Loch zu machen. Als ich Geräusche von nebenan hörte, rief ich rüber und fragte auf Kurdisch, wer da sei. Er antwortete auf Türkisch und sagte „Sprech Türkisch, sprech Türkisch“. Ich war von der PKK und er von Dev-Genc (Föderation der Revolutionären Jugend in der Türkei).

Nach ein paar Tagen kam wieder derselbe Hochrangige und sagte mir, „Schau, für dich ist die Entscheidung getroffen worden, dich den Türken zu übergeben. Ich will das aber nicht machen und ich habe dem Gouverneur auch noch nicht mitgeteilt, dass du da bist.“ Er fragte mich, ob ich irgendjemanden von der PKK vor Ort kennen würde. Diese Frage beunruhigte mich. Er war ein Mitglied des Baath-Regimes und die Baath-Partei war sehr gefährlich. Ich weiß nicht, ob er unsere Freunde enttarnen wollte oder andere Ziele hatte, aber er hat mir zwischen den Zeilen immer irgendwelche Zeichen geben wollen.

Ich sagte ihm, dass ich nicht genau wüsste, wo PKKlerInnen seien, da sie nicht an einem festen Ort blieben. Ich glaube, dass das eine gewisse Vertrauensbasis aufgebaut hat, denn dann fragte er mich plötzlich, ob ich Heci Zinar kannte. Heci Zinar war ein Freund aus Mardin, der zusammen mit seiner Familie nach Syrien gekommen war und auch an unseren Aktionen teilnahm. Er wollte, dass ich ihn ihm beschriebe. Als ich sagte, dass Heci hellhäutig sei und einen blonden Schnurrbart habe, lachte er. Dann fragte er mich, ob ich Heci Ömer kennen würde. Auch ihn kannte ich. Das war Mehmet Emin Sezgin. Ich stimmte zu und beschrieb ihn. „Femi, femi“ (Anm. d. Red.: Arabisch für „ich verstehe, ich verstehe.“) sagte er und lachte. Das beruhigte mich. Er schloss die Tür und ging.

Dieser Offizier hatte sich mit den FreundInnen getroffen und mich ihnen beschrieben. Diese bestanden darauf, mich zurückzubekommen. Sie einigten sich. Ich kannte den Offizier zwar nicht, aber er sei solidarisch mit den KurdInnen und hätte schon früher auch an der Grenze unseren FreundInnen geholfen. Einmal kam er und sagte, dass ich sietreffen würde. Das freute mich. Eines Abends stand er wieder vor der Tür: „Raus und lass nichts zurück!“ Er brachte mich in sein eigenes Haus. Es war sehr viel los und es wurde Arabisch gesprochen. Er gab mir neue Kleidung und zeigte mir das Bad. Ich weiß nicht, ob er die Kleidung selbst gekauft hatte oder die FreundInnn mir diese geschickt hatten.

Voller Aufregung wusch ich mich und zog mich an. Meine Sachen, also meine Uhr und mein Geld, waren bei ihm. Die gab er mir auch., Es wurde ein hastig vorbereitetes Essen serviert, das ich ebenso hastig aß. Da saßen wir und warteten. Ich wusste nicht, was jetzt passieren würde, aber ich war erleichtert. Neue Kleider und die Tatsache, dass er mich in sein eigenes Haus gebracht hatte, all das waren gute Zeichen. Bis spät am Abend saßen wir da und tranken Tee. Irgendwann, ganz spät, kam Heci Zinar durch die Tür. Nach Jahren sah ich zum ersten Mal wieder FreundInnen. Diese erste Begegnung hat mich gerührt. Mir flossen Tränen über die Wangen. Heci Zinar kam und umarmte mich. Er sagte „Komm, es ist nun vorbei“. An dieser Stelle möchte ich ihm hochachtungsvoll gedenken. Danach kam auch Heci Ömer und es hieß: „Auf geht’s, lasst uns nach Hause gehen!“ Wir standen auf, ich trat aus der Tür heraus und ging.

#Fotos: via Yeni Özgür Politika

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Alle Kräfte der PKK standen zu dem Entschluss zu kämpfen und Widerstand zu leisten. Somit verband sich die Entschlossenheit der GenossInnen mit dem Beschluss der Partei. Es sollte zu einem großen Krieg kommen und wir würden bereit sein.

Das Interview ist ursprünglich in türkischer Sprache erschienen auf Yeni Özgür Politika: https://www.ozgurpolitika.com/haberi-arnon-kahramanlari-154614. Für leichtere Verständlichkeit wurde die deutsche Übersetzung an einigen Stellen leicht angepasst. (Teil 2 von 3, Teil 1 findet ihr hier)

Von EMRULLAH BOZTAŞ
Übersetzt von Tekoşin Şoreş & Kerem

Es war der 2. Juni 1982, die Uhr zeigte 17:00 Uhr an. Im Radio wurde verkündet, dass Israel vom Boden, aus der Luft und vom Meer eine Offensive zur Besetzung des Südlibanons begonnen hatte. Ariel Sharon war damals der Verteidigungsminister Israels. Aufgrund der Luftangriffe auf die Burg Arnon (Burg Beaufort), für deren Verteidigung eine Gruppe von PKKlerInnen bereitstand, war auch zuvor schon klar, dass es zu dieser Besetzungsoffensive kommen würde. Der Lärm der Schüsse in der Ferne kam immer näher. Xalid Çelik, der selbst an der Nebatiye-Front im Südlibanon gekämpft hat, berichtet uns, wer am Kampf alles beteiligt war und wie er verlaufen ist.

An welche revolutionäre Organisationen vor Ort erinnern Sie sich?

Von der türkischen Linken sah ich selbst nicht viele dort. Vor uns soll Dev-Yol (deutsch: Revolutionärer Weg) dort gewesen sein. Zu unserer Zeit waren nicht mehr viele von ihnen da. Türkische Organisationen nutzten Palästina in der Regel als Stufe zum Übergang nach Europa. Auch bei KurdInnen kam dies individuell vor. Ansonsten waren dort jeweils eine Gruppe von Sami Abdurrahman und der DDKD („Devrimci Doğu Kültür Ocakları“, Deutsch: Revolutionäre Kulturstätte des Ostens). Diesen bin ich selbst begegnet. Aus Eritrea und Haiti waren RevolutionärInnen da. Mit den HaitianerInnen befanden wir uns am selben Ort. Es waren diese HaitianerInnen, die auch später zurück in ihre Heimat sind und eine Revolution vollbracht haben. Die Restlichen waren zum Großteil individuell vor Ort; viele ArbeiterInnen. Ihre Zahl überschritt die Zahl derer, die für die Revolution vor Ort waren. Für viele unorganisierte Individuen fand sich dort eine Möglichkeit, Unterhalt zu verdienen.

Wie war die Situation des palästinensischen Volkes? Was war Ihr Eindruck unter den Umständen des Krieges? Wo waren Sie, als der Krieg im Südlibanon begann?

Vom Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila erfuhren wir erst, als wir dorthin gingen. Das war im Südlibanon einer der Hauptzufluchtsorte von PalästinenserInnen, die ins Exil gehen mussten. Israel hatte hier mehrmals mit Luftangriffen Massaker durchgeführt. Als Vergeltung schlugen palästinensische Organisationen mit Mörsern und Raketen zurück. In der Grenzregion kam es zu solchen Angriffen. Manchmal gingen sie auch für Aktionen nach Israel rein. Am 2. Juni änderte sich schließlich alles. Davor hatten die palästinensischen Gruppen Informationen erhalten. Man hatte den Krieg erwartet. Zwar hatte niemand vorhergesehen, dass der ganze Südlibanon besetzt werden würde; in der Grenzregion jedoch hatten sich auch die PalästinenserInnen einigermaßen vorbereitet und positioniert.

Unter dem Dach der Fatah wurden auch wir, eine Gruppe von PKKlerInnen, in den ländlichen Regionen von Nebatiye in Stellung gebracht. Nebatiye ist eine schöne Stadt am Mittelmeer. Es wachsen dort viele Zitrusfrüchte. Ihre Menschen sind sehr respektvoll und gutmütig. Die Stadt liegt nah am Ort Sayda. Auch wenn viele aufgrund der Wahrscheinlichkeit, dass es zum Krieg kommt, die Stadt verlassen hatten, waren dennoch zahlreiche ZivilistInnen in ihren Häusern und auf ihren Feldern geblieben, da sie nicht mit einem derart brutalen Angriff rechneten.

Es wurde intensiv Propaganda betrieben und behauptet, dass es einen israelischen Angriff geben würde. Bereits zehn Tage waren sind manche GenossInnen aus der Führung zu uns ins Camp gekommen. Genosse Sabri hatte damals gesagt: „Wir werden als Partei, entsprechend unserer Stärke, an der Seite der PalästinenserInnen im Krieg kämpfen.“ Die Partei hatte zwar diesen Beschluss gefasst, aber es wurde den GenossInnen überlassen, ob sie kämpfen wollten oder nicht. Die kranken GenossInnen wurden nach Beirut geschickt. Von acht Personen waren sechs geblieben. Auch ich hatte mich entschlossen zu kämpfen. Der Beschluss zum Krieg war gefasst und er sollte umgesetzt werden. Auch unsere andere Gruppe, die unter der Führung von Sari Ibrahim ebenfalls unter dem Dach der Fatah kämpfte, hatte beschlossen zu kämpfen.

In der als Burg Arnon bekannten Qalat el Şaqif waren noch ein paar weitere Gruppen von GenossInnen. Die eine befand sich unter dem Kommando der DFLP, die andere unter dem Kommando der PFLP. Dort waren wir stärker. Auch diese Gruppen fasste den Beschluss zur Kriegsbeteiligung und teilte diesen der Partei mit. Die Entschlossenheit zum Kampf und zum Widerstand wurde in der gesamten Basis der PKK akzeptiert. Der Beschluss der Parteiführung wurde mit der Entschlossenheit der FreundInnen gefestigt. Der große Kampf stand bevor und wir standen bereit.

Ich will hier auch ein wenig auf Qalat el Şaqif eingehen. Wir waren schon eine Weile dort. Unser Stützpunkt war strategisch auf einem Hügel direkt gegenüber der Grenze errichtet worden. Die grundlegenden Vorbereitungen waren getroffen. Im Untergrund gab es breite Tunnel. Auch wir hatten an diesen Tunneln gearbeitet. Sie lagen strategisch günstig. Deshalb arbeiteten wir zwei bis drei Tage die Woche an diesen Tunneln. Es hatte also schon eine Vorbereitung auf den bevorstehenden großen Krieg gegeben. Diese Vorbereitungen stärkten auch unser Selbstbewusstsein und gaben uns Vertrauen. Wir dachten, dass nach so viel logistischer und allgemeiner Vorbereitung die israelische Armee spätesten hier gestoppt werden würde. Ein Teil der PalästinenserInnen war aber zwiegespalten.

