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„Wenn ich jetzt an das Erlebte denke, dann kommt es mir vor als wenn ich mich einen Film erinnere. Ich frag mich manchmal ob das alles wirklich so passiert ist“.

Sicherlich hört ihr diese Worte nicht zum ersten Mal. Sie begegnen einem immer wieder, in Büchern mit erdachten Helden oder in Filmen, in welchen Fiktion und Fantasie alles möglich erscheinen lassen. Sind sie aber Abbild der Realität, bekommen sie, wenn man kurz innehält und darüber nachdenkt, eine bleiern schwere Bedeutung.

Heval Rubar ist als kleiner Junge mit seiner Mutter Ende der 80er Jahre aus Nordkurdistan nach Deutschland gekommen. Sein Vater hatte hier zuvor Arbeit gefunden. 25 Jahre später führt Rubars Weg zurück nach Kurdistan. Der IS ist auf dem Vormarsch. Den Kochlöffel tauscht er gegen die BKC. Serviert werden nun 7,62 mm.


LowerClassMagazine: Kobanê ist das Symbol des Widerstands gegen den IS schlechthin. Als die Offensive des IS gegen die kleine Stadt begann, die einer der Ausgangspunkte der Rojava Revolution 2012 war, berichtete auf einmal die ganze Welt über den Kampf der Kurdinnen und Kurden. Wie hast du die damalige Situation wahrgenommen?

Heval Rubar: Zu dieser Zeit habe ich in einem Restaurant in Deutschland gearbeitet. Die Gräueltaten des IS habe ich dann im Fernsehen gesehen. Ich habe gesehen, dass der IS immer mehr Städte eingenommen hat und nach Shengal gegangen ist. Tausende Menschen wurden dort getötet und Frauen die Köpfe abgeschnitten. Das habe ich im Internet gesehen und das hat mir weh getan. Daraufhin habe ich überlegt und mir gesagt, dass wir irgendwann alle sterben, für etwas Schönes zu sterben, das könne jedoch nicht jeder. Meine Entscheidung stand damit fest, nach Shengal gehen zu wollen und gegen diese Bedrohung für die ganze Menschheit zu kämpfen. Die Freunde, denen ich meinen Wunsch mitgeteilt habe, zu gehen und zu kämpfen, wollten mich eigentlich in die Berge schicken. Später sollte ich dann politische Arbeiten in Deutschland führen. Für mich stand aber fest, dass ich kämpfen wollte. Meinem damaligen Chef habe ich gesagt, dass ich mir Urlaub nehme. Die Tage, die mir bis zur Abreise geblieben sind, hab ich in dem Dorf verbracht, wo meine Eltern und ich lange gelebt haben. Dort habe ich noch einmal ihre Gräber auf dem Friedhof besucht. Vier Tage später war ich schon in der Stadt Urfa. Ein paar Tage musste ich in Nordkurdistan, in Urfa, warten, bis ein Weg nach Kobanê offen war. Wir waren zu siebt, zwei aus Deutschland, drei aus Frankreich. Von diesen sieben Freunden sind drei im Kampf gefallen und drei sind zurück nach Europa gegangen. Eigentlich sind wir nur zum Helfen gekommen und wollten danach wieder zurück.

Wie war das Gefühl als du in Kobanê angekommen bist? Wie können wir uns die damalige Situation dort vor Ort vorstellen?

Bevor wir an die Front gegangen sind, haben wir erst einmal 40 Tage lang militärische Ausbildung gesehen. Zu dem Zeitpunkt war kein Weg nach Shengal offen. Die Ausbildung war noch nicht ganz fertig, als der Angriff des IS auf Kobanê begonnen hat. Das erste, was ich mir dann in Kobane gedacht habe, war ‚Oh Gott sind wir arm‘. Die dort erlebte Freundschaft hat mich aber direkt von Herzen berührt.

Zunächst sind wir zur Front in das Dorf Şêxler gegangen. Hinter der Frontlinie haben wir immer direkt zwei Dörfer geräumt, damit sich das, was in Shengal passiert ist, nicht noch einmal wiederholt. Ich selbst war BKC-Schütze in einem ‚Haraketli Tabur‘, eine bewegliche Einheit. Wir wurden immer dorthin geschickt, wo es zu Gefechten gekommen ist. Şehîd Arîn Mîrkan war in derselben Einheit.

Mahmud Berxwedan (Binefs) war zu dieser Zeit der verantwortliche Kommandant in Kobanê. Nachdem wir uns zurückgezogen hatten, hat er zu uns gesagt, dass wir uns etwas ausruhen sollen. An der Front hatten wir ja keine Möglichkeit uns zu rasieren, keine Dusche und kein richtiges Essen. Wir haben unsere Kleidung gewaschen und uns circa eine Stunde ausgeruht. Unsere Kleider waren immer noch nass, als Mahmud Berxwedan wieder zu uns gekommen ist. Wir müssen sollten uns schnell bereit machen, da der IS nach dem Freitagsgebet einen Angriff plane. Wie befürchtet kam es am Freitag zu einem großen Angriff. Es waren wirklich ganz viele. Wie Ameisen haben sie ausgesehen. Sie sind auf uns zu gerannt und haben “Tekbir Allahu Ekber” geschrien. Wir waren zu dritt, ich, ein RPG Schütze und ein weiterer Freund. Wir hatten an der ersten Linie unser Mewzî, unsere Stellung. Zwischen mir und dem Mewzî, in dem der Freund mit dem Raketenwerfer lag, war ein Abstand von 50 Metern. Nachts wollte der IS vorstoßen. Mit mir war ein Junge, der augenscheinlich etwas Angst gehabt hat. Er meinte, er gehe mal kurz schauen, wo denn der Feind bleibe. Dann war er weg.

Gerade an diesem Tag hatte ich meine Kalaschnikow und meine Rext, die Weste mit Magazinen, nicht dabei gehabt. Die Freunde meinten nämlich, dass ich so beweglicher wäre und schneller rennen könne. Insgesamt waren wir nicht gut ausgestattet. Unsere Pistolen waren alt, wie hatten keine Kugeln und wir mussten von den getöteten Feinden die Waffen nehmen. An diesem Tag hatte ich nur noch eine Granate dabei.

