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Die Türkei führt – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – ihren Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung nicht nur an der irakisch-türkischen Grenze weiter. Sie setzt dabei neben der Luftwaffe und Bodentruppen mittlerweile auch immer häufiger international geächtete Waffen wie Giftgas ein. Doch die Guerilla und die Bevölkerung leisten weiterhin Widerstand – mit Erfolg. Wir haben mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Revolutionären Jugendbewegung Syriens und der Internationalistischen Kommune in Rojava (Teil der Kampagne Riseup4Rojava) über die aktuelle Lage gesprochen.

Du bist ja derzeit in Rojava, im Norden Syriens, und dort politisch aktiv. Wie ist die Situation im Moment vor Ort nach deiner Einschätzung? Wir hören vermehrt von der konkreten Gefahr einer neuen Großoffensive der türkischen Armee gegen kurdische Gebiete in Syrien. Wie ist die Stimmung bei euch und wie bewertet ihr die aktuellen Entwicklungen in der Region?

Was auch immer passiert, das Leben geht hier natürlich weiter. Die Menschen hier haben sich daran gewöhnt unter Kriegsbedingungen und mit dem andauernden Embargo zu leben. Auch die Drohung mit neuen Angriffen gegen das befreite Rojava ist nichts neues, sondern immer wiederkehrende Realität. Das soll nicht heißen, dass wir das nicht ernst nehmen, doch Krieg und Widerstand sind hier nicht an einen “Tag X” gebunden. Der türkische Staat handelt in Zeiten, in denen er nicht mit einer großangelegten Offensive versucht Gebiete zu besetzen, nach einer Strategie des Krieges niedriger Intensität.

Sie töten unsere Genossi:nnen und auch Zivilist:innen täglich durch Luftschläge mit ihren Drohnen. Sie schneiden die Wasserversorgung Rojavas ab, versuchen für Probleme und Chaos zu sorgen, indem sie Agenten in die Region einschleusen, versuchen Kurd:innen und Araber:innen gegeneinander aufzuhetzen und verbreiten Lügen und Anti-Propaganda. Gleichzeitig hat der physische Krieg an den essentiellen Frontlinien nie aufgehört. Tagtäglich werden die Gebiete rund um Til Temir, Eyn Îsa, Minbic und Şehba bombardiert und natürlich leisten die Leute hier dagegen Widerstand und verteidigen sich aktiv.

Es geht auch nicht nur um Rojava, sondern wir müssen verstehen, dass die Kriege in den Bergen, in Rojava, in Nordkurdistan, usw. miteinander verbunden sind. Der türkische Staat ist ein faschistischer Staat, seine Regierung ist faschistisch. Sie haben ihre eigene Existenz auf Krieg und Völkermord aufgebaut und setzen diese ihre Existenzgrundlage heute auf gleiche Weise fort. Der Widerstand dagegen ist immer legitim und dieser Widerstand ist heute grenzübergreifend und im Interesse aller Völker der Region.

Die letzten Jahre waren geprägt von Krieg und Widerstand, sowohl hier in Rojava als auch überall anders in der Region. Seit Februar diesen Jahres versucht die türkische Armee verzweifelt in weitere Gebiete der von der Guerilla im Süden Kurdistans (Nordirak, d. Red.) kontrollierten Medya-Verteidigungsgebiete vorzudringen. So startete sie eine aufwändige Blitzoperation gegen die Gare-Region am 10. Februar mit Unterstützung der KDP (vom Barzani-Clan geführte, von der Türkei, Deutschland und den USA abhängige Kompradorenpartei in der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak, d.Red.), musste sich jedoch nach 4 Tagen schwerer Gefechte geschlagen geben und unverrichteter Dinge abziehen.

Kurz darauf begann die nächste Großoffensive am 24.04. gegen die Regionen Metina, Zap und Avaşîn. Diese Operation unter dem Namen “Claw Lightning and Claw Thunderbolt” hält bis heute an. Erst vor ein paar Tagen veröffentlichten die Volksverteidigungskräfte HPG eine Bilanz der letzten sechs Monate. Daraus geht hervor, dass die türkische Armee trotz allen Aufwands, modernster Technik, unablässiger Luftüberwachung, flächendeckender Bombardements, dem Einsatz tausender Soldaten und der hinterhältigen Unterstützung durch die KDP und Roj-Peşmergas (Von der Türkei ausgebildete KDP-nahe Milizen, d.Red.) schwere Rückschläge einzustecken hatte und keine großen Gebietsgewinne für sich verzeichnen kann.

Besonders in den Gebieten Zendura, Mamreşo, Girê Sor und Werxelê leistete die Guerilla einen historischen und kompromisslosen Widerstand, der weiterhin anhält. Die einzige Lösung, welche der türkische Staat für sich dabei zu sehen scheint ist der massive Einsatz von chemischen Waffen. Laut der sechsmonatigen Bilanz der Volksverteidigungskräfte HPG setzte die türkische Armee innerhalb dieses Zeitraumes 323 mal verschiedene Arten von Chemiewaffen und Giftgas ein.

Wir wissen alle, dass das ein international anerkanntes Verbrechen ist, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, doch wirklich zu kümmern scheint das niemand. Nun sieht es so aus, dass die türkische Armee in den Bergen an ihre Grenzen gestoßen ist. Gleichzeitig geht es der Erdoğan-Regierung alles andere als gut. Laut Umfragen würde ihr Regierungsbündnis nicht einmal annähernd in die Nähe einer Mehrheit kommen bei kommenden Wahlen. Die Wirtschaft steckt in der Krise, den Menschen in der Türkei geht es nicht gut und sie sind unzufrieden. Der Staat versucht jetzt, wie immer, die Probleme einfach unsichtbar zu machen, indem die Kriegspolitik weiter angeheizt wird. Für das AKP-MHP-Regime sind die Menschen im eigenen Land nichts wert, sie haben alles und jeden dem Ziel untergestellt den Widerstand des kurdischen Volkes zu brechen und die Freiheitsbewegung militärisch zu vernichten. Die gesamte Innen- und Außenpolitik des türkischen Staates ist darauf ausgerichtet und auch die Wirtschaftskrise selbst rührt eben genau daher. Als diesen Sommer Wälder in der Türkei brannten, da bemühten sie sich sehr darum die kurdische Freiheitsbewegung dafür verantwortlich zu erklären, doch auch mit diesen dreckigen Spielchen konnten sie nicht davon ablenken, dass die Unfähigkeit zur Bekämpfung der Brände vor allem daher rührte, dass Investitionen zum Großteil ins Militär, Kriegstechnologie und Waffen gesteckt werden, während es dann z.B. an notwendig ausgerüsteter Feuerwehr mangelt.

Interessant ist auch, dass die türkische faschistische Regierung seit Jahren alles tut, um die HDP zu isolieren, ihre Verankerung in der Bevölkerung zu brechen und sie somit in die Bedeutungslosigkeit zu schicken. Doch Massenverhaftungen, drakonische Strafen für quasi nichts und wieder nichts, Folter, Mord und Verfolgung haben nichts dergleichen erreichen können und die Unterstützung der Bevölkerung für die HDP ist ungebrochen. Das Erdoğan-Regime erhofft sich nun durch eine Fortsetzung ihrer vorherigen Invasionen in Nordsyrien/Rojava ein Deckel auf die eigenen Problem packen zu können und einen lang ersehnten Erfolg für sich verbuchen zu können, welchen sie weder in den Bergen militärisch noch gesellschaftlich und politisch im eigenen Land erreichen konnten.

Natürlich spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle. Die weitere Besatzung eines Gebietes in Rojava, nach der Besatzung von Efrîn und Serêkaniyê, wäre ein schwerer Schlag gegen die Revolution, von dem sich Rojava nur noch schwer erholen würde. Dessen ist sich der türkische Staat bewusst und auch die internationalen, imperialistischen Kräfte, die in der Region aktiv sind, sprich USA und Russland, wissen das und versuchen dementsprechend für ihre eigenen Interessen Druck aufzubauen. Die Türkei selber versucht für sich die notwendige politisch-diplomatische Grundlage zu schaffen, um grünes Licht für eine neue Invasion zu bekommen. Ob sie dieses grüne Licht bereits bekommen hat von einer der genannten Großmächte und ob sie vielleicht schon morgen mit der nächsten Offensive anfangen wird, das wissen wir nicht. Doch hier sind sich alle dessen bewusst, dass eine solche Situation nicht unwahrscheinlich ist und wir uns deshalb alle auf den Widerstand vorbereiten müssen. Die Stimmung ist aber nicht negativ, ganz im Gegenteil. Das ist die Realität hier: Ohne Krieg und Widerstand hätte sich die Revolution bis heute nicht halten können und da Gewalt die einzige Sprache ist, die der Faschismus versteht, müssen wir ihm mit aller uns zur Verfügung stehenden Gewalt gegenübertreten. Wir sind zuversichtlich, dass wir erfolgreich Widerstand leisten werden. Natürlich gibt es auch viel Wut, Frust und Hass der Türkei und der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber. Wenn es anders gehen würde und allein mit Worten ein würdevolles Leben erkämpft werden könnte, dann würde hier niemand zur Waffe greifen. Da die Realität jedoch anders aussieht, sind die Menschen hier dazu bereit die Waffe in die Hand zu nehmen um die eigene Würde zu verteidigen.

In den kurdischen Nachrichten wird insbesondere von Til Refat und Kobane als möglicher Zielorte einer neuen Invasion gesprochen. Wie schätzt ihr vor Ort ein, wo und wann es eskalieren wird?

Das ist schwer zu sagen und es wäre falsch anzunehmen eine hundertprozentige Vorhersage treffen zu können. Nichtsdestotrotz zeichnen sich einige mögliche Szenarien ab und türkische staatsnahe Medien sprechen selber von diesen Szenarien. Wie du selber gerade gesagt hast, stehen die Regionen Til Refat, also Şehba im Norden Allepos und Südosten Efrîns, Kobanê und Minbic zur Zeit im Vordergrund. Alle diese drei Regionen sind der Türkei seit Jahren ein Dorn im Auge. Ein weiteres mögliches Szenario wäre eine Operation in der Region Dêrik im nordöstlichen Länderdreieck Rojavas. Dies ist ein weiteres strategisches Ziel für den türkischen Staat, da dort die Verbindung Rojavas nach Südkurdistan besteht, desweiteren könnte eine für den türkischen Staat erfolgreiche Besatzung der Region Dêrik den direkten Landweg für den türkischen Staat nach Şengal öffnen.

Eine andere Möglichkeit ist auch die Fortsetzung einer Offensive an den bestehenden Frontlinien in Eyn Îsa, Til Temir und Zirgan. Es kann auch sein, dass mehrere dieser Szenarien zur selben Zeit versucht werden. Wie auch immer, die Rhetorik des türkischen Staates ähnelt sehr der Rhetorik im Vorlauf zum Krieg in Efrîn und später in Serêkaniyê. Truppenbewegungen an den Grenzen finden vermehrt statt, die islamistischen Banden der SNA werden mobilisiert und offensichtlich versucht die Türkei, die notwendige internationale Unterstützung für sich zu sichern. Ob es morgen anfängt oder in einem Monat ist weniger wichtig, wichtig ist, dass wir alle darauf vorbereitet sind, sowohl hier vor Ort als auch international, um Widerstand zu leisten und den türkischen Faschismus zu zerschlagen.