Als der Genosse Sabri mit uns eine Sitzung abhielt, sagte er offen, dass wir andere Sachen, die uns zu Ohren kämen, nicht beachten sollten und dass der Krieg zu hundert Prozent bevorstand. In derselben Sitzung fragte er nach den Kranken und denjenigen, die nicht in diesen Krieg wollten. Außer den kranken FreundInnen hatte sich niemand vor dem Krieg gedrückt. Sabri betonte, dass niemand verpflichtet sei, zu kämpfen. Auch das hatte die Parteiführung bei ihrem Beschluss berücksichtigt. Das war die Haltung der Partei. Wir, sechs FreundInnen, haben daraufhin beschlossen, in Nebatiye zu kämpfen.

Der Krieg begann am 2. Juni mit intensiven Luftangriffen. Die Israelis hatten die Grenze zwar überquert, dann jedoch angehalten. Auch sie bewegten sich je nach Situation. Auf unserem Stützpunkt war ein hochgelegener Aussichtspunkt. Einmal sind wir hochgeklettert, um Ausschau zu halten. Die berüchtigten israelischen Spähflugzeuge kreisten über unseren Köpfen. Auch die Kampfjets bombardierten uns. Dennoch war der Kampf ausgeglichen. Schwere Waffen waren im Einsatz. Harte Gefechte fanden statt. Die PalästinenserInnen antworteten mit Mörsern und Granaten. Wir kämpften mit kleineren Waffen. Da wir mit der Zeit auch ein wenig ihre Sprache gelernt hatten, bekamen wir wage mit, dass auf der Burg ein großes Gefecht stattfand. Die israelischen Kräfte hätten nicht in die Qalat el Şaqif eindringen können. Diese Information gab uns viel Kraft und Motivation. Es fand ein großer Krieg statt. Nicht ein oder zwei, sondern dutzende Flugzeuge griffen uns gleichzeitig an. Unsere Gruppe auf der Burg bestand aus neun Personen, zusammen mit der der DFLP. Die andere Gruppe von uns war in der Defensiv-Formation. Bei ihnen fiel keiner, aber alle neun Freunde, die die Burg verteidigten, sind gefallen.

Festung Arnon (Qalat eş Şaqif)

Wann und wie habt ihr davon erfahren, dass die Freunde gefallen sind?

Ich glaub es war der siebte oder achte Tag. Bis dahin hatte sich von den palästinensischen Einheiten keine zurückgezogen. Sie verwendeten das Wort Şehit (Märtyrer) nicht und sagten stattdessen einfach „gestorben“. Sie sagten uns, dass in den Kämpfen „manche Kurden“ gestorben sind. Es war Krieg und der Tod war unumgänglich. Deshalb konnten wir verstehen, dass es auch zu Gefallenen kommen konnte. Wir wussten aber nicht wer gefallen war und wer noch lebte.

In unserer Gruppe war niemand gefallen. Wir befanden uns in einer Höhle. All unsere Waffen samt Munition waren bei uns. Wir nahmen alles, was wir brauchten, aus der Höhle. Unsere Aufgabe war, die Einfahrtsstraße nach Nebatiye zu halten, über die die Panzer kommen konnten. Die Straße war aus fester Erde und nicht aus Asphalt. Von dort kamen dann die Panzer. Jeder von uns hatte eine Biswing (B7-Raketenwerfer). Was hätte uns denn die Kalaschnikow gegen diese Panzer gebracht? Wir schlugen mit Biswings zu. Wenn ein Panzer getroffen wurde, blieb er stehen, die anderen zogen sich dann eine Ebene zurück und bewegten sich nach einer Weile wieder vorwärts. Wir ließen nicht zu, dass die israelische Armee auf dieser Linie vorwärtskam. Hin und wieder kam der palästinensische Kommandant und versuchte uns mit einem „Bravo“ oder „Wenn ihr nicht wärt, wären wir verloren“ zu motivieren. Die Gefechte hielten tagelang an. Zwar stand unsere Front sehr unter Druck, aber wir haben uns dennoch nicht zurückgezogen. Sie konnten nicht an uns vorbei. Das Schlechte war, dass andere Fronten zum Teil zusammenbrachen oder durchbrochen wurden. Dort konnte die israelische Armee vordringen und uns dann umzingeln. Wir hatten nicht mitbekommen, dass ganz Nebatiye schon besetzt worden war. Irgendwann am neunten oder zehnten Tag des Krieges merkten wir, dass um uns herum keine PalästinenserInnen mehr waren. Wir hörten auch keine Fahrzeuge mehr in unserer Nähe. Aus der Stadt selbst kam aber sehr starker Fahrzeug- und Gefechtslärm. Derweil hielten die Luftangriffe weiterhin ununterbrochen an. Auch der palästinensische Kommandant war seit einer Weile nicht mehr gekommen. Dann wurde uns klar, dass sich alle zurückgezogen hatten und nur wir immer noch diese Straße hielten. Die israelische Armee hatte an einem anderen Punkt schon längst ihr Glück versucht und die Front durchbrochen. Unsere Position war zwar nicht sehr hoch, befand sich aber dennoch auf einer höhergelegenen Gebirgskette. Vor uns war die israelische Armee, hinter uns die Stadt. Wir verteidigten in gewissem Sinne den Durchgang zur Stadt. Als es Nacht wurde haben wir uns zusammengesetzt und beschlossen, dass auch wir uns zurückziehen würden. Wir dachten uns, dass wir uns am besten, so weit es geht, Richtung Norden begeben sollten. Dort lagen die Berge Südlibanons über die wir uns bis in die Bekaa-Ebene zurückziehen konnten. Wir brachen nachts auf und erreichten im Morgengrauen Nebatiye.

Die Stadt brannte komplett. Überall waren zerstörte Gebäude; die Straßen voller Leichen; umgestürzte Bäume, durchlöcherte Fassaden. Allein auf der ersten Straße, die wir betraten, lagen acht bis zehn Leichen auf dem Boden, die unkenntlich waren. Nur anhand ihrer Fedai-Kleidung (Widerstandstracht) sahen wir, dass es palästinensische KämpferInnen gewesen sein mussten. Wir hätte in diesem Zustand nicht mal unsere eigenen GenossInnen erkennen können.

In jenem Moment habe ich etwas erlebt, das ich unbedingt mit euch teilen muss. Die Vorderfassaden der meisten Gebäude in der schönen libanesischen Kleinstadt Nebatiye waren aufgrund der Gefechte zum Großteil eingestürzt. Die Einschusslöcher waren offensichtlich von Panzern. Die Straßen waren voll von umgestürzten tragenden Säulen der Gebäude. Überall lagen Tote und Verletzte. Inmitten dieses Tumults sahen wir einen alten Mann. Das war äußerst komisch. Auf den Straßen war außer den Verletzten sonst kein Anzeichen von Leben zu sehen. Er saß vor der eingestürzten Mauer eines Hauses. In Nebatiye gab es kleine Hocker, ähnlich, wie die in Amed. Auf einem solcher Hocker saß er, hatte neben sich seine Wasserpfeife aufgestellt und zog daran. Ich hielt für einen Moment an und beobachtete ihn. Er war wie tot, zog aber dennoch weiter daran. Was er wohl gesehen haben muss, um sich in einen lebendigen Toten zu verwandeln? Wir konnten nicht verstehen, ob er sich im Schock befand oder all die Erlebnisse ihn einfach gleichgültig gemacht hatten. Dann zogen wir weiter. Jahre später haben auch wir uns in manchen schwierigen Momenten immer wieder gedacht: „Eine Wasserpfeife wäre jetzt gut“.

Wir mussten uns beeilen. Weiter vorne floss in einem flachen Tal ein kleiner Bach. An manchen Stellen des Mäanders war Schilf. Wir waren weiterhin dabei unseren Plan umzusetzen, auf dem schnellsten Wege Richtung Norden, in die Berge Südlibanons zu gelangen. Als wir am Schilf standen, merkten wir, dass da jemand war. Auch sie hatten uns bemerkt. Unsere Finger waren am Abzug unserer Waffen. Jeden Moment konnte ein Gefecht ausbrechen. Dann sahen wir, dass wir dieselben Kleider anhatten. Sie waren PalästinenserInnen von der zusammengebrochenen Front. Wie wir, versuchten auch sie in den Norden zu gelangen. Wir konnten uns nur schwer mit Händen und Füßen verständigen und beschlossen dann, uns gemeinsam mit ihnen zu bewegen. Die FreundInnen auf der Burg Arnon und die anderen, die nicht in unserer Gruppe waren, konnten sich sicherer zurückziehen. Wir wussten das aber nicht. Das haben wir erst später erfahren. Wir waren die letzte PKK-Gruppe; es herrschte unter uns ein kurdischer, apoistischer Stolz. So einfach wollten wir unsere Position nicht verlassen. Für die Gefallenen auf der Burg Arnon nennen manche FreundInnen den 18. Juni als Todesdatum. Aber zu dieser Zeit war der Krieg schon lange zu Ende und die Freunde bereits gefallen. Dieses Datum stimmt also nicht.

Abdullah Kumral (1955-Cibin-Halfeti), Mehmet Atmaca (1957-Cibin-Halfeti), Mustafa Marangoz (1961-Çermik),
İsmet Özkan (1962-Suruç), Şahabettin Kurt (1962-Nusaybin), Kemal Çelik (1956-Keban), İrfan Ay (1963-Bismil),
Şerif Aras (1957-Derik), Emin Yaşar (1960-Kozluk), Veli Çakmak (1960-Dersim),

Kennen Sie das genaue Datum?

Nicht das genaue, aber es muss so circa zwischen dem 10. und 12. Juni gewesen sein. So wie wir das gesehen haben, gab es nämlich nach diesem Datum keine Luftangriffe mehr auf die Burg. Nachdem niemand mehr auf der Burg am Leben war, fiel sie.

Wir sind mit den Palästinensern weitergelaufen. Während dieses Marsches begegneten wir zufällig einer Gruppe israelischer Panzer. Vielleicht wurden wir verraten, vielleicht auch ausgespäht. Es ist nicht möglich, das genau herauszufinden. Sie griffen uns an. Es kam auch dort zu einem ernsthaften Gefecht. Zahlreiche palästinensische KämpferInnen sind dort gefallen. Auch das Bein eines Genossen von uns wurde von fünf Kugeln getroffen. Wir wussten nicht, ob die israelische Armee mit der BKC (Maschinengewehr) schoss oder eine andere Waffe nutzte. Unser Genosse war zu Boden gefallen. Das Gefecht wurde immer intensiver. Den verletzten Freund haben wir nicht zurückgelassen. Einerseits kämpften wir, andererseits zogen wir uns in Richtung der Berge zurück. Den Freund konnten wir eine Zeit lang getragen. Nach einer Weile hatten wir uns außerhalb des Gefechtes gebracht. Als die PalästinenserInnen sahen, dass wir unseren Genossen nicht zurücklassen wollten, sagten sie, dass das Haus eines Imams in der Nähe sei, wo auch sie ihre Verletzten hingebracht hätten und wo auch wir unseren Freund unterbringen könnten. Wir haben das nicht akzeptiert. Wir waren entschlossen, unseren Genossen so weit auf unseren Rücken zu tragen, wie es ging. Obwohl sie uns dazu drängten, ließen wir ihn nicht zurück.

