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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. In den vergangenen Teilen dieser Serie widmeten wir uns unter anderem der Familie Quandt/Klatten, dem Imperium der Schaefflers, den Faschisten-Finanziers des Finck-Clans und zuletzt der Kaffeedynastie Jacobs, ehe es jetzt um den Clan hinter Kühne + Nagel geht.

Ob und welchen Senf Klaus-Michael Kühne zu sich nimmt, wenn er mal ein Würstchen verspeist, ist nicht bekannt. Vermutlich ist es kein Kühne-Senf. Denn auf dieses Produkt respektive seinen Hersteller dürfte er nicht gut zu sprechen sein. Aus gutem Grund: Selbst in seiner Geburtsstadt Hamburg halten viele Menschen Klaus-Michael Kühne für den Chef der in der Hansestadt angesiedelten Carl Kühne KG halten, die durch die Präsenz ihrer Produkte – vor allem der Kühne-Senfgläser – im Supermarktregal viel bekannter ist als der Logistikkonzern, dessen oberster Boss Klaus-Michael Kühne ist.

Tatsächlich ist der Altonaer Senf- und Saucenhersteller mit seinen rund 328 Millionen Jahresumsatz nur eine Klitsche im Vergleich zu Kühne + Nagel, das mit einem Jahresumsatz von gut 22 Milliarden Euro zu den größten Logistikdienstleistern, man kann auch Speditionen sagen, der Welt zählt. Trotz dieses gelegentlichen Missverständnisses ist Klaus-Michael Kühne in Hamburg immer noch am bekanntesten. Nicht nur weil er dort geboren wurde und aufgewachsen ist (er ging übrigens mit dem Liedermacher Wolf Biermann auf dieselbe Schule), sondern vor allem durch seine Sponsorentätigkeit für den Hamburger SV. Zuletzt ist das Verhältnis wohl etwas abgekühlt, weil ein Verein, der in die Zweite Liga absteigt und dann auch noch zweimal den Aufstieg verspielt, natürlich nicht wirklich zu einem Siegertyp wie Kühne passt.

Dass Klaus-Michael Kühne im Lande nicht die Prominenz hat wie die anfangs erwähnten Chefs von Autokonzernen oder meinetwegen die Familien Albrecht oder Oetker, liegt nicht daran, dass er weniger Geld hat als diese. Mit einem Vermögen von geschätzten 16,5 Milliarden Euro (Stand November 2020) gehört Kühne zu den 20 reichsten Einzelpersonen in Deutschland, spielt also ganz oben mit. Seine geringe Bekanntheit hat eher damit zu tun, dass sein Unternehmen Kühne + Nagel in einer wenig spektakulären und sinnlich wenig inspirierenden Branche angesiedelt ist: der Logistik.

Wie bei so vielen Clans des deutschen Kapitals basiert auch der Reichtum des Kühne-Clans auf einer verbrecherischen Bereicherung in der Zeit des deutschen Faschismus‘. Die Firma war unter den Nazis ein Hauptprofiteur der so genannten „Arisierung“ jüdischen Eigentums. Ihr kam unter anderem eine Schlüsselrolle bei der so genannten „M-Aktion“ des faschistischen Regimes zu. Dabei wurde bis August 1944 in Frankreich und den Benelux-Ländern die Inneneinrichtung von rund 65.000 Wohnungen geflohener oder deportierter Juden abtransportiert.

Ein Blick in die Geschichte des Unternehmens kann also hilfreich sein. Laut Wikipedia wurde die Firma im Juli 1890 von den Geschäftsleuten August Kühne (1855 – 1932), dem Großvater von Klaus-Michael Kühne und Friedrich Gottlieb Nagel (1864 – 1907) in Bremen als „Speditions- und Commissionsgeschäft“ gegründet. Nach dem Tod Nagels ging die Firma in den alleinigen Besitz von Kühne über. 1910 wurde der jüdische Kaufmann Adolf Maass, der seine Lehre im Unternehmen gemacht und später die Hamburger Niederlassung aufgebaut hatte, Teilhaber von Kühne + Nagel. 1928 wurde ihm ein Anteil von 45 Prozent der Besitzanteile am Hamburger Zweig von Kühne + Nagel vertraglich zugesprochen. Im Jahr 1932 starb Firmengründer August Kühne und seine Söhne Alfred – der Vater von Klaus-Michael Kühne – und Werner übernahmen das Geschäft. Im selben Jahr soll es laut Wikipedia zu einer geschäftlichen Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Alfred und Werner Kühne und Maass gekommen sein. In der Folge habe Maass die Firma im April 1933 ohne Abfindung verlassen. An anderer Stelle des Onlinelexikons heißt es, der jüdische Teilhaber sei aus der Firma gedrängt worden, was der Wahrheit vermutlich näher kommt. Jedenfalls wurde Werner Kühne schon am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP. Mit einem jüdischen Mitinhaber wäre das wohl nicht möglich gewesen. Maas und seine Ehefrau wurden 1945 im KZ Auschwitz ermordet.

Mit dem Herausdrängen des jüdischen Teilhabers und dem Parteieintritt Werner Kühnes waren die Weichen gestellt, um groß abzusahnen. In den 1940er Jahren profitierte die Firma Kühne + Nagel durch den Transport und den Einsatz ihrer Logistikstruktur von sogenanntem „Judengut“, dem Hausrat der Deportierten aus ganz Europa, den sich der NS-Staat angeeignet hatte. Die „M-Aktion“ des NS-Regimes war ein Bereicherungsprogramm für den Kühne-Clan, wie den Angaben bei Wikipedia zu entnehmen ist. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, wenn man an die Schicksale denkt, die hinter den folgenden Zahlen steckt.

Demnach hatte die verantwortliche NS-Dienststelle bis August 1944 in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Luxemburg die Einrichtungen von rund 65.000 Wohnungen abtransportieren lassen. 500 Frachtkähne und 674 Züge seien dafür nötig gewesen. „Bei der Umsetzung half Kühne + Nagel“, heißt es nüchtern. Das Unternehmen sei direkt und mit Hilfe von Subunternehmen in allen besetzten westlichen Ländern aktiv gewesen.

Die Transporte aus den Niederlanden sind dabei am ausführlichsten recherchiert. K + N charterte beispielsweise einen eigenen Dampfer, um jüdisches Raubgut in das Deutsche Reich zu transportieren. Das erste Frachtschiff aus Amsterdam traf laut Wikipedia im Dezember 1942 in Bremen ein. Die Stückliste wies 220 Armsessel, 105 Betten, 363 Tische, 598 Stühle, 126 Schränke, 35 Sofas, 307 Kisten mit Glasgeschirr, 110 Spiegel, 158 Lampen, 32 Uhren, ein Grammophon und zwei Kinderwagen aus. Dabei handelte es sich um das Eigentum niederländischer Juden, die im Sommer 1941 in Konzentrationslager deportiert worden waren. Für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg führte Kühne + Nagel laut dem Historiker Wolfgang Dreßen „allein aus Paris […] zwischen 1941 und 1944 insgesamt 29 Kunsttransporte“ durch. In Südfrankreich suchte ein Mitarbeiter von Kühne + Nagel aktiv nach Möbeln. Laut Dreßen gab es eine äußerst enge Zusammenarbeit mit Behördenmitarbeitern und der deutschen Besatzung.

Für Historiker, die sich mit der Geschichte des Konzerns befasst haben, ist die Sache klar. Die Firma sei „mitverantwortlich für den Tod von Leuten, sie haben damit Geld verdient“, bewertete Dreßen das Geschehen. Und der Historiker Frank Bajohr vom Münchner Zentrum für Holocauststudien im Institut für Zeitgeschichte (IfZ) sah in den Geschäften von Kühne + Nagel „eine relative Nähe zum Massenmord“. Der Historiker Johannes Beermann, der zu den M-Transporten forschte, wird bei Wikipedia mit den Worten zitiert, bei der Verschickung des zusammengeraubten Mobiliars der deportierten Juden habe die verantwortliche NS-Dienststelle Westen eng mit der Spedition zusammengearbeitet. Dreßen weist darauf hin, dass Kühne + Nagel nicht allein gewesen sei, denn andere große Logistikunternehmen seien ähnlich verstrickt gewesen. Allerdings war das Bremer Unternehmen führend in dem entstandenen verbrecherischen Wirtschaftszweig. Beermann erklärte, es sei dem Fuhrunternehmen gelungen, „sich so erfolgreich gegen potenzielle Mitbewerber durchzusetzen, dass Kühne + Nagel im Verlauf der ‚M-Aktion‘ quasi das Monopol auf diese lukrativen Staatsaufträge erhielt“.

Es versteht sich wohl von selbst, dass das verbrecherische Handeln der Firmenverantwortlichen mit dem Ende von Krieg und Faschismus nicht beendet war. Wohl eher pro forma wurden die Brüder Alfred und Werner Kühne durch amerikanische Stellen einer Untersuchung zu ihrer Rolle im Faschismus unterzogen. Aufgrund der Aktenlage wurden beide nicht „entnazifiziert“, sondern als „Mitläufer“ eingestuft. Damit hätte keiner der beiden die international tätige Spedition weiter führen dürfen. Doch man fand Mittel und Wege. Und man hatte mächtige Freunde.

So heißt es bei Wikipedia, in den Entnazifizierungsakten fänden sich Hinweise auf eine Intervention der CIA, die als „top secret“ klassifiziert war. Das Schreiben ist die Anordnung, dass Alfred Kühne zu entnazifizieren sei. Nach Informationen des Geheimdienst-Wissenschaftlers Erich Schmidt-Eenboom gehörte Kühne + Nagel zu den wichtigsten Tarnunternehmen der neu aufgebauten Organisation Gehlen, Vorgängerorganisation des Bundesnachrichtendienstes. Schmidt-Eenboom beurteilt die Bedeutung des Unternehmens wie folgt: „Die CIA hat 1955 eine Aufstellung sämtlicher Tarnfirmen des Gehlen-Apparates gemacht, und da rangiert Kühne + Nagel sehr weit oben. Zum einen die Bremer Zentrale, zum zweiten die Münchner Niederlassung und zum dritten war das Bonner Büro von Kühne+Nagel der Sitz von Gehlens Verbindungsmann zur Bundesregierung.“

Bekanntlich sahen die USA und ihre Verbündeten angesichts der „bolschewistischen Bedrohung“ aus dem Osten recht schnell nach Kriegsende über die Verbrechen der Nazis und ihrer Helfer hinweg. So auch im Falle des Kühne-Clans. Alfred und Werner Kühnes Konten- und Vermögenssperren und Anstellungsbeschränkungen wurden mit ihrer Entnazifizierung in die „Kategorie IV“ zum 1. Juli 1948 aufgehoben. Die Weichen für den Wiederaufstieg des Konzerns waren gestellt.

An all das wird Klaus-Michael Kühne natürlich nicht gern erinnert. Am Rande des Richtfestes der neuen Firmenzentrale am Bremer Weserufer erklärte er im Mai 2019 gegenüber dem NDR-Lokalmagazin „Buten un binnen“, er habe kein Verständnis dafür, dass das Thema „immer wieder hochgekocht wird“. Die Firma sei „damals Dienstleister gewesen und musste so etwas machen“. Das sei „der Zwang des Krieges“ gewesen. Diese Einlassung gleicht den Erklärungen früherer KZ-Wärter in Prozessen, so sie denn überhaupt vor Gericht kamen, sie seien doch nur „kleine Rädchen im Getriebe“ gewesen und man habe sie dazu gezwungen, auf Gefangene zu schießen.

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Ein Europäer in den Tiefen des kolumbianischen Dschungels, bewaffnet, ausgebildet im Guerillakampf und im Krieg gegen einen rücksichtslosen Feind. Wir hatten die Möglichkeit, einen Internationalisten aus dem kolumbianischen Ejército de Liberación Nacional (ELN) zu interviewen.

Die Nationale Befreiungsarmee, die in Castellano das Akronym ELN trägt, befindet sich seit über 50 Jahren im Krieg mit dem kolumbianischen Staat und hat das Ziel, diesen zu stürzen. Eine marxistisch-leninistische Guerilla, inspiriert von der kubanischen Revolution und kommunistischen befreiungstheologischen Priestern. Während des jahrzehntelangen Krieges mit der Armee, rechten Paramilitärs, Narco-Kartellen und multinationalen Kooperationen hat die ELN gelernt, fast jede politische Situation zu überleben, und wächst nun wieder rasant. Die ELN ist nicht nur eine militärische Organisation, sondern de facto eine Regierung für die Menschen, die die kolumbianische Regierung vernachlässigt hat. Nachdem die zweite große kolumbianische Guerilla FARC-EP einen „Friedensvertrag“ unterzeichnet hat, ist die ELN nun Staatsfeind Nummer eins in Kolumbien. Das südamerikanische Land befindet sich immer noch im Krieg, auch wenn die Massenmedien diese Tatsache verschweigen.

Wir hatte die seltene Möglichkeit, einen internationalistischen Freiwilligen in der ELN zu interviewen. Wenn die Behörden von seiner Anwesenheit wüssten, wären sie außer sich, wie damals, als sie den Ursprung der berühmten FARC-EP-Guerillera und niederländischen Internationalistin Tanja aufdeckten. Die Sicherheitsvorkehrungen für dieses Interview waren hoch, die wahre Identität unseres Interviewpartners bleibt geheim. Zum ersten Mal gibt dieses Gespräch einen Einblick in das Leben eines freiwilligen europäischen Internationalisten, der in der ELN diente.

Um anzufangen, wo in Kolumbien warst Du stationiert?

Kolumbiens Llano-Region und die umliegenden Gebiete Arauca, Meta und Boyacá. Ich war größtenteils auf dem Land und in den Bergen stationiert, anstatt ein „Urbano“ zu sein – ein Stadtguerillero.

Wie kam es dazu, dass Du Dich der ELN angeschlossen hast? Was war Dein Ziel?

Ich hatte Freunde durch staatliche Repression in Kolumbien verloren, bevor ich überhaupt daran gedacht hatte, der ELN beizutreten. Meine Entscheidung, mich anzuschließen, beruhte auf meinen Erfahrungen in Kolumbien und wurde natürlich von meiner revolutionären Einstellung angetrieben. Der ganze Prozess verlief organisch. Ich bin nicht aus dem Westen aufgebrochen, um mich anzuschließen. Obwohl, ich würde sagen, dass ich als Marxist-Leninist natürlich meine Sympathien mit den Rebellen und auch der legalen politischen Bewegung hatte.

Ich habe lange und gründlich studiert und nachgedacht, und mir war klar, dass es sehr starke strategische Gründe gibt, Kolumbien als schwaches Glied in der imperialistischen Kette, die die gesamte Welt erstickt, zu priorisieren. Kolumbien ist für die Interessen der USA in Lateinamerika von entscheidender Bedeutung. Und das Land hat auch eine lange und bedeutende Geschichte marxistischen Widerstands, die diese Tatsache bestätigt. Die USA betrachten das Land als ihre Hochburg, als ihren wichtigsten Verbündeten auf dem Kontinent, daher wäre ein Sieg hier ein massiver Erfolg im Kampf gegen den Imperialismus für die ganze Welt. Es wäre unglaublich transformativ – auf dem gesamten südamerikanischen Kontinent würde nach Jahrzehnten der Einmischung, die oft von Kolumbien selbst ausgerichtet wurde, ein Stiefel vom Hals gehoben. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, an diesem Kampf teilzunehmen, so bescheiden meine Beiträge auch gewesen sein mögen.

Wie war dein tägliches Leben als internationaler Guerillero?