Als Kampagne RiseUp4Rojava, was ist eure Antwort auf die aktuellen Entwicklungen und wie wird eure Antwort aussehen, sollte es zu einer neuen Bodenoffensive gegen die Autonome Selbstverwaltung in Nordost-Syrien (AANES) kommen?

Als Kampagne RiseUp4Rojava existieren wir ja bereits seit Frühjahr 2019 und insbesondere zur Zeit des Krieges in Serêkaniyê und Girê Spî waren wir dazu in der Lage, gemeinsam mit anderen Initiativen weltweit hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen und ernsthaften Druck von unten aufzubauen. Seither versuchen wir eine Kontinuität in unserer Arbeit gegen den türkischen Faschismus zu gewährleisten und auf dieser Grundlage fanden über die letzten 2 Jahre zahlreiche Aktionstage zur Unterstützung der Revolution in Rojava und dem Widerstand gegen die türkische Aggression, als auch gegen die internationalen Profiteure vom Krieg und Kollaborateure mit dem Faschismus statt. Wir versuchen durch unsere Website als auch soziale Medien über die Situation vor Ort zu informieren, die internationalen Helfer der Türkei aufzudecken, unsere Position zu verbreiten und gegen den türkischen Faschismus zu mobilisieren.

Kampagnenintern haben wir diskutiert, dass wir bei einer erneuten Offensive der Türkei nicht direkt von einem “Tag X” sprechen können, denn der Krieg ist jeden Tag, auch wenn er in den Mainstreammedien meistens nicht sichtbar ist. Gleichzeitig können auch wir uns nicht komplett der Dynamik eines solchen “Tag X” entziehen. Im Falle einer neuen Offensive rufen wir alle auf unserem Aufruf zu folgen und den Protest direkt vor die Türen der internationalen Vertretungen des türkischen Staates zu tragen. Gleichzeitig geht es uns nicht um eine einzige Aktion oder einen Tag. Wir werden kontinuierlich weiter mobilisieren und mit unseren Initiativen versuchen den türkischen Staat und alle Institutionen, die ihn unterstützen zu blockieren, zu stören und zu besetzen.

Unabhängig davon bereiten wir auch im Moment neue internationale Aktionstage für das Wochende vom 26. bis 28. November vor. Der Slogan lautet “Smash Turkish Fascism – Stand with the Guerrilla!”. Unter unserem Motto “Block! Disturb! Occupy!” rufen wir auch hierzu alle auf aktiv zu werden und auf die Straße zu gehen.

Die Aktionstage vom 26.-28. November, von denen du sprichst, wie werden die konkret aussehen und wie können sich Gruppen und Menschen außerhalb eurer Kampagne daran beteiligen?

Der Aufruf zu den Aktionstagen wird in den kommenden Tagen veröffentlicht werden. Unsere zentralen Ziele sind erstens, den Vertrieb von Olivenöl aus dem besetzten Efrin anzugreifen, an dem sich einige eine goldene Nase auf Kosten des Leidens der Bevölkerung von Efrin verdienen. Zweitens, die Waffenindustrie, welche weiterhin für die türkische Kriegsmaschinerie produziert. Drittens, die Kollaborateure in Politik und Diplomatie, welche weiterhin mit Erdogan liebäugeln und dem türkischen Faschismus Grund und Boden für seine Vernichtungspolitik liefern. Gleichzeitig wollen wir den Widerstand der Guerrilla unterstützen und den Gebrauch von Chemiewaffen durch den türkischen Staat verurteilen. Der 27.11. stellt auch den 43. Jahrestag der Gründung der PKK dar. Wir erklären uns solidarisch mit dem Kampf der PKK, gratulieren ihr zum Geburtstag und sagen klar und deutlich, dass die Kriminellen hier nicht die Kämpfer:innen der PKK sind, sondern diejenigen, die Kurdistan besetzt halten und ausbeuten.

An den Aktionstagen können alle teilnehmen, die wollen. Es wird in einigen Städten sicherlich auch zentrale Veranstaltungen geben, aber darüber hinaus wollen wir, dass alle dezentral selbst aktiv und kreativ werden.

#Bildquelle: ANF

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oder: Was macht(e) die Bundeswehr in Afghanistan

Gastbeitrag von Antimilitaristischen Gruppen aus Berlin

Dies ist kein Beitrag über die Bundeswehr im Auslandseinsatz generell. Die Bundeswehr sammelt seit spätestens 1993 in Somalia erste Kriegserfahrungen, mit dem Einsatz in Jugoslawien wurde 1999 erstmals wieder Krieg – wenn auch noch nicht so bezeichnet – von deutschem Boden aus geführt. Dies ist ein Text über den bislang längsten und umfangreichsten Bundeswehreinsatz, der 2001 begann und erst vor wenigen Wochen mit viel Ach und Krach beendet wurde.

Nach den Anschlägen 2001 in New York und Washington wurde als erste Vergeltungsmaßnahme der Nato-Bündnisfall ausgerufen. Die Anschläge wurden als Angriff auf ein Mitglied der Kriegsallianz gewertet und damit als Angriff auf alle verstanden. Dies stellte für die westliche Militärbündnisgeschichte eine Zäsur dar. Kurz darauf machten sich die westlichen Bündnismächte auf, Afghanistan – das als Hort des Terrorismus auserkoren wurde – mit Krieg und Besatzung zu überziehen. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2003 im Irak. Nur diesmal nicht vom Nato-Bündnisfall gedeckt, sondern von einer „Koalition der Willigen“ vollzogen und ohne direkte deutsche Beteiligung.

Dass die Bundesrepublik als Nato-Mitglied ihre Bündnispflichten erfüllen musste, war nicht der Grund für die Beteiligung am Krieg in Afghanistan. Es war vielmehr eine willkommene Gelegenheit, die Bühne der global player auch im Tarnfleckoutfit zu betreten, um die eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Deshalb schickte sich die Propagandamaschine an, die noch nicht vollends an Kriegseinsätze gewöhnte bundesdeutsche Öffentlichkeit darauf vorzubereiten, dass Krieg führen ein gängiges Mittel deutscher Außenpolitik ist. Und wie schon 1999 begann der Kriegseinsatz der Bundeswehr 2001 mit einer Lüge. Anders als damals wurden aber nicht Hufeisenpläne und konzentrationslagerähnliche Zustände erfunden, sondern von einem humanitären Einsatz zum Schutz der Frauen und zum Bohren von Brunnen schwadroniert. Zehn Jahre nach Kriegsbeginn wurde zu diesem Zweck sogar die bundesdeutsche Entwicklungshilfe militarisiert. Ehemals zivilen Entwicklungshilfeeinrichtungen wurden zur GIZ GmbH – der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit – fusioniert. Sie soll sicherstellen, dass bundesdeutsche Mittel nur dann vergeben werden, wenn damit eine Kooperationsvereinbarung mit der Bundeswehr im Einsatz einhergeht. Dies alles nur, um die eigentlichen Kriegsgründe zu verschleiern: Die Freude darüber, die erste größere Nebenrolle mit Aussicht auf weitere Engagements im Theater der kriegsführenden Nationen zu spielen.  Gleichzeitig auch Bereitschaft dafür zu zeigen, zur Sicherung der eigenen Interessen auch militärisch einzustehen.

Wer anderes behauptet, dem konnte diese Behauptung Kopf und Kragen kosten – mustergültig durchexerziert am am Beispiel des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. Dieser hatte sich im Mai 2010 in einem Interview mit dem Deutschlandradio erdreistet, eine Wahrheit gelassen auszusprechen. „[… E]in Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“ Kurz gesagt: Krieg führen, damit es der deutschen Wirtschaft gut geht. Für diese einfache Wahrheit schien die bundesdeutsche Öffentlichkeit noch nicht bereit, dafür die Suche nach einem neuen Bundespräsidenten.

Doch bereits im März 2010 hatte der ehemalige Gebirgsjäger und damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg davon gesprochen, dass Mensch bei dem, was die Bundeswehr in Afghanistan mache, durchaus „umgangsprachlich“ von Krieg reden könne. Und das nachdem sein Amtsvorgänger Franz Josef Jung zurückgetreten war. Grund für den Rücktritt war die Bombardierung zweier Tanklastzüge nahe Kunduz. Auf Befehl von Oberst Klein wurden bei diesem ersten Kriegsverbrechen seit dem 2. Weltkrieg 142 Zivilisten ermordet.

Vielleicht läuteten nach diesem Tabubruch von zu Guttenberg bei Köhler die Glocken. Vielleicht dachte er sich, wenn jetzt schon in der Bundeswehr-Einsatz ein Stückchen weiter ins rechte Licht gerückt werden kann, wieso dann nicht auch gleich den eigentlichen Grund klar und deutlich benennen. Wir werden es nie erfahren. Wessen wir uns aber sicher sein können, ist, dass bei ähnlichen Fauxpas weiterhin Politiker*innen-Köpfe unter das Schafott der öffentlichen Meinung gelegt werden würden. Das Gegenteil kann gerne bewiesen werden: Als Anlässe schlagen wir z. B. die Entsendung der Fregatte Bayern ins Südchinesische Meer oder die seit zwei Jahren stattfindenden Defender-Europe-Manöver vor.

Dass aber auch der Kriegsminister zu Guttenberg bald ins Straucheln kam und letztendlich gefallen ist, ist ein Treppenwitz der Geschichte. Das lag aber nicht an dem feinen Näschen des ehemaligen Elitesoldaten für kriegerische Angelegenheiten. Immerhin kam seine Äußerung nur wenige Tage vor dem sog. Karfreitagsgefecht 2010. Diese erste länger anhaltenden Kampfhandlung unter deutscher Beteiligung brachte der bundesdeutschen Öffentlichkeit bei, dass Bundeswehrsoldaten nicht nur in der Lage sind, andere zu töten, sondern auch, getötet zu werden. Zu Guttenberg ist darüber gestolpert, weil rauskam, dass er bei seiner Doktorarbeit beschissen hatte. Und ein Kriegsminister, der sich bei Lügen erwischen lässt, ist für den Job nicht zu gebrauchen. Es sei denn, er lügt im Sinne der politischen Propaganda

Aber lange Rede, kurzer Sinn: Aus bundesdeutscher Perspektive ging es in Afghanistan nie darum, Freiheit and democracy nach Afghanistan zu bringen. Spätestens nach der Halbzeit des Einsatzes war klar, dass sog. Entwicklungshilfe, Brunnenbohren und Schulen bauen und all die anderen Elemente dieser Aufstansbekämpungsstrategie in Afghanistan nicht fruchten würde. Deshalb wurde ab 2014 auch der ISAF-Einsatz beendet und von der Mission Resolute Support, die den Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte zum Ziel hatte, gestartet. Im April 2021 wurde bekannt, dass auch dieser Einsatz beendet wird und alle westlichen Truppen bis September abgezogen werden und das Land seinem Schicksal überlassen wird.