Eine Nacht lang liefen wir durch eine bergige Region. In uns entstand die Hoffnung, dass wir die Umzingelung durchbrechen könnten. An einem Punkt standen wir vor flachem Land, das wir durchqueren mussten. Dort gerieten wir zwar wieder in einen Hinterhalt, konnten uns aber retten. Ich kann mich nicht an den Namen dieser Region erinnern; ich weiß aber, dass dort keine MuslimInnen sondern ChristInnen lebten. Die PalästinenserInnen nannten sie Kelxaliker. Das war ein sehr weiträumiges Gebiet. Auch diese griffen uns an. Zahlreiche PalästinenserInnen sind dort gefallen.

Da wir die Region nicht kannten, mussten wir uns gemeinsam mit den PalästinenserInnen bewegen. Wir hatten keine andere Wahl. Darin sahen wir unsere einzige Hoffnung zum Überleben. Wir liefen hungrig und erschöpft weiter. Es war nachts, als wir durch ein Dorf liefen und einen kleinen Laden sahen. Seit Tagen hatten wir nichts gegessen und dachten uns, dass wir uns etwas zu Essen holen könnten, zumal wir einen Verletzten bei uns hatten. Wir dachten nicht daran, dass die Israelis dort in einem Hinterhalt auf uns warten können. Aufgrund der tagelangen Kämpfe hatten wir auch keine Munition mehr. Wir bemerkten nicht, dass die Israelis uns schon länger beobachteten. Sie brauchten am Ende auch nicht viel Munition. An einem offenen Punkt, wo wir uns nicht zu Wehr setzen konnten, griffen sie uns an. Die PalästinenserInnen waren circa zu zwölft und liefen vor uns. Wir hörten ein Tumult, alle standen still. Sowohl die PalästinenserInnen als auch wir wurden gefangen genommen. Hunderte SoldatInnen hielten uns fest und zwangen uns auf den Boden. Ein paar Stunden lagen wir dort. Unseren verletzten Freund nahmen sie mit.

Ich kann mich noch gut erinnern. Das Mondlicht schien intensiv. Wir sahen alles, was um uns herum passierte. Dann kamen die Fahrzeuge, die eine Art Plane hinten hatten. Unsere Hände und Füße zusammengebunden, warfen sie uns wie bei einem Holzhaufen aufeinandergestapelt auf die Fahrzeuge. Dann ging die Fahrt los. Bis in die Früh fuhren wir. Dann kamen wir an einen absonderlichen Ort in Israel, in eine Art Dorf. Überall waren Graben ausgehoben und diese mit Militärzaun umzäunt. Es gab große Zelte. Es war ein israelisches Gefangenenlager. Dort hatten wir die Möglichkeit, mit PalästinenserInnen zu sprechen und versuchten herauszufinden, was gerade passierte. Sie sagten uns, dass es auch in anderen Lagern PKKlerInnen gebe…

#Fotos: via Yeni Özgür Politika

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Die Reise Abdullah Öcalans in palästinensisches Gebiet war ein historisches Ereignis. Dieser Schritt hatte wichtige Konsequenzen für die kurdische Freiheitsbewegung. Die Ausbildung und Aufstellung einer zweihundert Personen starken Truppe glich unter den damaligen Bedingungen der Aufstellung einer Armee.

Das Interview ist ursprünglich in türkischer Sprache erschienen auf Yeni Özgür Politika: https://www.ozgurpolitika.com/haberi-dersim-daglarindan-filistin-mevzilerine-154563. Für bessere Verständlichkeit wurde die deutsche Übersetzung an einigen Stellen leicht angepasst. (Teil 1 von 3)

Von EMRULLAH BOZTAŞ
Übersetzt von Tekoşin Şoreş & Kerem

Mit der Gründung des Staates Israel 1948 begann in diesem Teil des Nahen Ostens das endlose Dilemma von Aggression und Widerstand (Anmerkung der Redaktion: Koloniale Aggression und Widerstand in Palästina begannen schon deutlich früher, spätestens seit der Balfour-Deklaration 1917, wurden der Weltöffentlichkeit aber erst ab Ende der 40er Jahre bekannt). Palästinensische Organisationen organisierten den Widerstand, indem sie politische Parteien entsprechend der sich entwickelnden politischen Lage in der Welt gründeten. In den 1970er Jahren hatte eine überwältigende Mehrheit der palästinensischen Organisationen eine linkssozialistische Rhetorik und Praxis. Diese Situation brachte eine große internationale Solidarität mit sich und gab dem palästinensischen Kampf den Charakter eines internationalistischen Widerstandes. Viele AraberInnen gingen nach Palästina und in den Libanon, um sich dem Befreiungskrieg anzuschließen.

Der palästinensische Widerstand war sowohl ein Existenzkampf eines Volkes, als auch ein Trainingsplatz für InternationalistInnen geworden. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ging als eine derjenigen sozialistischen Befreiungsbewegungen in die Geschichte ein, die in palästinensischen Lagern eine militärische Ausbildung erhielt. Die PKK ist so zu einer der Parteien geworden, die in den Kriegen und Konflikten im gerechten Kampf des palästinensischen Volkes an vorderster Front ihren Platz einnahmen.

Als das Kalenderblatt den 2. Juni 1982 anzeigte, begann der erwartete Krieg. Die israelischen Streitkräfte überquerten die libanesische Grenze und rückten an drei Fronten nach Norden vor. Neben den libanesischen und palästinensischen Aufständischen waren auch PKK-Guerillas vor Ort. Als der Krieg begann, räumten sie ihr Trainingslager und gingen an die Front. Viele PKK-KämpferInnen, die ihre Stellungen bewahrten, ohne an einen Rückzug zu denken, sind nach Ende der Kämpfe entweder gefallen oder in israelische Gefangenschaft geraten. Dieser Widerstand wurde zur Tradition und für Generationen zum Charakter der apoistischen Bewegung (Anm. d. Red.: Apo bedeutet „Onkel“ auf Kurdisch und ist ein Spitzname Öcalans).

Während des Libanonkrieges schlossen sich PKK-Mitglieder an vielen Orten dem Widerstand an, darunter bei der Burg Arnon, in Sayda, Nebatiye, Sur, Demorda und Beirut, auch bekannt als Burg Şaqif, die einst von Sultan Saladin wieder aufgebaut wurde. Neun PKK-Mitglieder starben allein auf Burg Arnon. Während des gesamten Krieges gab es zwölf Märtyrer. Aufgrund ihrer willensstarken Haltung im Krieg hielten die PalästinenserInnen die PKK-Mitglieder für würdig, die Titel „Löwen von Beirut“ und „Helden von Arnon“ zu tragen. Während dieses Widerstands wurden fünfzehn PKK-Guerillas gefangen genommen, die erst eineinhalb Jahre später freikamen. Xalid Çelik, der an der Verteidigung des Südlibanon beteiligt war und Zeuge der unmenschlichen Behandlung in israelischen Gefangenenlagern ist, erzählte unserer Zeitung über Palästina von damals.

Welche Art von Kampf hat die PKK vor dem Gang in den Nahen Osten in Kurdistan geführt? Wie hat Ihre Partei, die den Widerstand gegen den türkischen Staat begonnen hat, den Anfang gemacht?

Nach der Parteigründung 1978 realisierte der türkische Staat etwas: Eine Gruppe namens ApoistInnen war zu einer Partei geworden und begann, die ArbeiterInnen zu organisieren. Ihm war von Anfang an klar, dass diese organisierte Kraft große Entwicklungen herbeiführen würde. Deswegen griff er auch die junge Bewegung an. Die Freiheitsbewegung führte noch keinen bewaffneten Kampf. Sie erklärte ihre Ideen politisch und arbeitete daran, sich in Kurdistan zu organisieren, während der Staat einige Milieus in Kurdistan, v.a. reaktionäre feudale Großstämme, gegen die PKK mobilisierte.

Einer von ihnen war der Bucak-Stamm in Urfa. Ein anderer war der Süleyman-Stamm in Hilvan. In Batman gab es den Raman-Stamm. Das waren die Hände, Füße und Ohren des türkischen Staates in Kurdistan. Mehmet Bucak war Stammesführer und stand als Abgeordneter stellvertretend für Demirels Partei (Anm. d. Red.: Gemeint ist die Adalet Partisi (Deutsch: Gerechtigkeitspartei, Demirel war insgesamt sieben Mal Ministerpräsident der Türkei und stand für eine neoliberale, nationalistische Politik). Natürlich haben wir damals nicht ganz verstanden, warum sie uns angegriffen haben. Damals gab es, noch vor der Ermordung des Genossen Haki Karer, eine Anti-Guerilla-Organisation, die sich „Sterka Sor“ (Deutsch: Roter Stern) nannte. Es war eine vom türkischen Staat unterstütze, konterrevolutionäre Organisation. Auch sie griff uns an. Auch das Massaker von Maraş (1978) war eine Reaktion des Feindes gegen die PKK. Sein Ziel war es, die Bewegung so schnell wie möglich zu zerstören, indem er sie in einen Konflikt hineinzog.

Die ersten PKK-Kader wurden an verschiedenen Orten militärisch ausgebildet. Welche anderen Maßnahmen wurden angesichts dieser Gefahren ergriffen?

Unsere Partei geriet in einen gefährlichen Prozess. Nachdem die Parteiführung (Abdullah Öcalan) die Risiken gut vorhergesehen hatte, wollte sie einige Vorsichtsmaßnahmen treffen. Unvorbereitet, d.h. irregulär in den Krieg zu ziehen, ohne auch eine starke militärische Kraft zu bilden, bedeutete, sich der staatlichen Vernichtung zu stellen. In Hilvan, Siverek und Batman war bereits Krieg geführt worden, der uns schweren Schaden zugefügt hatte.

Vorsorglich wollte der Parteivorsitzende eine gewisse Ordnung schaffen, um die KaderInnen künftig besser auszubilden und zu organisieren, zu motivieren und zu stärken. Das geeigneteste Gebiet dafür war der Sitz der palästinensischen Bewegung. Es gab keinen besseren Ort. Vielleicht gab es auch in Südkurdistan manche Möglichkeiten, aber dort gab es das schwer einzuschätzende Regime von Saddam Hussein. Es war unklar, ob eine Verlagerung unserer Kräfte nach Südkurdistan von Vorteil gewesen wäre. Auch in Ostkurdistan gab es eine kurdische Bewegung; aber dort waren die iranische PDK und Komala Parteien untereinander in Konflikt geraten. In diesem Fall waren schlussendlich die Gebiete, in denen die PalästinenserInnen kämpften und der Libanon die richtige Wahl.