Ich war Mitglied eines offensiv ausgerichteten Bataillons. Unsere Operationsbasis war hauptsächlich in den Bergen, aber manchmal befanden wir uns auch in zivilen Communities. Unser Hauptziel war es, den Feind in dieser Region in kleinen Gefechten anzugreifen und wir zielten auf die Infrastruktur großer multinationaler Konzerne ab. Unsere Existenz als Einheit in der Region, die sich zwischen sicheren Gebieten in den Bergen bewegt und die lokalen ländlichen Communities schützt, zwingt den Staat dazu, viel Zeit, Geld und Arbeitskräfte zu investieren. Wir betrachten dies als eine Errungenschaft für unsere Bewegung, komme was wolle.

Unser Tagesablauf beinhaltete viel Marschieren und körperliches Training, das Aufspüren des Feindes, Waffentraining – im Grunde alles, was man als Vorbereitung auf offensive Aktivitäten in Betracht ziehen könnte. Jeder verbringt zwei Stunden am Tag im Wachdienst und jeder kocht und putzt, wenn er an der Reihe ist. Wann immer möglich, findet auch politische Bildung statt.

Ich werde ehrlich sein – das Leben in den Bergen ist sehr hart. Du bist extrem isoliert, Hunger und Unterernährung sind keine Seltenheit, und das kolumbianische Militär ist ständig mit Drohnen und Flugzeugen über Dir und sucht nach Anzeichen Deiner Anwesenheit, eine Tatsache, an welche die Armee Dich ständig erinnern möchte. Der Umgang mit diesen Bedingungen ist selbst für die hartgesottensten Veteranen in diesem Kampf schwierig.

Hast Du andere internationale Freiwillige in der ELN getroffen?

Mir sind keine anderen westlichen Internationalist:innen bekannt, die derzeit bei der ELN sind. Davon abgesehen gab es in der Vergangenheit eine Reihe von Internationalist:innen aus Spanien, darunter Manuel Perez, der die ELN bis zu seinem Tod 1998 leitete. Es gibt jedoch viele Internationalist:innen aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, wie beispielsweise aus Venezuela und Ecuador. Zu Kolumbiens FARC-EP gesellte sich eine Niederländerin, Tanja Nijmeijer, die sich über viele Jahre als große und engagierte Revolutionärin bewährt hat. Ich bin sicher, Tanja hat sich für den kolumbianischen Revolutionskampf als weitaus nützlicher erwiesen, als wenn sie in den Niederlanden geblieben wäre.

Ich wollte ursprünglich nicht der ELN beitreten. Die Gelegenheit ergab sich spontan, nachdem ich einige Zeit in Kolumbien verbracht hatte. Die Klandestinität, die die Rebellen aufgrund der Gewalt des kolumbianischen Staates benötigen, macht es schwierig, eine bewaffnete Bewegung in Kolumbien aus dem Ausland zu kontaktieren, insbesondere wenn man ein Außenseiter mit geringen Kenntnissen der lokalen Realität ist. Darüber hinaus muss man von einem vertrauenswürdigen Mitglied einer lokalen Community bestätigt werden, bevor man überhaupt für eine Mitgliedschaft in Betracht gezogen wird.

Die ELN sind offen für den Beitritt von Internationalist:innen, aber es ist kein einfacher Prozess.

Wenn Du an Deine Zeit in Kolumbien zurückdenkst, welche Momente kommen Dir als erste in den Kopf?

Das erste Mal als ich meine Uniform trug war ein sehr wichtiger Moment, aufgrund dessen, was sie darstellt und impliziert. Die Uniform repräsentiert die Verpflichtung des Widerstands gegen Kapitalismus und Imperialismus, eine Akzeptanz, dass man an einem Krieg teilnimmt, in dessen Verlauf man möglicherweise sein Leben verliert.

Die besten Zeiten waren die kleinen Momente unter Genoss:innen. Ich erinnere mich, wie wir zusammen gelacht haben, einige der Gespräche, die wir geführt haben – die einfachen Dinge. Wir unterhielten uns zur Mittagszeit oder bei einem Abendkaffee. Die Bäuerinnen und Bauern (die natürlich die große Mehrheit der ländlichen Guerilla-Reihen der ELN ausmachen) haben einen brillanten Sinn für Humor und versuchen, sich nicht zu ernst zu nehmen. Während der Trainingseinheiten wird viel gelacht, wenn Genoss:innen dazu neigen, sich auf die eine oder andere Weise zu blamieren.

Es tut sehr weh, wenn deine Genoss:innen getötet werden. Von Zeit zu Zeit erhalte ich immer noch Nachrichten über den Tod von Genoss:innen, mit denen ich gedient habe. Es tut noch mehr weh zu wissen, dass meine Genoss:innen oft vom venezolanischen Militär getötet wurden. Einige der bemerkenswertesten Kommunist:innen, die ich je kennengelernt habe, wurden vom venezolanischen Militär getötet. Andere haben die ELN mit Erlaubnis und bei guter Stimmung verlassen, wie es nach einer gewissen Zeit der Mitgliedschaft üblich ist.

Eine andere Sache, an die ich mich immer erinnern werde, ist das Gefühl wahrer Genoss:innenschaftlichkeit – eine wahre, tiefe und natürliche Wertschätzung für einander und jeden in ihrer Einheit. Sie alle bringen die gleichen Opfer, sie sind Mitglieder des gleichen Kampfes und sie sind den gleichen Risiken ausgesetzt. Dies schafft natürlich eine tiefere Bindung als die, welche man in legalen, städtischen politischen Bewegungen finden könnte. Wir beweisen uns selbst, beweisen unser Engagement füreinander und den Kampf jeden Tag, an dem wir weiterkämpfen. Es ist schwierig, ein vergleichbares Beispiel zu finden.

Das venezolanische Militär bekämpft die ELN, obwohl die Mainstream-Medien argumentieren, Venezuela unterstütze die Guerilla?

Es ist nicht wahr, dass das venezolanische Militär die Rebellen unterstützt – dies ist eine Lüge, um eine Aggression gegen den venezolanischen Staat zu rechtfertigen. Venezuela wird von den USA als sozialistisches Land und Bedrohung für den Imperialismus, als Feind, angesehen. Die Aussage, dass sie „Terroristen“ in einer fremden Nation unterstützen, ist ein alter Trick im Handbuch, um die Zustimmung für einen möglichen zukünftigen Krieg und für „Intervention“ herzustellen. Beweise für diese Art von Haltung gibt es überall – sieh Dir nur die Guiado-Saga und die fehlgeschlagenen Putschversuche im letzten Jahr an und wie der Irak und Afghanistan 2003 als „staatliche Sponsoren des Terrorismus“ galten.

Die Ermordung kolumbianischer Kommunist:innen durch das venezolanische Militär ist unter kolumbianischen Revolutionär:innen bekannt, aber die Medien berichten nicht darüber und es wird international totgeschwiegen. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum Venezuela kolumbianischen Rebellen feindlich gegenübersteht. Vielleicht aus Angst, echte Beweise für die Behauptung „Sponsoren des Terrors“ zu liefern. Eventuell versteht das venezolanische Militär seine Souveränität auf eine rechte und reaktionäre Weise und sieht in dem Tod von kolumbianischen Kommunist:innen die Sicherung ihrer Grenzen gegenüber ausländischen bewaffneten Gruppen, welche dort Schutz vor Luftschlägen und Angriffen im Morgengrauen suchen.

Ich weiß jedoch nur Folgendes: Das venezolanische Militär tötet routinemäßig kolumbianische Kommunist:innen, die es innerhalb seiner Grenzen findet. Sie arbeiten nicht mit der ELN zusammen – so sehr wir uns das alle wünschen.

Wie gefährlich ist das Leben als Guerilla? Wie gefährlich war es für Dich?

Eines Nachmittags, kurz bevor es völlig dunkel wurde – es wird gegen 18 Uhr in den Bergen pechschwarz und man kann nichts sehen -, wurde unsere Einsatzbasis durch das ohrenbetäubende Geräusch mehrerer Arten von Militärflugzeughubschraubern und Sturzkampfflugzeugen alarmiert, welche direkt auf uns zukamen, als ob sie wussten, dass wir da waren. Feindliche Bodentruppen machten sich auf den Weg zu unserer provisorischen Küche, in der wir den Tag verbracht hatten (wir nutzten sie oft als Treffpunkt während des Tages), aber wir hatten sie glücklicherweise erst zwanzig Minuten zuvor geräumt, um zu unseren Hängematten zu gehen und dort zu schlafen. Wir waren jedoch nicht in Sicherheit, da das Militär nur zehn Minuten entfernt war und schnell näherkam. Die gesamte Soundkulisse wurde vom Dröhnen der Motoren dominiert. Wir dachten das wär’s mit uns.

Ich ging hinter einem Baum in Deckung, wie es mir beigebracht worden war, aber es schien fast sinnlos, als der Feind von allen Seiten auf uns zukam – sie hatten uns flankiert und ihre Operation war eindeutig gut organisiert. Zum Glück haben der Anführer unserer 14-köpfigen Gruppe und mein engster Genosse bis zu seinem Tod durch das venezolanische Militär beschlossen, uns vom Berg herunterzuführen. Man konnte die Spannung in der Einheit spüren, es war eine schwierige Situation.

Ihre Hubschrauber hatten unsere üblichen Wege, Ein- und Ausgänge entdeckt. Soldaten hatten ihre Fahrzeuge in unserer Küche geparkt, um nach Beweisen für unsere Anwesenheit zu suchen, und wir wussten, dass es nicht lange dauern würde, bis sie unseren genauen Standort lokalisiert hätten, es sei denn, wir überlegten uns eine unberechenbare Lösung. Das kolumbianische Militär hatte Nachtsichtgeräte, welche wir nicht hatten, und die Nacht war pechschwarz. Wir waren umzingelt und die Zeit, um zu fliehen, wurde knapper. Wir beschlossen, dass unsere einzige Chance darin bestand, den steilen, überwucherten Berghang hinunterzusteigen, indem wir ihn hinunterrutschten und auf unserem Rückzug einen völlig neuen Weg einschlugen.

Wir brauchten ungefähr eine Stunde, um von der Spitze des Berges abzusteigen, gefolgt von einem 8-stündigen Marsch flussabwärts und einen anderen Berg hinauf, um genügend Abstand und Deckung für etwas Schlaf zu gewinnen. Wir haben am steilen Hang eines weiteren Berges geschlafen. Ich schlief mit meinen Beinen um einen Baumstamm, um zu verhindern, dass ich den Berghang hinunterfiel. Wir brauchten ungefähr zwei Tage, mit dem Militär immer dicht auf den Fersen, um in die Ebene zu gelangen, wo uns eine lokale indigene Gruppe die Unterstützung anbot, die wir dringend brauchten.

Manchmal konnten wir sogar das Geräusch ihrer Drohnen über unseren Köpfen hören. Am Ende jedoch, trotz der intensiven Operation gegen uns konnte unser Wissen über das Terrain, kombiniert mit unserer Erfahrung des Überlebens in den Bergen und der Umsetzung von Guerillataktiken, uns das Leben retten – und wir haben einen gut geplanten Hinterhalt zur Aufstandsbekämpfung ausmanövriert, der von dem militärisch gefährlichsten Staat finanziert und ausgerüstet wurde, den die Welt je gesehen hat, den USA.

Was würdest Du zur Perspektive zukünftiger internationaler Freiwilliger sagen? Wie war es, der einzige Westler zu sein?

Als ich der ELN beitrat, wurde ich von mehreren hochrangigen politischen Kommandeur:innen begrüßt, die eine Rede hielten, die ich nicht so schnell vergessen werde. Sie erklärten, dass die ELN „dem internationalen Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden“ sei und von der internationalen Unterstützung stark profitieren würde, vor allem der aus den Ländern des Westens. Die Kommandeur:innen legten großen Wert darauf, zwischen den Regierungen und dem Proletariat in den imperialistischen Nationen zu unterscheiden. Sie erkannten, dass die Arbeiter:innen im Westen trotz der geopolitischen Stärke von ihrer herrschenden Klasse immer noch bösartig ausgebeutet werden.

Es gibt einige Marxist:innen, die in Bezug auf Revolution übermäßig dogmatisch und starr sind und glauben, dass man als Franzose nur in Frankreich für den Sozialismus kämpfen muss, ein Mexikaner in Mexiko, ein Deutscher in Deutschland und so weiter. Ja, jemand, der selbst aus einer Nation stammt, wird die Bedingungen in dieser Nation besser und tiefer verstehen, aber das bedeutet nicht immer, dass er nur dort kämpfen kann, wo er herkommt. Das bedeutungsvolle Erbe von Che Guevara zeigt deutlich den Nutzen internationaler Freiwilliger. Ein jüngeres Beispiel ist Tanja Nijmeijer der FARC-EP. Ich vermute, dass sie im kolumbianischen Kampf wahrscheinlich wirksamer war als in den Niederlanden. Das Internationale Freiheitsbataillon in Kurdistan war maßgeblich an der Befreiung von Minbij und Raqqa während des antifaschistischen Krieges gegen ISIS beteiligt, und ich habe bereits Manuel Perez von der ELN erwähnt. Obwohl Perez einst unter dem Verdacht gefangen genommen wurde, ein ausländischer Spion zu sein, stieg er zum höchsten politischen Führer der ELN auf und bewies sich während mehrerer Jahrzehnte bewaffneter Kämpfe als ein großer Revolutionär. Viele andere Internationalist:innen in der Geschichte haben bewiesen, dass es manchmal nicht immer die beste Strategie für Kommunist:innen ist, dort zu bleiben, wo sie gerade geboren wurden.

Manuel Marulanda, Gründer der FARC-EP und ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kolumbiens, argumentierte einmal: „Auf 100 Kommunist:innen kommen nur etwa 30, die bereit sind, für ihre Überzeugung zu sterben. Und von diesen 30 werden nur etwa 10 bereit sein, das Opfer und den Kampf im bewaffneten Kampf zu ertragen.“ Es gibt immer viele städtische Aktivist:innen auf der ganzen Welt, die sich an legalen Kämpfen beteiligen, insbesondere im Westen, mit der romantischen Vorstellung, eines Tages an einem glorreichen bewaffneten Kampf teilzunehmen – aber es gibt normalerweise einen Mangel an Kommunist:innen, die bereit sind, wirklich zu kämpfen, die bereit sind, sich für ein solches Leben mit all seinen Schwierigkeiten zu entscheiden, besonders in Ländern wie Kolumbien, in denen der Feind aufgrund jahrzehntelanger Bürgerkriege sehr erfahren ist.

Wenn jemand wirklich bereit ist, diesen Weg zu gehen, wenn jemand demütig akzeptieren möchte, dass vielleicht niemand jemals von seinen Erfahrungen erfahren wird und dass er leicht sein Leben verlieren könnte, wenn er bereit ist, die Risiken, Verantwortlichkeiten und das ständige Lernen zu akzeptieren und selbstkritisch zu sein, wie es im Guerilla-Leben verlangt wird, dann würde ich sagen, dass diese Person für den bewaffneten Kampf wahrscheinlich wertvoller ist als in dem städtischen, legalen Kampf.

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. Teil eins der Serie widmete sich der Familie Quandt/Klatten, Teil zwei drehte sich um das Schaeffler-Imperium. Im vorliegenden dritten Teil geht es um die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG.

Die Toleranz der Polit-Elite gegenüber NS-Verbrechen hat in Deutschland eine eigene Ökonomie. Wenn ein paar hundert Glatzköpfe sich mit Fahnen und Lautsprecherwagen die Springerstiefel in den Bauch stehen und unter der Losung „Opa war ein Held“ ein gebührendes Andenken an die Kriegsverbrechergeneration fordern, kommt so gut wie niemand auf die Idee, eine Straße nach den jeweiligen Großvätern zu benennen.