Dass durch den Abzug der Truppen kurz- bis mittelfristig die Taliban wieder an die Macht kommen würden, war allen klar. Denn niemand hat ernsthaft damit gerechnet, dass es gelungen wäre, eine Demokratie nach westlichem Vorbild in Afghanistan zu etablieren. Dies zeigen schon die verschiedensten Beispiele aus der Kolonialgeschichte, die bis heute auch die verschiedenen Geschichten von wirtschaftlicher Unsicherheit, kriegerischen Auseinandersetzungen, von Flucht und Vertreibung prägen. Ein Vorhaben wie in Afghanistan konnte nicht klappen. Und wir unterstellen den verantwortlichen Planer*innen, dass ihnen das auch sehr schnell bewusst gewesen sein muss. Deshalb offenbaren die Bilder der verzweifelten Menschen am Flughafen in Kabul, die in die Besatzer ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben gesetzt haben, die grausame Perfidie des Krieges aufs Neue. Es ging nie um die Interessen der Menschen in Afghanistan, sondern immer nur um die Interessen der verschiedenen Akteure im Theater dieses Krieges. Dass die Grausamkeit der westlichen Akteure nun tatsächlich soweit reicht, dass nur unter großem Murren und Bohei dazu bereit sind, Menschen, die während der Besatzungszeit mit ihnen kollaboriert haben, Asyl zu gewähren, ist dennoch erschreckend. Statt dessen droht die derzeitige Kriegsministerin Kramp-Karrenbauer offen damit, künftige Einsätze in Afghanistan, sollte es sie jemals geben, nur noch aufs Brunnenbauen zu beschränken. Gleichzeitig wird aus dem Entwicklungshilfeministerium versprochen ihre Unterstützungsleistungen einzustellen. Wer jetzt denkt, wieder an den Anfang des Textes gerutscht zu sein, irrt sich. Wie die Geschichte weiterginge, sollte es tatsächlich soweit kommen wie angedroht, dürfte sich aber dennoch dort nachlesen lassen.

Aus dem Schock der Bilder vom Kabuler Flughafen heraus, ist es nur allzu verständlich, die sofortige Evakuierung aller Menschen zu fordern. Es ist der Ausdruck eines mitmenschlichen Gefühls, nach Möglichkeit andere Menschen aus lebensgefährlichen Situationen zu helfen. Es ist ein Appell an die Vernunft, die das Menschenrecht auf Asyl einräumt. Es ist aber auch ein Ausdruck der Verzweiflung, Forderungen an diejenigen zu richten, die die Misere maßgeblich verursacht haben.

Einzelne Stimmen aus Afghanistan – die der RAWA (Revolutionäre Vereinigung der Frauen Afghanistans), der Solidaritätspartei und von Malalai Joya – haben immer gefordert, diese Besatzung sofort wieder zu beenden. Denn eine „Befreiung“ von Taliban und Warlords durch Krieg und Besatzung kann keine Befreiung sein, die ihren Namen verdient. Diese Einschätzung hat sich bewahrheitet. Gleichzeitig haben sie an uns gerichtet appelliert, den Krieg in Afghanistan dort zu beenden, wo er begann: vor unserer Haustür. Dieser Forderung sind wir bis dato nicht nachgekommen, sollten sie aber auch angesichts der Bilder aus Afghanistan nicht vergessen.

Die Grausamkeiten von Krieg, Flucht und Vertreibung lassen sich mittel- und langfristig nicht durch Evakuierungsmaßnahmen lösen. Schon gar nicht, wenn sich die Appelle an diejenigen richten, die die Lage verursacht haben. Einigen wenigen mag dadurch geholfen werden, das Problem als solches wird aber nicht gelöst. Die Kunst besteht darin, nicht so zynisch zu werden wie diejenigen, die für die Misere verantwortlich sind. Wir sollten aber aber auch nicht vergessen, dass es Dinge gibt, die wir tun können, die über kurzfristige Forderungskataloge hinausreichen.

Denn die Zeit wird kommen, in der Afghanistan nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Vielleicht ist es dann an der Zeit, die Evakuierung der Menschen aus Mali zu fordern. Oder aus Somalia. Oder aus dem Libanon. Oder von irgendwo sonst, wo die Bundeswehr prominent ihren Kriegseinsatz beendet.

Oder wir fassen uns ein Herz und packen das Übel an der Wurzel. Eine bessere Welt für Alle ist nur möglich ohne Bundeswehr. Sollte der verschobene Große Zapfenstreich zum Ende des Afghanistaneinsatzes noch nachgeholt werden, sind wir gefordert, dieses widerliche Militärspektakel nicht unkommentiert geschehen zu lassen. Aber auch darüber hinaus, sollten wir jede Angriffsfläche nutzen, die sich uns bietet, um der Bundeswehr ein für alle Mal den Gar aus zu machen. Vom Werbeplakat an an der Bahnhaltestelle über Niederlassungen von Kriegsgewinnlern wie Rüstungsunternehmen, Crossmedia und Castenow bis zu öffentlichen Bundeswehrauftritten in Jobcentern, Schulen und Gelöbnissen.

Beteiligt euch an den Antimilitaristischen Protesten:

23.09. 21| 18:00 Uhr  Kohlfurter Str.  41 | Kiez-Demo gegen „Crossmedia“
14.10. 21 | Ort: tba |  Antimilitaristische Demo gegen den großen Zapfenstreich der Bundeswehr

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Es ist ein Phänomen der kapitalistisch geprägten Medienwelt, dass der Scheinwerfer oft nur auf einen bestimmten Punkt und ein bestimmtes Thema gerichtet wird. Wenn irgendwo etwas Aufsehenerregendes geschieht, wird das Ereignis tage- und wochenlang durchgehechelt – allerdings meist ohne jedes Verständnis für historische Hintergründe, gesellschaftliche Prozesse und Ursachen. So geschieht es aktuell mit dem Thema Afghanistan. In der Aufregung um die verpatzten Evakuierungen gehen tiefer gehende Fragen verloren. Um die geht es im Interview mit Luca Heyer. Er ist Politikwissenschaftler und aktiv bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen

Nach 9/11 hat der Westen 20 Jahre unter US-amerikanischer Führung in Afghanistan vorgeblich den Terror bekämpft, was jetzt mit einem ebenso überraschenden wie schmählichen Finale seinen Abschluss fand. Wie fällt Deine Bilanz dieses Krieges aus?

Dieser Krieg zeigt, was auch bereits andere Kriege zuvor zeigten: Frieden lässt sich nicht durch Krieg erzwingen, Menschenrechte und Demokratie ebenso wenig. Keines der Ziele wurde nachhaltig erfüllt. Der Preis dieses Krieges ist jedoch enorm hoch: Mehr als 200.000 Menschen verloren ihr Leben. Eine noch viel höhere Zahl von Menschen ist auf der Flucht. Insgesamt ist die Bilanz erschütternd.

Die Debatte über die Fehler und Versäumnisse der Bundesregierung bei den Evakuierungen der sogenannten Ortskräfte haben verhindert, dass der Einsatz als Ganzes kritisch beleuchtet wurde. Siehst Du das auch so?

Ja. Die dramatischen Ereignisse im August gehen ja unmittelbar zurück auf politische Fehlentscheidungen, die zum Teil vor 20 Jahren, zum Teil während der letzten Monate getroffen wurden. Das betrifft zum einen die Entscheidung, überhaupt im Afghanistan-Krieg mitmischen zu wollen: Entgegen zahlreicher Warnungen und Proteste aus der Friedensbewegung gab man sich der Illusion hin, Menschenrechte und Demokratie könnten militärisch von außen quasi erzwungen werden. Im Laufe der Jahre trugen alle Parteien, die an der Regierung beteiligt waren, also SPD, Grüne, CDU/CSU und die FDP, diesen Einsatz mit – ein Fehler, wie man eigentlich spätestens jetzt einsehen müsste.

Andere Fehler, die zu der dramatischen Lage im August führten, lassen sich direkt der aktuellen Bundesregierung zuschreiben: Bereits vor einem halben Jahr gab es außerparlamentarische Appelle und parlamentarische Anträge der Linken und der Grünen, man müsse die afghanischen Ortskräfte schnell und unbürokratisch aufnehmen. Das wäre damals noch einfacher und ohne einen weiteren Militäreinsatz möglich gewesen. Seitens der Bundesregierung fehlte einfach der politische Wille. Stattdessen wurden sogar noch – wie im übrigen seit Jahren – Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Da wirkt der Militäreinsatz im August gleich doppelt heuchlerisch.

Wegen ihrer aktiven Rolle bei den Evakuierungen steht die Bundeswehr momentan in der bundesdeutschen Öffentlichkeit fast als Freund und Helfer dar, konnte das Ganze offensichtlich für die Aufbesserung ihres Images nutzen. Ist das nicht paradox?

Definitiv. Dabei wäre der Einsatz gar nicht nötig gewesen, wenn man rechtzeitig für sichere Fluchtwege gesorgt hätte. Außerdem ist die Bundeswehr keineswegs Freund und Helfer. Sie hat nicht nur eine Menge Menschen, die mit ihr in den letzten 20 Jahren zusammengearbeitet haben, fallen gelassen, sondern ja selbst auch Unschuldige getötet in diesem Krieg. Exemplarisch wäre da der Luftangriff bei Kunduz zu nennen: 2009 starben dort nach einem Bombenabwurf, den der Bundeswehroberst Klein zu verantworten hat, mehr als 100 Menschen, darunter auch Zivilisten und Kinder. Das scheint aktuell leider in Vergessenheit zu geraten.

In Presse, Funk und Fernsehen sowie den sozialen Medien waren eine Menge Bilder von Soldaten zu sehen, vor allem von der US Army, die Kinder auf dem Arm haben. Die Fotos wirken natürlich durch den Kontrast. Ist hier nicht offenbar die Gelegenheit genutzt worden, die am Afghanistan-Desaster beteiligten Truppen von jeder Schuld reinzuwaschen?

Ja, dieser Eindruck entsteht zumindest. Medial wurde das auch so transportiert. Durch diese Bilder wurde auch eine vermeintliche Handlungsfähigkeit in diesem sinnlosen Krieg suggeriert, die so aber nie bestand. Die Nato-Präsenz am Flughafen diente daneben letztlich der Priorisierung der Flüchtenden. Während ehemalige Ortskräfte von Spezialkräften in den Flughafen geschleust wurden, hielten gleichzeitig andere Nato-Kräfte mit Schusswaffen und Tränengas in Kooperation mit den Taliban andere Flüchtende vom Betreten des Flughafens ab, wobei auch Menschen umkamen. Eigentlich eine weniger rühmliche Geschichte…

Die Bild-Zeitung nannte die bei den Evakuierungen eingesetzten Bundeswehr-Soldaten in den vergangenen Tagen nur noch „Helden“. Auch eine Aktion der umstrittenen Spezialeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr in Kabul wurde bejubelt. War der Einsatz eine willkommene Gelegenheit für das KSK, die Vorwürfe der letzten Monate vergessen zu machen?