Der Parteivorsitzende Öcalan ging zuerst mit seinem Freund Etem Akçam, Codename Sait, in das palästinensische Gebiet. Wir waren zu dieser Zeit auch mit organisatorischen Arbeiten beschäftigt, aber um ehrlich zu sein, haben wir dem, was vor sich ging, nicht viel Bedeutung beigemessen. Der Grund war, dass wir alle jeweils in uns zugeteilten Gebieten eingesetzt waren. Wir waren mit den Arbeiten in diesen Gebieten beschäftigt. Die Aktivitäten der Bewegung als Ganzes waren uns nicht bekannt. Ich war damals in der nördlichen Zone. Wir befanden uns in Dersim und Umgebung. Wir hatten nicht so viel Erfahrung, was das Guerilla-Leben anging und versuchten lediglich, uns so gut wie möglich vorzubereiten. Unsere Einheiten wurden bewaffnete Propagandatruppen oder Fedai-Truppen genannt. Jeder gab sich einen Namen und handelte entsprechend. Wir waren AmateurInnen. Gegen die Angriffe des Staates leisteten wir natürlich Gegenwehr. In Hilvan und Siverek schlossen sich bestehende Kräfte unserer Organisation an. Das entwickelte den Widerstand und wurde zu einer Kultur. Es gab keine Macht in Kurdistan, die vor der PKK mit einer so politisierten Widerstandskultur durchdrungen wurde. Eine solche Kriegspraxis ist durch die Bewegung entstanden.

Wie war Ihr Übergang in die palästinensischen Gebiete?

Über den Vorsitzenden hatten wir dort Kontakte zur DFLP, PFLP und PLO. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten hatte der Vorsitzende dort die Anerkennung dieser Gruppen gewonnen, sodass er Stück für Stück die FreundInnen aus Nordkurdistan zu sich holen konnte. In den Jahren 1979/1980 haben wir mehrere Gruppen zusammengestellt, die dann in diese Gebiete entsandt wurden. Bereits vor der Militärjunta vom 12. September 1980 wurde in Nordkurdistan das Kriegsrecht verhängt und es herrschte ein Putschklima. Viele Orte in Kurdistan wurden auf diese Weise regiert. In den Regionen, in denen die Bewegung schon ein wenig organisiert war, wurde auch der Staat aktiver. Das Massaker von Maraş an alevitischen KurdInnen ist aus diesem Grund begangen worden. Der türkische Staat hatte die schlagkräftigsten Kräfte seiner Armee nach Kurdistan geschickt.

Obwohl wir keine richtige Streitmacht hatten, entwickelte der Staat eine Invasionsbewegung in Kurdistan. Schon damals begannen linke Organisationen in der Türkei sich aufzulösen. Auch in Kurdistan passierte das. Angesichts dieser Wiederbesetzungswelle verschwanden sie vom Bild, unter dem Vorwand, sie würden nun im Untergrund agieren. Also haben sich alle zurückgezogen. Nur die ApoistInnen blieben auf dem Feld; genauso, wie es der Staat wollte. Denn er wollte unsere Bewegung im Keim ersticken und zeigen, dass wir zu nichts imstande seien. Die Dinge liefen aber nicht wie geplant. Denn der Widerstand ist Teil der apoistischen Lebenskultur.

Aus diesem Grund trugen sie die Kriegsrechtspraktiken des Ausnahmezustandes, die sie für Kurdistan praktiziert hatten, auch in die türkischen Teile des Landes. Dann, mit dem Militärputsch vom 12. September, konzentrierten sie sich darauf, die Gesellschaft vollständig zu zerschlagen und zum Schweigen zu bringen. Die Massaker von Maraş und Çorum waren zwar der sichtbare Teil dieser Politik, es gab aber auch in Elazığ und Malatya schwere Verbrechen des Staates. Um es klar auszudrücken: Wo immer die PKK die Menschen wachrüttelte und organisierte, verübte der faschistische türkische Staat mit seinen lokalen KollaborateurInnen und seiner Armee Massaker. Diese Orte sind jene, in denen sich die PKK zum ersten Mal organisierte.

Aus diesem Grund ist die Reise Öcalans in die palästinensischen Gebiete ein historisches Ereignis. Es war ein Schachzug um sich zu sammeln und besser auf den Kampf zuhause vorzubereiten. Es war ein Schritt, der durch den Blick in die Zukunft motiviert war. Schon vor der offiziellen Durchführung des Putsches kam es zu Gefallenen unter wichtigen KaderInnen der PKK. Während Freunde wie Salih Kandal und Halil Çavgun fielen, wurden auch viele führende KaderInnen verhaftet, so wie Kemal Pir und Hayri Durmuş. Meiner Meinung nach hat Öcalan diese Entscheidung getroffen, um die eigenen Kräfte zu schützen und auszubilden und um so einen organisierten Guerillakrieg in Kurdistan beginnen zu können.

Der Schritt nach Palästina hatte sehr wichtige Konsequenzen für die Bewegung. Dieser Ort war der Sammelpunkt der verschiedenen Anschlüsse in die Bewegung; dort sammelte sich die Kraft der Bewegung. Die technische Ausrüstung war dort gewährleistet. Dort hatte Öcalan die Möglichkeit Parteitage, Versammlungen und Kongresse abzuhalten. Unter den damaligen Bedingungen war die Ausbildung und Aufstellung einer zweihundert Personen starken Truppe so viel wert, wie heute die Aufstellung einer gesamten Armee. Und tatsächlich wurde dort auch eine Armee aufgebaut.

Wann sind Sie in den Nahen Osten gewechselt? Mit welcher Situation waren Sie dort konfrontiert und mit wem hatten Sie Kontakt?

Ich ging spät in die Region. Wir waren in den Bergen. Öcalan rief die Gruppen vor allem entsprechend ihrer geographischen Nähe auf. Die FreundInnen in Mardin und Umgebung gingen zuerst. Wir waren zwangsläufig die Letzten. Das war dann ungefähr im Jahr 1981. Das war der Plan der Parteiführung und danach richteten wir uns. Der Weg dorthin war natürlich schwierig. Unsere Route ging über Rojava (Westkurdistan), Syrien und Libanon in die Bekaa-Ebene.

Jede Gruppe, die dort ankam, wurde von Öcalan persönlich empfangen. Diese ersten Treffen lagen ihm immer sehr am Herzen, weil sie allen Motivation gaben und auch eine gute Gelegenheit zum Kennenlernen boten. Auf diese persönlichen Empfänge war auch immer die gesamte Basis sehr gespannt. Dort wurde dann jedeR FreundIn seinem/ihrem Arbeitsbereich zugeordnet. Es gab eine Camp-Leitung, die die praktischen Arbeiten verwaltete. Heval Mehmet Karasungur war einer der Wichtigsten in dieser Leitung. Heval Sabri war auch dort, auch viele andere, an deren Namen ich mich jetzt nicht erinnern kann. Sie organisierten diese Dinge.

Diese Freundinnen teilten die KaderInnen in Dreier- oder Fünfergruppen auf und übergaben sie den palästinensischen Gruppen, an deren Ausbildung sie dann teilnahmen. Wir kamen mit einer großen Gruppe – mehr als 25 Menschen– aus dem Norden an und nahmen so an der Ausbildung teil. Dies war nur die Gruppe aus der Region Dersim-Bingöl. Als wir damals dort ankamen, hatten wir kurz zuvor Beziehungen mit der Fatah aufgenommen.

In allen diesen palästinensischen Organisationen hatten wir Gruppen von FreundInnen. Da wir dort blieben, wurde auch für jeden von uns in Beirut ein Ausweisdokument erstellt. Karasungur kümmerte sich um diese Arbeiten. Wir gingen zu ihm. Er sagte uns: „Jeder von euch soll sich einen Namen aussuchen, aber auf Arabisch.“ Ich habe mir damals überlegt, welchen Namen ich mir geben sollte. Er drehte sich zu mir um und sagte: „Mein Name ist Xalid und deiner ist Xalid.“ Unsere Bekanntschaft ging schon auf früher zurück, zu den TÖBDER-Zeiten (Tüm Öğretmenler Birleşme ve Dayanışma Derneği; deutsch: Verein der Vereinigung und Solidarität aller LehrerInnen) in Bingöl. So wurde mein Name Xalid. Ich habe meinen Namen nicht geändert, nachdem mein Freund Karasungur gefallen ist. Ich habe nie daran gedacht, ihn zu ändern. Mein Name ist mir als Erbstück von ihm geblieben. Und dann gingen wir zur Fatah.

ApoistInnen in Palästina

Du bist in das Lager der Fatah gegangen und hast dort deine Ausbildung bekommen. Wie näherten sich euch die PalästinenserInnen? Wie sahen palästinensische Organisationen die PKK?

Dies war für uns ein wichtiges Thema. Schließlich waren sie eine Kraft, die aus der arabischen Gesellschaft hervorgegangen ist, und die PKK aus dem Herzen des kurdischen Volkes. Sie kannten uns nicht sehr gut. Auch der Umgang der arabischen Bourgeoisie mit uns war anders, die wir natürlich von den RevolutionärInnen unterschieden. Der Großteil der palästinensischen Organisationen akzeptierte unseren Vorsitzenden nicht. Er hat dafür lange kämpfen müssen. Wenn sie wüssten, dass Israel kommen und ihre Orte besetzen würde, dann wäre ihre Annäherung an uns vielleicht wohlwollender gewesen. Sie sahen uns, wie auch alle anderen, wie Menschen, die sie arbeiten und kämpfen lassen können. Schließlich brauchten sie KämpferInnen. Auch KurdInnen hatten mehr oder weniger Kriegserfahrung. Allerdings waren die Bedingungen der neuen Welt des Krieges wie ein Flachland, das sie erst noch erkunden müssen. Die Sowjets, China, der gesamte Ostblock und die arabischen Staaten gaben den PalästinenserInnen alle möglichen Hilfestellungen. Ohne sich wirklich anzustrengen, bekamen sie aus großzügigen Händen alles, was sie brauchten. Deshalb nahmen sie niemanden ernst, nicht nur uns.

Sie sahen diese InternationalistInnen entweder als eine Belastung oder als einfache Arbeitsesel. Ein Beispiel: Einmal kamen welche aus Bangladesch. Sie ließen sie wie ArbeiterInnen in Höhlen und Tunneln arbeiten. Diese hatten aber auch nicht wirklich Interesse an einer Revolution und schauten vor allem darauf, was sie verdienten. Ein anderes Mal kamen SudanesInnen und Menschen aus vielen Teilen Afrikas. Sie standen am Rande der Fatah-Bewegung und arbeiteten für sie. Als wir sie ansprachen nannten sie sich „Maschinen“. Mit anderen Worten, sie arbeiteten physisch wie Maschinen. Deshalb sahen die PalästinenserInnen auch uns in dieser Kategorie. Ihre Herangehensweise an uns war schon am Anfang ein Problem. Da unsere Gruppe erst später dort ankam, kamen wir zur „besseren“ Zeit, da die FreundInnen vor uns sich schon, mit harter Arbeit und großen Mühen, Respekt und Akzeptanz verschafft hatten.