Nun ist aber Michael Stoschek kein Hängengebliebener ohne Haupthaar, sondern einer der reichsten Deutschen. Und auch der Milliardär Stoschek hat einen deutschen Opa. Der hieß Max Brose. Und auch den wollte der Coburger Stadtrat zunächst nicht ehren, weil der Herr Großpapa typisch für seine soziale Schicht am großen deutschen Konjunkturprogramm von 1933 bis 1945 ganz reichlich teilgenommen hatte. Aber das wiederum beleidigte den Michael Stoschek. Nur weil der Opa an Zwangsarbeit verdiente, Rüstung für Hitlers Weltmachtstreben produzierte, NSDAP-Mitglied und „Wehrwirtschaftsführer“ war, konnte ihm doch keiner die Straße verwehren. Wo kämen wir da hin?

Der Herr Stoschek entschloss sich also, nunmehr weniger von dem Geld, das er aus dem Betrieb des Nazi-Opas geschlagen hatte, an die Stadt Coburg weiterzugeben. Und nach einiger Zeit sah man dann auch im Stadtrat ein: Non olet. Und wenn das Geld nicht stinkt, wie kann dann der stinken, der einst begann, es zu akkumulieren? Also kam 2015 doch die Ehrung und so hat die Stadt Coburg – gebührend für die „erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands“, wie sie sich ab 1939 stolz nannte – nun eine Max-Brose-Straße.

Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!“

Woher kommt so viel Patte, dass man in der Lage ist, eine Stadt zu erpressen, eine Straße nach dem eigenen Nazi-Opa zu benennen? Die Antwort ist: Letztinstanzlich von eben jenem Nazi-Opa. Denn Max Brose begründete eine Unternehmensdynastie und der gehört eben auch noch sein Enkel Michael Stoschek sowie dessen Schwester Christine Volkmann an.

Die ersten Anfänge sind nicht genau rekonstruiert, aber insgesamt geht der Reichtum des Clans auf die Gründung eines Unternehmens für Automobilausrüstung zurück, das der da 24-jährige Max Brose 1908 in Berlin eintragen ließ. 1919 tut sich Brose mit seinem langjährigen Geschäftspartner Ernst Jühling zusammen, und beide schlängeln sich mal erfolgreicher, mal weniger erfolgreich durch die entstehende Auto-Industrie der Weimarer Republik. Sie werden reich, aber natürlich gibt es auch Krisen.

Aber es ging immer wieder bergauf. So etwa, als 1932 ein richtig mieses Jahr war, dann aber zum Glück der deutschen Bourgeoisie Hitler kam und ab 1933 ordentlich das Business ankurbelte. Selbst der den von ihm porträtierten Unternehmerfamilien stets sehr wohlwollend gesonnene Historiker Gregor Schöllgen schreibt in seiner Unternehmensgeschichte „Brose. Ein deutsches Familienunternehmen 1908 – 2008“: „Es ist erstaunlich, wie schnell die deutsche Automobilindustrie aus dem Tief des Jahres 1932 herausfindet. […] Hinter diesem Erfolg steckt ein Name: Am 11. Februar 1933 hat erstmals ein Reichskanzler die Internationale Automobil- und Motorradausstellung in Berlin eröffnet. Es ist zugleich die erste öffentliche Amtshandlung Adolf Hitlers in seiner neuen Funktion.“

Im Juni 1933 stellt Max Brose seinen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP. Er wird auch noch Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, in der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation, im Nationalsozialistischen Kraftfahr-Korps“, im „NS-Reichsbund für Leibesübungen“, in der Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ sowie in der „Deutschen Arbeitsfront“. Er ist hochrangiger Funktionär der Industrie- und Handelskammer Coburg und „Wehrwirtschaftsführer“. Vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS wird Brose als „national, ohne weitere Bindungen“ eingestuft. 1935 attestierte ihm Obersturmbannführer Linke in der Führerbeurteilung des Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps: „Weltanschauliche Festigung: Guter Nationalsozialist“.

Kurz: ein klassischer unbelasteter und nur durch äußeren Druck sich anpassender deutscher Unternehmer, wie wir sie nur allzu gut kennen.

Brose leidet immens unter dem Nationalsozialismus: 1935 macht er sich an einen Neubau einer standesgemäßen Villa. Zuvor im Eigentum des von Nazis gefolterten und vertriebenen Juden Abraham Friedmann, wird man nach dem Krieg aber gottseidank feststellen, dass der Kauf seitens Broses voll und ganz ordnungsgemäß war. Welcher Ordnung er gemäß war, diese Frage verbot sich schon unmittelbar nach Kriegsende.

Broses Umsatz – so Schöllgen – erreicht bis 1944 „ungebremst nicht gekannte Dimensionen“. Ab 1939 beginnt Brose mit der Fertigung von Rüstungsgütern, der Krieg steht ja vor der Tür. Die Firma Brose blüht in dem Maße auf, in dem faschistische Aggressionsarmee voranschreitet. Das Repertoire: Der Klassiker, der Brose 20-Liter-Kanister; Aufschlagzünder; Panzergeschosse; Sprenggranaten. Alles mögliche, bis hin zur Luftfahrtausrüstung.

Wer produziert nun? Viele Frauen, denn Arbeiter wurden massenhaft eingezogen. Und Zwangsarbeiter:innen. Für 1942 nennt Schöllgen 200 sowjetische Kriegsgefangene, 60 Kroaten und etwa 20 Franzosen. In Broses Werk gab es von der Wehrmacht vereidigte „Hilfswachleute“ und Geschäftspartner Jühling forderte die Gestapo auf, flüchtige kroatische Fremdarbeiter:innen wieder einzufangen. In der Firma hängt nun aus: „Allen Nichtbefugten ist jeglicher Verkehr mit den kriegsgefangenen Sowjetrussen verboten!“ Und in einem namentlich von Brose gezeichneten Schreiben heisst es zum Umgang mit den Gefangenen: „Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!“

Broses Umsatz explodiert bis 1944. Dann geht‘s mit dem Hitler-Faschismus zu Ende. Aber glücklicherweise hatte Max Brose ja mit dem Faschismus gar nichts zu tun, also hört die Unternehmensgeschichte der Broses hier nicht auf.

Alles nur Mitläufer

Der stets wohlgesonnene Auftragshistoriker Schöllgen trifft ungewollt den Punkt: Nach der Niederlage des Hitler-Faschismus war klar, dass Coburg „nicht unter sowjetische, sondern unter westliche, unter amerikanische Herrschaft gerät, und das wiederum erklärt, dass Max Brose, soweit das unter den gegebenen Umständen möglich ist, der kommenden Entwicklung gelassen entgegensieht.“

Brose hat, das sollte die weitere Geschichte zeigen, allen Grund dazu, denn in der heraufziehenden Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus machte sich der Westen prompt an die Wiederverwendung noch nahezu jedes Nazi-Verbrechers. Es folgte zwar eine Episode, in der Brose und seinem Kumpan Jühling von den US-Behörden die Firmenleitung entzogen worden war. Die endete aber rasch. Jühling wird als „Mitläufer“ eingestuft, Brose zunächst als „Minderbelasteter“, dann ebenfalls als „Mitläufer“. Wohl bekomm‘s und weiter gehts.

1948 kehrt Brose zurück an die Firmenspitze und es geht ab ins Wirtschaftswunder, denn das – ja von wem eigentlich? – in Ruinen zurückgelassene Land will wieder aufgebaut werden. Dazu kommt, dass nach dem Krieg ja bekanntlich vor dem Krieg ist – in diesem Fall des Koreakriegs, bei dem die USA rund 5 Millionen Menschen umbrachten und der in der Bundesrepublik eine wirtschaftliche Boom-Phase auslöste.

Brose positioniert sich voll und ganz auf dem Markt für Automobil-Zulieferer und kann bald expandieren. Arbeitskraft ist genügend vorhanden, Absatz auch. Und so wird die Firma Brose das, was sie heute ist, eines der Aushängeschilder der deutschen Automobilindustrie.

Billige Lohnkosten im Ausland

1968 stirbt Max Brose. Seine Tochter Gisela führt das Unternehmen einige Jahre, dann übernimmt Michael Stoschek, der heute amtierende Erbe der Familiendynastie. Damals nimmt das Unternehmen rund 1000 Arbeiter:innen aus und erwirtschaftet 50 Millionen D-Mark. Heute sind es nach Unternehmensangaben 25 000 bei einem Umsatz von 6,2 Milliarden Euro (Stand 2019).

Einen Einblick in den Arbeitsalltag dieser Beschäftigten zu gewinnen, ist nicht einfach – gibt es doch gerade für die Produktionsanlagen im Ausland kaum Quellen. Wer subjektive Eindrücke aus deutschen Werken lesen will, kann das auf der Plattform kununu, auf der anonym Erfahrungen mit Unternehmen eingestellt werden können – allerdings selten von Produktionsarbeiter:innen genutzt. Wiederkehrende Themen sind: Eine auf extremem Druck basierende Arbeitskultur, miese Kommunikation, Arbeitsplatzunsicherheit durch Stellenstreichungen und Leiharbeitsverhältnisse, die den „untersten“ Teil der Arbeiterklasse bei Brose in Deutschland bilden.

Die Löhne – ist man nicht gerade Leiharbeiter – sind, wie bei allen deutschen Unternehmen von Welt, so ausgerichtet, dass es im Mutterland keinen Aufstand gibt, dafür aber eine Reihe von Fabriken in Niedriglohnländern existieren. Auch Brose hat die seit den 1970er-Jahren andauernde allgemeine Tendenz zur Verlagerung von Produktionstätigkeiten und Wertschöpfung ins Ausland mitgemacht.

1988 beginnt Brose in Großbritannien und Spanien zu produzieren. Schon damals hat die Internationalisierung klare Gründe: In Großbritannien werden „im Jahresdurchschnitt fast 110 Stunden mehr gearbeitet als in der Bundesrepublik, und das bei deutlich günstigeren Lohnkosten und einer Nutzung der Maschinen im Dreischichtbetrieb“, schreibt Schöllgen.

Und wenn das schon in Großbritannien so viel günstiger ist, wie wird es erst in Slowenien, Brasilien, Indien, China sein? Von den späten 1980ern an baut Brose sich insgesamt 64 Standorte in 24 Ländern auf. Die Mehrheit der Beschäftigten des „deutschen“ Unternehmens arbeitet heute nicht in Deutschland und nicht zu den mit der IG Metall ausgehandelten Bedingungen (auch wenn Brose selbst im Inland gelegentlich versucht, den Tarif zu untergraben).

Und was bekommt man im Ausland so? Ein Inserat für Produktionsarbeiter:innen im slowakischen Prievidza verspricht „742 bis 1000 Euro“ Brutto fürs Malochen im Dreischichtbetrieb. In Mexiko, dem Eldorado für Billigproduktion und Union-Busting, verdienen die Brose-Arbeiter:innen so wenig, dass es für den Konzern günstiger war, auf eine weitergehende Automatisierung der Produktion zu verzichten. Für einen ganzen Tag Arbeit gibt es um die 30 US-Dollar, schreibt die Wirtschaftswoche. Kein Wunder, dass dann gilt: Die Arbeiter:innen sind „durchweg Mexikaner bis auf den Werksleiter“ – der ist natürlich Deutscher.

Dieser Prozess der Verlagerung ins Ausland ist keineswegs abgeschlossen. Die Standorte in Niedriglohnländern, die zudem oft keine oder kaum gewerkschaftliche Organisation kennen, wird durch die sogenannte Corona-Krise beschleunigt. Während das Unternehmen bereits vor Covid-19 ankündigte, etwa 2000 Stellen in der Bundesrepublik abzubauen, meldete es in den vergangenen Jahren den Ausbau der Produktionskapazitäten etwa in China oder Mexiko.

Hilflose Gewerkschaften

Die Antwort der zuständigen IG Metall ist dürftig. Als Brose in Coburg kurzfristig Stellen abbauen will, heisst es nur: Die Gewerkschaft „beobachtet“ die Situation sorgfältig, aber man habe ja eine Betriebsvereinbarung, die bis 2024 betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. Und dann? Bei anderer Gelegenheit kritisierten IG-Metall-Gewerkschafter zwar die „Steinzeitmethoden“ von Brose und ähnlichen Betrieben in der Corona-Krise, aber mehr als ein Appell an einen anderen „Unternehmergeist“ war dann auch nicht drin. Im Oktober 2020 wurde kurz symbolisch gestreikt – aber auch das bleibt völlig wirkungslos.

Am Ende geht es der IG Metall um die Aushandlung von „sozial verträglichem“ Arbeitsplatzabbau, Abfindungen und langsamen Kündigungen. Brose bezahlt die für die Abwicklung nötigen Summen aus der Porto-Kasse. Und wer erwirtschaftet die? Na die Arbeiter:innen in Produktionsstandorten irgendwo anders, die fortan für deutlich niedrigere Lohnkosten produzieren.

Michael Stoschek kann den Gewerkschafts“widerstand“ jedenfalls gelassen sehen. Während die IG Metall Pressemitteilungen ohne erkennbare Wirkung schreibt, sammelt der Brose-Erbe Sportwagen und lässt sich auf Ferrari-Modellen basierende Unikate anfertigen. Seine Tochter Julia verwirklicht sich als Kunstsammlerin, Sohn Maximilian gönnt sich neben dem Brose-Anteil eine Helikopter-Charter-Firma.

#Bildquelle: pixabay

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Nach den Präsidentschaftwahlen in Moldawien spielt sich dort ein Machtkampf zwischen Maia Sandu von der Partei „Aktion und Solidarität“ (PAS) und Igor Dodon von der Partei der Sozialisten der Republik Moldau (PSRM) ab. Beide gebaren sich als Korruptionsbekämpfer:innen und positionieren sich gegen den einflussreichen Oligarchen Vladimir „Vlad“ Plahotniuc.

Vor den Parlamentsgebäuden in der moldawischen Hauptstadt Chișinău demonstrieren hunderte von Menschen. Sie fordern die Auflösung des Parlaments und sofortige Neuwahlen. Bei der aufgebrachten Menschenmenge handelt es sich um die Anhänger:innen der am 16. November zur Präsidentin gewählten Politikerin Maia Sandu von der liberalen Partei „Aktion und Solidarität“ (Partidul Acțiune și Solidaritate,  PAS). Sandu gewann im zweiten Wahlgang mit 57,72, steht jedoch einer feindlichen Parlamentsmehrheit gegenüber. Die von den Demonstrant:innen verlangten Neuwahlen sollen die Situation ändern.

Vom antioligarchischen Allianz zur Neuauflage des Kampfes um die Wahl der Anlehnungsmacht

Die Harvard-Absolventin Sandu hatte bereits vom 8. Juni bis zum 14. November 2019 das laut Verfassung entscheidende Amt des Premierministers inne, doch ihr Koalitionspartner, die Partei der Sozialisten der Republik Moldau (Partidul Socialiștilor din Republica MoldovaPSRM) des bisherigen Präsidenten Igor Dodon kündigte das Bündnis auf und entzog der Regierung die Mehrheit. Zur Regierungschefin wurde Sandu damals durch die Proteste im Sommer 2019. Damals einigten sich die als pro-russisch geltende PSRM und verschiedene prowestlich-liberale Kräfte gegen die Macht des Oligarchen Vladimir (Vlad) Plahotniuc.