Ja, das war auch schon im Juni zu beobachten. Damals wurde das KSK zum ersten mal wieder in den Einsatz geschickt und zwar nach Afghanistan, während die Aufarbeitung des gewaltigen Munitionsdiebstahls und die Verstrickung in rechte Netzwerke am laufenden Band neue Skandale zutage förderten, beispielsweise die Möglichkeit gestohlene Munition anonym und straffrei zurückzugeben oder Unregelmäßigkeiten bei Auftragsvergaben. All das ist bis heute nicht vollumfänglich aufgeklärt – insbesondere der Verbleib von zehntausenden Schuss Munition oder die Rolle des Sicherheitsunternehmens Ferox. Dennoch entschied die Bundesregierung, das KSK wieder in Einsätze zu schicken, vermutlich auch in der Hoffnung, den Ruf der Einheit durch Aktionen wie im August reinzuwaschen.

Dient die ganze Debatte um die Evakuierungen und die Ortskräfte am Ende nicht auch dazu, die Ursachen des Scheiterns in Afghanistan zu verdecken? Also etwa, dass der Einsatz auf das Militärische verengt worden ist und Militärs nicht dazu befähigt sind, wirklich irgendetwas aufzubauen.

Demokratie und gesellschaftlicher Fortschritt können nicht mit Kriegen von außen aufgezwungen werden. Das muss die Lehre aus diesem sinnlosen Krieg sein. Der Einsatz war nicht zu sehr auf das Militärische verengt. Ich würde da weiter gehen: Es war ein Fehler, die Probleme in Afghanistan überhaupt militärisch lösen zu wollen.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und andere sehen den Einsatz nicht als gescheitert an und meinen, die Konsequenz müsse sein, die militärische Selbstständigkeit der EU zu stärken. Was meinst Du dazu?

Das ist gefährlicher Blödsinn, der früher oder später wieder zu einem ähnlichen Scheitern wie in Afghanistan führen wird. In Mali steuern wir zum Beispiel unter EU-Federführung – also ohne die USA – auf ein ähnliches militärisches Desaster zu. Die Ziele wurden bislang verfehlt, die Sicherheitslage verschlechtert sich zunehmend und die von EU-Militärs ausgebildete malische Armee hat seit 2020 zwei mal geputscht. Man sollte einfach einsehen, dass die militärischen, vermeintlich humanitären Auslandseinsätze, die seitens der EU und der Nato die letzten 25 Jahre verstärkt durchgeführt werden, an sich nicht für Stabilität, Demokratie und Menschenrechte sorgen – im Gegenteil. Sie verschlingen Unsummen und führen zu Flucht, Instabilität, wirtschaftlicher Armut und vielen Toten. Wir müssen diese Einsätze nicht ohne die USA durchführen oder um mehr zivile Komponenten ergänzen, sondern wir müssen solche Einsätze umgehend beenden.

# Titelbild: Artillerieeinsatz der US-Armee am 20. Dezember 2018, US-Department of Defense

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. In den vergangenen Teilen dieser Serie widmeten wir uns unter anderem der Familie Quandt/Klatten, dem Imperium der Schaefflers, den Faschisten-Finanziers des Finck-Clans und zuletzt der Kaffeedynastie Jacobs, ehe es jetzt um den Clan hinter Kühne + Nagel geht.

Ob und welchen Senf Klaus-Michael Kühne zu sich nimmt, wenn er mal ein Würstchen verspeist, ist nicht bekannt. Vermutlich ist es kein Kühne-Senf. Denn auf dieses Produkt respektive seinen Hersteller dürfte er nicht gut zu sprechen sein. Aus gutem Grund: Selbst in seiner Geburtsstadt Hamburg halten viele Menschen Klaus-Michael Kühne für den Chef der in der Hansestadt angesiedelten Carl Kühne KG halten, die durch die Präsenz ihrer Produkte – vor allem der Kühne-Senfgläser – im Supermarktregal viel bekannter ist als der Logistikkonzern, dessen oberster Boss Klaus-Michael Kühne ist.

Tatsächlich ist der Altonaer Senf- und Saucenhersteller mit seinen rund 328 Millionen Jahresumsatz nur eine Klitsche im Vergleich zu Kühne + Nagel, das mit einem Jahresumsatz von gut 22 Milliarden Euro zu den größten Logistikdienstleistern, man kann auch Speditionen sagen, der Welt zählt. Trotz dieses gelegentlichen Missverständnisses ist Klaus-Michael Kühne in Hamburg immer noch am bekanntesten. Nicht nur weil er dort geboren wurde und aufgewachsen ist (er ging übrigens mit dem Liedermacher Wolf Biermann auf dieselbe Schule), sondern vor allem durch seine Sponsorentätigkeit für den Hamburger SV. Zuletzt ist das Verhältnis wohl etwas abgekühlt, weil ein Verein, der in die Zweite Liga absteigt und dann auch noch zweimal den Aufstieg verspielt, natürlich nicht wirklich zu einem Siegertyp wie Kühne passt.

Dass Klaus-Michael Kühne im Lande nicht die Prominenz hat wie die anfangs erwähnten Chefs von Autokonzernen oder meinetwegen die Familien Albrecht oder Oetker, liegt nicht daran, dass er weniger Geld hat als diese. Mit einem Vermögen von geschätzten 16,5 Milliarden Euro (Stand November 2020) gehört Kühne zu den 20 reichsten Einzelpersonen in Deutschland, spielt also ganz oben mit. Seine geringe Bekanntheit hat eher damit zu tun, dass sein Unternehmen Kühne + Nagel in einer wenig spektakulären und sinnlich wenig inspirierenden Branche angesiedelt ist: der Logistik.

Wie bei so vielen Clans des deutschen Kapitals basiert auch der Reichtum des Kühne-Clans auf einer verbrecherischen Bereicherung in der Zeit des deutschen Faschismus‘. Die Firma war unter den Nazis ein Hauptprofiteur der so genannten „Arisierung“ jüdischen Eigentums. Ihr kam unter anderem eine Schlüsselrolle bei der so genannten „M-Aktion“ des faschistischen Regimes zu. Dabei wurde bis August 1944 in Frankreich und den Benelux-Ländern die Inneneinrichtung von rund 65.000 Wohnungen geflohener oder deportierter Juden abtransportiert.

Ein Blick in die Geschichte des Unternehmens kann also hilfreich sein. Laut Wikipedia wurde die Firma im Juli 1890 von den Geschäftsleuten August Kühne (1855 – 1932), dem Großvater von Klaus-Michael Kühne und Friedrich Gottlieb Nagel (1864 – 1907) in Bremen als „Speditions- und Commissionsgeschäft“ gegründet. Nach dem Tod Nagels ging die Firma in den alleinigen Besitz von Kühne über. 1910 wurde der jüdische Kaufmann Adolf Maass, der seine Lehre im Unternehmen gemacht und später die Hamburger Niederlassung aufgebaut hatte, Teilhaber von Kühne + Nagel. 1928 wurde ihm ein Anteil von 45 Prozent der Besitzanteile am Hamburger Zweig von Kühne + Nagel vertraglich zugesprochen. Im Jahr 1932 starb Firmengründer August Kühne und seine Söhne Alfred – der Vater von Klaus-Michael Kühne – und Werner übernahmen das Geschäft. Im selben Jahr soll es laut Wikipedia zu einer geschäftlichen Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Alfred und Werner Kühne und Maass gekommen sein. In der Folge habe Maass die Firma im April 1933 ohne Abfindung verlassen. An anderer Stelle des Onlinelexikons heißt es, der jüdische Teilhaber sei aus der Firma gedrängt worden, was der Wahrheit vermutlich näher kommt. Jedenfalls wurde Werner Kühne schon am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP. Mit einem jüdischen Mitinhaber wäre das wohl nicht möglich gewesen. Maas und seine Ehefrau wurden 1945 im KZ Auschwitz ermordet.

Mit dem Herausdrängen des jüdischen Teilhabers und dem Parteieintritt Werner Kühnes waren die Weichen gestellt, um groß abzusahnen. In den 1940er Jahren profitierte die Firma Kühne + Nagel durch den Transport und den Einsatz ihrer Logistikstruktur von sogenanntem „Judengut“, dem Hausrat der Deportierten aus ganz Europa, den sich der NS-Staat angeeignet hatte. Die „M-Aktion“ des NS-Regimes war ein Bereicherungsprogramm für den Kühne-Clan, wie den Angaben bei Wikipedia zu entnehmen ist. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, wenn man an die Schicksale denkt, die hinter den folgenden Zahlen steckt.

Demnach hatte die verantwortliche NS-Dienststelle bis August 1944 in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Luxemburg die Einrichtungen von rund 65.000 Wohnungen abtransportieren lassen. 500 Frachtkähne und 674 Züge seien dafür nötig gewesen. „Bei der Umsetzung half Kühne + Nagel“, heißt es nüchtern. Das Unternehmen sei direkt und mit Hilfe von Subunternehmen in allen besetzten westlichen Ländern aktiv gewesen.

Die Transporte aus den Niederlanden sind dabei am ausführlichsten recherchiert. K + N charterte beispielsweise einen eigenen Dampfer, um jüdisches Raubgut in das Deutsche Reich zu transportieren. Das erste Frachtschiff aus Amsterdam traf laut Wikipedia im Dezember 1942 in Bremen ein. Die Stückliste wies 220 Armsessel, 105 Betten, 363 Tische, 598 Stühle, 126 Schränke, 35 Sofas, 307 Kisten mit Glasgeschirr, 110 Spiegel, 158 Lampen, 32 Uhren, ein Grammophon und zwei Kinderwagen aus. Dabei handelte es sich um das Eigentum niederländischer Juden, die im Sommer 1941 in Konzentrationslager deportiert worden waren. Für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg führte Kühne + Nagel laut dem Historiker Wolfgang Dreßen „allein aus Paris […] zwischen 1941 und 1944 insgesamt 29 Kunsttransporte“ durch. In Südfrankreich suchte ein Mitarbeiter von Kühne + Nagel aktiv nach Möbeln. Laut Dreßen gab es eine äußerst enge Zusammenarbeit mit Behördenmitarbeitern und der deutschen Besatzung.