Manche wollten uns sogar mit materiellen Dingen für unsere Arbeit entlohnen. Einmal hatte der Freund Kemal Pir in einer solchen Situation zu Ihnen gesagt: „Wir sind Revolutionäre, ihr seid auch Revolutionäre. Wir können euer Geld nicht nehmen“. JedeR hatte dort für seine Arbeiten Geld bekommen: Einzelpersonen, Organisationen, etc. Später haben auch wir Geld akzeptiert, das wir ausschließlich zur Finanzierung der Arbeiten nutzten. Während wir neu waren, hatte die Fatah dort bereits eine große militärische Kraft, eine Guerilla aufgebaut. Sie war aber ungebildet und weit entfernt von Disziplin. Früher nutzten wir für solche Leute das Wort „Lumpenproletariat“. Die ApoistInnen waren aber ideologisch und politisch gebildete, disziplinierte RevolutionärInnen.

Intern bildeten wir uns ideologisch weiter, lasen und diskutierten die Parteianweisungen. Daneben kamen die Kommandeure der Fatah und gaben uns eine militärische Ausbildung. Auch die Freizeit vergeudeten wir nicht, sondern nutzten auch sie für Bildung, weshalb die PalästinenserInnen dachten, dass wir bewusst Sitzungen abhielten, um nicht arbeiten zu müssen. So etwas wie ideologische Bildung gab es bei ihnen ohnehin nicht. Gearbeitet haben die meisten auch nicht wirklich. Sie erwarteten von uns, dass wir ihre Arbeiten erledigen und für sie putzen. Wir sind jeden Tag im Morgengrauen aufgewacht, haben unser Lager geputzt und setzten uns dann zum Frühstück. Während wir dann schon frühstückten, wachten sie gerade auf und kamen einer nach dem anderen zum Frühstück.

Wir konnten dieses Verhalten damals nicht verstehen. Es gab Zeiten, in denen wir wütend wurden. Im Laufe der Zeit wurde uns klar, dass dies ihre Lebensweise war; sie lebten einfach auf diese Weise und ohne Hintergedanken. Diese Verhaltensweisen haben uns natürlich herausgefordert. Wir sagten uns: „Wenn die so sind, was sollen wir tun, wir sind gekommen, um Bildung zu bekommen. Wir müssen sie als solche akzeptieren“ und ließen uns das gefallen. Das ging so bis Juni 1982.

Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Bekaa

Wie war die militärische Ausstattung der Fatah? Wie profitierte die PKK davon? War eure Ausbildung ausreichend?

Angesichts unserer damaligen Situation haben wir sehr davon profitiert. An Individualwaffen bis zu schweren Waffen haben wir alle möglichen Bildungen bekommen. Das beinhaltete das Auseinandernehmen und die Reparatur dieser Waffen. Sie gaben uns die Standardausbildung. Es waren vor allem unsere FreundInnen, die die nötige Willenskraft zum Lernen zeigten. Sie gaben uns zum Beispiel zum Trainieren Handgranaten. Während die Ausbilder uns sagten „schmeißt die Bomben einfach nur weit weg“, stellten unsere FreundInnen Zielscheiben, wie Blechbüchsen und ähnliches auf, um die Würfe zu üben und somit die Ausbildung zu perfektionieren. Wir näherten uns mit einer viel größeren Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit an die Fragen der Zukunft unserer Armee und unseres Volkes. Sie zeigten uns auch, wie Mörser auf Paletten oder Raketen mit 40 Laufrohren genutzt werden. Sie nutzten uns viel für das Schleppen der Munition und der Waffen, aber sie haben uns auch viel beigebracht…

#Fotos: via Yeni Özgür Politika

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Die Massenproteste gegen die Zwangsräumungen von Palästinenser:innen in Sheikh Jarrah und die weltweiten Solidaritätsdemonstrationen haben auch im internationalen Diskurs eine Verschiebung eingeleitet – nur Deutschland und Österreich hinken hinterher, meint unser Gastautor Marik Ratoun.

Viel läuft schief in der hiesigen Diskussion über die aktuellen Entwicklungen in Palästina-Israel: In den letzten Wochen hat das hochgerüstete israelische Militär in Gaza gezielt dichtbevölkerte Wohnviertel bombardiert, kritische Infrastruktur zerstört (darunter das einzige Corona Testzentrum in Gaza, Mediengebäude, Schulen, Straßen, die zu Krankenhäusern führten etc.) und 219 Menschen, darunter 63 Kinder, ermordet. In deutschen Medien – zwischen linken und bürgerlichen Medien waren hier oft kaum Unterschiede zu verzeichnen – standen allerdings nicht diese Kriegsverbrechen im Vordergrund, sondern der Raketenbeschuss des bewaffneten Arms der Hamas auf israelische Städte, bei dem 28 Menschen ums Leben gekommen sind. Daneben waren antisemitische Geschehnisse vor Synagogen Thema sowie die vielen Demonstrationen gegen die koloniale Gewalt in Palästina am Tag der Nakba (15.05). Gezielt wurden die fortschrittlichen Demonstrationen, deren Organisator*innen sich zuvor eindeutig von Antisemitismus und Faschismus distanziert hatten, unter die antisemitischen Geschehnisse subsumiert.

Was wir in der deutschen Berichterstattung und den apologetischen Reflexen der meisten bürgerlichen Politiker*innen beobachten können, ist eine Weigerung die Realität der Apartheid und der siedlerkolonialen Gewalt in Palästina-Israel anzuerkennen. Die bedingungslose „Solidarität mit Israel“ scheint ein verzweifeltes Aufbäumen zu sein gegen diese Realität und gegen den fortschreitenden Wandel im weltweiten Blick auf die Situation, der sich verschiebt. Überall hat es große Demonstrationen in Solidarität mit den Palästinenser*innen gegeben. In Berlin waren mehr als 15.000 auf der Straße, in London waren es gar 180.000 Menschen. Und sogar in den US-amerikanischen Leitmedien kamen Aktivist*innen zu Wort, die vor laufender Kamera sagen können, was ist. So erklärte der palästinensische Aktivist Mohammed El-Kurd bei einem Interview beim MSNBC am 11. Mai über die Entwicklungen im Jerusalemer Stadtviertel Sheikh Jarrah: „Das ist ethnische Säuberung“. Ein MSNBC Kolumnist analysierte: „Wir müssen in der Lage sein zu sagen, dass Israels Behandlung der Palästinenser Apartheid ist. Punkt.“ Dies war bei den früheren Gewaltausbrüchen unvorstellbar. Auch einige Politiker*innen der demokratischen Partei verurteilten die israelischen Angriffe weit schärfer, als es bisher toleriert wurde. Diese Sag- und Hörbarkeit palästinensischer antikolonaler Perspektiven ist eine Folge der jahrelangen Organisierung palästinensischer und solidarischer jüdischer Aktivist*innen in den USA.

In Deutschland sind wir scheinbar noch weit entfernt, einen derartigen Wandel in der allgemeinen und linken Berichterstattung zu spüren. Der Verlust der Überzeugungskraft des israelischen Regierungsnarrativs, wonach Israel sich stets angemessen gegen Angriffe von außen selbst verteidige und „beide Seiten an der Eskalation schuld seien“ ist nach wie vor dominant.

Deshalb sollten wir daran arbeiten, dass sich das ändert. Gerade aus linksradikaler Sicht ist es unsere Aufgabe, die Analyse der Palästinenser*innen populär zu machen und nach außen zu tragen. Denn sie haben vor allem in Deutschland keine großen Lobbyorganisationen oder kraftvollen politischen Kanäle, die ihre Sicht auf die Dinge hörbar machen könnten. Aber sie haben die Bewegung, sie haben uns. Umso wichtiger ist es, dass wir ihre Stimmen verstärken und unterstützen: Es ist Zeit, dass wir beginnen, das anhaltende Schweigen der deutschen Linken im Angesicht der mehr als 70 Jahre andauernden Unterdrückung der Palästinenser*innen zu beenden. Es ist Zeit, dass wir uns eine kritische und sachkundige Analyse und Beschreibung von den Entwicklungen in Palästina-Israel aneignen, statt untätig im Paradigma der „beiden Streithähne aus Nahost“ und der „Selbstverteidigung Israels“ zu verharren. Die Wörter, die wir benutzen, um die Entwicklungen zu beschreiben, haben in diesem Befreiungskampf eine herausgehobene Stellung: Weil die Palästinenser*innen sich angesichts der israelischen Gegenmacht nicht selbst befreien können, appellieren sie an die Welt, sie nicht im Stich zu lassen. Und hierzu gehört auch, sich vehement gegen die fabrizierte Verteidigung der andauernden Kolonisierung palästinensischen Lands zu stellen.

Nicht erst der Bericht von Human-Rights-Watch vom 27. April 2021 hat gezeigt, dass es in Palästina-Israel nicht einfach um ein bisschen Diskriminierung, sondern glasklare Apartheid, d.h. strukturelle ethnische Separation, geht. Seit Jahrzehnten sprechen palästinensische Aktivist*innen im Angesicht von Mauern, Checkpoints, ethnischer Säuberung und Vertreibung, rassistischen Gesetzesregimes (für Palästinenser*innen in Israel gilt israelisches Zivilrecht, für Palästinenser*innen unter Besatzung Militärrecht) und der Einkreisung der arabischen Städte in der Westbank von Apartheid, ohne jedoch Gehör zu finden. Genauso ist inzwischen den meisten progressiven Kreisen (außerhalb von Deutschland und Österreich) klar, dass die Natur des Konflikts keine religiöse, sondern eine siedlerkoloniale ist. Die Pogrome gegen Palästinenser*innen innerhalb von Israel durch zionistische Siedler*innen, mit Rückendeckung der Polizei, die regelmäßigen Angriffskriege auf Gaza, die Militärgewalt in der Westbank, all das ist Teil der siedlerkolonialen Gewalt. Diese Gewalt hat die Funktion, den Zugriff auf Land und Territorium für die Siedlergesellschaft zu ermöglichen, indem das Land von der indigenen Bevölkerung zur Siedlergesellschaft übergeht („ethnische Säuberung“).

Und schließlich wird es Zeit, dass wir die Tragweite der letzten Wochen für die palästinensische Befreiungsbewegung anerkennen. Sowohl die palästinensischen Fraktionen als auch die Israelis und internationale Beobachter*innen waren vor allem überrascht von einem Aspekt: der Einheit der Palästinenser*innen. Auch nach mehr als 100 Jahren „teile und herrsche“ und nach jahrelanger politischer Separation demonstrierten Menschen in Gaza für Sheikh Jarrah (Jerusalem) und Menschen in Haifa für Gaza. Die Palästinenser*innen organisierten Demonstrationen unabhängig von den korrupten politischen Eliten und riefen zu einem massiven Generalstreik im ganzen historischen Palästina am 18.05 auf.