Obwohl seine Demokratischen Partei Moldaus (Partidul Democrat din Moldova, PDM) offiziell keine Mehrheit im Parlament besaß, kontrollierte Plahotniuc faktisch nicht nur das Parlament, sondern auch das Verfassungsgericht. In Moldawien kam Trennung von politischer Gewalt und ökonomischer Privatmacht nie zu Stande – was von den westlichen Betreuer:innen der „Transformation“ vom Realsozialismus zur Marktwirtschaft stets bemängelt wurde. Als Plahotniuc eine Wahlrechtsreform, die ihm Mehrheit sichern sollte in die Wege leitete und den Präsidenten Dodon faktisch entmachtete, kam eine Koalition von Sandus PAS und Dodons PSRM zustande. Plahotniuc musste aus dem Land fliehen, doch das im Februar 2019 gewählte Parlament blieb und dort entscheiden weniger die Mehrheitsverhältnisse der Fraktionen, sondern Plahotniucs Gelder.

Dodon und Sandu beschuldigten sich gegenseitig nicht nur der Korruption, sondern sprachen einander überhaupt ab, ernsthaft für die Unabhänigkeit des Landes einzustehen. Wie es in prowestlichen Kreisen Moldawiens üblich ist, bekennt sich Sandu zur rumänischen Identität und hält die „moldawische Sprache” für ein Konstrukt der sowjetischen Politik. Das ist aus der Sicht von Dodon und moldawischen „Linken” – die sich in vielen Fragen eher wertkonservativ gebähren – ein Verrat. Umgekehrt gilt das gleiche: Dodons Festhalten an sowjetischen Geschichtsnarrativen, seine Verteidigung des Moldawischen als eigenständiger Sprache, sein demonstratives Bekenntnis zur Freundschaft mit Russland gilt seinen Gegner:innen als ein sicherer Beweis dafür, dass er eine „Marionette des Kremls” ohne Sinn für Nationales sei.

Der ganze ideologische Konflikt um die richtige Auslegung des Nationalismus hat jedoch ganz materielle Demension. Denn seit der Unabhängigkeit der ehemahligen Sowjetrepublik müssen immer mehr ihre Bürger:innen ihren Lebensunterhalt im Ausland verdienen. Die chronische Abhängigkeit Moldawiens vom Visumsregime der EU und Russlands schlägt sich auch im Wahlverhalten nieder. Die in der EU arbeitenden Moldawier:innen stimmten geschlossen für Sandu ab. Da sie als Putz- und Servicekräfte, als Bauarbeiter:innen oder Sexworker:innen eben die Weltwährung Euro nach Hause überweisen, sind sie ein wichtiger Faktor des Politik- und Wirtschaftsleben im ärmsten Staat Europas. Dodon versuchte dagegen mit seinen Erfolgen in Verhandlungen um Kredite aus Russland zu punkten.

Die Koalition zwischen Sandu und Dodon zerfiel, als die PSRM ein Gesetz einbrachte, das vorsah, dass Supermärkte 50 % des Sortiments von den heimischen Produzent:innen beziehen müssen – ein Versuch die heimische Landwirtschaft zu retten. Denn diese leidet stark unter von Russland verhängten Einfuhrbeschränkungen. Sandu verweigerte jedoch die Zustimmung zum Gesetz mit dem Verweis auf Auflagen der EU – denn ihre Partei sieht Moldawiens Zukunft nur in der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Daraufhin stimmten Dodons „Sozialisten“ zusammen mit Plahotniucs PDM ab und setzten eine Regierung der „unabhängigen Experten“ unter dem parteilosen Dodon-Berater Ion Chicu ein. Das konnte Sandu im Wahlkampf als Beweis für Dodons Verrat an den deklarierten „antioligarchischen“ Zielen ausschlachten.

Zudem war das pro-russischer Lager im Wahlkampf gespalten, Platz drei belegte mit 16, 90 % Renato Usatîi, der Bürgermeister der Stadt Bălți. Obwohl seine „Unsere Partei“ (Partidul Nostru, PN) es bei den letzten Wahlen gar nicht ins Parlament schaffte, punktete er unter der russischsprachigen Bevölkerung und unter Jugendlichen von Land mit seinen Hasstiraden auf den Westen und die Korruption. Mit Sandu eint ihn die Wut auf den „Verräter” Dodon. Sein Ruf als prorussischer Politiker wird allerdings dadurch relativiert, dass er von den russischen Behörden wegen illegalen Finanztransaktionen gesucht wird.

Sandus Vision und moldawische Realität

Die Bestandsaufnahme und das Programm der designierten Präsidentin lassen sich kurz zusammenfassen. Die Ursache aller Probleme in Moldawien sei die Korruption. Wenn man stattdessen richtig faire Konkurrenz etabliere, sich allen Anforderungen der EU und des IWF beuge, werde die Republik irgendwann das Lebensniveau der reichen europäischen Länder erreichen.

Im Interview mit dem ukrainischen Journalisten Dmitri Gordon am 12. November kündigte Sandu ihre Agenda als Präsidentin an: „das Gerichtssystem und die Staatsanwaltschaft zu säubern” und die Verteidigung der Interessen der „ehrlichen” Unternehmer:innen, die nicht länger vom oligarchenhörigen Staat drangalisiert werden sollten. „Ich werde die ernsthafte Anwältin des moldawichen Business sein!”. Nicht der eigenen Geschäftsinteressen, wie die „politische Klasse”, die sie säubern möchte, sondern eben Anwältin des Rechts auf kapitalistisches Wirtschaften an sich.

So viel guten Willen sollen die westlichen Demokratien nach ihrer Vorstellung belohnen, indem sie helfen die russischen „Friedenstruppen” aus der international nicht anerkannten Republik Transnistrien zum Abzug zu zwingen.

Weder die durchwachsene Erfolge dieser Strategie in anderen postsowjetischen Republiken, noch die Tatsache, dass sich die Geschäftswelt Moldawiens schlicht nicht in „böse Korrupte” und „ehrliche Unternehmer” sortieren lässt, da Kontakte zur Politik für erfolgreiches Kapitalistsein unverzichtbar sind und die Parteien häufig als Eigentum der Oligarchen fungieren, können Sandu ins Zweifeln bringen. Dass auch Plahotniuc sich zur Westintegration bekannte, während er den Staat zum Instrument seiner privatwirtschaftliche Interessen machte, erklärt Sandu schlicht damit, dass er und ihm nahestehende Politiker:innen „verlogen” seien. Wenn die erneuerten Gerichte endlich die alte politische Klasse kräftig durchsäuberten, würde im armen Moldawien auf einmal kräftig Kapital akkumuliert, so die Logik von Sandus Erneuerungsprogramm.

Ihre Gegner:innen mobilisieren gegen sie mit Ängsten vor „Lockdown-Politik” nach europäischen Vorblid, vor Verlust der Unabhängigkeit oder „westlichem Sittenverfall”. Die Abhängigkeit Moldawiens von Russland wird als Argument gegen Sandus EU-Pläne positiv gewendet.

Kampf um die Kompetenzen

Noch bevor Sandu ihr – laut der aktuellen Verfassung in Kompetenzen sowieso stark eingeschränktes – Amt als Präsidentin antreten konnte, beschloss das Parlament immer neue Gesetze, die die Macht beim Parlament selbst und der Regierung konzentriert. So soll unter anderem der Geheimdienst SIS nun nicht mehr der Staatschefin, sondern dem Parlament unterstellt werden. Zudem kann das Verfassungsgericht die Amtsführung des Präsidenten immer wieder unterbrechen. Da die Abgeordneten im moldawischen Parlament beständig die Fraktionen wechseln, war die Bedeutung der Wahlergebnisse in der Republik schon seit langem relativ klein. Sandu spricht dem Parlament, in dem nach wie vor eine Plahotniuc-hörige Mehrheit existiert, offen die Legitimität ab.

Ähnlich wie ihr ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj, der ebenfalls mit Antikorruptionsparolen an die Macht kam, stellt Sandu fest, dass die Legislative und die Judikative in ihrem Staat ein einziges Instrument der Oligarchie seien, die Abgeordente und Richter:innen fraktionsübergreifend mit Bestechung und Erperessung dazu bringt in ihrem Sinne abzustimmen. Als Mittel dagegen fällt den selbsterklärten Held:innen des Antikorruptionskampfes Sandu und Selenskyj vor allem die Stärkung der Präsidialmacht ein. Schon vor zwanzig Jahren hat der Lieblingsfeind der beiden, der russische Präsident Wladimir Putin im Bezug auf sein Land und das dortigen Parlament sehr ähnliche Schlüsse gezogen.

# Titelbild: Jennifer Jacquemart, Europäische Union, 2019, Maia Sandu

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Während Deutschland und andere Staaten des globalen Nordens sich schon Millionen Impfstoffdosen verschiedener Hersteller gesichert haben, ist für die Länder des globalen Südens nicht absehbar, wann dort überhaupt ein Impfstoff zur Verfügung steht. Die Sicherung von Profiten für die Pharmaindustrie hat vor der Gesundheit der Menschen Priorität, wie sich auch am Beispiel der HIV/AIDS-Epidemie gezeigt hat.

Es handele sich um ein globales öffentliches Gut, den Corona-Impfstoff zu produzieren und ihn dann auch in alle Teile der Welt zu verteilen, erklärte Angela Merkel noch vor acht Monaten. Damals war noch gut reden, denn der Impfstoff schien in weiter Ferne. Heute, wo verschiedene Impfstoffkandidaten in greifbarer Nähe sind, handeln sowohl die deutsche Bundesregierung, als auch alle anderen Staaten des globalen Nordens nach dem Motto: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“.

Alle Versuche beispielsweise der Weltgesundheitsorganisation WHO eine globale Verteilung zu erarbeiten, an der alle Staaten gleichmäßig beteiligt wären, blieben ungehört. Stattdessen handelten einzelne wohlhabende Staaten, wie die USA und Deutschland, private Verträge mit der Industrie aus. Mit diesen Einzelverträgen sicherten sich einige wenige Länder des globalen Nordens, die 13% der Weltbevölkerung repräsentieren, bereits über die Hälfte der zur Verfügung stehenden Impfstoffdosen.

Solidarität, wie sie vorher oft beschworen wurde, ist zu einem Hauen und Stechen um die verfügbaren Impfstoffdosen geworden. Und im Hauen und Stechen haben Jahrhunderte kolonialer und imperialer Ausbeutung die Macht im globalen Gefüge entsprechend verteilt.

Die Doppelmoral, die deutsche Politiker*innen zur Schau tragen, ist dabei besonders irritierend. Während sich in den vergangenen vier Jahre über Donald Trumps „America First“ Strategie echauffiert wurde, tun in Krisensituationen alle Staaten, die es sich leisten können genau das selbe. Hauptsache vor der eigenen Haustür kehrt die Normalität ein und das Wirtschaftswachstum zurück. Und während in Deutschland Provinzfürsten wie Markus Söder schon anfangen zu blöken, wie weit oben Polizist:innen auf der Impfprioritätenliste stehen sollen, ist in Ländern des globalen Südens noch nicht einmal absehbar, wann das medizinische Personal und die Risikogruppen geimpft werden können.

Was in all dem Tamtam untergeht ist allerding, dass es bei dieser globalen Verteilungsfrage tatsächlich um ein menschengemachtes Problem in einer kapitalistischen Gesellschaft handelt: Patente von Pharmaunternehmen sichern deren Profite und verhindern, dass Medikamente im großen Stil produziert und in den Staaten des globalen Südens verfügbar sind, obwohl dies technisch gesehen bereits möglich wäre.

Der Streit um die Patente

Das hat eine lange Tradition, denn der Streit um Patentrechte für Medikamente, zieht sich schon seit Jahrzehnten hin. Das TRIPS Abkommen von 1995 regelt handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, darunter fallen auch Patente für Medikamente und medizinische Forschungserfolge. Eines der federführenden Unternehmen, welches damals dieses Abkommen maßgeblich mitgeformt hat, war übrigens Pfizer. Pfizer hat jetzt einen der ersten Corona-Impfstoffe auf den Markt gebracht hat und wird von eben dieser Regelung profitieren. Die Patentierung von Medikamenten führt dazu, dass andere Firmen die „Rezepte“ nicht benutzen dürfen um die patentierten Medikamente „nachzubauen“, sondern warten müssen bis der Patentschutz ausläuft, was bis zu 20 Jahre dauern kann. „Generika“ nennt man solche Medikamente, mit den gleichen Wirkstoffen wie das Original Präparat, die sich höchstens in den Zusatzstoffen und Herstellungsprinzipien unterscheiden. Die Kosten für Generika betragen häufig nur einen Bruchteil des Originalpreises.

Patente und die HIV/AIDS Pandemie

Die bislang größte Auseinandersetzung um Generika betraf die Medikamente gegen das HI-Virus und die AIDS Erkrankung. Insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent wurden jahrzehntelange Auseinandersetzungen geführt. Bis Generika dort eingesetzt werden konnten, vergingen Jahre, hunderttausende Menschen starben in dieser Zeit, obwohl die lebensrettenden Medikamente längst vorhanden waren. Viele Länder des globalen Südens sind mittlerweile Mitglieder in der Welthandelsorganisation (WTO), was sie dazu verpflichtet ebenfalls dem TRIPS Abkommen zuzustimmen. Durch dieses Abkommen müssen sie wie oben bereits erwähnt, den Patentschutz auf Medikamente wahren. Ein großer Teil der HIV Medikamente kam auf den Markt, bevor viele Länder des globalen Südens dem TRIPS Abkommen beigetreten sind, daher konnten für diese, kostengünstige Generika produziert werden. Für neuere Medikamente gilt allerdings der Patentschutz. Viele Patient*innen müssen mit der Zeit auf Grund von Nebenwirkungen der alten Medikamente auf neuere Substanzen umgestellt werden, die ihnen nun verwehrt bleiben. Für sie bleibt also nur ein Abwägen zwischen Nebenwirkungen und einem möglichen Ausbruch von AIDS.

Einige Länder, unter anderem Deutschland, pochen auf Verschärfungen des TRIPS Abkommens, welches die Herstellung von Generika noch weiter erschweren würde. Unter anderem eine Konsequenz dieser Verschärfung wäre die Notwendigkeit Medikamentenstudien zu wiederholen, weil auch Forschungsdaten geschützt werden sollen. Das bedeutet einen enormen Kosten- und Zeitaufwand der häufig von Generikafirmen nicht gestemmt werden kann. In Deutschland muss sich jede medizinische Studie einer ethischen Prüfung unterziehen, beispielsweise dürfen Versuche an Menschen nur durchgeführt werden, wenn dadurch neue, essenzielle und nicht anders zu erlangende Kenntnisse erzielt werden können. Diese ethischen Überzeugungen enden offensichtlich an den EU Außengrenzen.

Die aktuelle Auseinandersetzung um die Coronaimpfstoffe

Als hätte man nichts gelernt aus der HIV-Pandemie geht derselbe Streit aktuell um die Corona-Impfstoffe von Neuem los. Die Industrie forscht an ihren Impfstoffen, behält die Nutzungsrechte an dem erlangten Wissen für sich und patentiert dann ihre Erfolge, damit sie bloß keiner nachahmen kann. Die Forschung für die Coronaimpfstoffe wird zu großen Teilen mit öffentlichen Geldern finanziert und die Gewinne werden privatisiert und einzelnen Firmen vorbehalten. Ein erster Versuch der WHO diesem Trend entgegen zu wirken, ist bereits gescheitert. Costa Rica regte an, einen Patentpool zu erstellen, in dem das Wissen und Technologien für Impfstoffe und Medikamente gegen Covid 19 gebündelt werden würde und mehr Ländern zur Verfügung gestellt werden würde.