Für Historiker, die sich mit der Geschichte des Konzerns befasst haben, ist die Sache klar. Die Firma sei „mitverantwortlich für den Tod von Leuten, sie haben damit Geld verdient“, bewertete Dreßen das Geschehen. Und der Historiker Frank Bajohr vom Münchner Zentrum für Holocauststudien im Institut für Zeitgeschichte (IfZ) sah in den Geschäften von Kühne + Nagel „eine relative Nähe zum Massenmord“. Der Historiker Johannes Beermann, der zu den M-Transporten forschte, wird bei Wikipedia mit den Worten zitiert, bei der Verschickung des zusammengeraubten Mobiliars der deportierten Juden habe die verantwortliche NS-Dienststelle Westen eng mit der Spedition zusammengearbeitet. Dreßen weist darauf hin, dass Kühne + Nagel nicht allein gewesen sei, denn andere große Logistikunternehmen seien ähnlich verstrickt gewesen. Allerdings war das Bremer Unternehmen führend in dem entstandenen verbrecherischen Wirtschaftszweig. Beermann erklärte, es sei dem Fuhrunternehmen gelungen, „sich so erfolgreich gegen potenzielle Mitbewerber durchzusetzen, dass Kühne + Nagel im Verlauf der ‚M-Aktion‘ quasi das Monopol auf diese lukrativen Staatsaufträge erhielt“.

Es versteht sich wohl von selbst, dass das verbrecherische Handeln der Firmenverantwortlichen mit dem Ende von Krieg und Faschismus nicht beendet war. Wohl eher pro forma wurden die Brüder Alfred und Werner Kühne durch amerikanische Stellen einer Untersuchung zu ihrer Rolle im Faschismus unterzogen. Aufgrund der Aktenlage wurden beide nicht „entnazifiziert“, sondern als „Mitläufer“ eingestuft. Damit hätte keiner der beiden die international tätige Spedition weiter führen dürfen. Doch man fand Mittel und Wege. Und man hatte mächtige Freunde.

So heißt es bei Wikipedia, in den Entnazifizierungsakten fänden sich Hinweise auf eine Intervention der CIA, die als „top secret“ klassifiziert war. Das Schreiben ist die Anordnung, dass Alfred Kühne zu entnazifizieren sei. Nach Informationen des Geheimdienst-Wissenschaftlers Erich Schmidt-Eenboom gehörte Kühne + Nagel zu den wichtigsten Tarnunternehmen der neu aufgebauten Organisation Gehlen, Vorgängerorganisation des Bundesnachrichtendienstes. Schmidt-Eenboom beurteilt die Bedeutung des Unternehmens wie folgt: „Die CIA hat 1955 eine Aufstellung sämtlicher Tarnfirmen des Gehlen-Apparates gemacht, und da rangiert Kühne + Nagel sehr weit oben. Zum einen die Bremer Zentrale, zum zweiten die Münchner Niederlassung und zum dritten war das Bonner Büro von Kühne+Nagel der Sitz von Gehlens Verbindungsmann zur Bundesregierung.“

Bekanntlich sahen die USA und ihre Verbündeten angesichts der „bolschewistischen Bedrohung“ aus dem Osten recht schnell nach Kriegsende über die Verbrechen der Nazis und ihrer Helfer hinweg. So auch im Falle des Kühne-Clans. Alfred und Werner Kühnes Konten- und Vermögenssperren und Anstellungsbeschränkungen wurden mit ihrer Entnazifizierung in die „Kategorie IV“ zum 1. Juli 1948 aufgehoben. Die Weichen für den Wiederaufstieg des Konzerns waren gestellt.

An all das wird Klaus-Michael Kühne natürlich nicht gern erinnert. Am Rande des Richtfestes der neuen Firmenzentrale am Bremer Weserufer erklärte er im Mai 2019 gegenüber dem NDR-Lokalmagazin „Buten un binnen“, er habe kein Verständnis dafür, dass das Thema „immer wieder hochgekocht wird“. Die Firma sei „damals Dienstleister gewesen und musste so etwas machen“. Das sei „der Zwang des Krieges“ gewesen. Diese Einlassung gleicht den Erklärungen früherer KZ-Wärter in Prozessen, so sie denn überhaupt vor Gericht kamen, sie seien doch nur „kleine Rädchen im Getriebe“ gewesen und man habe sie dazu gezwungen, auf Gefangene zu schießen.

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Ein Europäer in den Tiefen des kolumbianischen Dschungels, bewaffnet, ausgebildet im Guerillakampf und im Krieg gegen einen rücksichtslosen Feind. Wir hatten die Möglichkeit, einen Internationalisten aus dem kolumbianischen Ejército de Liberación Nacional (ELN) zu interviewen.

Die Nationale Befreiungsarmee, die in Castellano das Akronym ELN trägt, befindet sich seit über 50 Jahren im Krieg mit dem kolumbianischen Staat und hat das Ziel, diesen zu stürzen. Eine marxistisch-leninistische Guerilla, inspiriert von der kubanischen Revolution und kommunistischen befreiungstheologischen Priestern. Während des jahrzehntelangen Krieges mit der Armee, rechten Paramilitärs, Narco-Kartellen und multinationalen Kooperationen hat die ELN gelernt, fast jede politische Situation zu überleben, und wächst nun wieder rasant. Die ELN ist nicht nur eine militärische Organisation, sondern de facto eine Regierung für die Menschen, die die kolumbianische Regierung vernachlässigt hat. Nachdem die zweite große kolumbianische Guerilla FARC-EP einen „Friedensvertrag“ unterzeichnet hat, ist die ELN nun Staatsfeind Nummer eins in Kolumbien. Das südamerikanische Land befindet sich immer noch im Krieg, auch wenn die Massenmedien diese Tatsache verschweigen.

Wir hatte die seltene Möglichkeit, einen internationalistischen Freiwilligen in der ELN zu interviewen. Wenn die Behörden von seiner Anwesenheit wüssten, wären sie außer sich, wie damals, als sie den Ursprung der berühmten FARC-EP-Guerillera und niederländischen Internationalistin Tanja aufdeckten. Die Sicherheitsvorkehrungen für dieses Interview waren hoch, die wahre Identität unseres Interviewpartners bleibt geheim. Zum ersten Mal gibt dieses Gespräch einen Einblick in das Leben eines freiwilligen europäischen Internationalisten, der in der ELN diente.

Um anzufangen, wo in Kolumbien warst Du stationiert?

Kolumbiens Llano-Region und die umliegenden Gebiete Arauca, Meta und Boyacá. Ich war größtenteils auf dem Land und in den Bergen stationiert, anstatt ein „Urbano“ zu sein – ein Stadtguerillero.

Wie kam es dazu, dass Du Dich der ELN angeschlossen hast? Was war Dein Ziel?

Ich hatte Freunde durch staatliche Repression in Kolumbien verloren, bevor ich überhaupt daran gedacht hatte, der ELN beizutreten. Meine Entscheidung, mich anzuschließen, beruhte auf meinen Erfahrungen in Kolumbien und wurde natürlich von meiner revolutionären Einstellung angetrieben. Der ganze Prozess verlief organisch. Ich bin nicht aus dem Westen aufgebrochen, um mich anzuschließen. Obwohl, ich würde sagen, dass ich als Marxist-Leninist natürlich meine Sympathien mit den Rebellen und auch der legalen politischen Bewegung hatte.

Ich habe lange und gründlich studiert und nachgedacht, und mir war klar, dass es sehr starke strategische Gründe gibt, Kolumbien als schwaches Glied in der imperialistischen Kette, die die gesamte Welt erstickt, zu priorisieren. Kolumbien ist für die Interessen der USA in Lateinamerika von entscheidender Bedeutung. Und das Land hat auch eine lange und bedeutende Geschichte marxistischen Widerstands, die diese Tatsache bestätigt. Die USA betrachten das Land als ihre Hochburg, als ihren wichtigsten Verbündeten auf dem Kontinent, daher wäre ein Sieg hier ein massiver Erfolg im Kampf gegen den Imperialismus für die ganze Welt. Es wäre unglaublich transformativ – auf dem gesamten südamerikanischen Kontinent würde nach Jahrzehnten der Einmischung, die oft von Kolumbien selbst ausgerichtet wurde, ein Stiefel vom Hals gehoben. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, an diesem Kampf teilzunehmen, so bescheiden meine Beiträge auch gewesen sein mögen.

Wie war dein tägliches Leben als internationaler Guerillero?

Ich war Mitglied eines offensiv ausgerichteten Bataillons. Unsere Operationsbasis war hauptsächlich in den Bergen, aber manchmal befanden wir uns auch in zivilen Communities. Unser Hauptziel war es, den Feind in dieser Region in kleinen Gefechten anzugreifen und wir zielten auf die Infrastruktur großer multinationaler Konzerne ab. Unsere Existenz als Einheit in der Region, die sich zwischen sicheren Gebieten in den Bergen bewegt und die lokalen ländlichen Communities schützt, zwingt den Staat dazu, viel Zeit, Geld und Arbeitskräfte zu investieren. Wir betrachten dies als eine Errungenschaft für unsere Bewegung, komme was wolle.

Unser Tagesablauf beinhaltete viel Marschieren und körperliches Training, das Aufspüren des Feindes, Waffentraining – im Grunde alles, was man als Vorbereitung auf offensive Aktivitäten in Betracht ziehen könnte. Jeder verbringt zwei Stunden am Tag im Wachdienst und jeder kocht und putzt, wenn er an der Reihe ist. Wann immer möglich, findet auch politische Bildung statt.

Ich werde ehrlich sein – das Leben in den Bergen ist sehr hart. Du bist extrem isoliert, Hunger und Unterernährung sind keine Seltenheit, und das kolumbianische Militär ist ständig mit Drohnen und Flugzeugen über Dir und sucht nach Anzeichen Deiner Anwesenheit, eine Tatsache, an welche die Armee Dich ständig erinnern möchte. Der Umgang mit diesen Bedingungen ist selbst für die hartgesottensten Veteranen in diesem Kampf schwierig.

Hast Du andere internationale Freiwillige in der ELN getroffen?

Mir sind keine anderen westlichen Internationalist:innen bekannt, die derzeit bei der ELN sind. Davon abgesehen gab es in der Vergangenheit eine Reihe von Internationalist:innen aus Spanien, darunter Manuel Perez, der die ELN bis zu seinem Tod 1998 leitete. Es gibt jedoch viele Internationalist:innen aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, wie beispielsweise aus Venezuela und Ecuador. Zu Kolumbiens FARC-EP gesellte sich eine Niederländerin, Tanja Nijmeijer, die sich über viele Jahre als große und engagierte Revolutionärin bewährt hat. Ich bin sicher, Tanja hat sich für den kolumbianischen Revolutionskampf als weitaus nützlicher erwiesen, als wenn sie in den Niederlanden geblieben wäre.

Ich wollte ursprünglich nicht der ELN beitreten. Die Gelegenheit ergab sich spontan, nachdem ich einige Zeit in Kolumbien verbracht hatte. Die Klandestinität, die die Rebellen aufgrund der Gewalt des kolumbianischen Staates benötigen, macht es schwierig, eine bewaffnete Bewegung in Kolumbien aus dem Ausland zu kontaktieren, insbesondere wenn man ein Außenseiter mit geringen Kenntnissen der lokalen Realität ist. Darüber hinaus muss man von einem vertrauenswürdigen Mitglied einer lokalen Community bestätigt werden, bevor man überhaupt für eine Mitgliedschaft in Betracht gezogen wird.

Die ELN sind offen für den Beitritt von Internationalist:innen, aber es ist kein einfacher Prozess.