Mein Mewzî hatte ich aus umliegenden Steinen errichtet. Vorne war ein kleines Loch, um daraus mit der BKC schießen zu können. Der Platz war sehr gut. Dann kam der IS mit Allahu Ekber und ich hab angefangen mit der BKC zu schießen. Ich glaube, dass ich in dieser Nacht viele von ihnen getötet habe. Viel konnte ich aufgrund der Dunkelheit nicht sehen. Vielleicht habe ich auch niemanden getroffen (lacht). Als mir die Patronen ausgegangen sind habe ich mit meiner Pistole weitergekämpft. Irgendwann hat sich aber eine Patrone verkeilt. In dieser Dunkelheit konnte ich höchstens 6-7 Meter weit sehen. Als ich mich umgeschaut habe, musste ich feststellen, dass zwei IS Leute mit einem Raketenwerfer auf mich zulaufen. Ihre Schüsse haben mich zum Glück verfehlt. Das Feuer haben sie dann eingestellt, da sie mich lebend wollten, um meinen Kopf abzuschneiden. Daraufhin habe ich meine einzige Granate genommen, den Stift gezogen und sie an meinen Brustkorb gedrückt. Im Bruchteil einer Sekunde habe ich mich aber noch umentschieden und die Bombe in Richtung der Stimmen geworfen. Nach der Explosion war es leise. Ich muss ziemliches Gück gehabt haben. Über Funk wurde mir dann gesagt, dass ich mich zurückziehen soll. Die 500 Meter zu unserer neuen Linie bin ich dann teilweise gerannt, teilweise auf dem Boden gekrochen. Meine Arme und Beine waren danach blutig. An diesem Tag hatten sie es nicht mehr geschafft unsere Stellung zu nehmen.

Wie ging es danach weiter? Die Stadt Kobanê ist ja mehr und mehr in eine Umzingelung geraten.

Erst einmal ist um 9 Uhr am nächsten Morgen Essen gekommen. Außer Mandarinen und Brot gab es aber nichts. Nachdem ich eine Mandarine und etwas Brot gegessen habe, ist eine Freundin auf mich zu gekommen und meinte zu mir, dass ich zusammen mit Heval Silava in ein vorgelagerte Stellung gehen soll. Von der letzten Nacht war zwar meine ganze Kleidung blutig, aber alle Kugeln hatten mich verfehlt. Die Freunde meinten deshalb, dass ich wieder in die vorgelagerte Stellung gehen solle, weil die Kugeln mich eh nicht treffen würden. Insgesamt hatten wir in der Stadt drei Verteidigungslinien aufgebaut. Als der Angriff des IS losging, sind sie direkt mit drei Panzern, mit schweren Dotschka-Maschinengewehren und dahinter zu Fuß auf uns zugerannt. Heval Silava hat eine Rakete aus der RPG geschossen, der Schuss ging aber leider daneben.

Unsere Stellung am Mishtenur Hügel war nicht länger zu halten. Ich und Heval Silava wollten uns aus dem Gebäude zurückziehen. Weit sind wir nicht gekommen, nach wenigen Metern mussten wir uns fallen lassen. Nun wurde auch von hinten auf uns geschossen. Die Feinde waren in das Stadtviertel Kaniya Kurda, das in unserem Rücken lag, eingedrungen. Beim Sprung hinter eine Mauer, hat mich eine Kugel an der linken Hüfte getroffen und ist an der Schulter wieder ausgetreten. Heval Silava wurde auch getroffen. Wahrscheinlich waren das Scharfschützen. Die IS-Kämpfer waren daraufhin nur fünf Meter von uns entfernt. Sie hätten uns in dieser Situation mit Leichtigkeit töten können, aber sie wollten uns lebend gefangen nehmen, um uns dann zu enthaupten. Mit dieser Methode sollte unsere Moral und unsere Psyche zerstört werden.

Unserer Kommandantin Heval Medya gelang es, sich zu uns durchzuschlagen. Sie rief uns zu, dass wir aufstehen und rennen sollten. Ich war dazu außerstande und bin eingeschlafen. Vor meinem inneren Auge habe ich Weizenfelder gesehen über denen ich geflogen bin, was sehr sehr schön war (pfeift leise). Dann bin ich wieder aufgewacht, auf dem Rücken von einem Freund. Ich wurde zu einer Ambulanz gebracht. Dort wurden mir die ganze Zeit Backpfeifen gegeben, damit ich nicht einschlafe. Ich und ein weiterer Freund mussten aufgrund der Schwere unserer Verletzungen zur Behandlung nach Urfa gebracht werden. Auch dort konnten sie mich nicht versorgen, da sich mittlerweile zu viel Blut im Oberkörper gesammelt hatte. Es hieße, ich müsse nach Amed gebracht werden. Ich war nicht in der Lage zu sprechen. Die Worte vom Arzt konnte ich aber ganz klar hören: “Vielleicht wird er überleben”. Mehrere Stunden hat die Fahrt mit dem Rettungswagen nach Amed gedauert. Währenddessen bin ich weggetreten….

…. Erst vier Tage später hab ich meine Augen im Krankenhaus wieder aufgemacht, ich lag also im Koma. Nach 12 Tagen mussten mich die Freunde aus dem Krankenhaus holen, weil die türkische Polizei in den Krankenhäusern auf der Suche nach verletzten Freunden war. Illegal bin ich dann wieder über die Grenze nach Derik gebracht worden, wo ich einen Monat Kräfte sammeln konnte. Danach ging es wieder nach Kobanê.

In Kobanê war in der Geschichte der Freiheitsbewegung Kurdistans eine wesentliche Erfahrung. Wenige Organisationen der Region haben solch eine Praxis im Städtekrieg entwickeln können. Kannst du uns schildern wie die Kriegsführung in Kobane ausgesehen hat?