Diese Proteste, die vereinzelt und womöglich verfrüht als „Intifada der Einheit“ beschrieben werden, sind eine historische Zäsur. Die neue Generation der Palästinenser*innen, die nur die Stagnation seit Oslo und die brutale Zerschlagung der palästinensischen Gesellschaft während der zweiten Intifada kennt, diese Generation, die nur das regelmäßige vernichtende Bombardement von Gaza und die zerstörten Flüchtlingslager kennt, beginnt sich vom Jordan bis zum Mittelmeer zu erheben gegen ihre koloniale Unterdrückung und für die Dekolonisierung in Palästina-Israel zu kämpfen. Und wir sollten uns endlich konsequent an ihre Seite stellen. Denn wie der berühmte palästinensische Schriftsteller und Revolutionär Ghassan Kanafani einmal gesagt hat: “Die palästinensische Sache ist nicht nur eine Sache für Palästinenser, sondern eine Sache für jeden Revolutionär, wo immer er sich befindet, als Sache der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in unserer Zeit.”

#Bildquelle: Pixabay

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Israel setzt derzeit die geplante Annexion großer Territorien der palästinensischen Westbank um. International viel diskutiert, bedeutet der von US-Präsident Donald Trump beförderte Schritt das definitive Ende jeder Zwei-Staaten-Lösung. Unsere Reporterin Regina Antiyuta sprach mit Abed Al-Salhi, Social-Studies-Researcher in Ramallah und Mitarbeiter bei der Menschenrechtsorganisation al-Marsad.

Israel plant große Teile der Westbank zu annektieren. Welche Auswirkungen hat das auf den Konflikt im allgemeinen und auf das Leben der betroffenen Palästinenser*innen konkret?

Die israelische Regierung hat angekündigt, große Teile der Westbank unter ihre Souveränität zu stellen. Die Gebiete, um die es gehtr, sind nach dem Oslo-Übereinkommen als “Area C” kategorisiert, was auch das Jordantal mit einschließt.

Die Area-C-Gebiete sind ein integraler Teil der besetzten palästinensischen Gebiete und machen 60 Prozent der Westbank aus. Derzeit werden diese Gebiete von der Besatzungsmacht administrativ und hinsichtlich der Sicherheitspolitik kontrolliert. Die Annexion der Area C würde bedeuten, dass diese Gebiete formal zu Gebieten innerhalb der Grenzen Israels erklärt werden.

Zugleich hat aber der Widerstand der Palästinenser*innen gegen die israelische Besatzung, der sich in der Standhaftigkeit der Palästinenser*innen, ihr Land nicht zu verlassen, ausdrückt und in der Zurückweisung jeder Form der Vertreibung und Zwangsräumung besteht, nie aufgehört. Und er wird auch nicht aufhören, bis die Palästinenser*innen ihre vollen Rechte erlangen sowie moralische und materielle Entschädigung. Das schließt das Recht auf Rückkehr der vertriebenen palästinensischen Geflüchteten seit 1948 ein. Der Widerstand gegen das zionistische Kolonialprojekt ändert sich jetzt nicht groß. Die Palästinenser*innen verstehen, dass es sich um ein fortschreitendes koloniales Projekt handelt, das grundlegendend beendet werden muss.

Wie wird die anstehende Annexion sich auf die Zwei-Staaten-Lösung auswirken?

Diese Option wird durch die Annexion vollständig ausgeschlossen. Faktisch ist es aber so, dass die Ereignisse seit 1996 darauf hinweisen, dass die wechselnden Besatzungsregierungen je vorhatten, den Palästinenser*innen irgendeine Form eines Staates zuzugestehen.

Das wirkliche Problem ist, dass die palästinensischen Verhandlungsführer*innen an dieser Option festhielten, während die Besatzung fortfuhr, Menschen zu vertreiben, Land zu stehlen und Palästinenser*innen zu töten – was die palästinensische Position Jahr für Jahr schwächte. Wie Sie wissen, wurde der Koordinationsprozess zwischen der israelischen und der palästinensischen Seite kürzlich gestoppt, aber die Realität ist viel komplizierter, als die Politiker sie darstellen.

Die Internationale Gemeinschaft war all die Jahre präsent und hat das Siechtum der Zwei-Staaten-Lösung mitangesehen, handelt aber auch heute nicht – zum Zeitpunkt der Annexion. Die Internationale Gemeinschaft muss ihre Verantwortung gegenüber den Palästinenser*innen anerkennen.

Das Problem der Annexion als Teil des zionistischen Kolonialprojekts hat seit 1948 nicht aufgehört. Gleichwohl gibt es beschleunigende Momente, die heute dazu führen, dass diese Gebiete alle auf einmal annektiert werden können: Erstens, der Aufstieg rechter Parteien weltweit, die derzeit in vielen Ländern der Erde die Regierung stellen. Zweitens, das Versagen der Internationalen Gemeinschaft, eine gerechte Lösung für die Palästinenser*innen anzustreben. Drittens, die Regentschaft von Donald Trump, der dem zionistischen Projekt gegenüber offen loyal ist (was nicht heissen soll, dass das vorhergehende Regierungen nicht waren, allerdings, dass sie “rationaler” in ihren Entscheidungen waren). Und viertens, die Schwäche der anderen politischen Kräfte sowie der Mangel des Wissens darüber, was heute in Palästina geschieht.

Teil der Annexion sind die fruchtbaren Agrikultur-Gebiete im Jordental. Wie wird sich das auf die Ernährungssouveränität der Palästinenser*innen auswirken?

Das Jordantal ist eine Art natürliches Gewächshaus und sein Gebiet erstreckt sich auf 172973 acres, zusätzlich zur Area C. Alle diese Ländereien eignen sich für Agrikultur und beinhalten die Hauptquellen, die Palästinenser*innen mit Wasser versorgen.

Die formale Annexion bedeutet die Vernichtung jeder Möglichkeit von Palästinenser*innen, die Souveränität über ihre Ernährung sicherzustellen. Allerdings muss auch angemerkt werden, dass die Besatzungsmacht schon vorher die Palästinenser*innen in diesen Gebieten davon abhielt, von ihren natürlichen Ressourcen zu profitieren, weil Israel schon zuvor die administrative und sicherheitspolitische Kontrolle hier ausübte – trotz des Umstandes, dass das Olso-Übereinkommen festhielt, dass diese Gebiete innerhalb von fünf Jahren nach Unterzeichnung an die Palästinenser*innen übergeben werden sollte.

Trotz internationaler Bedenken über die Illegalität dieser Annexion, setzt Israel die Verhandlungen mit der Trump-Administration fort, um sie zu verwirklichen. Denken Sie, dass es internationale Sanktionen geben wird?

Ich glaube nicht, dass es irgendwelche Sanktionen geben wird und selbst, wenn das geschehen sollte, wird es Israel nicht treffen. Der Schritt, der notwendig wäre, ist, dass Nationen und Bevölkerungen erkennen, dass es ein Kolonialstaat ist, der Kinder tötet, Land stiehl und vollständig boykottiert werden muss.

Welche Reaktionen erwarten Sie von den palästinensischen Organisationen und der Zivilgesellschaft? Welcher Widerstand ist möglich?

Das Einzige, was Palästinenser*innen tun können, ist an ihrem Land festzuhalten, zu bleiben und nie zu gehen. Auf der politischen Ebene glaube ich, dass die politischen Träumereien enden müssen. Die palästinensischen Vertreter*innen aller Parteien sollten sich in den Widerstand der Bevölkerung einreihen.

Die Zivilgesellschaft und zivile Institutionen müssen die ganze Welt über die Lage der Palästinenser*innen informieren – und über deren Recht auf ihr Land und ihren Staat. Die Verantwortung, die sie haben, ist Palästina zu befreien und nicht diese Institutionen in einen Arbeitsmarkt zu verwandeln.

#Titelbild: wikimedia.commons

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In der deutschen Linken über Israel und Palästina zu sprechen, war stets schwierig. Wer sich positiniert, muss mit Angriffen rechnen, bei denen es lange nicht mehr um sachliche Auseinandersetzung geht. Diese Erfahrung macht auch die linke israelische Diaspora in Deutschland. Peter Schaber hat mit Yossi Bartal ausführlich über die ganze Palette umstrittener Themen diskutiert, Teil I erschien gestern.

Yossi Bartal lebt in Berlin und ist in queeren und antirassistischen Zusammenhängen aktiv.

Du hast davon gesprochen, dass seit den jüngsten Annexionsbestrebungen der Begriff „Apartheid“ in Israel gängig geworden ist und du ihn selbst verwendest. Kannst du dennoch verstehen, dass es deutschen Linken schwerfällt, das Wort Apartheid in den Mund zu nehmen, wenn es um Israel geht?

Ich glaube da ist erst einmal eine sehr große Unwissenheit, was Apartheid tatsächlich bedeutet. Ich finde den Begriff darüber hinaus gut, weil es auch Hoffnung impliziert. Nicht dass Südafrika heute so traumhaft ist. Aber „Apartheid“ schließt eine gemeinsame Lösung ein. Antikolonialismus hat eher die Konnotation: Wir müssen die Kolonialisten rauswerfen. Und das finde ich schwierig.

Wenn wir die Probleme benennen, dann wollen wir auch die Lösungen benennen. Und das ist am Begriff der „Apartheid“ stark – auch wenn das im deutschen Diskurs schwierig zu verstehen ist. Aber er ist eigentlich der Begriff, der darauf abzielt zu sagen: Wir wollen eine gemeinsame, demokratische Lösung mit gleichen Rechten.

Außerdem ist es derzeit so: Die Orthodoxen werden orthodox bleiben, Israelis werden in ihrer Mehrheit Zionist*innen bleiben. Die Linke ist nicht auf dem aufsteigenden Ast, es ist genau andersrum als in den USA: In Israel gilt, je jünger man ist, desto rechter. Es wird also auf absehbare Zeit keine ideale Lösung geben. Es müssen also Bedingungen geschaffen werden, in denen von Islamist*innen bis religiösen israelischen Nationalist*innen alle irgendwie koexistieren können – nicht, weil sie sich lieben, sondern weil es notwendig ist. Das ist in diesem Sinne auch gar nicht revolutionär.