Wenn Du an Deine Zeit in Kolumbien zurückdenkst, welche Momente kommen Dir als erste in den Kopf?

Das erste Mal als ich meine Uniform trug war ein sehr wichtiger Moment, aufgrund dessen, was sie darstellt und impliziert. Die Uniform repräsentiert die Verpflichtung des Widerstands gegen Kapitalismus und Imperialismus, eine Akzeptanz, dass man an einem Krieg teilnimmt, in dessen Verlauf man möglicherweise sein Leben verliert.

Die besten Zeiten waren die kleinen Momente unter Genoss:innen. Ich erinnere mich, wie wir zusammen gelacht haben, einige der Gespräche, die wir geführt haben – die einfachen Dinge. Wir unterhielten uns zur Mittagszeit oder bei einem Abendkaffee. Die Bäuerinnen und Bauern (die natürlich die große Mehrheit der ländlichen Guerilla-Reihen der ELN ausmachen) haben einen brillanten Sinn für Humor und versuchen, sich nicht zu ernst zu nehmen. Während der Trainingseinheiten wird viel gelacht, wenn Genoss:innen dazu neigen, sich auf die eine oder andere Weise zu blamieren.

Es tut sehr weh, wenn deine Genoss:innen getötet werden. Von Zeit zu Zeit erhalte ich immer noch Nachrichten über den Tod von Genoss:innen, mit denen ich gedient habe. Es tut noch mehr weh zu wissen, dass meine Genoss:innen oft vom venezolanischen Militär getötet wurden. Einige der bemerkenswertesten Kommunist:innen, die ich je kennengelernt habe, wurden vom venezolanischen Militär getötet. Andere haben die ELN mit Erlaubnis und bei guter Stimmung verlassen, wie es nach einer gewissen Zeit der Mitgliedschaft üblich ist.

Eine andere Sache, an die ich mich immer erinnern werde, ist das Gefühl wahrer Genoss:innenschaftlichkeit – eine wahre, tiefe und natürliche Wertschätzung für einander und jeden in ihrer Einheit. Sie alle bringen die gleichen Opfer, sie sind Mitglieder des gleichen Kampfes und sie sind den gleichen Risiken ausgesetzt. Dies schafft natürlich eine tiefere Bindung als die, welche man in legalen, städtischen politischen Bewegungen finden könnte. Wir beweisen uns selbst, beweisen unser Engagement füreinander und den Kampf jeden Tag, an dem wir weiterkämpfen. Es ist schwierig, ein vergleichbares Beispiel zu finden.

Das venezolanische Militär bekämpft die ELN, obwohl die Mainstream-Medien argumentieren, Venezuela unterstütze die Guerilla?

Es ist nicht wahr, dass das venezolanische Militär die Rebellen unterstützt – dies ist eine Lüge, um eine Aggression gegen den venezolanischen Staat zu rechtfertigen. Venezuela wird von den USA als sozialistisches Land und Bedrohung für den Imperialismus, als Feind, angesehen. Die Aussage, dass sie „Terroristen“ in einer fremden Nation unterstützen, ist ein alter Trick im Handbuch, um die Zustimmung für einen möglichen zukünftigen Krieg und für „Intervention“ herzustellen. Beweise für diese Art von Haltung gibt es überall – sieh Dir nur die Guiado-Saga und die fehlgeschlagenen Putschversuche im letzten Jahr an und wie der Irak und Afghanistan 2003 als „staatliche Sponsoren des Terrorismus“ galten.

Die Ermordung kolumbianischer Kommunist:innen durch das venezolanische Militär ist unter kolumbianischen Revolutionär:innen bekannt, aber die Medien berichten nicht darüber und es wird international totgeschwiegen. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum Venezuela kolumbianischen Rebellen feindlich gegenübersteht. Vielleicht aus Angst, echte Beweise für die Behauptung „Sponsoren des Terrors“ zu liefern. Eventuell versteht das venezolanische Militär seine Souveränität auf eine rechte und reaktionäre Weise und sieht in dem Tod von kolumbianischen Kommunist:innen die Sicherung ihrer Grenzen gegenüber ausländischen bewaffneten Gruppen, welche dort Schutz vor Luftschlägen und Angriffen im Morgengrauen suchen.

Ich weiß jedoch nur Folgendes: Das venezolanische Militär tötet routinemäßig kolumbianische Kommunist:innen, die es innerhalb seiner Grenzen findet. Sie arbeiten nicht mit der ELN zusammen – so sehr wir uns das alle wünschen.

Wie gefährlich ist das Leben als Guerilla? Wie gefährlich war es für Dich?

Eines Nachmittags, kurz bevor es völlig dunkel wurde – es wird gegen 18 Uhr in den Bergen pechschwarz und man kann nichts sehen -, wurde unsere Einsatzbasis durch das ohrenbetäubende Geräusch mehrerer Arten von Militärflugzeughubschraubern und Sturzkampfflugzeugen alarmiert, welche direkt auf uns zukamen, als ob sie wussten, dass wir da waren. Feindliche Bodentruppen machten sich auf den Weg zu unserer provisorischen Küche, in der wir den Tag verbracht hatten (wir nutzten sie oft als Treffpunkt während des Tages), aber wir hatten sie glücklicherweise erst zwanzig Minuten zuvor geräumt, um zu unseren Hängematten zu gehen und dort zu schlafen. Wir waren jedoch nicht in Sicherheit, da das Militär nur zehn Minuten entfernt war und schnell näherkam. Die gesamte Soundkulisse wurde vom Dröhnen der Motoren dominiert. Wir dachten das wär’s mit uns.

Ich ging hinter einem Baum in Deckung, wie es mir beigebracht worden war, aber es schien fast sinnlos, als der Feind von allen Seiten auf uns zukam – sie hatten uns flankiert und ihre Operation war eindeutig gut organisiert. Zum Glück haben der Anführer unserer 14-köpfigen Gruppe und mein engster Genosse bis zu seinem Tod durch das venezolanische Militär beschlossen, uns vom Berg herunterzuführen. Man konnte die Spannung in der Einheit spüren, es war eine schwierige Situation.

Ihre Hubschrauber hatten unsere üblichen Wege, Ein- und Ausgänge entdeckt. Soldaten hatten ihre Fahrzeuge in unserer Küche geparkt, um nach Beweisen für unsere Anwesenheit zu suchen, und wir wussten, dass es nicht lange dauern würde, bis sie unseren genauen Standort lokalisiert hätten, es sei denn, wir überlegten uns eine unberechenbare Lösung. Das kolumbianische Militär hatte Nachtsichtgeräte, welche wir nicht hatten, und die Nacht war pechschwarz. Wir waren umzingelt und die Zeit, um zu fliehen, wurde knapper. Wir beschlossen, dass unsere einzige Chance darin bestand, den steilen, überwucherten Berghang hinunterzusteigen, indem wir ihn hinunterrutschten und auf unserem Rückzug einen völlig neuen Weg einschlugen.

Wir brauchten ungefähr eine Stunde, um von der Spitze des Berges abzusteigen, gefolgt von einem 8-stündigen Marsch flussabwärts und einen anderen Berg hinauf, um genügend Abstand und Deckung für etwas Schlaf zu gewinnen. Wir haben am steilen Hang eines weiteren Berges geschlafen. Ich schlief mit meinen Beinen um einen Baumstamm, um zu verhindern, dass ich den Berghang hinunterfiel. Wir brauchten ungefähr zwei Tage, mit dem Militär immer dicht auf den Fersen, um in die Ebene zu gelangen, wo uns eine lokale indigene Gruppe die Unterstützung anbot, die wir dringend brauchten.

Manchmal konnten wir sogar das Geräusch ihrer Drohnen über unseren Köpfen hören. Am Ende jedoch, trotz der intensiven Operation gegen uns konnte unser Wissen über das Terrain, kombiniert mit unserer Erfahrung des Überlebens in den Bergen und der Umsetzung von Guerillataktiken, uns das Leben retten – und wir haben einen gut geplanten Hinterhalt zur Aufstandsbekämpfung ausmanövriert, der von dem militärisch gefährlichsten Staat finanziert und ausgerüstet wurde, den die Welt je gesehen hat, den USA.

Was würdest Du zur Perspektive zukünftiger internationaler Freiwilliger sagen? Wie war es, der einzige Westler zu sein?

Als ich der ELN beitrat, wurde ich von mehreren hochrangigen politischen Kommandeur:innen begrüßt, die eine Rede hielten, die ich nicht so schnell vergessen werde. Sie erklärten, dass die ELN „dem internationalen Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden“ sei und von der internationalen Unterstützung stark profitieren würde, vor allem der aus den Ländern des Westens. Die Kommandeur:innen legten großen Wert darauf, zwischen den Regierungen und dem Proletariat in den imperialistischen Nationen zu unterscheiden. Sie erkannten, dass die Arbeiter:innen im Westen trotz der geopolitischen Stärke von ihrer herrschenden Klasse immer noch bösartig ausgebeutet werden.

Es gibt einige Marxist:innen, die in Bezug auf Revolution übermäßig dogmatisch und starr sind und glauben, dass man als Franzose nur in Frankreich für den Sozialismus kämpfen muss, ein Mexikaner in Mexiko, ein Deutscher in Deutschland und so weiter. Ja, jemand, der selbst aus einer Nation stammt, wird die Bedingungen in dieser Nation besser und tiefer verstehen, aber das bedeutet nicht immer, dass er nur dort kämpfen kann, wo er herkommt. Das bedeutungsvolle Erbe von Che Guevara zeigt deutlich den Nutzen internationaler Freiwilliger. Ein jüngeres Beispiel ist Tanja Nijmeijer der FARC-EP. Ich vermute, dass sie im kolumbianischen Kampf wahrscheinlich wirksamer war als in den Niederlanden. Das Internationale Freiheitsbataillon in Kurdistan war maßgeblich an der Befreiung von Minbij und Raqqa während des antifaschistischen Krieges gegen ISIS beteiligt, und ich habe bereits Manuel Perez von der ELN erwähnt. Obwohl Perez einst unter dem Verdacht gefangen genommen wurde, ein ausländischer Spion zu sein, stieg er zum höchsten politischen Führer der ELN auf und bewies sich während mehrerer Jahrzehnte bewaffneter Kämpfe als ein großer Revolutionär. Viele andere Internationalist:innen in der Geschichte haben bewiesen, dass es manchmal nicht immer die beste Strategie für Kommunist:innen ist, dort zu bleiben, wo sie gerade geboren wurden.

Manuel Marulanda, Gründer der FARC-EP und ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kolumbiens, argumentierte einmal: „Auf 100 Kommunist:innen kommen nur etwa 30, die bereit sind, für ihre Überzeugung zu sterben. Und von diesen 30 werden nur etwa 10 bereit sein, das Opfer und den Kampf im bewaffneten Kampf zu ertragen.“ Es gibt immer viele städtische Aktivist:innen auf der ganzen Welt, die sich an legalen Kämpfen beteiligen, insbesondere im Westen, mit der romantischen Vorstellung, eines Tages an einem glorreichen bewaffneten Kampf teilzunehmen – aber es gibt normalerweise einen Mangel an Kommunist:innen, die bereit sind, wirklich zu kämpfen, die bereit sind, sich für ein solches Leben mit all seinen Schwierigkeiten zu entscheiden, besonders in Ländern wie Kolumbien, in denen der Feind aufgrund jahrzehntelanger Bürgerkriege sehr erfahren ist.