Mit dem C-TAP genannten Programm sollten Forschungsergebnisse transparent gemacht werden und finanzielle Unterstützung für die Forschung sollte an Bedingungen geknüpft werden, wie zum Beispiel einen globalen Zugang und günstige Preise. Die Bundesregierung verweigert ihre Teilnahme an dem Programm, gleichzeitig investierten sie 500 Millionen in die Forschung privater Firmen. Während sich zahlreiche Länder des globalen Südens an diesem Projekt beteiligten, boten nur fünf EU Länder ihre Unterstützung an. In einem zweiten Versuch beantragten Südafrika und Indien wenigstens den Patentschutz für die Coronaimpfstoffe auszusetzen, was in Krisensituationen explizit im TRIPS Abkommen festgelegt wurde. Die EU, sowie die USA, Kanada und die Welthandelsorganisation lehnten diesen Antrag ab. Der Abgrund zwischen Nord und Süd wird weiter vertieft.

Bis ein Impfstoff den Ländern im globalen Süden ausreichend vorhanden sein wird, wird es noch lange dauern. Nur knapp 800 Millionen Impfstoffdosen sind bis jetzt für die ärmsten Länder vorgesehen. Die Prämisse der Pharmaindustrie ist und bleibt eben die Profitmaximierung; die Regierungen des globalen Nordens machen munter mit, und internationale Verträge sichern diese Profite ab – auf Kosten von Millionen Menschenleben.

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Das Ende des unipolaren Menschenrechtsimperialismus während der Trump-Ära.

Es wäre falsch, in schlechter bürgerlicher Tradition dem scheidenden US-Präsidenten vorzuwerfen, während seiner Amtszeit nichts Nennenswertes erreicht zu haben – selbst wandelnde Katastrophen wie Trump vollbringen zwangsläufig in vier Präsidentschaftsjahren einiges. Neben dem beschleunigten Ruinieren des Klimas und vieler lokaler Ökosysteme, der emsigen Förderung faschistischer Gruppierungen, sowie der Entfesselung der mit Abstand größten Pandemiewelle in den USA seit der Spanischen Grippe, kann der Rechtspopulist auch auf handfeste außenpolitische „Erfolge“ zurückblicken.

Anfang Mai 2017 kündigte Trumps damaliger Außenminister Rex Tillerson an, es künftig mit den bürgerlichen Menschenrechten nicht mehr so genau nehmen zu wollen, die immer wieder als Legitimation für US-Interventionen dienten. Tillerson degradierte dabei Menschenrechte zu „Werten“ der Vereinigten Staaten, die sich zunehmend zu „Hürden“ bei der globalen Verfolgung von US-Interessen entwickelten. „Dies sind unsere Werte. Aber sie sind nicht unsere Politik“, so der damalige Spitzendiplomat. Tillerson brachte somit schon 2017 die kommende außenpolitische Praxis Trumps – der sich in Gesellschaft von Diktatoren und Despoten wie Erdogan wohlfühlte – auf den Punkt.

Am Ende seiner Amtszeit kann konstatiert werden, dass diesem außenpolitischen Kurs Trumps ein durchschlagender Erfolg beschieden war. Menschenrechte spielen in der Legitimierung von Geo- und Außenpolitik kaum noch eine Rolle. Interventionen und Kriege, wie etwa die US-Invasion des Irak, die zuvor standardmäßig mit Demokratiedurchsetzung und Menschenrechten begründet wurden, gehören der Vergangenheit an. Seit dem Ende des Kalten Krieges bildete das propagandistische Repertoire des Menschenrechtsimperialismus die Begleitmusik westlicher Interventionen insbesondere in Bürgerkriegs- oder Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes: in Kosovo, Somalia, Afghanistan oder eben dem Irak.

Nun werden Kriege zumeist ohne diese pseudodemokratische Rhetorik geführt; oder sie ist dermaßen durchsichtig, dass sie kontraproduktiv ist – das nackte imperialistische Interesse tritt unverhüllt hervor. Eine Karikatur dessen lieferte ja gerade Trump selber, der trotz des strategischen Rückzugs, den er in vielen Weltregionen einleitete, punktuell durchaus militärisch intervenierte. Das Aufrechterhalten einer US-Präsenz in Nordostsyrien wurde etwa vom US-Präsidenten ausdrücklich mit der Ausbeutung der dortigen Ölquellen begründet, obwohl dies kaum praktikabel ist und diese im regionalen Vergleich unbedeutend sind.

Ungeschminkter Imperialismus wurde von Trump – der Amerika „wieder groß machen“ wollte – zur Staatsräson erhoben, während dieser faktisch als Totengräber der US-Hegemonie agierte. Die kolossal gescheiterte Strategie des scheidenden US-Präsidenten bestand darin, durch Protektionismus und Wirtschaftsnationalismus eine Reindustrialisierung der Vereinigten Staaten einzuleiten, während die kostspielige Militärpräsenz der US-Army, die faktisch als Weltpolizist des Westens tätig war, zurückgefahren werden sollte, um ausschließlich dem nationalen imperialen Interesse Washingtons zu dienen. Gefolgschaft und Zugeständnisse der westlichen Bündnispartner wollte Trump durch einen selektiven Zugang zum US-Binnenmarkt im Rahmen von Handelsabkommen (gegenüber Berlin), sowie durch die buchstäbliche „Vermietung“ der US-Militärmaschinerie als Schutzmacht sicherstellen (dies etwa in Polen, Südkorea). Die US-Hegemonie wandelte sich so zur bloßen, militärtechnisch grundierten Dominanz.

Die Abwicklung des Menschenrechtsimperialismus, von der Trump-Administration eingeleitet, wurde aber von den Mächten vollendet, die in das geopolitische Machtvakuum vorstießen, das Washington hinterließ. Für die Türkei, die in Konfrontation wie Kooperation mit Russland auf Expansionskurs ging, spielen solche Legitimationsmuster keine Rolle mehr. Erdogan ist beispielsweise in der Lage, den Krieg gegen Armenien in Bergkarabach unter verweis auf das Völkerrecht zu führen, und zeitgleich mit seiner Zweistaatenforderung in Zypern den Völkerrrechsbruch zu fordern. Die weitgehende Entsorgung des Völkerrechts ist gerade ein Merkmal des „multipolaren“ Imperialismus nach dem Ende der US-Hegemonie, der Erinnerungen an die Hochzeit des klassischen Imperialismus im 19. Jahrhundert aufkommen lässt. Legal, illegal, scheißegal – dies scheint die Devise dieses neuen Machtstrebens zu sein, das kaum noch ideologisch verschleiert wird.

Im Nahen Osten, dem Mittelmeerraum und dem südlichen Kaukasus hat sich folglich ein in permanenten Wandel befindliches und äußerst instabiles Machtgeflecht herausgebildet, bei dem – neben den USA – unter anderem die Türkei, Russland, der Iran, Frankreich, die BRD oder auch Saudi-Arabien als imperialistische Akteure nach größtmöglichen Einfluss streben – koste es, was es wolle. Die Auseinandersetzungen und Stellvertreterkriege – in Libyen, im Jemen, in Syrien und im Südkaukasus – der beteiligten Staaten gehen mit gleichzeitiger Kooperation in anderen Regionen oder Bereichen einher, etwa dem Pipelinebau im Schwarzen Meer zwischen Moskau und Ankara. Ähnlich verhält es sich bei der Bündnisbildung, die im Wochenrhythmus wechseln kann. Die islamofaschistische Türkei hat ihre geopolitische Schaukelpolitik zwischen Moskau, Berlin und Washington perfektioniert, um im Rahmen rasch wechselnder geopolitischer Vorstöße ihren neo-onsmaischen Expansionskurs zu forcieren. Gegen Griechenland und die EU gerichtete Provokationen im östlichen Mittelmeer wechseln sich mit Kriegen im Südkaukasus, im Hinterhof Russlands, ab.

Zurück in die Vergangenheit?

Als ob das spätkapitalistische Weltsystem in seine eigene Vergangenheit zurückreiste, etablieren sich im frühen 21. Jahrhundert faktische Grenzverschiebungen, Kriegsabenteuer und ethnische Säuberungen ganzer Landstriche (in Rojava wie in Bergkarabach) zu einer massenmörderischen Praxis imperialistischer Politik, die nun von einer Vielzahl von Staaten betreiben wird, die alle nur ein unerreichbares Ziel haben: so zu werden, wie es die USA einstmals waren. Der Hegemon ist abgestiegen – und zugleich ist aufgrund der Systemkrise kein Nachfolger in Sicht, der über die Ressourcen verfügte, ihn zu beerben. Dies versetzt die krisengebeutelte One World des Kapitals in einem permanenten Vorkriegszustand, bei dem die zunehmenden Spannungen und Kleinkriege jederzeit in eine Katastrophe eines Großkrieges umschlagen können (etwa zwischen den USA und China in Südostasien).

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich – diese alte imperialistische Konstante lässt sich nicht nur in Nahost, sondern auch beim Kampf um die Ressourcen Afrikas im frühen 21. Jahrhundert beobachten. Eine ganze Reihe von Akteuren, mitunter Schwellenländer umfassend, ist seit Jahren bemüht, in Konkurrenz mit den alten europäischen Mächten den jeweiligen Einfluss zu mehren. Die EU versucht etwa, die Staaten Afrikas durch Freihandelsverträge in einseitige Abhängigkeiten zu treiben, während die USA unter Trump ihr verstärktes Engagement auf dem geschundenen Kontinent ausdrücklich als ein Konkurrenzprojekt zu dem Expansionskurs Chinas und Russlands deklarierten.

Russland ist derzeit vor allem in Libyen und dem Sudan aktiv, ebenso die Türkei, die ihre alten imperialen Ambitionen in Ostafrika, im Sudan und Somalia, reanimieren will. China – im 19. Jahrhundert selber Objekt der Opiumkriege des britischen Imperialismus – unterhält inzwischen enge Beziehungen zu einer Vielzahl afrikanischer Länder, bei denen milliardenschwere Investitionen in Infrastruktur mit der Extraktion von Rohstoffen einhergehen. Auch Indien, Opfer des britischen „Late Victorian Holocaust“, ist auf dem afrikanischen Kontinent durch Kapitalexport präsent, etwa beim Land-Grabbing in Äthiopien.

Handelt es sich bei den geopolitischen Realitäten nach dem Zerfall der US-Hegemonie somit um ein bloßes Reenactment des 19. Jahrhunderts mit wechselnden Akteuren? Ein zentrales Merkmal des neuen imperialistischen „Great Game“ macht klar, dass dem nicht so ist: der imperialistische Expansionsdrang geht mit Abschottungsbestrebungen einher. Kaum ein Staatschef verkörpert diese seit längerem bestehenden Tendenzen zum großen Mauerbau in den Zentren stärker als Donald Trump, wobei die diesbezügliche mörderische Abschottungspraxis in den USA und der EU sich kaum unterscheidet.

Imperialistische Politik im frühen 21. Jahrhundert zielt somit nicht nur auf Ressourcenraub in der Peripherie ab, sie ist zugleich bemüht, die Abschottung der Zentren gegenüber den Massen ökonomisch überflüssiger Menschen in der Peripherie zu perfektionieren – etwa bei der Finanzierung und dem Umdeklarieren libyscher Milizen zu „Grenzschutzkräften“ durch die EU. Flüchtlinge aus den ökonomisch abgehängten und durch Entstaatlichungskriege verwüsteten Zusammenbruchsgebieten des Weltmarkts werden überdies als geopolitische Waffe eingesetzt. Diese Taktik hat der türkische Islamofaschismus gegenüber der EU zur Anwendung gebracht, um ökonomische und politische Konzessionen von Berlin zu erpressen. Die Intervention der Türkei in Libyen zielte nicht nur auf die Kontrolle der dortigen Energieträger und die Annektion libyscher Seegebiete im Rahmen eines „Vertrags“ mit islamistischen Milizen ab, sondern auch auf die Kontrolle der entsprechenden Fluchtrouten, um so einen weiteren Hebel bei Machtkämpfen mit Brüssel zu erlangen.

Expansion und Abschottung

Demgegenüber fehlt ein weiteres Moment des „klassischen“ Imperialismus nahezu vollkommen: die massenhafte Ausbeutung der Lohnabhängigen des globalen Südens. Es reicht, sich beispielsweise in Erinnerung zu rufen, dass Europas historische Expansion auch durch den Hunger nach Arbeitskräften getrieben war, die durch Sklavenarbeit in den Plantagen der „Neuen Welt“ ausgebeutet werden konnten. Die Blutspur dieser Ausbeutung von Arbeitskräften reicht vom Genozid an den Ureinwohnern Amerikas, über den berüchtigten „atlantischen Dreieckshandel“ mit afrikanischen Sklaven in der frühen Neuzeit, bis zur mörderischen Auspressung des Kongos durch die Belgier, die Afrikanern massenhaft die Hände abhacken ließen, wenn diese die vorgegebenen Arbeitsnormen nicht erfüllten. Der belgische König Leopold II. reagierte auf entsprechende Anschuldigungen in der Presse empört: „Hände abhacken, das ist idiotisch! Ich würde eher alles übrige abschneiden, aber doch nicht die Hände. Genau die brauche ich doch im Kongo!“

Niemand würde heutzutage auf die Idee kommen, dass die neoimperialistischen Interventionen der vergangenen Dekaden ausgerechnet deswegen unternommen wurden, um die „Hände“ der einheimischen Bevölkerung zur Sklavenarbeit zwingen zu können. Der Charakter des Imperialismus in der historischen Krisenphase des Kapitals unterscheidet sich somit tatsächlich grundlegend vom Imperialismus in der Expansions- und Aufstiegsphase des kapitalistischen Weltsystems. Die Ausbeutung von Arbeitskräften des globalen Südens ist im Spätkapitalismus in ihr Gegenteil umgeschlagen – in die Exklusion von Arbeitskräften. Dies vollzieht sich einerseits marktvermittelt durch die zunehmenden Produktivitätsungleichgewichte zwischen Zentren und Peripherie, durch Agrarsubventionen und durch erpresserische Freihandelsverträge, die Kleingewerbe und bäuerliche Agrarstrukturen in der Peripherie zerstören. Die EU und die USA „produzieren“ faktisch die Fluchtbewegungen, die von der Neuen Rechten in beiden Regionen dann verteufelt werden.

Aber auch die direkten Kapitalinvestitionen in der Peripherie, etwa in exportorientierte Agrarprojekte, führen oftmals schlicht zu Land Grabbing und zur Enteignung der lokalen Bevölkerung, wobei der niedrige Arbeitskräftebedarf auf den effizient aufgebauten Plantagen eine breite Transformation der vertriebenen Bevölkerung in Lohnarbeiter unmöglich macht. Überlides werden viele strategisch wichtige Rohstoffe in den ökonomischen Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes – etwa im Kongo – unter brutalsten und archaisch anmutenden Bedingungen von Milizen und sonstigen postsaatlichen Rackets gefördert, um dann durch eine Kette von Zwischenhändlern und Zuliefern ihren Weg auf den Weltmarkt und in die Hightech-Geräte der globalen Mittelklasse zu finden. (Einschränkend ließe sich aber durchaus diskutieren, inwiefern die umfassenden chinesischen Kapitalexporte in Afrika dem Kontinent eine objektive Entwicklungschance innerhalb der engen systemischen Zwänge bieten, da die Volksrepublik inzwischen zum größten Investor Afrikas avancierte, der auch wichtige Infrastrukturprojekte finanziert.)

Von den Charakteristika des „klassischen“ Imperialismus ist beim gegenwärtigen Krisenimperialismus vor allem das Bemühen um Kontrolle der Energieträger und Ressourcen der Peripherie übrig geblieben. Diese imperialistischen Tendenzen, bei denen Expansion mit Abschottung einhergeht, lassen sich nur dann vollauf begreifen, wenn imperialistische Praxis mit dem historischen Krisenprozess des kapitalistischen Weltsystems in Zusammenhang gebracht wird.