Wir mussten Tag und Nacht kämpfen. Ich erinnere mich noch genau an die Kälte. Fast alle Freunde waren verwundet. Ein Freund hatte beispielsweise Maden in seiner Wunde und auch meine Wunde war sehr schwer entzündet. Einmal am Tag hat sich ein Arzt unsere Verletzungen angeguckt. Wir haben trotzdem weiter gekämpft. Stück für Stück ist es uns gelungen, den IS aus der Stadt heraus zu treiben, wodurch sich die Kämpfe wieder auf die Dörfer verlagert haben. Zur Verteidigung der Stadt sind Menschen aus allen Teilen Kurdistans nach Rojava gekommen. In meinem Taxim waren auch türkische Internationalisten von sozialistischen und kommunistischen Organisationen. Vor Ort habe ich auch zwei kurdische Frauen kennengelernt, die aus Europa nach Kobanê gekommen sind und dort gefallen sind. Es ist dabei auch Realität, dass manche an die Front gekommen und dort direkt gefallen sind, ehe sie überhaupt ein Glas Wasser in der Stadt getrunken haben.

Die Bilder von Şehîd Arîn Mîrkan sind mir noch klar im Kopf. Sie hat sich in die Luft gesprengt hat, um den Vormarsch des IS zu stoppen. Neben ihr haben sich noch andere FreundInnen aufgeopfert. Ein anderer Freund, der später in Raqqa gefallen ist, hatte in einer Situation bereits den Stift aus seiner Handgranate gezogen und dann festgestellt, dass sich nicht Feinde, sondern FreundInnen nähern. Mit seiner Hand hat er die Granate dann so fest umschlossen, dass die anderen von uns keine Schrapnells abbekommen. Er aber hat seinen Unterarm durch die Explosion verloren. Ein anderer Freund, dessen ganze Schädeldecke durch eine Kugel aufgerissen worden war, hat nur mit einem Tuch verbunden weitergekämpft. Später ist er auch im Kampf gefallen. Insgesamt kann man sagen, dass wir alle sehr große Hoffnung hatten und in jedem Moment diese tiefe Freundschaft gespürt haben. Wir wussten für was wir sterben würden.

Den Islamischen Staat stellen sich viele Menschen auf der Welt als ‚das Böse‘ schlechthin dar. Wie hast du den IS ‚von Angesicht zu Angesicht‘ wahrgenommen.

Einen anderen Tag haben wir furchtbaren Lärm und „Tekbir – Allahu Ekber“ Schreie gehört. Wir dachten, dass das bestimmt tausende von denen sein müssen. Gesehen haben wir aber nur einen, den wir dann niedergeschossen haben. Erst dann haben wir festgestellt, dass er sich einen Lautsprecher auf den Rücken geschnallt hatte. Die IS Kämpfer waren nicht dumm und sie haben auch nicht schlecht gekämpft. Ich selbst hatte, bevor ich nach Kobane gekommen bin, keine Ahnung von Krieg. Das was ich wusste habe ich vorher durch das Anschauen von Kriegsfilmen gelernt. In der 40 tägigen Ausbildung haben wir gelernt wie man schießt. Das meiste habe ich im Krieg selbst gelernt. Wenn beispielsweise ein Freund oder eine Freundin neben mir waren, die bereits Erfahrung aus dem Guerillakrieg in den Bergen hatten, hab ich immer nachgefragt. Auch von IS Kämpfern habe ich mir abgeschaut, wie sie sich bewegen und wo sie in Deckung gehen. Wenn du überleben willst, dann musst du deinen Kopf benutzen und schnell lernen. Im Städtekrieg bewegt man sich von Haus zu Haus, indem man mit Vorschlaghämmern Löcher in die Wände schlägt. Das hat der IS natürlich zeitgleich auch gemacht. Wer es zuerst in einen Raum geschafft hat, der hat überlebt.

Der Sieg in Kobanê jährt sich nun zum 10. mal. Kobane ist zu so etwas wie einem modernen Mythos geworden. Welche Auswirkungen hat der Kampf für dich persönlich gehabt? Was hat sich nach dem Sieg von Kobanê für das Kurdische Volk geändert?

Ich bin ja eigentlich nicht für das kurdische Volk nach Kobanê gekommen, sondern für Shengal und die Menschheit. Wenn du die Freundschaft im Krieg erlebst und du siehst, wie sich jemand für einen anderen Freund und vor eine Kugel wirft, dann vergisst du das dein Leben lang nicht. Erklären kann ich das Gefühl nicht so gut, das muss man selbst erlebt haben. Mit dem Kriegseintritt der Internationalen Anti-IS Koalition hat sich die Lage natürlich verändert und wir hatten nicht mehr das Gefühl, komplett alleine dazustehen. Als die Flugzeuge angefangen haben, die Stellungen des IS zu bombardieren, hab ich zum Spaß gesagt, dass wir von jetzt an gut schlafen können. Natürlich war das nicht so. Im Krieg waren wir froh, wenn wir in der Nacht mal 1-2 Stunden die Augen zu bekommen haben.

Kobanê war von seiner Bedeutung wie Stalingrad. Du weißt, dass du für was kämpfst und das erfüllt dich mit Stolz. Unsere eigenen Gefallenen haben wir immer versucht zu bergen. Manchmal sind dafür vier oder fünf FreundInnen gefallen. Ich kann mich noch erinnern, dass unsere Einheit zwei FreundInnen bergen wollte. Ein Team ist losgegangen und sieben FreundInnen sind gefallen. Der IS hatte dort eine Mine platziert. Eine zweite Gruppe ist daraufhin losgegangen und 12 FreundInnen wurden verletzt. Erst als Flugzeuge der Koalition gekommen sind und lauter Staub nach der Bombardierung in der Luft war, konnten wir unsere Gefallenen bergen.

Beim IS war das etwas anderes. Wenn ein normaler Kämpfer getötet wurde, war das denen egal. Einmal haben wir aber einen Emir erschossen. Die IS Kämpfer sind wie Verrückte unter unserem Feuer zum Emir gerannt, um ihn vom Boden aufzuheben. Bestimmt 250-300 von denen sind dabei gestorben. Irgendwann sind uns die Kugeln ausgegangen und dann haben wir nicht weiter geschossen.

In zahlreichen Revolutionen in der Geschichte blieb das Kriegshandwerk Sache der Männer. Frauen wurde untersagt sich daran zu beteiligen. Im Gegendatz dazu wird die außerordentliche Rolle von Frauen in der Verteidigung Kobanes oft hervorgehoben. Wie hast du die Rolle von Frauen im Krieg wahrgenommen?