Wenn jemand wirklich bereit ist, diesen Weg zu gehen, wenn jemand demütig akzeptieren möchte, dass vielleicht niemand jemals von seinen Erfahrungen erfahren wird und dass er leicht sein Leben verlieren könnte, wenn er bereit ist, die Risiken, Verantwortlichkeiten und das ständige Lernen zu akzeptieren und selbstkritisch zu sein, wie es im Guerilla-Leben verlangt wird, dann würde ich sagen, dass diese Person für den bewaffneten Kampf wahrscheinlich wertvoller ist als in dem städtischen, legalen Kampf.

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. Teil eins der Serie widmete sich der Familie Quandt/Klatten, Teil zwei drehte sich um das Schaeffler-Imperium. Im vorliegenden dritten Teil geht es um die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG.

Die Toleranz der Polit-Elite gegenüber NS-Verbrechen hat in Deutschland eine eigene Ökonomie. Wenn ein paar hundert Glatzköpfe sich mit Fahnen und Lautsprecherwagen die Springerstiefel in den Bauch stehen und unter der Losung „Opa war ein Held“ ein gebührendes Andenken an die Kriegsverbrechergeneration fordern, kommt so gut wie niemand auf die Idee, eine Straße nach den jeweiligen Großvätern zu benennen.

Nun ist aber Michael Stoschek kein Hängengebliebener ohne Haupthaar, sondern einer der reichsten Deutschen. Und auch der Milliardär Stoschek hat einen deutschen Opa. Der hieß Max Brose. Und auch den wollte der Coburger Stadtrat zunächst nicht ehren, weil der Herr Großpapa typisch für seine soziale Schicht am großen deutschen Konjunkturprogramm von 1933 bis 1945 ganz reichlich teilgenommen hatte. Aber das wiederum beleidigte den Michael Stoschek. Nur weil der Opa an Zwangsarbeit verdiente, Rüstung für Hitlers Weltmachtstreben produzierte, NSDAP-Mitglied und „Wehrwirtschaftsführer“ war, konnte ihm doch keiner die Straße verwehren. Wo kämen wir da hin?

Der Herr Stoschek entschloss sich also, nunmehr weniger von dem Geld, das er aus dem Betrieb des Nazi-Opas geschlagen hatte, an die Stadt Coburg weiterzugeben. Und nach einiger Zeit sah man dann auch im Stadtrat ein: Non olet. Und wenn das Geld nicht stinkt, wie kann dann der stinken, der einst begann, es zu akkumulieren? Also kam 2015 doch die Ehrung und so hat die Stadt Coburg – gebührend für die „erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands“, wie sie sich ab 1939 stolz nannte – nun eine Max-Brose-Straße.

Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!“

Woher kommt so viel Patte, dass man in der Lage ist, eine Stadt zu erpressen, eine Straße nach dem eigenen Nazi-Opa zu benennen? Die Antwort ist: Letztinstanzlich von eben jenem Nazi-Opa. Denn Max Brose begründete eine Unternehmensdynastie und der gehört eben auch noch sein Enkel Michael Stoschek sowie dessen Schwester Christine Volkmann an.

Die ersten Anfänge sind nicht genau rekonstruiert, aber insgesamt geht der Reichtum des Clans auf die Gründung eines Unternehmens für Automobilausrüstung zurück, das der da 24-jährige Max Brose 1908 in Berlin eintragen ließ. 1919 tut sich Brose mit seinem langjährigen Geschäftspartner Ernst Jühling zusammen, und beide schlängeln sich mal erfolgreicher, mal weniger erfolgreich durch die entstehende Auto-Industrie der Weimarer Republik. Sie werden reich, aber natürlich gibt es auch Krisen.

Aber es ging immer wieder bergauf. So etwa, als 1932 ein richtig mieses Jahr war, dann aber zum Glück der deutschen Bourgeoisie Hitler kam und ab 1933 ordentlich das Business ankurbelte. Selbst der den von ihm porträtierten Unternehmerfamilien stets sehr wohlwollend gesonnene Historiker Gregor Schöllgen schreibt in seiner Unternehmensgeschichte „Brose. Ein deutsches Familienunternehmen 1908 – 2008“: „Es ist erstaunlich, wie schnell die deutsche Automobilindustrie aus dem Tief des Jahres 1932 herausfindet. […] Hinter diesem Erfolg steckt ein Name: Am 11. Februar 1933 hat erstmals ein Reichskanzler die Internationale Automobil- und Motorradausstellung in Berlin eröffnet. Es ist zugleich die erste öffentliche Amtshandlung Adolf Hitlers in seiner neuen Funktion.“

Im Juni 1933 stellt Max Brose seinen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP. Er wird auch noch Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, in der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation, im Nationalsozialistischen Kraftfahr-Korps“, im „NS-Reichsbund für Leibesübungen“, in der Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ sowie in der „Deutschen Arbeitsfront“. Er ist hochrangiger Funktionär der Industrie- und Handelskammer Coburg und „Wehrwirtschaftsführer“. Vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS wird Brose als „national, ohne weitere Bindungen“ eingestuft. 1935 attestierte ihm Obersturmbannführer Linke in der Führerbeurteilung des Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps: „Weltanschauliche Festigung: Guter Nationalsozialist“.

Kurz: ein klassischer unbelasteter und nur durch äußeren Druck sich anpassender deutscher Unternehmer, wie wir sie nur allzu gut kennen.

Brose leidet immens unter dem Nationalsozialismus: 1935 macht er sich an einen Neubau einer standesgemäßen Villa. Zuvor im Eigentum des von Nazis gefolterten und vertriebenen Juden Abraham Friedmann, wird man nach dem Krieg aber gottseidank feststellen, dass der Kauf seitens Broses voll und ganz ordnungsgemäß war. Welcher Ordnung er gemäß war, diese Frage verbot sich schon unmittelbar nach Kriegsende.

Broses Umsatz – so Schöllgen – erreicht bis 1944 „ungebremst nicht gekannte Dimensionen“. Ab 1939 beginnt Brose mit der Fertigung von Rüstungsgütern, der Krieg steht ja vor der Tür. Die Firma Brose blüht in dem Maße auf, in dem faschistische Aggressionsarmee voranschreitet. Das Repertoire: Der Klassiker, der Brose 20-Liter-Kanister; Aufschlagzünder; Panzergeschosse; Sprenggranaten. Alles mögliche, bis hin zur Luftfahrtausrüstung.

Wer produziert nun? Viele Frauen, denn Arbeiter wurden massenhaft eingezogen. Und Zwangsarbeiter:innen. Für 1942 nennt Schöllgen 200 sowjetische Kriegsgefangene, 60 Kroaten und etwa 20 Franzosen. In Broses Werk gab es von der Wehrmacht vereidigte „Hilfswachleute“ und Geschäftspartner Jühling forderte die Gestapo auf, flüchtige kroatische Fremdarbeiter:innen wieder einzufangen. In der Firma hängt nun aus: „Allen Nichtbefugten ist jeglicher Verkehr mit den kriegsgefangenen Sowjetrussen verboten!“ Und in einem namentlich von Brose gezeichneten Schreiben heisst es zum Umgang mit den Gefangenen: „Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!“

Broses Umsatz explodiert bis 1944. Dann geht‘s mit dem Hitler-Faschismus zu Ende. Aber glücklicherweise hatte Max Brose ja mit dem Faschismus gar nichts zu tun, also hört die Unternehmensgeschichte der Broses hier nicht auf.

Alles nur Mitläufer

Der stets wohlgesonnene Auftragshistoriker Schöllgen trifft ungewollt den Punkt: Nach der Niederlage des Hitler-Faschismus war klar, dass Coburg „nicht unter sowjetische, sondern unter westliche, unter amerikanische Herrschaft gerät, und das wiederum erklärt, dass Max Brose, soweit das unter den gegebenen Umständen möglich ist, der kommenden Entwicklung gelassen entgegensieht.“

Brose hat, das sollte die weitere Geschichte zeigen, allen Grund dazu, denn in der heraufziehenden Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus machte sich der Westen prompt an die Wiederverwendung noch nahezu jedes Nazi-Verbrechers. Es folgte zwar eine Episode, in der Brose und seinem Kumpan Jühling von den US-Behörden die Firmenleitung entzogen worden war. Die endete aber rasch. Jühling wird als „Mitläufer“ eingestuft, Brose zunächst als „Minderbelasteter“, dann ebenfalls als „Mitläufer“. Wohl bekomm‘s und weiter gehts.

1948 kehrt Brose zurück an die Firmenspitze und es geht ab ins Wirtschaftswunder, denn das – ja von wem eigentlich? – in Ruinen zurückgelassene Land will wieder aufgebaut werden. Dazu kommt, dass nach dem Krieg ja bekanntlich vor dem Krieg ist – in diesem Fall des Koreakriegs, bei dem die USA rund 5 Millionen Menschen umbrachten und der in der Bundesrepublik eine wirtschaftliche Boom-Phase auslöste.

Brose positioniert sich voll und ganz auf dem Markt für Automobil-Zulieferer und kann bald expandieren. Arbeitskraft ist genügend vorhanden, Absatz auch. Und so wird die Firma Brose das, was sie heute ist, eines der Aushängeschilder der deutschen Automobilindustrie.

Billige Lohnkosten im Ausland

1968 stirbt Max Brose. Seine Tochter Gisela führt das Unternehmen einige Jahre, dann übernimmt Michael Stoschek, der heute amtierende Erbe der Familiendynastie. Damals nimmt das Unternehmen rund 1000 Arbeiter:innen aus und erwirtschaftet 50 Millionen D-Mark. Heute sind es nach Unternehmensangaben 25 000 bei einem Umsatz von 6,2 Milliarden Euro (Stand 2019).

Einen Einblick in den Arbeitsalltag dieser Beschäftigten zu gewinnen, ist nicht einfach – gibt es doch gerade für die Produktionsanlagen im Ausland kaum Quellen. Wer subjektive Eindrücke aus deutschen Werken lesen will, kann das auf der Plattform kununu, auf der anonym Erfahrungen mit Unternehmen eingestellt werden können – allerdings selten von Produktionsarbeiter:innen genutzt. Wiederkehrende Themen sind: Eine auf extremem Druck basierende Arbeitskultur, miese Kommunikation, Arbeitsplatzunsicherheit durch Stellenstreichungen und Leiharbeitsverhältnisse, die den „untersten“ Teil der Arbeiterklasse bei Brose in Deutschland bilden.