Eher aus der Situation der völligen Defensive linker Ideen geboren …

Ja genau. Wenn du als Linker in Israel Politik machst, ist aber auch deine normale Praxis so. Man nimmt eine Scharnierfunktion wahr. Man geht auf äthiopische Demonstrationen gegen Polizeigewalt und zeigt Solidarität mit ihrem Kampf. Und dann versucht man, das mit den Araber*innen zusammenzuführen, die gegen das gleiche kämpfen. Und dann versucht man, einander nicht zu provozieren, indem man von den eigenen Inhalten Abstriche macht. Es geht um das Zusammenführen von Gemeinden, die alle in sich halbwegs organisiert sind – und alle sehr unterschiedlich. Als Linke*r will man ja eigentlich alle Menschen einer Gesellschaft davon überzeugen, Kommunist*innen oder Anarchist*innen zu werden, aber hier geht es eher darum, verschiedene Communities miteinander so zu verbinden, dass sie sich gegenseitig respektieren und im besten Fall unterstützen können.

Im Grunde ist ja auch das sehr ähnlich mit der Situation in Kurdistan. Auch da ging es ja darum, verschiedene, zum Teil Jahrhunderte verfeindete Gemeinschaften zusammenleben zu lassen, einen demokratischen Rahmen dafür zu schaffen und ihnen ihre Selbstbestimmung zu garantieren.

Ich glaube auch, dass Israelis und Palästinenser*innen viel von der kurdischen Erfahrung lernen können. Interessant finde ich auch, was die kurdische Bewegung in jenen Gebieten gemacht hat, die gar nicht zu Kurdistan gehören, den arabischen Gebieten: Wie sie zum Beispiel da mit den familiären Strukturen zusammengearbeitet haben. Sie haben ja nicht versucht, ihnen Marxismus beizubringen.

Naja, es gibt natürlich ideologische Debatten und Versuche, die Mentalität zu ändern …

Ja, aber zunächst geht man zum Familienvertreter und macht einen Deal. Man sagt: Ihr dürft das und das, wir stören euch nicht, ihr stört uns nicht, und dann sollte es Frieden geben. Das funktioniert auch nicht wunderbar.

Ein Modell für extrem verhärtete Fronten. Es sind ja Stämme, die einander zum Teil seit Jahrtausenden befehden – und man hat sie dennoch unter ein Dach gebracht. Und Öcalan sagt ja explizit, das Modell des Demokratischen Konföderalismus wäre wie gemacht für Israel und Palästina. Und viele Einwände der bedingungslosen Israel-Fans ziehen hier einfach nicht: Etwa der, dass ohne Staat, Jüdinnen und Juden keine Selbstverteidigungsmöglichkeit hätten. Das ist ja bei jeder Gemeinschaft im Rahmen des Demokratischen Konföderalismus gegeben – sie alle haben ihre eigenen Verteidigungsformationen. Vielleicht nicht grade als Atommacht, aber immerhin.

Das Problem ist, dass das nationalstaatliche Denken tief verankert ist. In Israel ist es weit verbreitet und warum sollen die Leute umdenken? Den Israelis geht es ja nicht so schlecht. Für jüdische Israelis, vor allem aus den mittleren und oberen Schichten funktioniert dieser Staat ganz gut.

Aber soziale Proteste gab es ja dennoch in den letzten Jahren immer wieder.

Aber ehrlich gesagt, wenn es Frieden gäbe, gäbe es dann keinen Kapitalismus? Die Kosten des Militärs und der Besatzung schaden zum Teil, ja, aber sie sind für die Mittelklasse auch ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Der Hightech-Sektor, der da dran hängt, ist profitabel. Die Besatzung nur als Last zu sehen, was einige Linke in Israel sagen, ist etwas schief. Es gab seit den 80er-Jahren die Parole „Geld für die armen Nachbarschaften, nicht für die Siedlungen“ – aber die Menschen aus den armen Nachbarschaften sind nicht selten in Siedlungen eingezogen. Die Misrachi in Jerusalem haben eine größere Wohnung, weil sie in den besetzten Gebieten wohnen. Die Kriegssituation ist auch nützlich, um die Gesellschaft und die sozialen Probleme immer unter Kontrolle zu halten.

Und der Krieg hilft, um ein Volk zu kreieren. Es kommen ja Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt – und man muss eine gemeinsame Identität stiften. Da gibt es auch viele Kulturkämpfe, viel Rassismus und so eine Konfliktsituation ist da sehr nützlich.

Wenn es da kein Interesse an Änderung gibt, was sollte man dann dort als ein Linker tun?

Ich meine, ich kann es ja auch persönlich sagen. Das ist einer der Gründe, warum ich weggegangen bin und warum viele weggehen, die die Situation realistisch betrachten. Man sieht da keine Alternative mehr. Das einzige, was als möglicher positiver Faktor in Erwägung gezogen wird, ist dass der internationale Druck wachsen würde. Und diese BDS-Idee hat sich dann internationalisiert. Da war die Idee: Die liberale Welt wird sich gegen diese Apartheid vereinigen. Aber umgekehrt hat sich auch Israel international Bündnispartner dagegen gesucht. Israel ist ein Bezugspunkt für viele Staaten, die Autoritarismus und antimuslimischen Rassismus vereinen, man nehme Indien oder Brasilien.

Überhaupt für einen großen Teil der Neuen Rechten.

Das ist ein wichtiger Punkt. Jüdinnen und Juden waren gezwungen, sehr lange mit Antisemitismus zu leben. Und die jüdischen politischen Formationen sind nicht nur im Kampf gegen Antisemitismus, sondern auch im Zusammenleben mit Antisemitismus zustande gekommen. Der Zionismus hat von Anfang an gesagt, die Antisemiten können uns nützlich sein. Auf eine Art und Weise ist diese Idee, Juden brauchen einen Nationalstaat auch ein Reflex des Antisemitismus: Jüd*innen müssen „verbessert“ werden, sie sind ja „entwurzelt“, „Luftmenschen“. Wer den Zionismus kennt, kennt diese Einflüsse. Bei den Antisemit*innen war es die These: Jüd*innen sind verkommen und deshalb müssen sie weg. Bei den Zionist*innen die These: Sie sind verkommen und wir müssen sie durch einen Nationalstaat reformieren. Und ähnlich in Teilen der sozialistischen Bewegung: Der städtische Jude wurde auch von vielen jüdischen Bewegungen als eine regressive mittelalterliche Figur, irgendwie als parasitisch angesehen.

Für den Zionismus war es also auch lange Zeit notwendig, irgendwie mit dem Antisemitismus zurecht zu kommen. Balfour – der Namensgeber der Balfour-Deklaration, nach dem überall in Israel Straßen benannt sind – zum Beispiel war ein großer Antisemit. Der Mann hat jüdische Migration nach Großbritannien unterbunden, denn er wollte ja nicht mehr Jüd*innen haben. Aber er wollte Jüd*innen nach Palästina schicken. Ich will dieses Zusammenspiel von Antisemitismus und Zionismus nicht verteufeln, also nicht sagen: Der Zionismus hätte den Antisemitismus bewusst befeuert. Es waren primär praktische Überlegungen. Aber sachlich gibt es diesen Zusammenhang zwischen beiden.

Als eine Überlebensstrategie …

Genau. Aber als eine Überlebensstrategie, die ich falsch finde. Und aktuell ist das auch ein strittiger Punkt. Der israelische Präsident Reuven Rivlin ist da sehr klar und sagt: Ich arbeite nicht mit Faschisten. Aber die Netanjahu-Regierung macht das systematisch: Orban und Bolsonaro etwa sind enge Partner. Das spiegelt sich auch in den Antisemitismus-Debatten. Auf den Staat Israel bezogener Antisemitismus nimmt eine zentrale Rolle ein, etwa christlich-fundamentalistischer nicht. In der Antisemitismus-Definition ist keine Rede vom Beschneidungsverbot oder dem Verbot des Schächtens. Also Regeln, die jüdisches Leben fast unmöglich machen, gehören nicht zur offiziellen Definition von Antisemitismus.

Oder nehmen wir Trump. Um Trump herum gibt es sehr viele rechtskonservative Jüdinnen und Juden. Und gleichzeitig verbreitet Trump klar Antisemitismus. Und das sehe ja nicht nur ich so, sondern das sieht auch der Mainstream der jüdischen Gemeinde so. Mit der Trump-Regierung kam es zu einem dokumentierbaren, großen Anstieg antisemitischer Straftaten in den USA – der größte Teil durch weiße Nationalisten.

Er landete aber nicht auf der Top-Ten-Antisemiten-Liste des Simon-Wiesenthal-Center …

Nein, natürlich nicht. Und das hat auch etwas mit dieser neuen IHRA-Definition von Antisemitismus zurück. Die wurde damals übrigens sehr stark durch das Simon-Wiesenthal-Center gepushed, also durch die, die jetzt in den USA für die Illegalisierung der Antifa eintreten. Peter Ulrich hat für die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Kritik an der IHRA-Definition geschrieben. Das ist eine sehr gemäßigte Kritik, aber sie weist nach, dass diese Definition einfach ungeeignet ist. Und dass sie strukturell vor allem gegen linke und migrantische Politik eingesetzt werden kann.

Was ich in Deutschland erstaunlich finde ist, dass die Debatte so wenig lebendig ist. Es gibt eine sehr starke Beamtenmentalität: Wir haben jetzt eine staatliche Definition und dann haken wir ab, ob die drei „D“ erfüllt sind und so erkennen wir Antisemitismus. Wobei selbst in der staatlich unterstützten IHRA-Definition klar ist, dass man Kontext berücksichtigen muss. Und wenn Palästinenser*innen Israel hassen, ist der Kontext ja nicht so schwer herauszufinden. Wenn deine Familie bombardiert wird, wahrscheinlich hasst du dann Israel. Das hat nicht notwendig damit zu tun, dass du Antisemit*in bist. Aber soetwas wird komplett ausgeblendet in der Breite des Diskurses.

Wobei mich ja weniger wundert, dass der Staat seine Staatsräson in Bezug auf Israel dann in solchen Definitionen ausdrückt. Was mich wundert, ist, dass das dann auch in großen Teilen der Linken – natürlich allen voran die sogenannten „Antideutschen“, aber auch darüber hinaus – als verbindliche und gar nicht mehr zu diskutierende Grundlage gilt.

Ganz erklären kann ich mir das auch nicht, aber ein Teil der Erklärung dürfte sein, dass wir in Deutschland nicht so viele Jüd*innen in der Linken haben. In den USA, wo jüdische Menschen einen größeren Teil der Linken und radikalen Linken darstellen, gibt es tatsächlich eine eigenständige Beschäftigung mit Antisemitismus und Judentum. Wir beobachten da eine große Renaissance von linken jüdischen Ideen und einer wirklichen Antisemitismuskritik von links. Das ist total interessant.

In Deutschland sind die meisten Antisemitismusexpert*innen nicht-jüdische Deutsche. Und oft gibt es in der linken Szene gar keine Jüdinnen und Juden, mit denen man sprechen kann. Das sehen wir übrigens auch, wenn wir Berlin – wo es doch eine Community gibt -, mit anderen Städten etwa im Osten vergleichen. Da laufen Diskussionen auch schon anders.