Diese Frage ist sehr wichtig. An unserer Seite haben sehr viele Frauen gekämpft. Die Wahrheit ist, dass die meisten Frauen besser als wir Männer gekämpft haben. Dadurch, dass sie an unserer Seite gekämpft haben, haben auch wir mehr Kraft bekommen. Wenn du neben einer Frau gekämpfst, dann empfindest du Stolz. Ich habe ja davon erzählt, dass als ich mit Heval Silava in der Stellung war. Damals hatte sie zuerst gesagt, dass sie den anrückenden Feind mit ihrer RPG beschießt. In der Situation konnte ich natürlich nicht sagen, dass ich Angst hatte. Stattdessen hab ich dann gesagt: „Ich schieße auch mit“.

In der Verteidigung von Kobanê haben die Frauen wirklich eine große Rolle gespielt. Auch der IS hat große Angst vor den Frauen gehabt, gerade bei ihrem „tilili“ Schlachtruf. Die Frauen waren stärker als Männer und sie waren immer an vorderster Linie. In meinem vorherigen Leben in Deutschland habe ich Frauen anders gesehen. Beispielsweise meine Mutter und meine Schwester, die sich immer um die Kinder kümmern und Essen machen sollten. Wenn du siehst, dass Frauen zweimal so stark wie Männer kämpfen, dann verändert das natürlich ein solches Weltbild. Ich könnte noch viel mehr davon erzählen, wenn man es aber nicht selber erlebt hat, dann kann man sich das nur schwer vorstellen.

Was willst du unserern Leserinnen und Lesern noch mit auf den Weg geben?

Der Widerstand von Kobanê war ein Stich ins Herz vom IS und genauso ins Herz der Türkei. Die berüchtigsten Kämpfer und Kommandanten vom IS sind in Kobanê getötet worden. Diese Kräfte wollen daher immer noch Kobanê einnehmen. Der IS hat seinen Fehler eingesehen, zuerst versucht zu haben Kobanê vor dem Rest Syriens einzunehmen. Mit solch einem Widerstand hatte niemand gerechnet. Gerade besteht aber die Gefahr, dass versucht wird, Kobanê zu umzingeln, indem von der Karakozak Brücke und Ain Issa angegriffen wird. Jedes Kind hier weiß aber, dass in Kobanê die Menschheit verteidigt wurde. Wenn Kobanê gefallen wäre, dann hätte den Vormarsch des IS keiner stoppen können.

Jedes eingenommene Dorf hat für den IS zehn neue Kämpfer bedeutet, jede Stadt hundert. Die Zahl der Kämpfer ist also stetig gewachsen. In den Dörfern, die wir befreit haben, habe ich einen IS Kämpfer gesehen, der nicht einmal eine Pistole hatte und auf Badelatschen gelaufen ist. Vier Kugeln von mir hatten ihn getroffen, er ist trotzdem „Allahu Ekbar“ schreiend auf uns zu gerannt. Erst nachdem ihn die fünften Kugel in den Kopf getroffen hatte, ist er in sich zusammengesackt. Bei der Durchsuchung haben wir eine Spritze und Drogen gefunden. Das war bei sehr vielen IS-Kämpfern so. In einem Gefecht an der Karakozak Brücke haben wir 17 Kämpfer aus den Spezialeinheiten von IS getötet. Unter ihnen waren Deutsche, Griechen, Chinesen und Afrikaner. Alle waren sehr hochgewachsen und trugen große Dolche bei sich. Bei dem Deutschen haben wir einen Koran auf Deutsch gefunden. Ebenso waren auch Tschetschenen, Kurden und Türken mit dabei. Hätten wir den IS damals nicht in Kobanê gestoppt, dann hätte ihn niemand mehr stoppen können. Ich glaube nicht, dass sie Kobane angreifen. Das liegt nicht nur an unserer Stärke, sondern daran, dass Kobane zu einem Symbol für die Welt geworden ist. In diesem Leben kann aber alles passieren.

Foto: YPGà Kobané4,VOA,C0 via wikimedia

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20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September und dem Krieg gegen den Terror bleiben Dschihadismus und Islamismus eine globale Gefahr. Gerade die aktuelle Machtübernahme der Taliban in Afghanistan zeigt das nur all zu deutlich. Wie sich das Phänomen Dschihadismus in den letzten 20 Jahren entwickelt hat und warum Bezeichnungen wie „Steinzeit-Islam“ irreführend sind.

Der 20. Jahrestag der Anschläge von 9/11 geht schrecklicherweise mit der Etablierung eines islamistischen Emirats in Afghanistan einher. Der internationale Krieg gegen den Terror, der nach 9/11 begann und zu einem knapp 20 Jahre andauernden Krieg in Afghanistan führte, endete mit einem Sieg der Taliban. Seit 9/11 beschäftigten uns nun verstärkt die Themen Islamismus und islamistischer Terrorismus bzw. Dschihadismus und gerade jetzt suchen wir nach Antworten für die westliche Niederlage in einem der zentralen Schauplätze des Kriegs gegen den Terror. Zu häufig wird angenommen, dass Islamismus und Dschihadismus allein die Folgen eines archaischen, ultrakonservativen Islamverständnisses sind. Während erzkonservative Religiosität durchaus eine Rolle spielt, so ist diese Erklärung doch sehr kurz gedacht und vereinfacht. Wir reden hier von modernen Erscheinungen, deren Ursprungsgeschichte vor allem im letzten Jahrhundert liegt und wir reden von etwas, dass flexibel ist und sich neuen Umständen anpasst.

Eine kurze Geschichte des Dschihadismus:

Unter Dschihadismus lassen sich vereinfacht militante, islamistische Gruppierungen zusammenfassen. Viele islamistische Bewegungen versuchen ihre Ziele ohne direkt gewalttätige Mittel zu erreichen – was sie deswegen aber nicht ungefährlich macht. Dschihadisten hingegen sind per Definition militant und greifen primär auf Gewalt als politisches Mittel zurück. Einer der wichtigsten Vordenker des Dschihadismus war der Ägypter Sayyid Qutb. Der primäre Feind für Qutb und ähnliche Aktivisten, waren die Regime in der eigenen Heimat. Dieser Dschihadismus der 60er und 70er befasste sich primär mit den sozioökonomischen Problemen der jeweils eigenen Länder und plante eine islamische Revolution gegen die korrupten Regierungen. In den 80ern und 90ern wurden diese Ideen auch von nationalistisch-separatistischen Milizen übernommen. Dschihadismus spielte nun eine zentrale Rolle im Nahostkonflikt, in den Tschetschenienkriegen, innerhalb separatistischer Bewegungen in Kaschmir oder auf den Philippinen. Nun kämpfte man in und gegen gegen nicht-muslimische Staaten um die Unabhängigkeit einer bestimmten Region.