Die einzelnen Staatssubjekte versuchen nach dem partiellen Rückzug der USA, in alter imperialistischer Manier ihre Machtmittel zu mehren. Neben dieser „subjektiven“ Ebene, auf der die einzelnen geopolitischen Subjekte agieren, muss aber die „objektive“ Ebene berücksichtigt werden, auf der sich die Krise des Kapitals entfaltet und den geopolitischen Akteuren in Form zunehmender innerer Widersprüche und „Sachzwänge“ gegenübertritt. Die Charakteristika des Krisenimperialismus ergeben sich somit aus der Wechselwirkung zwischen den geopolitischen Subjekten und dem objektiven Krisenprozess, der sich hinter dem Rücken der Subjekte entfaltet. Auch die mächtigsten „Imperialisten“ agieren als Getriebene der eskalierenden inneren Widersprüche des Kapitalverhältnisses.

Hieraus entspringt die für den Krisenimperialismus charakteristische Form der „negativen“ Krisenkonkurrenz, in der die Großmächte ihre eigene Stellung im erodierenden Weltsystem nur noch auf Kosten des Abstiegs anderer Konkurrenten vorübergehend halten können (was ja auch die zunehmende Konkurrenz zwischen der EU und den USA erklärt). Der gegen die Peripherie gerichtete Ausgrenzungsimperialismus geht mit dieser Ausscheidungskonkurrenz – eine Art geopolitischen Kampf auf der Titanic – innerhalb der erodierenden Zentren einher. Gerade deswegen wächst die Gefahr eines Großkrieges im 21. Jahrhundert.

Die zunehmenden inneren Widersprüche sollen hierbei durch äußere Expansion überbrückt werden, wie es ja auch im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges der Fall war – mit dem Unterschied, dass nun das vom Spätkapitalismus akkumulierte Vernichtungspotential der menschlichen Zivilisation, ja der Gattung Mensch jederzeit ein Ende bereiten könnte. Der Expansionskurs der Türkei im allgemeinen, wie auch die von Ankara unterstützte Aggression Aserbaidschans gegen Armenien, bilden aktuelle Beispiele für diese imperialistische Krisentendenz (Kurz vor dem Angriff auf Berg Karabach bedrohten zunehmende soziale Unruhen die Macht Alijews).

Krise und die neue imperialistische Erhlichkeit

Die Krise sitzt somit allen spätkapitalistischen Staatsmonstern im Nacken – und sie versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten, durch diverse Formen der politischen oder ökonomischen Expansion, mitunter durch blanke militärische Aggression, die Krisenfolgen auf andere Staatssubjekte abzuwälzen. Trump selber ist ja gerade ein politisches Symptom dieser Krise – er kam 2016 hauptsächlich durch die Stimmen der abgehängten weißen Arbeiterklasse aus dem ehemals demokratischen „Rostgürtel“ der USA an die Macht.

Aus diesem Krisenprozess resultieren folglich die Tendenzen zur Barbarisierung imperialistischer Praxis, deren Symptom der Eingangs geschilderte Abschied des Westens vom Menschenrechtsimperialismus ist. Die Bereitschaft, sich bei der Rechtfertigung imperialer Aggression nicht mehr auf Menschenrechte und Völkerrecht zu berufen, somit Ideologie über Bord zu werfen, verweist zuallererst auf die Gesellschaften des Zentrums selber.

Dieser Menschenrechts-Diskurs war ja praktisch ein Überbleibsel des Kalten Krieges, als der Staatssozialismus der imperialistischen Gewaltanwendung des Westens in der Peripherie doch gewisse Grenzen setzte. Der Menschenrechtsdiskurs nach dem ende der Systemkonkurrenz wies aber einen ambivalenten Charakter auf. Menschenrechte fungierten auf geopolitischer Ebene einerseits als Ideologie. Sie dienten dazu, ein falsches Bewusstsein zu schaffen, mit dem Kriege gerechtfertigt werden konnten. Anderseits waren sie – auch in ihrer kapitalistisch verkürzten, um jede soziale Dimension beraubten Form – weiterhin gesellschaftlich wirksam.

Dies war vor allem deswegen der Fall, weil es in den Zentren des Weltsystems noch eine breite Mittelschicht gab, die diese bürgerlichen Werte – wenn auch unvollkommen – verwirklicht sah und an ihren universellen Anspruch glaubte. Es gab folglich eine gesellschaftliche Nachfrage nach der Verklärung der brutalen kapitalistischen Realität in der zunehmend zerfallenden Peripherie des Weltsystems. Dies ist – gerade in den USA – nicht mehr der Fall. Die breite amerikanische Mittelschicht, in der noch ein massenhafter Bedarf nach einem menschenrechtspolitischen „Weichzeichner“ der imperialen Realität herrschte, befindet sich seit dem Krisenschub von 2008 in Auflösung. Folglich zerfällt auch der ideologische Schleier, der diese Phase des „Mittelklassekapitalismus“ kennzeichnete.

Die zunehmende Härte des alltäglichen Existenzkampfes im Spätkapitalismus lässt somit die menschenrechtspolitische Legitimierung von Ausbeutung, Marginalisierung und Unterdrückung auch auf geopolitischer Ebene als unnötigen Ballast erscheinen. Illusionen über den barbarischen Zustand des Spätkapitalismus will man sich nicht mehr leisten. Die imperialistische Logik – zuvor noch durch die übliche Freiheitsrhetorik maskiert – wurde von Trump Außenminister direkt, in aller Brutalität formuliert: Amerika soll wieder groß werden, gerade durch die rücksichtslose Vertretung des nationalen Interesses. Dies ist letztendlich das Angebot des Imperialismus an die erodierende und krisenbedingt angstschwitzende Mittelklasse: Ihr Reproduktionsniveau soll auf Kosten der Konkurrenz, der Peripherie gehalten werden. Und es ist eben diese barbarische Leistung der Trump-Administration, auf der seine Nachfolger aufbauen können.

Der von regressiven Antiimps aller Couleur innigst gehasste Adorno bemerkte schon auf dem Höhepunkt des fordistischen Nachkriegsbooms hellsichtig, dass es sich bei Ideologie letztendlich um ein Luxusgut handelt: „Zur Ideologie im eigentlichen Sinn bedarf es sich selbst undurchsichtiger, vermittelter und insofern auch gemilderter Machtverhältnisse.“ Die „gemilderten“ Machtverhältnisse weichen aber für immer größere Teile der Bevölkerung der Zentren dem offenen Terror der amoklaufenden Ökonomie. Die offene Verelendung und die offene Gewalt machen Ideologie überflüssig. Insofern kommt der Abschied von der „gemilderten“ Form des Menschenrechtsimperialismus einem weiteren Abstieg in die offene Barbarei gleich. Nicht die imperialistische Politik wurde von Trump aufgegeben, sondern deren „Maskierung“ in Menschenrechtsrhetorik. Seine Anhängerschaft, die diese Haltung als „Ehrlichkeit“ und „Geradlinigkeit“ bewundert, geht somit in offene Bejahung des Imperialismus über, der ohne jedwede Legitimierung auskommt.

Es ist der Tod der Ideologie, der sich in den USA als den avanciertesten Metropolenstaat andeutet (und den der Rest der Welt mit der üblichen Verzögerung nachvollziehen wird). Die Herrschaftsverhältnisse treten ungeschminkt hervor, ohne Legitimierung. Die Welt ist ein Höllenloch. Es ist, wie es ist. Und wir wollten herrschen – auf diesen Nenner lässt sich diese durch Trump vollführte Kehrtwende, die seinem geopolitischen Erbe entspricht, bringen.

#Titelbild: Töten und Sterben fürs Kapital – US-Soldaten während einer Luftlandeübung in Deutschland The U.S. Army/CC BY 2.0

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Starbucks pflegt ein Wohfühl und FairTrade-Image, an dem am Ende wenig real ist. Direkt in Deutschland betreibt Starbucks, wie in der Systemgastronomie üblich, rabiates UnionBusting.“ Am Freitag, den 13. November 2020 finden deswegen in mehreren deutschen Städten Aktionen gegen Starbucks statt. Interview mit Elmar Wigand von arbeitsunrecht über die Hintergründe.

Was hab ihr gegen Starbucks?

Starbucks bekämpft Betriebsräte. Starbucks beutet die Beschäftigten aus und hält sie mit Ketten-Befristungen gefügig. Starbucks betreibt systematische Steuerhinterziehung, die aufgrund viel zu lascher staatlicher Regulierung und Strafverfolgung in Deutschland leider bislang legal ist.

Ganz konkret unterstützen wir mit unserem Aktionstag den Betriebsratsvorsitzenden Michael G. aus Berlin. Er hat inzwischen über ein Dutzend böswillig konstruierter Kündigungsversuche angesammelt. Wir fordern seine Wiedereinstellung und ein Ende der Repressalien gegen aktive Betriebsräte.

Sticht Starbucks durch Union Busting gegenüber anderen Ketten besonder hervor?

Starbucks folgt im Wesentlichen der Strategie von McDonalds, dem Vorreiter der US-amerikanischen Systemgastronomie in Deutschland. Starbucks arbeitet wie McDonalds nach dem Franchise-Prinzip. Das Management von Starbucks sitzt, ebenso wie das von McDonalds, in München.

Bis in die 1990er war die Maxime: keine Betriebsräte, keine Tarifverträge. Durch öffentlichen Druck haben Starbucks und McDonalds diese Linie aufgeweicht und gehen nun raffinierter vor. Starbucks ist dem Bundesverband der Systemgastronomie beigetreten, den McDonalds 1988 gegründet hat, um den Tarifvertrag der Dehoga (Deutscher Hotel- und Gaststättenverband) zu unterlaufen. Dabei ist der Dehoga-Tarif schon ziemlich bescheiden. So gibt es inzwischen zwar einige wenige Betriebsräte bei Starbucks — schätzungsweise weniger als 15 bei 165 Filialen in Deutschland — aber davon sind die meisten eingeschüchtert oder trojanische Pferde des Managements.

Wer bei Starbucks tatsächliche eine unabhängige Interessenvertretung für die Beschäftigten im Sinn hat und bereit ist, Forderungen aufzustellen, die unweigerlich Konflikte mit dem Management bedeuten, der bekommt die volle Breitseite der Zermürbungsstrategien ab: Abmahnungen, Schikanen, Kündigungsversuche, Mobbing. Ziel des Starbucks-Managements ist es, unliebsame Elemente aus dem Betrieb zu entfernen und aktive Betriebsräte zu zerschlagen. Nach außen hin leugnen und verschleiern Firmen-PR und Anwälte das aber.

Was hat es mit dem Franchise-System auf sich?

Manche Fillialen betreibt die Münchener Zentrale selbst, die meisten werden an Franchise-Nehmer verkauft. In Deutschland gingen sie an den globalen Franchise-Großunternehmer AmRest, der auch sämtliche deutschen Filialen von Pizza-Hut betreibt. AmRest wurde vom ehemaligen Pepsi-Cola-CEO Donald M. Kendall gegründet, dem Mann, der Pepsi nach Russland brachte, nach dem Zerfall der UdSSR. AmRest ist besonders in Osteuropa stark und betreibt dort Filialen verschiedener US-Franchiseketten wie auch Burger King und KFC.

Zurück zum Franchise-Prinzip. Wie geht das?

Die Filialen und ihr Management haben strikte Vorgaben zu erfüllen und müssen sämtliche Produkte und Werbematerialen von der Zentrale abnehmen. Über das Franchise-Prinzip erfolgt auch die legale Steuerhinterziehung. Die Gewinne der Starbucks-Filialen werden klein gerechnet durch horrende Lizenzgebühren, die nach Amsterdam überwiesen werden müssen. So zahlt Starbucks in Deutschland fast keine Unternehmenssteuern, denn Niederlande ist eine Steueroase. Das hat die ZDF-Sendung, die Anstalt in einer Sendung vom 28.10.2014 schön heraus gearbeitet.

Welche Rolle spielt Starbucks in Deutschland und welche Rolle spielt der deutsche Markt für Starbucks?

Starbucks ist im Vergleich zu McDonalds in Deutschland mit ca. 165 Filialen ein ganz kleiner Fisch. Auch die geschätzten 160 Millionen Euro Umsatz in Deutschland gelten in der Branche als Peanuts. McDonalds hat im Vergleich fast 1.500 Filialen in Deutschland und erzielt 3,8 Milliarden. Der Marktführer der Kaffee-Bars ist derzeit Segafredo. Die haben seit 2018 ein massives Wachstum hingelegt und laut Statista im Jahr 2019 derzeit 354 Filialen. Weltweit sieht die Sache anders aus. Da ist Starbucks der Marktführer mit einer intergrierten Wertschöpfungskette vom Kaffee-Anbau im Trikont bis hin zu Starbucks-Lizenzprodukten in Supermärkten, die von Nestlé vertrieben werden. Der weltweite Umsatz belief sich im Jahr 2019 auf rund 26,5 Milliarden US-Dollar. Starbucks belegt mit über 46,8 Millionen US-Dollar Markenwert den zweiten Platz im Ranking der wertvollsten Fast-Food-Marken weltweit. Das einzige was in Deutschland diesem Ruf als Big Player gerecht wird ist die Bekanntheit der Marke. Zwei Drittel der Deutschen kennen laut Umfragen das Starbucks-Logo. Deutschland ist ansonsten ein Starbucks-Entwicklungsland. Dennoch ist es für einen globalen Konzern wichtig, auch hier an Orten sichtbar zu sein, die ein internationales Publikum besucht: Bahnhöfe, zentrale Shopping-Meilen, Tourismus-Hot-spots.

Wem gehört das Unternehmen eigentlich?

Den üblichen Verdächtigen. Die größten Anteilseigner sind aggressiven Finanzinvestoren wie Vanguard mit 7,7 % der Aktien, Blackrock (7,2%), State Street (2,7%), Magellan Asset Management (2,7%) und der Starbucks-Gründer Howard Schultz mit 2,9 %, was im Juni 2020 ein unglaubliches Vermögen von 2,3 Milliarden ausmachte.

Was können wir tun, um gegen diese imperialen Mächte anzukämpfen?

Der Aktionstag #Freitag13 dürfte dazu beitragen, die Ausbreitung von Starbucks in Deutschland klein zu halten. Zudem wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Systemgastronomie eine von Grund auf üble Sache ist. Wir sollten neben klassischem Organizing, das in der Systemgastro stark ausbaufähig ist, auch unsere Macht als Konsument*innen stärken. Sprich: Boykott und Image-Korrekturen.

Kann ein Aktionstag wie #Freitag13 überhaupt etwas bewirken?

Wir gehen davon aus, dass es für jedes Unternehmen ärgerlich ist, wenn dessen Marke mit Ausbeutung und schmutzigen Methoden assoziiert wird. Starbucks ist hier besonders angreifbar, weil die Produkte überteuert sind. Der Preis wird durch „Fair trade“ und Wohlfühlatmosphäre gerechtfertigt. Das Starbucks-Image ist inwendig hohl.

Das Format #Freitag13 hat bereits richtig weh getan: Der Essenskurier Deliveroo flüchtete regelrecht aus Deutschland, der H&M-Aktienkurs rutschte 2017 ab. Am 13.9.2019 sind wir gegen Werkverträge bei Tönnies vorgegangen; jetzt steht das gesetzliche Verbot in der gesamten Fleischindustrie an.

Was können die Leser*innen des Lower Class Magazines konkret tun?