Anders ist das nochmal, wenn wir uns die offizielle Position der Jüdischen Gemeinde ansehen. Die Mehrheit der Jüd*innen in Deutschland hat einen tiefen Bezug zu Israel. Heute sind ja kaum mehr religiöse Jüd*innen hier. Sie sind wirklich eine Minderheit. Ich kenne hier selbst Rabbiner, die nicht mal an Gott glauben. Aber den Platz, den Gott hatte, hat der Staat Israel eingenommen. Er ist das, woran man glaubt. Es gab in den letzten 50 Jahren so eine Zionisierung – das, was wirklich identitätsstiftend wurde, ist der Bezug auf den Staat Israel. Und natürlich sehen diese Jüd*innen, die so denken, Angriffe auf diesen Staat – zurecht oder zu Unrecht – als Angriffe auf sie. Dadurch ist die jüdische Gemeinde tatsächlich in die Position gekommen, Israel zu verteidigen – was ich für einen sehr gefährlichen Prozess halte. Auf der anderen Seite gibt es ja keine Alternative zur Beschäftigung mit Israel, also auch nicht für uns als kritische Jüdinnen und Juden. Auch mein kritisches Verhältnis zu Israel ist Teil meiner jüdischen Identität.

Was schlägst du dann vor, um diese Debatte voranzubringen?

Um die staatliche Definition von Antisemitismus zu widerlegen, müsste man eigene Definitionen auf den Tisch legen. Und da bin ich dafür, Antisemitismus als eine Form von Rassismus zu begreifen – aber dann muss man, wie bei anderen Formen auch, herausstellen, was das Spezifische an ihm ist. Das ist ja an der deutschen Debatte sehr besonders, dass Antisemitismus als das „ganz Andere“, das mit Rassismus gar nicht zu Vergleichende dargestellt wird. Da spielt zugleich auch ein sehr reduzierter und verharmlosender Begriff von Rassismus eine Rolle. Da wird immer so getan als sei Rassismus das ganz Einfache, über das man nicht nachdenken muss, und Antisemitismus ganz kompliziert. Das führt auch dazu, dass man strukturelle Ähnlichkeiten zur Islamophobie gar nicht mehr diskutieren will – obwohl sie so offensichtlich sind.

Und klar, das ist auch für uns Linke immer eine Gratwanderung. Wenn wir über Israel sprechen, müssen wir über Antisemitismus sprechen, genauso wie, wenn wir den politischen Islam kritisieren, wir Islamophobie im Blick haben müssen. Aber um da zu recht zu kommen, muss man Debatten führen. Und obwohl ich kein Anhänger dieser Theorie der Sprecher*innenposition bin, müssen wir auch das bedenken. Weil bestimmte Dinge klingen eben unterschiedlich. Ich spreche auch nicht über den Islam wie meine muslimisch sozialisierten Freund*innen. Das hat vielleicht nichts mit dem Wahrheitsgehalt einer Aussage zu tun, aber auf jeden Fall mit so etwas wie Common Sense und Höflichkeit.

Ich knüpfe da mal kurz an. Wir haben in der Redaktion keinen allgemeinen Konsens zur BDS-Kampagne, aber persönlich würde ich sagen: ich teile die Auffassung nicht, dass sie antisemitisch ist und ich würde mich ungefähr der Position anschließen, die von den 240 israelischen und jüdischen Intellektuellen zum Anti-BDS-Beschluss der Bundesregierung formuliert wurde. Nur: Ich habe trotzdem nie BDS unterstützt. Und ich bin mir bis heute nicht sicher, ob das eher Zurückhaltung aus einem deutschen Kontext ist oder einfach Feigheit, weil man sich den erwartbaren Angriffen nicht aussetzen will.

Ja, ich finde, das ist tatsächlich ein bisschen Feigheit. Ich meine, dieses „das dürfen wir nicht als Deutsche“, da sollte man eher damit anfangen, zu sagen, als Deutsche dürften wir kein Militär oder keinen Stacheldraht und so weiter haben. Eine zivile Boykottkampagne gegen Firmen, das geht nicht „als Deutsche“, aber ein deutsches Militär, eine deutsche Polizei, die deutsche Schäferhunde auf Migrant*innen hetzt, da sagt keiner, „das dürfen wir nicht als Deutsche“.

Gut, aber das sind ja dann verschiedene Personenkreise, weil Linke sind ja im Normalfall nicht fürs Militär und die Schäferhunde.

Ja, aber die Diskussion wird ja nicht nur von Linken betrieben, sondern eben auch von denen, die nichts gegen deutschen Krieg und deutsche Schäferhunde haben.

Schau mal, ich habe auch viel Kritik an BDS. Es ist ein liberales Konzept. Und eigentlich ein Zeichen der Ohnmacht. Weil der Widerstand im Inland so schwach ist, bezieht man sich auf den guten Willen der Konsument*innen im Ausland. Ich meine, Firmen zu schaden, die in Menschenrechtsverletzungen investieren – da kann ich nichts Schlechtes finden und das ist auch nicht besonders neu: Boykott war immer ein Mittel linker Politik. Und auch diese Differenzierung, die da wichtig ist, Institutionen und nicht irgendwelche Privatpersonen zum Ziel zu nehmen, macht BDS ja, wenn auch nicht jeder beliebige BDS-Aktivist in der Welt das wahrhaben will

Also ich würde sagen, dass die fehlende Unterstützung von deutschen Linken da nichts mit der Sprecher*innenposition als Deutsche zu tun hat. Ich denke eher, dass es damit zu tun hat, dass man so klein und so geschlagen in Deutschland ist, dass man dauernd fürchtet, wenn man BDS unterstützt, dann wird man als Antisemit*in abgestempelt und dann kann man selbst in den kleinen Zirkeln, die es gibt, nicht mehr agieren oder sprechen.

Wir machen oft die Erfahrung, dass selbst die Diskussion darüber, ob BDS antisemitisch sei oder nicht schon als antisemitisch abgestempelt wird.

Das finde ich auch perfide und schädlich. Die eigentlich interessanten Fragen wären dabei ja gar nicht spezifisch für Israel, weil auch in Türkei-Boykottkampagnen muss man sich ja fragen: Wie mach ich das, ohne dass es gegen Türk*innen als Türk*innen geht, genauso wie man sich eben bei BDS fragen muss, wie macht man das, ohne dass es gegen Israelis als Israelis oder sogar als Jüd*innen geht. Und die BDS-Leute hier machen das auch. Die gehen ja nicht vor einen x-beliebigen jüdischen Einkaufsladen hier, der koschere Waren aus Israel verkauft. Die machen Kampagnen gegen Adidas oder deutsche Firmen. Israelische Künstler*innen oder Akademiker*innen werden ja auch nicht als solche boykottiert.

Aber das ganze geht ja auch über BDS hinaus. Immer wenn wir über Palästinasolidarität in Deutschland sprechen, passiert das unter der Überschrift: „Ist das Antisemitismus?“ nicht unter dem Stichwort Menschenrechte oder Friedensaktivismus. Und das zielt darauf ab, Diskussionen gleich ganz zu unterbinden. Und Teil dieses Versuchs sind eben auch bestimmte Antisemitismusdefinitionen.

Welche Änderungen erwartest du denn im Diskurs?

Das wird sich in naher Zukunft nicht großartig ändern. Israel ist ein militärisch starker Staat, der weiter bestehen wird. Die Besatzung, Apartheid, Kolonialsituation, wie immer man das nennen wird, wird auch weiter bestehen. Dagegen wird es weiter Widerstand geben. Und Unterdrückte hassen ihren Unterdrücker, genauso hassen umgekehrt Unterdrücker die von ihnen Unterdrückten, also wird die Debatte auch weiterhin feindselig sein. Gleichzeitig wird es auch in Deutschland so sein, dass die jüdische Gemeinde weiterhin Israel als ihren wichtigsten Bezugspunkt sieht und ein großer Teil der deutschen Gesellschaft den Bezug zu Israel als schützenswert als Teil ihrer Identität.

Und die Debatte in der Linken wird auch so weitergehen. Die Linke wird weiter an einer Zwei-Staaten-Lösung festhalten. Aber die ist tot. Wer heute noch auf der Position einer Zwei-Staaten-Lösung verharrt, drückt sich vor der Debatte, weil einfach jeder weiß, das ist keine Option mehr.

Aber zugleich will man nicht über das „Existenzrecht Israels“ debattieren, weil man unterstellt, dabei ginge es immer darum, dass die Jüd*innen das Land verlassen sollen. Diese Position gibt es sicherlich. Es gibt sicher Palästinenser*innen, die gerne keine Jüd*innen mehr im Land sehen würden, so wie es Jüd*innen gibt, die gerne keine Palästinenser*innen mehr im Land sehen wollen. Aber wogegen mit diesem sinnentleerten Begriff „Existenzrecht“ gekämpft wird, sind Linke wie ich zum Beispiel die eine Debatte führen, um eine Änderung des Staates zu einem demokratischen Staat für alle, die dort leben. Man muss die Leute, die ständig das Existenzrecht beschwören, fragen, was sie eigentlich meinen: Das Recht, dass alles so bleibt, wie es ist – also inklusive Apartheid, Besatzung, wie man diese Situation auch nennt? Oder nicht. Weil als Linke ist es natürlich ein sehr wichtiger Punkt darauf zu beharren, zu sagen: Jüdische Israelis haben ein Selbstbestimmungsrecht in Palästina. Das ist ein wichtiger Punkt und das haben sowohl viele Palästinenser*innen wie auch Linke in den 60er- und 70er-Jahren nicht klar gesagt. Darauf kann man bestehen. Aber das ist etwas anderes als das, was als „Existenzrecht des Staates Israel“ verhandelt wird.

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Michael Sappir ist israelischer Publizist, lebt in Leipzig und studiert Philosophie. Er organisiert sich bei Die Linke.SDS sowie Jüdisch-israelischer Dissens […]

Die PalästinenserInnen schrieben sich zur Kommunikation gegenseitig Notizen, die sie an Steine banden und zwischen den Baracken hin und her […]

Alle Kräfte der PKK standen zu dem Entschluss zu kämpfen und Widerstand zu leisten. Somit verband sich die Entschlossenheit der […]

Die Reise Abdullah Öcalans in palästinensisches Gebiet war ein historisches Ereignis. Dieser Schritt hatte wichtige Konsequenzen für die kurdische Freiheitsbewegung. […]

Die Massenproteste gegen die Zwangsräumungen von Palästinenser:innen in Sheikh Jarrah und die weltweiten Solidaritätsdemonstrationen haben auch im internationalen Diskurs eine […]

Israel setzt derzeit die geplante Annexion großer Territorien der palästinensischen Westbank um. International viel diskutiert, bedeutet der von US-Präsident Donald […]

In der deutschen Linken über Israel und Palästina zu sprechen, war stets schwierig. Wer sich positiniert, muss mit Angriffen rechnen, […]