Diese Strategie wandelte sich abermals. Osama bin Laden und Ayman az-Zawahiri hingegen plädierten dafür, den Fokus weg von den nahen Feinden und hin zum fernen Feind zu lenken. Anstatt gegen lokale Regime zu kämpfen, sollte sich der Dschihad vor allem gegen die USA und deren Verbündete konzentrieren. Es ging also nicht länger um den Kampf über ein gewisses Gebiet oder den Sturz einer Regierung. Für die Ideologen al-Qa‘idas ging es um den Krieg gegen die globalen Besatzer der islamischen Welt. Bin Laden und az-Zawahiri sprachen von einer weltweiten Unterdrückung der Muslim*innen. Es war die Rede von einer jüdisch-kreuzfahrerischen Allianz, einem Bündnis aus Zionisten und Kreuzrittern. Als Beweis für diesen globalen Krieg, der angeblich von den USA angeführt wird, verwies Bin Laden auf amerikanische Militärpräsenz in Saudi-Arabien und Afghanistan. Er warf ihnen aber auch vor global die Unterdrückung von Muslim*innenen aktiv zu unterstützen. Er verwies hierzu auf die Rolle der USA in Konflikten wie in Palästina, Kaschmir, Somalia, Tschetschenien und den Philippinen. All diese Punkte galten als Beweggründe für die Anschläge vom 11. September.

Dschihadismus ist flexibel und anpassungsfähig

Al-Qa‘ida hat sich in den Jahren nach 9/11 sowohl ideologisch, als auch strukturell und strategisch weiterentwickelt. Während man sich anfangs noch allein an Muslime wendete, so wollte man nun eine breitere Masse ansprechen. Der spätere Anführer von Al-Qa‘ida, Ayman az-Zawahiri veröffentliche 2005 ein Essay in dem er gezielt versuchte u.a. Umweltaktivist:innen ansprechen. Al-Qa‘ida machte so primär die USA für die Erderwärmung verantwortlich.

Auch der anhaltende Rassismus in den USA wurde propagandistisch ausgenutzt. So versuchte Al-Qu‘aida neben amerikanischen Muslim:innenen auch Afroamerikaner:innen direkt an zu sprechen. Der Bürgerrechtler Malcolm X wurde von az-Zawahiri zum muslimischen Märtyrer stilisiert. Er zitierte X sogar direkt, indem er afroamerikanische Politiker*innen als Haussklaven bezeichnete.

Dieser ideologische Wandel zeigte sich auch in den neuen Strategien al-Qa‘idas. Moderne Medien waren nun fast genauso wichtig wie die Planung von Anschlägen und der bewaffnete Kampf. Mit 2002 nahm die Zahl von al-Qa‘ida kontrollierten Medien exponentiell zu. Mehr und mehr Magazine und Websites wurden veröffentlich. Während es 2002 noch ca. sechs zentrale al-Qa‘ida Medien gab, waren es 2007 bereits 97. Az-Zawahiri meinte selbst, dass mindestens die Hälfte des Kampfes über Medien stattfinden würde. Besagte Medien befassten sich auch nicht länger mit einfacher Propaganda oder religiösen Predigen. Ein komplett neues Genre von dschihadistischer Publikationen wurde eingeführt: Jihadi Strategic Studies (Dschihadistisch-Strategische Studien). An Stelle des Warums galt es nun das Wie zu beantworten. Wie führte man den Dschihad? Die Strategischen Studien befassten sich daher mit der Analyse von Schwächen – sowohl von Feinden, als auch der eigenen – und der Berücksichtigung sozialer, ökonomischer und politischer Faktoren.

Ein Beispiel dafür, wie solche Strategien in der Praxis umgesetzt lässt sich im englischsprachigen al-Qa‘ida-Magazin Inspire finden. Dort schrieb der amerikanisch-jemenitische Islamist Anwar al-Awlaki über Muslimfeindlichkeit in den USA. Koranverbrennungen und Proteste gegen den Bau von Moscheen dienten nun dazu, das Narrativ eines Kriegs gegen den Islam zu untermauern. Al-Qa‘ida hat somit den wachsenden Rassismus gegen Muslime, den 9/11 selbst explosionsartig entfacht hat, für ihre eigenen, propagandistischen Zwecke verwendet.

Ein anderes Beispiel für die Relevanz dieser strategischen Studien ist der Anschlag von Madrid 2004. Warum wurde ausgerechnet Spanien als erstes, europäisches Land, nach 9/11, angegriffen? Ziel war es, die Bündnisse zwischen den USA und anderen Ländern zu destabilisieren und Druck auf die Verbündeten Amerikas aus zu üben. Spanien wurde von al-Qa‘ida als politisch instabil eingestuft. Das der Anschlag am 11. März erfolgte, war dementsprechend kein Zufall. Er fand kurz vor den spanischen Parlamentswahlen statt und sollte eben jene beeinflussen.

Die Ereignisse nach 9/11 verwandelten al-Qa‘ida auch strukturell. Anfangs war es ein Netzwerk, dass primär von Afghanistan aus operierte und sich mit der Ausbildung dschihadistischer Kämpfer beschäftigte. Zum eigentlichen Kern der Organisation gehört daher nur wenige hunderte. Die Trainingslager allerdings wurden von weit mehr als 10.000 zukünftigen Kämpfern durchlaufen. Mit der amerikanischen Invasion von Afghanistan jedoch, war al-Qa‘ida gezwungen sich neu zu formieren. Die Führung verteilte sich an unterschiedliche Orte und die Kommunikation war stark eingeschränkt. Das sorgte dafür, dass die verschiedenen Unterorganisationen verstärk unabhängig agierten. Al-Qa‘ida wandelte sich daher von einem Netzwerk, hin zu einer globalen, dschihadistischen Bewegung. Die lokalen Bestrebungen der einzelnen Untergruppen gewannen somit wieder an Bedeutung. Dennoch blieben westliche Ziele relevant. Auch nationalistisch-separatistische Gruppen, betrachteten nun Angriffe im Ausland, als Teil ihres inländischen Kampfes.