Die Starbucks Beschäftigten brauchen flankierende Maßnahmen kritischer, solidarischer Konsument*innen!

Wir rufen zum unbefristeten Konsum-Streik gegen Starbucks auf bis unsere zentralen Forderungen erfüllt sind: Betriebsratswahlen, Schutz aktiver Betriebsräte, Schluss mit Ketten-Befristungen. Hier könnt ihr euch online anschließen: https://arbeitsunrecht.de/starbucks.

Außerdem stellen wir Flublätter zum download bereit, die ihr in Supermärkten und Starbucks-Filialen hinterlassen könnt: https://arbeitsunrecht.de/freitag13_starbucks/#mitmachen.

Elmar Wigand ist Pressesprecher der Aktion gegen Arbeitsunrecht. Mehr zum Aktionstag #Freitag13: https://arbeitsunrecht.de/fr13

#Titelbild: arbeitsunrecht, Elmar Wigand vor Starbucks am Neumarkt in Köln

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Mit einem trilateralen Abkommen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland wurde nach 44 Tagen der Krieg um die umstrittene Region Berg-Karabach beendet. Analyse eines dramatischen Zerfalls Armeniens und einer neuen politischen Situation in der Region.

Seit dem 10. November schweigen die Waffen. Rund 2.000 russische Soldaten überwachen den Waffenstillstand in der Region, die die Armenier*innen Arzach nennen und das bis vor kurzem die selbst erklärte Republik Arzach war. Der Krieg, der jetzt vorerst vorbei scheint, begann am 27. September mit einem groß angelegten Angriff seitens Aserbaidschans mit Hilfe der Türkei. Obwohl die armenische Armeeam Anfang einige Abwehrerfolge erzielen konnte, wurde mit der Zeit die türkisch-aserbaidschanische Überlegenheit zu groß. Besonders mithilfe der türkischen und israelischen Drohnen konnte Aserbaidschan zusammen mit den von der Türkei rekrutierten islamistischen Dschihadisten an der Südfront vorrücken. Da das Gelände dort flach ist, kontrollierte Aserbaidschan nach rund vier Wochen die südliche Grenze zum Iran, während sich Armenien in die Berge zurückzog. Die Drohnen erwiesen sich als sehr effizient und waren kriegsentscheidend: Obwohl die Verluste Aserbaidschans in die tausenden gehen, konnte damit regelmäßig vorgerückt werden.

Die entscheidende Schlacht begann um die Stadt Shushi, den die Aserbaidschaner*innen Shusha nennen und die im nationalen Mythos eine große Bedeutung hat, weil viele Schriftsteller*innen und Poet*innen aus erStadt kommen, die nur vier Kilometer von der Hauptstadt Azrachs,Stepanakert, entfernt liegt. Am 29. Oktober sagte der Präsident der Republik Arzach, Arayik Harutyunyan, dass die aserbaidschanischen Truppen nur fünf Kilometer vor der Stadt seien: „Wer Shushi kontrolliert, kontrolliert Arzach”, so die Aussage, die auch zutreffend beim letzten Krieg war, als die armenischen Partisan*innen die Stadt im Handstreich erobern konnten und von da an einen strategischen Vorteil hatten.

Doch Shushi wurde de facto ohne Kampf aufgegeben, am 8. November die Evakuierung der Stadt angeordnet. Spätestens als dann der aserbaidschanische Diktator Ilham Aliyev die Stadt für “befreit” erklärte und das Verteidigungsministerium in Baku entsprechende Bilder verbreitete, kam es zu einem beispiellosen Zerfall der armenischen Front, ja des armenischen Staates ingesamt.

Was besagt das Abkommen?

Bis zum Redaktionsschluss war nicht bekannt, wo sich der armenische Premierminister Nikol Paschinyan befindet. Paschinyans Verschwinden hängt damit zusammen, dass sich im Land eine enorme Wut gegen ihn richtet, weil er nach eigener Aussage das trilaterale Abkommen, das den Krieg beendet hat, unterzeichnet hat. Was besagt dieses Abkommen? Im Grunde ist es eine Kapitulation Armeniens und eine nationale Demütigung:

  • Ab dem 10. November tritt ein Waffenstillstand ein, beide Kriegsparteien bleiben an ihren Positionen; russische „Friedenstruppen” sorgen für die Einhaltung dessen
  • Armenien zieht sich in dei Phasen bis zum 1. Dezember aus den sieben umliegenden Provinzen zurück, Aserbaidschan übernimmt
  • Karabach wird de facto aufgeteilt, Aserbaidschan behält die eroberten Gebiete, wie Hadrut und Shushi; der Status der Region bleibt unklar
  • Der Rest von Azrach mit Stepanakert bleibt armenisch, die Versorgung über den Lachin-Korridor unter russischer Kontrolle sichergestellt
  • Die über 90.000 Geflüchteten aus Azrach können in die Restgebiete Karabachs zurückkehren
  • Austausch von Gefangenen und toten Soldaten
  • Aserbaidschan bekommt über Südarmenien eine direkte Verbindung zu seiner Enklave Nachitschewan. Diese Verbindung wird vom russischen Geheimdienst FSB überwacht.

Für Aserbaidschan bedeutet dieses Abkommen einen enormen Gewinn, besonders hinsichtlich der sieben Provinzen und der Einnahme Shushis. Das Land hatte infolge der letzten Kriegsniederlage ein tiefes nationales Trauma erlitten und rund 700.000 Geflüchtete im eigenen Land. Selbst heute noch bilden die Geflüchteten 7 Prozent der aserbaidschanischen Gesellschaft. Einige von ihnen sind zwar zum Beispiel nach Russland immigriert, andere wiederum werden sicherlich in diese Provinzen zurückkehren. Es bleibt aber fraglich, wie ihre soziale Lage inmitten eines hochmilitarisierten Gebiets sein wird, zumal seitens der Diktatur wenig Unterstützung kommen wird. Die Regierung kümmerte sich schon in den 90er-Jahren kaum um die Geflüchteten, sodass diese sogar Jahre später noch in Lagern lebten.

Karte: wikimedia commons emreculha, CC BY-SA 4.0,

Der letzte Punkt wiederum ist vielleicht der brisanteste, auch wenn er derzeit nicht so im Rampenlicht steht: Es ist die Realisierung der panturkistischen Träume von Reçep Tayyip Erdogan, da die Türkei damit eine direkte Verbindung bis nach Baku, zum ölreichen Kaspischen Meer bekommt. Für die Türkei bedeutet das die Etablierung im Südkaukasus, nachdem sie im Krieg quasi Kriegspartei war und an den Planungen und Durchführungen der Militäroperationen direkt beteiligt war. Anfang Oktober schoss ein türkischer F-16-Kampfjet sogar einen armenischen Kampfjet über armenisches Territorium ab; immer wieder heizte Ankara den Krieg unter dem panturkistischen Motto “Eine Nation, zwei Staaten” den Krieg an und drohte offen mit einer direkten Intervention.

Erdogan wird sich in dem Einsatz der islamistischen Söldner bestätigt sehen und diese als nächstes gegen Rojava einsetzen, da sie zusammen mit Aserbaidschan als klare Gewinner des Krieges rausgehen. Zwischenzeitlich war sogar auch von türkischen “Friedenstruppen” die Rede, die ebenfalls zusammen mit den russischen Streitkräften das Abkommen (das zunächst für fünf Jahre gilt) überwachen sollten, aber das wird nicht der Fall sein und wäre angesichts der türkischen Aggressionen blanker Zynismus. Nichtsdestotrotz wird die Türkei ihren Einfluss auf Aserbaidschan ausweiten und sehr wahrscheinlich eine Militärbasis im Land aufbauen. Mehrere hundert Militärangehörige waren die gesamte Zeit über im Land: Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar war bei der Lancierung des Angriffs sogar im Kommandostab dabei.

Die Türkei hat es damit trotz großer eigener wirtschaftlicher Probleme geschafft, im Südkaukasus einen Zwischenerfolg zu erringen und das in einer Zeit, wo im Land selbst der Hunger wächst, wie der Kolumnist Bülent Mumay für die FAZ schreibt: “Der Konsum roten Fleisches ist im Laufe der vergangenen zwölf Monate um dreißig Prozent gesunken. Der Verkauf von Nudeln, einem der günstigsten Nahrungsmittel, stieg um 25 Prozent. Einer universitären Studie zufolge reicht in 38 Prozent der Haushalte das Geld nicht mehr für den Lebensmittelbedarf aus. Siebzig Prozent der Bürger kommen kaum über die Runden. Aus Verzweiflung häufen sich die Suizide. In den letzten fünf Jahren, die wir in der Wirtschaftskrise stecken, setzten 1380 Personen ihrem Leben aus wirtschaftlicher Not ein Ende.”

Hinzukommen 20.000 Verhaftungen von HDP-Politiker*innen in den letzten vier Jahren, die letzte große Welle gab es jüngst kurz vor Beginn des Krieges. Der Krieg der Türkei in Arzach war damit die Fortsetzung des Krieges im Inneren, aber es wird zu sehen sein, wie lange diese fragile Balance noch anhalten wird.

Die Bourgeoisie führt das Land in den Ruin

Auf der anderen Seite mutierte Armeniens Premierminister Nikol Paschinyan aufgrund der Unterzeichnung des Abkommens zur Hassfigur.. In der Nacht zum 10. November stürmten tausende Demonstrant*innen das Parlament und das Regierungsgebäude. Der Parlamentssprecher Ararat Mirzoyan wurde fast zu Tode geprügelt und liegt im Krankenhaus. Stundenlang war von Paschinyan selbst nichts zu hören, ehe er sich mitten in der Nacht per Livevideo von seinem privaten Facebook-Account meldete — allein diese Tatsache zeigt deutlich den dramatischen Zerfall der armenischen Staatsstrukturen. Die Regierung ist abgetaucht, die Armee in Auflösung begriffen und die oligarchische Opposition um den 2018 gestürzten Sersch Sargsyan in Lauerstellung für einen Putsch. Selbst der armenische Präsident Armen Sarkisyan erklärte, dass er von dem Abkommen durch die Presse erfahren habe.

Es herrscht eine desaströse Situation im Land, wo ein Teil den Kopf von Paschinyan fordert und in ihm den größten Verräter in der armenischen Geschichte sieht. Dieser wehrt sich und erklärte in seinem Livevideo, dass die korrupte Oligarchie um die ehemaligen Machthaber Robert Kocharyan und Sersch Sargsyan die Verantwortung für die militärische Niederlage trage, da sie das Land 25 Jahre ausgeplündert und die Armee unterfinanziert habe. Beide Tatsachen sind unbestritten richtig, aber das Problem sind nicht einzelne Personen, die Oligarchen, sondern die Klassenherrschaft der Bourgeoisie insgesamt. Armenien war im Krieg von Anfang gewaltig im Nachteil, nicht nur was die Ausrüstung anging (Aserbaidschans Militärbudget ist größer Armeniens gesamter Haushalt), sondern auch, was die Unterstützung von außen anging: Russland verhielt sich äußerst passiv und reagierte selbst dann nicht, als kurz vor dem Abkommen ein russischer Militärhubschrauber über Armenien von Aserbaidschan abgeschossen wurde und zwei russische Soldaten starben.

Zwar wurden die moskauhörigen Machthaber wie Kocharyan und Sargsyan nach der demokratischen Massenbewegung 2018 vor Gericht gebracht, allerdings fand eine Verurteilung, geschweige denn eine Enteignung ihrer riesigen Vermögen nie statt. Während es den Selbstverteidigungskräften Arzachs, die zu Recht für ihr Selbstbestimmungsrecht kämpften, sogar Schutzkleidung mangelte, wurde das Vermögen der reichen Bourgeoisie nicht angetastet. Während in der Diaspora für Armenien gespendet wurde und alleine über den zentralen Hilfsfonds Himnadram 160 Millionen US-Dollar zusammenkamen, wurde zur gleichen Zeit einer reichsten Menschen des Landes, Gagik Tsarukyan, aus der Untersuchungshaft entlassen und plant zusammen mit der alten Elite ein politisches Comeback. Er unterzeichnete zusammen mit 16 weiteren (teilweise sehr kleinen) Parteien noch vor der Unterzeichnung des Abkommens ein Dokument, das den Rücktritt der Regierung forderte. Mit dabei ist auch die Partei von Sersch Sargsyan, der aber im Land weiterhin sehr unpopulär ist.

Armenien konnte im Zuge der sogenannten Samtenen Revolution wirtschaftlichen Fortschritt und demokratische Errungenschaften vorweisen. Es bleibt nicht zu vergessen, dass das armenische Proletariat nach jahrzehntelanger neoliberaler Indoktrination am 2. Mai 2018 ein fulminantes Comeback hinlegte und mit einem spektakulären Generalstreik dafür sorgte, dass letztendlich Paschinyan Premierminister wurde. Anfang Dezember 2018 fanden in Armenien nach sehr langer Zeit wieder freie Wahlen statt, auch die Presse- und Versammlungsfreiheit besserte sich. Nun aber stehen diese Errungenschaften auf dem Spiel, weil nicht nur politisches Chaos herrscht, sondern sogar ein Bürgerkrieg droht.

Das Abkommen zementiert auch die politische Herrschaft des Kremls über Armenien: Russland zwang dieses Abkommen Yerevan auf und verwandelt das Land damit in seine eigene Kolonie. Die Tatsache, dass Arzach aufgeteilt und unter russischer Herrschaft gestellt wird, ist eine Tatsache, eine andere, dass der FSB die Routen Armeniens mit Aserbaidschan und dem Iran überwacht. Russland ist schon länger für die Überwachung der Grenzen zur Türkei und dem Iran zuständig und hat eine eigene, souveräne Militärbasis im Land und weitet diese Präsenz nun weiter aus. Das Abkommen ist auch eine Bestrafungsaktion dafür, dass die liberale Regierung es wagte, sich mehr in Richtung Westen zu bewegen, freilich ohne mit Moskau zu brechen (im Gegensatz etwa zu den rein westlich orientierten ehemaligen Präsidenten Michail Saakaschwili in Georgien oder Petro Poroschenko in der Ukraine).

Dieser Krieg hinterlässt eine tiefe Wunde im nationalen Bewusstsein der Armenier*innen, nicht nur weil es eine Niederlage gab, sondern wie diese Niederlage zustande kam. Tausende Soldaten starben, mehr als 90.000 Menschen sind geflüchtet, sodass gleichzeitig eine ethnische Säuberung stattfand und die Bilder der flüchtenden Konvois nur allzu sehr an die Bilder auf Afrin 2018 erinnern, die ebenfalls Opfer der türkisch geführten Aggression wurden. Zusammen mit der heftig wütenden Corona-Pandemie im Land und einer kommenden politischen Machtprobe befindet sich das Land am Abgrund und so wie es aussieht, wird die nächste Regierung sowieso unter der Kontrolle Russlands stehen.

Aber das ist die Geschichte Armeniens über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg, eine Geschichte des Überlebens. Auch wenn die unmittelbare Zukunft düster aussieht und viel Ungewissheit mit sich bringt, bleibt der Geist der Massenmobilisierungen und des Generalstreiks im Gedächtnis.

# Titelbild: ANF, Ein zerstörtes Haus in Shuhsi

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Am morgigen Sonntag wird in #Bolivien zum ersten Mal seit dem rechten Putsch gegen den indigenen Sozialisten Evo Morales im vergangenen Jahr gewählt. In allen Umfragen führt die linke Partei MAS („Bewegung zum Sozialismus“) – doch es wachsen Befürchtungen, die Rechte könnte versuchen, durch Wahlbetrug oder Gewalt an der Macht zu bleiben.