Abschließend sollte die Rolle des Irakkrieges nicht unerwähnt bleiben. Mit der amerikanischen Invasion des Iraks, entwickelte sich die Region zum zentralen Schlachtfeld des globalen Dschihadismus. Der Irakkrieg galt als zentraler Beweis und Paradebeispiel für einen westlichen Krieg gegen Muslime, welcher von den USA angeführt wird. Die Bilder des Krieges und vor allem seiner zivilen Opfer, sollten eine enorme, symbolische Bedeutung erlangen. Bilder von Falluja, Abu Ghrayb, aber auch Guantanomo Bay sind bis heute Teil dschihadistischer Propagandavideos und sollen den westlichen Durst nach muslimischem Blut und Ressourcen belegen. Im Irak zeigten sich aber auch andere Folgen, der Dezentralisierung al-Qa‘idas. Das verstärkte, eigenständige Handeln der Unterorganisationen sorgte für internen Zwist und Uneinigkeit. Der Anführer al-Qa‘idas im Irak, Abu Mus’ab az-Zarqawi, war verantwortlich für eine Reihe von Angriffen gegen die schiitische Bevölkerung des Iraks. Etwas, dass der alten al-Qa‘ida-Führung missfiel, da sie eher auf eine pan-islamische Einheit auswahren. Az-Zarqawis Zweig sollte sich später komplett unabhängig machen und in den Islamischen Staat im Irak und der Levante kurz ISIL oder ISIS umbenennen.

Definitiv kein Steinzeit-Islam

Das gesellschaftliche Bild von Taliban, al-Qa‘ida und Co. ist durchweg patriarchal, totalitär und archaisch. Dennoch sind Bezeichnungen wie Steinzeit-Islam irreführend. Wie man unschwer an den Entwicklungen nach 9/11 erkennen kann, reden wir hier nicht einfach von blinden Fanatikern, die zurück ins Mittelalter wollen. Wir reden von intelligenten Ideologen, die anpassungsfähig sind und sich durchaus moderner Mittel bedienen, um ihre Ziele zu erreichen. Vor allem aber beschäftigt sich ihre totalitäre Ideologie stets mit zeitgenössischen Fragen. Al-Qa‘idas Kampf gegen ein angebliches Bündnis aus Zionisten und Kreuzrittern soll einen Schuldigen kreieren für die Probleme mehrheitlich muslimischer Gesellschaften. Islamismus entstand vor allem als eine Antwort auf den europäischen Imperialismus, sowie den Niedergang der sog. islamischen Welt. Es ist ein primär modernes Phänomen. Er basiert zum einen auf dem Vorwurf, dass Muslime sich von einem wahren und reinen Islam entfernt hätten und zum anderen auf dem Glauben an eine anti-islamische, globale Verschwörung.

Dschihadismus und Islamismus sind nicht einfach die Folge einer rückständigen Religiosität und erst Recht nicht einer angeblich essenziell antimodernen Kultur. Sondern sie sind vor allem das Resultat materieller Umstände. Sie sind Ergebnis historischer Entwicklungen und sozioökonomischer Probleme, mit welchen sie sich auch selbst befassen. Wer weiterhin glaubt, ihr handle es sich nur um fanatische, mittelalterliche Wilde, der hat diese Gefahr bis heute nicht verstanden.

Der sog. Krieg gegen den Terror hat dem Dschihadismus neue Türen geöffnet und der Sieg der Taliban in Afghanistan könnte es wieder tun. Islamisten schlachten das ganze bereits aus. „Der muslimische Widerstand hat gegen die Besatzung der Kreuzfahrer gewonnen“, so das derzeitige Narrativ. 20 Jahre 9/11, 20 Jahre Krieg gegen den Terror und die Niederlage könnte kaum bitterer sein.

# Titelbild: بدر الإسلام, CC BY-SA 2.5 via Wikimedia Commons, Bewaffnete Aufständische im Irak, November 2006

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Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, begann am 24. April der Prozess gegen den Dschihadisten Taha Al J., angeklagt wegen des Völkermordes an den Eziden, vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main. Taha Al J. war Teil des sogenannten „Islamischen Staat“ (IS). Die Bundesanwaltschaft (BAW) wirft dem 27-Jährigen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen gegen Personen, Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft, den Mord an einem fünfjährigen ezidischen Mädchen sowie die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129b vor. Die BAW ließ Taha Al J. am 16.05.2019 in Griechenland festnehmen und nach Deutschland ausliefern, wo er sich seit dem 10. Oktober 2019 in Untersuchungshaft befindet.

Die „Karriere“ von Taha Al J. und seiner Ehefrau Jennifer W. im System „Islamischer Staat“

Bereits im Jahr 2013 schloss sich Taha Al J. im Irak dem IS an. Spätestens ab 2015 fungierte er als Leiter des Büros für „schariagemäße Geisteraustreibung“ in der späteren Hauptstadt des IS Raqqa. Er war als Verantwortlicher für die Unterbringung von Frauen in einer Unterkunft im türkischen Samsun zuständig, wo er seit September 2015 problemlos ein- und ausreisen konnte. Al J.s Ehefrau, die deutsche Dschihadistin Jennifer W., war 2014 über die Türkei in den Irak eingereist und hatte sich dem IS angeschlossen. Sie übernahm die Funktion einer bewaffneten „Sittenwächterin“ zur Einhaltung des stregen Regelwerks des Kalifats. 2015 kaufte der IS-Funktionär gemeinsam mit seiner Ehefrau Jennifer W. die Ezidin Nora T. und ihre fünfjährige Tochter Rania als Sklavinnen auf einem IS-Stützpunkt in Syrien. Beide wurden beim Völkermord an den Eziden im Shengal verschleppt und bereits mehrfach als Sklavinnen weiterverkauft.

Auf seinem Anwesen im irakischen Falludscha hielten Taha Al J. und seine Ehefrau Jennifer W., Mutter und Tochter als Sklavinnen gefangen, misshandelten beide schwer und ließen sie Hunger leiden. Als sich die 5-jährige Rania auf Grund einer Erkrankung einnässte, kettete Taha Al J. sie zur Strafe ohne Trinken und Essen bei circa 45 Grad im Hinterhof an. Die Hitze war so stark, dass das Mädchen vor den Augen der Mutter qualvoll verdurstete. Der Mord an dem 5-jährigen Mädchen geschah, während Jennifer W. Tatenlos dabei zusah.

Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt gibt dazu an: „Taha Al J. habe beabsichtigt, mit dem Ankauf der beiden Jesidinnen und deren Versklavung ‒ neben erstrebten Annehmlichkeiten in seinem Haushalt ‒ die religiöse Minderheit der Jesiden im Einklang mit den Zielen des „IS“ zu vernichten.“ Die Staatsanwaltschaft wertet damit den Mord und den Kauf der beiden Frauen als Sklavinnen als Beteiligung am Völkermord.

Die Angaben zum Tod der 5-jährigen Rania stammen im wesentlichen von Jennifer W. selbst. Sie hatte sich einem verdeckten Ermittler in einem verwanzten Auto offenbart, als sie im Juni 2018 dabei war, erneut in den Irak und zurück zum IS zu reisen. Seither sitzt sie in Untersuchungshaft und steht seit 2019 wegen Mitgliedschaft im „Islamischen Staat“, Verstoß gegen das Kriegswaffengesetz und wegen der Beteiligung am Mord an Rania vor dem Münchener Oberlandesgericht. Ranias Mutter nimmt als Nebenklägerin am Prozess gegen Jennifer W. teil und sagte bereits gegen sie aus. Auf die Aussagen von Ranias Mutter stützt die BAW auch das Verfahren gegen Taha Al J. Er war noch im Jahr 2018 bereit in seinem Haus in der Türkei IS-Mitglieder im Umgang mit Sprengstoff zu unterweisen. Der Prozess in München gilt als erster Prozess gegen eine Rückkehrerin des „Islamischen Staates“.

Der Prozess in Frankfurt und der Kampf um Anerkennung

Der Prozess in Frankfurt ist der erste gegen einen anwesenden Täter des Völkermordes weltweit. In Frankreich wurde bereits im vergangenen Jahr ein Verfahren gegen ein IS-Mitglied wegen der Beteiligung am Völkermord 2014 eröffnet, welches jedoch in Abwesenheit des Täters geführt wird, da dieser als tot gilt. Betroffene und Hinterbliebene des IS-Terrors forderten bereits mehrfach einen Internationalen Gerichtshof, der in Syrien stattfinden. Genauso wird gefordert, dass die in der Föderation Nord-Ostsyrien (Rojava) inhaftierten Dschihadisten zurücknimmt und in den jeweiligen Ländern vor Gericht stellt. Bisher mit ausbleibendem Erfolg.

Die Europäischen Staaten halten zum Großteil daran fest, diejenigen die federführend den „Islamischen Staat“ militärisch zerschlagen haben, mit dem Umgang europäischer Dschihadisten, die sich immer noch in Syrien befinden, alleine zu lassen. Selbiges gilt auch für die Bergung der vom „IS“ angelegten Massengräbern, sowie für die Räumungen ganzer Städte von den Minen und Sprengfallen. Nicht zuletzt sind es auch die Menschen vor Ort und internationale Freiwillige, die sich um die Ver- und Aufarbeitung der zahllosen Traumatas bemühen, die der IS mit seinen Gräueltaten und schweren Kriegsverbrechen ausgelöst hat. Das alles passiert in einem Zustand des permanenten Krieges, schwerer Angriffe durch die Türkei und deren dschihadistischen Milizen und dem Ausbleiben internationaler staatlicher Hilfe.

Sollte die Demokratische Föderation Nord-Ostsyrien, auf politischer-internationaler Ebene, weiterhin nicht als solche anerkannt werden, wird sich an den aktuellen Zuständen wenig bis gar nichts ändern.

Wider dem vergessen!

Dem Völkermord des „Islamischen Staates“ sind 2014 mehr als 10.000 Menschen zum Opfer gefallen. Weitere 400.000 wurden aus ihrer Heimat vertrieben. 7.000 Kinder und Frauen wurden entführt und anschließend versklavt. Bis heute gelten mehrere tausend Menschen als vermisst. Die Bilder die wir vor mehr als sechs Jahren gesehen haben, werden mit dem Prozess in Frankfurt wieder präsenter und klarer. Die Bilder fliehender Menschen und unsäglichen Leides. Die Bilder der Kämpfer*innen der YPG/YPJ & HPG welche den eingeschlossenen und vom IS umzingelten Ezid*innen in Shengal zur Hilfe eilten und so den sicheren Tod tausender Menschen verhinderten.

Nun steht mit dem Prozess in Frankfurt einer der Täter und „Handwerker“ des selbsternannten „Islamischen Staates“ vor Gericht. Bei aller Kritik die wir an Gerichten und der Institution Gericht als solches haben, verdient insbesondere dieser Prozess Aufmerksamkeit und (kritische) Beobachtung. Der Prozess bietet die Chance weitere Einblicke in die Strukturen des „Islamischen Staates“ zu gewinnen. Aber auch die Rolle der Türkei als Dreh- und Angelpunkt weltweiter Dschihadisten zeigt sich schon in den bisherigen Erkenntnissen. Zudem sollte es insbesondere darum gehen, den Forderungen der Betroffenen und Hinterbliebenen Nachdruck zu verleihen. Vor allem die Forderung nach Anerkennung des Völkermordes 2014 als solchem, hat nicht an Aktualität verloren und ist verbunden mit dem Wunsch nach „Wiedergutmachung“ und Aufklärung.

Der Prozess in Frankfurt kann zudem weichenstellend für die kommenden 129b Prozesse werden. Denn was ist, wenn dieser Paragraph zukünftig auch gegen diejenigen Internationalist*innen angewandt wird, die gegen die Schlächter des IS gekämpft haben, Sso wie es in anderen europäischen Ländern bereits gängige Praxis ist? Der Prozess in Frankfurt verdient unter all diesen und vielen weiteren Gesichtspunkten mehr Beobachtung und Öffentlichkeit. Insbesondere aus Sicht einer radikalen Linken.