Lower Class Magazine hat – in Kooperation mit redfish media – mit Luis Acre Catacora (57), dem Präsidentschaftskandidaten der „Bewegung zum Sozialismus“ gesprochen. Acre ist studierter Ökonom und war während der Regierung von Evo Morales erst Finanz- dann Wirtschaftsminister. Im Interview redet er über seine Wahlchancen, die Erfolge der MAS und den rechten Putsch nach den Wahlen im vergangen Jahr.

Sie führen derzeit in allen Umfragen zur anstehenden Präsidentschaftswahl in Bolivien. Sehen Sie irgendwelche Hindernisse auf dem Weg zum Wahlsieg?

Nun, es ist klar, dass wir die Wahl gewinnen werden. Aber wir haben Zweifel daran, wie das Oberste Wahlgericht damit umgeht. Es gibt viele Maßnahmen, die wir nicht für die geeignetsten halten. Eine davon ist, dass es in Bolivien üblich ist, die Wahlergebnisse pro Tisch und nicht pro Wahlbezirk zu erhalten. Und nun hat dieser Oberste Gerichtshof festgelegt, dass er die Informationen nach Wahlbezirk und nicht nach Wahltisch geben wird. Das scheint uns ein Rückschritt zu sein, es scheint uns nicht transparent genug zu sein.

Indem wir über die Wahlbezirke sprechen, wird die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Menschen sehen können, wie sie gewählt haben. Es gibt auch andere Zweifel, die mit der Frage der Prüfung des Computersystems zu tun haben, von dem wir jetzt erfahren haben, dass ausländische Unternehmen dafür zuständig sind. Tatsächlich gibt es zwei Unternehmen, von denen wir nichts wissen, und wir sind kurz vor der Wahl. Wir haben eine ganze Reihe von Beobachtungen, die ihnen, dem obersten Wahlgericht, vorgetragen wurden.

Warum stimmt das bolivianische Volk für die MAS?

Ich denke, wir müssen auf die Wahlen vom vergangenen Oktober zurückblicken. Seitdem sind elf Monate vergangen und wir haben weder Demokratie und – schlimmer noch – stehen vor einer völlig ruinierten und kaputten Wirtschaft. Das bolivianische Volk kann also den Vergleich anstellen zwischen den 14 Jahren der Verwaltung der MAS und der Verwaltung – wenn man das so nennen kann – in diesen elf Monaten der De-facto-Regierung. Die Wirtschaft ist sehr schlecht gelaufen, nicht nur wegen der Pandemie, sondern schon vorher, und die Menschen haben es in ihren Geldbeuteln gespürt. Dazu kommt die Angst vor der Pandemie. Diese Regierung, die Rechte kümmert sich außerdem nicht um Bildung. Sie hat ein Dekret erlassen, mit dem das Schuljahr beendet wird, weil sie nicht in der Lage ist, während der Pandemie den Bildungsbetrieb am Laufen zu halten. Dies zeigt die völlige Unfähigkeit, die Wirtschaft, das Gesundheits- und Bildungswesen in unserem Land zu verwalten. Und sie beginnen, Schlüsselministerien, wie das Kulturministerium und andere, zu schließen.

Also: Es gibt ernsthafte Probleme, und die Bevölkerung hat erkannt, wie es ist, in einer MAS-Regierung zu sein, in der es Fortschritt, Entwicklung, Beschäftigung, Wachstum und all das gab, im Gegensatz zu einer rechten Regierung, in der man nichts davon hat, sondern nur Probleme. Wenn man also die Bilanz zieht ist klar, wohin die Abstimmung tendieren wird.

Wie hat sich das Leben der Arbeiter*innen und Indigenen während der Regierung von Evo verändert?

Die Veränderung war grundlegend, insbesondere für die indigenen Brüder. Sie hatten keine Rechte in der Verfassung. Heute haben sie die Möglichkeit an der politischen Aktivität und an der Entscheidungsfindung des Landes teilzunehmen, was vorher nicht geschah, weil sie ausgeschlossen wurden. Mit den vielen Gesetzen, die diese Verfassung begleiten, haben unsere indigenen Brüder jetzt viele Privilegien und viele Rechte, die zum Wohle der indigenen Völker angewandt werden.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter haben auch große Fortschritte gemacht. Zum Beispiel gab es Fortschritte bei einem Rentengesetz, das einen Beitrag des Arbeitgebersektors vorseiht. Jetzt gibt es in Bolivien einen Arbeitgeberbeitrag, der direkt in den Solidaritätsfonds fließt, der die Verbesserung des Einkommens der Bescheidensten, der Ärmsten, die weniger Lohn haben, ermöglicht. Der nationale Mindestlohn wurde von 440 Bolivianos – das waren in der Vergangenheit mehr oder weniger 35 Dollar – auf etwa 1120 Bolivianos – jetzt mehr oder weniger 300 Dollar – angehoben. Das sind wirklich wichtige Steigerungen der Kaufkraft der Arbeitnehmer. Es hat viele soziale Errungenschaften gegeben, und es wurden Vorschriften angewandt, die den Arbeitnehmern in allen Sektoren zugute kamen. Es gab also einen großen Fortschritt auf Seiten der Arbeiter mit der MAS-Regierung.

Sie waren an der Verstaatlichung der Bodenschätze zur Finanzierung von Sozialprogrammen beteiligt. Werden Sie diese Linie fortsetzen?

Wir sind die einzige Partei in Bolivien, die diese Sozialprogramme garantieren kann. Wir haben sie geschaffen. Diese Regierung hat dieser Art von Sozialpolitik nicht die geringste Bedeutung beigemessen. Heute ist die Binnennachfrage im Land völlig reduziert, und mit diesen Programmen meinen wir, dass wir die Binnennachfrage verbessern sollten.

Besteht auch bei diesen Wahlen die Möglichkeit eines Staatsstreichs oder eines Wahlbetrugs?

Diese Möglichkeit besteht immer. Wir haben eine Rechte, die verzweifelt ist, weil sie weiß, dass sie bei den Wahlen verlieren wird, und viel Geld ausgegeben hat, um den Staatsstreich im letzten November zu finanzieren. Es ist also klar, dass sie die Regierung nicht schnell und einfach aufgeben wollen. Sie haben auch schon auf eine Reihe von Mitteln zurückgegriffen, um die Durchführung der Wahlen zu vermeiden, wie der dauerhaften Verschiebung des Wahltermins. Aber es gab eine große Mobilisierung, um ein endgültiges Datum festzulegen, und es ist dieser 18. Oktober. Unter Berücksichtigung der Geschehnisse des letzten Jahres, wo es internationale und inländische wirtschaftliche und politische Interessen gab, sind ein Putsch oder Wahlbetrug weiter möglich. Denn diese Interessensind nicht verschwunden. Alle wollen das bolivianische Lithium kontrollieren. Alle wollen wieder mit dem bolivianischen Gas handeln, und, ich wiederhole, es gibt ausländische und inländische Interessen.

Warum hat das Militär beim Putsch letztes Jahr Evo nicht unterstützt? Im Vergleich etwa mit dem Fall Chávez in Venzuela?

Ich glaube, dass die ideologische Frage, das Bewusstsein für den Prozess des Wandels, in den Streitkräften nicht so stark war, so dass ein paar Geldscheine es erlaubten, dass die Führung das Interesse der Bolivianer aus den Augen verloren hat. Ich denke, das ist einer der Hauptgründe. Es gibt keine Ideologie, keine Verbundenheit der Streitkräfte mit ihrem Volk.

Wie haben Sie den Putsch erlebt? Wurden Sie bedroht?

Sie hatten eine Strategie der permanenten Einschüchterung. Den ganzen Oktober über gingen sie zu Häusern und malten Parolen an die Türen, beschmierten die Häuser. Ich wohne in einem Gebäude, und sie haben sich sogar getraut, an die Tür meiner Wohnung zu kommen. Auf Whatsapp gab es ein Foto vom Google Maps mit dem Hinweis „hier lebt Luis Acre, Wirtschaftsminister“ und eine Reihe von Adjektiven, die ich nicht wiederholen möchte. Es gab also Einschüchterungen nicht nur am Tag des Staatsstreichs, sondern viel früher. Nach dem Staatsstreich mussten wir uns an geheime Orte begeben, denn wir sahen, wie sie die Häuser von Genossinnen und Genossen, von Ministern, von Leuten, die mit der MAS in Verbindung stehen, niederbrannten. Sie haben Häuser geplündert, man musste also vorsichtig sein, um in Sicherheit zu sein. Ich war damals untergetaucht, weil man nicht die geringste Sicherheit in unserem Land hatte.

Was waren die größten Fehler der Regierung von Evo? Was hätte man besser machen können? Und was würden Sie anders machen?

Es gibt mehrere Themen, zum Beispiel die Justiz. Ich denke, es war ein Fehler, Wahlen für Richter zu machen, die nicht funktioniert hat. Das ist ein Problem, das korrigiert werden musste. Hinzu kommt die Tatsache, dass viele der Arbeiten recht langsam vorankamen, da sie nicht rechtzeitig abgeschlossen wurden. Es gibt viele Dinge, die unvollendet geblieben sind. Wir werden all dies wieder aufgreifen müssen.

Haben Sie eine Botschaft für die Menschen in Europa?

Am 18. Oktober dieses Jahres haben wir eine wichtige Wahl, nicht nur, weil es eine Wahl für den Präsidenten oder die Legislative in Bolivien ist. An diesem 18. Oktober wird Bolivien die Demokratie wiederherstellen. Sie haben uns im November letzten Jahres mit einem blutigen Staatsstreich, bei dem es mehrere Tote gab, die Demokratie verweigert. Deshalb ist diese Wahl sehr wichtig, denn wir müssen zeigen, dass wir Bolivianer eine demokratische Berufung haben und dass wir Bolivianer uns nicht mit Gewalt begegnen wollen. Ich glaube, dass die Demokratie das beste Zeichen ist, das wir der ganzen Welt zu geben haben. Und natürlich ist es nicht nur eine Botschaft für das bolivianische Volk, sondern auch für die Region. Die Region ist in einer sehr komplizierten Situation, in der wir mehrere neoliberale Regierungen haben, die viel Armut mehr Arbeitslosigkeit in ihren Ländern erzeugen.

Und Bolivien ist seit langem eine der besten Volkswirtschaften, die von einer fortschrittlichen Regierung geführt wird, von einer Regierung, die an das Volk glaubt und für das bolivianische Volk arbeitet. Daher ist die große Herausforderung für Bolivien, die Demokratie wiederherzustellen.

# Titelbild: Brasil de Fato, Luis Acre links neben Evo Morales im Januar 2020 CC BY-NC-SA 2.0



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Die Söldner hatten Großes vor. Am 17. April 1961 landeten knapp 1.500 von der CIA ausgebildete Söldner auf Kuba, um genau zu sein in der Schweinebucht. Etwas mehr als zwei Jahre nach dem Sieg der kubanischen Revolution und der Befreiung Kubas von Diktator Fulgencio Batista orchestrierte der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst, während der Regerungszeit des – in linksliberalen Kreisen oft zum Heilsbringer verklärten – US-Präsidenten John F. Kennedy diesen Angriff.

Die Fußtruppen bildeten Exilkubaner der ehemals herrschenden Klasse, die vor den kubanischen Revolutionären geflohen waren und das Land zurückerobern und erneut zu einem Vasallenstaat im Hinterhof der USA zu machen. „Einige waren Kriegsverbrecher, die in die Vereinigten Staaten geflüchtet waren, denn die Offiziere waren fast ausnahmslos Offiziere der alten Batista-Armee, und in der Truppe der Invasoren gab es eine Menge Söhne von Großgrundbesitzern und anderen reichen Familien. Hier wurde der klassenspezifische Charakter der Invasion deutlich“, erinnert sich Fidel Castro in seiner Biografie. Das Ergebnis ist bekannt: Nach weniger als zwei Tagen waren alle gelandeten Söldner entweder gefallen oder gefangen genommen. Ein krachendes Scheitern US-imperialistischer Aggression in Lateinamerika.

Auch 2020 haben Söldner großes vor. Allerdings absurd dilettantisch und schlechter geplant und umgesetzt. In den vergangenen Tagen versuchten mehrere Boote mit bewaffneten US-Amerikanern und Venezolanern in Venezuela zu landen. Der US-Veteran Jordan Goudreau, der das Söldnerunternehmen Silvercorp USA gegründet hat, erklärte gegen über Bloomberg, er habe mit dem von der US-Regierung gestützten venezolanischen Politiker Juan Guaidó einen Vertrag über 212 Millionen US-Dollar geschlossen, um die venezolanische Regierung zu stürzen, bekommen habe er aber nur 50.000. Warum die ganze Chose trotzdem gestartet ist, ist ein Rätsel. „Die Hauptmission war die Befreiung Venezuelas, die Gefangennahme Maduros, aber die Mission in Caracas scheiterte“, erklärt der Ex-Soldat gegenüber Bloomberg. Guaidó selbst hat dementiert, mit den Söldnern zusammenzuarbeiten.

Anfängliche Behauptungen, die ganze Sache sei von der Regeirung Maduros inszeniert, kann man mittlerweile als Propaganda abtun. Bereits am Sonntag war ein Schnellboot beim Versuch in La Guaira an Land zu gehen von Sicherheitskräften abgefangen worden. Acht von zehn Personen wurden von Sicherheitskräften getötet. Einen Tag später machten Fischer die Küstenwache auf ein zweites Boot aufmerksam, das westlich von La Guaira aufgegriffen wurde. Dabei wurden auch zwei US-amerikanische Staatsbürger gefangen genommen, Luke Alexander Denman und Airan Berry, die beide für die obskure Sicherheitsfirma von Goudreau arbeiten. Darüber hinaus wurden ehemalige Angehörige des venezolanischen Militärs festgenommen.

Das Himmelfahrtskommando, das mehr dem Plot eines Actionfilms – eine kleine Truppe Helden gegen „bad guys“ –, denn einer militärischen Aktion gleicht, scheint vorerst vorbei zu sein. 1961 warteten vor der Küste Kubas Marineschiffe der USA darauf, dass die Invasion erfolgreich zu Ende gebracht würde. Goudreau hat für sein Abenteuer scheinbar nicht die Unterstützung der US-Regierung bekommen, obwohl er versucht habe mit Donald Trump zu sprechen, aber nicht zu ihm durchgekommen war.

Die Interessen von allen Beteiligten sind allerdings die gleichen: Die Regierung von Venezuela zu stürzen. Noch im April hatte die US-Marine Kriegsschiffe in die Karibik verlegt, um Druck auf die Regierung von Maduro aufzubauen. Schon in Trumps Wahlkampf war Venezuela als Bedrohung aufgebaut worden, der ökonomische Druck seither gewachsen und die Unterstützung für den selbsterklärten Oppositionsführer Guiadó immer größer. Die Gründe dafür sind dabei heute genauso wie 1961 nicht humanitärer Natur, sondern simpler Antikommunismus. „Sozialismus zerstört Nationen“, erklärte Präsident Trump in Hinblick auf seine Venezuela-Politik noch im Februar.

In der langen Geschichte des US-Imperialismus in Lateinamerika ist diese Aktion wohl nur eine kuriose Fußnote. Eine privat finanzierte Schweinebucht in dilettantisch. Die Erfahrung zeigt aber, dass nicht alle solchen Aktionen nach diesem Muster ablaufen. Über kurz oder lang werden militärisch und politisch durchdachtere Manöver auf Venezuela zukommen, ob von Seiten der lokalen Oligarchie oder dem Noch-Hegemon. Allein die Putsche der letzten Jahre in Brasilien, Honduras und Bolivien haben das deutlich gemacht.

Foto: @camilateleSUR via twitter

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