# Text: Antifaschistische Koordination 36

# Titelbild: Willi Effenberger, Mai 2017, Tabqa, Syrien. Kämpfer aus SDF und HAT präsentieren eine aus einer eroberten Stellung des IS

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Der IS kontrolliert keine Gebiete in Syrien mehr. Das ist ein Grund zur Freude. Doch der Krieg ist keineswegs vorüber.

Im Spätherbst 2014 standen Milizionäre der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in der nordsyrischen Kurdenmetropole Kobanê. Es sah schlecht aus. Dschihadisten twitterten schon, man werde die Stadt von den ungläubigen Kommunisten säubern. Der IS kontrollierte damals ein riesiges Gebiet, sowohl auf dem Territorium des Irak, wie auch in Syrien.

Doch der Jubel der islamistischen Mörder war verfrüht. Sie hatten die Rechnung ohne jene Bewegung gemacht, die seit über 40 Jahren im Kampf gegen die NATO, insbesondere den türkischen Staat, im Mittleren Osten überlebt. Knapp fünf Jahre später sieht die Karte Syriens und des Iraks vollständig anders aus. Der IS hat die letzten Gebiete, die er verbissen hielt, verloren. Viele seiner in- wie ausländischen Anführer sind tot oder in Gefangenschaft der Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF), des Bündnisses zwischen kurdischen, assyrischen, arabischen Milizen zur Verteidigung des Aufbaus eines Rätesystems im Norden Syriens.

Nicht nur Syrien kann aufatmen. Der blutige Krieg, das haben die Sprecher*innen der kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) immer wieder betont, war einer für die gesamte Menschheit. Sein Resultat ist die Zurückdrängung einer politischen Kraft, deren Herrschaft für Millionen Menschen, insbesondere für Frauen, im Mittleren Osten nichts als Unterdrückung, Tod und Erniedrigung bedeutete. Man muss es so deutlich sagen: Die immer noch in den USA wie Europa verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat zusammen mit ihren syrischen Verbündeten von YPG und YPJ weitere Genozide etwa im irakischen Jesidengebiet genauso verhindert wie Terroranschläge in Europa oder den Vereinigten Staaten.

Wie kam dieser Sieg zustande? Klar, eine kluge Bündnispolitik spielte eine Rolle; und klar, viel Diplomatie mit denen, die nur darauf warten, das demokratische Projekt in Nordsyrien auszulöschen, wurde betrieben.

Aber all dies wäre nichtig gewesen ohne die hunderttausenden Menschen, die im zivilen politischen Aufbau und in den militärischen Selbstverteidigungseinheiten tagtäglich ihr Bestes gaben. Und viele von ihnen gaben das letzte, was ihnen noch geblieben war: Ihr Leben. Der Preis für diesen Sieg war hoch. Alle, die in diesem Krieg oder im zivilen Aufbau im Norden Syriens einen Beitrag leisteten, haben Menschen verloren, die ihnen sehr nahe standen. Es gibt keine Mutter im Norden Syriens, die nicht eine Tochter oder einen Sohn beweint; keine Schwester, die nicht ihren gefallenen Bruder vermisst und kein Kind, das nicht seinen Onkel oder seine Tante in den Krieg ziehen und nicht mehr wiederkommen sah. Und es gibt unter den Internationalist*innen niemanden, der/die nicht Trauer und Wut über den Verlust von Anna Campbell, Kevin Jochim oder Lorenzo Orsetti fühlt.

Die Trumps und Macrons dieser Welt können sich den Sieg auf die Fahnen schreiben, errungen haben nicht sie ihn, sondern die tausenden Genoss*innen, die in den Schützengräben und Stellungen, auf den Häuserdächern und in den verschachtelten Straßen im Häuserkampf fielen. Dieser Sieg ist ein Sieg der Şehîds, der Gefallenen. An sie sollten wir denken, wenn wir in diesen Tagen jubeln und feiern.

Und wenn wir an sie denken, merken wir auch: Wir haben eine Schlacht gewonnen, aber der Krieg geht weiter. Denn das, wofür sie starben und wofür wir anderen überlebten, ist nicht nur die Zerschlagung einer besonders grausamen Miliz. Sie fielen im Kampf für eine bessere Welt, eine Welt jenseits der kapitalistischen Moderne und jenseits staatlicher, imperialistischer und kolonialer Unterdrückung.

Dieser Krieg geht weiter. Im Mittleren Osten lauern diejenigen, die das kleine befreite Gebiet im Norden und Osten Syriens auslöschen wollen: Das Erdogan-Regime, das es militärisch überrennen will; die Trump-Administration, die es in die Knie zwingen und entpolitisieren will; Moskau und Damaskus, die es dem Assad-Regime unterwerfen wollen. Die Phase, die nun beginnt, wird eine der Neuordnung der Bündnissysteme sein. Die USA wollen ihren Krieg gegen den Iran, die Türkei streben nach der Expansion des von ihr kontrollierten Territoriums. Die Karten werden, wieder einmal, neu gemischt.

Doch der Krieg geht nicht nur irgendwo weit weg, jenseits der Empörungsschwelle der Bevölkerungen der reichen westlichen Nationen weiter. Er geht auch hier weiter. Auch in Deutschland wird der Staat erneut ausholen, um die Kurdinnen und Kurden, die türkische Exilopposition und alle, die mit ihnen zusammenarbeiten, anzugreifen, zu verfolgen und einzusperren.

Wenn es soweit sein wird, dann sollten wir daran denken: Wir alle haben eine Schuld abzutragen. Wir als revolutionäre Linke sowieso, denn es war die kurdische Bewegung, die uns auf einen gangbaren Weg zurückführte, auf dem wir heute unsere ersten kindlichen Schritte gehen können. Aber auch alle anderen stehen in der Schuld der Gefallenen der Syrisch-Demokratischen Kräfte. Es wird genügend Gelegenheiten geben, um zumindest anzufangen, diese abzutragen.

#Titelbild Rodi Said/Reuters

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