Die Löhne – ist man nicht gerade Leiharbeiter – sind, wie bei allen deutschen Unternehmen von Welt, so ausgerichtet, dass es im Mutterland keinen Aufstand gibt, dafür aber eine Reihe von Fabriken in Niedriglohnländern existieren. Auch Brose hat die seit den 1970er-Jahren andauernde allgemeine Tendenz zur Verlagerung von Produktionstätigkeiten und Wertschöpfung ins Ausland mitgemacht.

1988 beginnt Brose in Großbritannien und Spanien zu produzieren. Schon damals hat die Internationalisierung klare Gründe: In Großbritannien werden „im Jahresdurchschnitt fast 110 Stunden mehr gearbeitet als in der Bundesrepublik, und das bei deutlich günstigeren Lohnkosten und einer Nutzung der Maschinen im Dreischichtbetrieb“, schreibt Schöllgen.

Und wenn das schon in Großbritannien so viel günstiger ist, wie wird es erst in Slowenien, Brasilien, Indien, China sein? Von den späten 1980ern an baut Brose sich insgesamt 64 Standorte in 24 Ländern auf. Die Mehrheit der Beschäftigten des „deutschen“ Unternehmens arbeitet heute nicht in Deutschland und nicht zu den mit der IG Metall ausgehandelten Bedingungen (auch wenn Brose selbst im Inland gelegentlich versucht, den Tarif zu untergraben).

Und was bekommt man im Ausland so? Ein Inserat für Produktionsarbeiter:innen im slowakischen Prievidza verspricht „742 bis 1000 Euro“ Brutto fürs Malochen im Dreischichtbetrieb. In Mexiko, dem Eldorado für Billigproduktion und Union-Busting, verdienen die Brose-Arbeiter:innen so wenig, dass es für den Konzern günstiger war, auf eine weitergehende Automatisierung der Produktion zu verzichten. Für einen ganzen Tag Arbeit gibt es um die 30 US-Dollar, schreibt die Wirtschaftswoche. Kein Wunder, dass dann gilt: Die Arbeiter:innen sind „durchweg Mexikaner bis auf den Werksleiter“ – der ist natürlich Deutscher.

Dieser Prozess der Verlagerung ins Ausland ist keineswegs abgeschlossen. Die Standorte in Niedriglohnländern, die zudem oft keine oder kaum gewerkschaftliche Organisation kennen, wird durch die sogenannte Corona-Krise beschleunigt. Während das Unternehmen bereits vor Covid-19 ankündigte, etwa 2000 Stellen in der Bundesrepublik abzubauen, meldete es in den vergangenen Jahren den Ausbau der Produktionskapazitäten etwa in China oder Mexiko.

Hilflose Gewerkschaften

Die Antwort der zuständigen IG Metall ist dürftig. Als Brose in Coburg kurzfristig Stellen abbauen will, heisst es nur: Die Gewerkschaft „beobachtet“ die Situation sorgfältig, aber man habe ja eine Betriebsvereinbarung, die bis 2024 betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. Und dann? Bei anderer Gelegenheit kritisierten IG-Metall-Gewerkschafter zwar die „Steinzeitmethoden“ von Brose und ähnlichen Betrieben in der Corona-Krise, aber mehr als ein Appell an einen anderen „Unternehmergeist“ war dann auch nicht drin. Im Oktober 2020 wurde kurz symbolisch gestreikt – aber auch das bleibt völlig wirkungslos.

Am Ende geht es der IG Metall um die Aushandlung von „sozial verträglichem“ Arbeitsplatzabbau, Abfindungen und langsamen Kündigungen. Brose bezahlt die für die Abwicklung nötigen Summen aus der Porto-Kasse. Und wer erwirtschaftet die? Na die Arbeiter:innen in Produktionsstandorten irgendwo anders, die fortan für deutlich niedrigere Lohnkosten produzieren.

Michael Stoschek kann den Gewerkschafts“widerstand“ jedenfalls gelassen sehen. Während die IG Metall Pressemitteilungen ohne erkennbare Wirkung schreibt, sammelt der Brose-Erbe Sportwagen und lässt sich auf Ferrari-Modellen basierende Unikate anfertigen. Seine Tochter Julia verwirklicht sich als Kunstsammlerin, Sohn Maximilian gönnt sich neben dem Brose-Anteil eine Helikopter-Charter-Firma.

#Bildquelle: pixabay

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Nach den Präsidentschaftwahlen in Moldawien spielt sich dort ein Machtkampf zwischen Maia Sandu von der Partei „Aktion und Solidarität“ (PAS) und Igor Dodon von der Partei der Sozialisten der Republik Moldau (PSRM) ab. Beide gebaren sich als Korruptionsbekämpfer:innen und positionieren sich gegen den einflussreichen Oligarchen Vladimir „Vlad“ Plahotniuc.

Vor den Parlamentsgebäuden in der moldawischen Hauptstadt Chișinău demonstrieren hunderte von Menschen. Sie fordern die Auflösung des Parlaments und sofortige Neuwahlen. Bei der aufgebrachten Menschenmenge handelt es sich um die Anhänger:innen der am 16. November zur Präsidentin gewählten Politikerin Maia Sandu von der liberalen Partei „Aktion und Solidarität“ (Partidul Acțiune și Solidaritate,  PAS). Sandu gewann im zweiten Wahlgang mit 57,72, steht jedoch einer feindlichen Parlamentsmehrheit gegenüber. Die von den Demonstrant:innen verlangten Neuwahlen sollen die Situation ändern.

Vom antioligarchischen Allianz zur Neuauflage des Kampfes um die Wahl der Anlehnungsmacht

Die Harvard-Absolventin Sandu hatte bereits vom 8. Juni bis zum 14. November 2019 das laut Verfassung entscheidende Amt des Premierministers inne, doch ihr Koalitionspartner, die Partei der Sozialisten der Republik Moldau (Partidul Socialiștilor din Republica MoldovaPSRM) des bisherigen Präsidenten Igor Dodon kündigte das Bündnis auf und entzog der Regierung die Mehrheit. Zur Regierungschefin wurde Sandu damals durch die Proteste im Sommer 2019. Damals einigten sich die als pro-russisch geltende PSRM und verschiedene prowestlich-liberale Kräfte gegen die Macht des Oligarchen Vladimir (Vlad) Plahotniuc.

Obwohl seine Demokratischen Partei Moldaus (Partidul Democrat din Moldova, PDM) offiziell keine Mehrheit im Parlament besaß, kontrollierte Plahotniuc faktisch nicht nur das Parlament, sondern auch das Verfassungsgericht. In Moldawien kam Trennung von politischer Gewalt und ökonomischer Privatmacht nie zu Stande – was von den westlichen Betreuer:innen der „Transformation“ vom Realsozialismus zur Marktwirtschaft stets bemängelt wurde. Als Plahotniuc eine Wahlrechtsreform, die ihm Mehrheit sichern sollte in die Wege leitete und den Präsidenten Dodon faktisch entmachtete, kam eine Koalition von Sandus PAS und Dodons PSRM zustande. Plahotniuc musste aus dem Land fliehen, doch das im Februar 2019 gewählte Parlament blieb und dort entscheiden weniger die Mehrheitsverhältnisse der Fraktionen, sondern Plahotniucs Gelder.

Dodon und Sandu beschuldigten sich gegenseitig nicht nur der Korruption, sondern sprachen einander überhaupt ab, ernsthaft für die Unabhänigkeit des Landes einzustehen. Wie es in prowestlichen Kreisen Moldawiens üblich ist, bekennt sich Sandu zur rumänischen Identität und hält die „moldawische Sprache” für ein Konstrukt der sowjetischen Politik. Das ist aus der Sicht von Dodon und moldawischen „Linken” – die sich in vielen Fragen eher wertkonservativ gebähren – ein Verrat. Umgekehrt gilt das gleiche: Dodons Festhalten an sowjetischen Geschichtsnarrativen, seine Verteidigung des Moldawischen als eigenständiger Sprache, sein demonstratives Bekenntnis zur Freundschaft mit Russland gilt seinen Gegner:innen als ein sicherer Beweis dafür, dass er eine „Marionette des Kremls” ohne Sinn für Nationales sei.

Der ganze ideologische Konflikt um die richtige Auslegung des Nationalismus hat jedoch ganz materielle Demension. Denn seit der Unabhängigkeit der ehemahligen Sowjetrepublik müssen immer mehr ihre Bürger:innen ihren Lebensunterhalt im Ausland verdienen. Die chronische Abhängigkeit Moldawiens vom Visumsregime der EU und Russlands schlägt sich auch im Wahlverhalten nieder. Die in der EU arbeitenden Moldawier:innen stimmten geschlossen für Sandu ab. Da sie als Putz- und Servicekräfte, als Bauarbeiter:innen oder Sexworker:innen eben die Weltwährung Euro nach Hause überweisen, sind sie ein wichtiger Faktor des Politik- und Wirtschaftsleben im ärmsten Staat Europas. Dodon versuchte dagegen mit seinen Erfolgen in Verhandlungen um Kredite aus Russland zu punkten.

Die Koalition zwischen Sandu und Dodon zerfiel, als die PSRM ein Gesetz einbrachte, das vorsah, dass Supermärkte 50 % des Sortiments von den heimischen Produzent:innen beziehen müssen – ein Versuch die heimische Landwirtschaft zu retten. Denn diese leidet stark unter von Russland verhängten Einfuhrbeschränkungen. Sandu verweigerte jedoch die Zustimmung zum Gesetz mit dem Verweis auf Auflagen der EU – denn ihre Partei sieht Moldawiens Zukunft nur in der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Daraufhin stimmten Dodons „Sozialisten“ zusammen mit Plahotniucs PDM ab und setzten eine Regierung der „unabhängigen Experten“ unter dem parteilosen Dodon-Berater Ion Chicu ein. Das konnte Sandu im Wahlkampf als Beweis für Dodons Verrat an den deklarierten „antioligarchischen“ Zielen ausschlachten.

Zudem war das pro-russischer Lager im Wahlkampf gespalten, Platz drei belegte mit 16, 90 % Renato Usatîi, der Bürgermeister der Stadt Bălți. Obwohl seine „Unsere Partei“ (Partidul Nostru, PN) es bei den letzten Wahlen gar nicht ins Parlament schaffte, punktete er unter der russischsprachigen Bevölkerung und unter Jugendlichen von Land mit seinen Hasstiraden auf den Westen und die Korruption. Mit Sandu eint ihn die Wut auf den „Verräter” Dodon. Sein Ruf als prorussischer Politiker wird allerdings dadurch relativiert, dass er von den russischen Behörden wegen illegalen Finanztransaktionen gesucht wird.

Sandus Vision und moldawische Realität

Die Bestandsaufnahme und das Programm der designierten Präsidentin lassen sich kurz zusammenfassen. Die Ursache aller Probleme in Moldawien sei die Korruption. Wenn man stattdessen richtig faire Konkurrenz etabliere, sich allen Anforderungen der EU und des IWF beuge, werde die Republik irgendwann das Lebensniveau der reichen europäischen Länder erreichen.

Im Interview mit dem ukrainischen Journalisten Dmitri Gordon am 12. November kündigte Sandu ihre Agenda als Präsidentin an: „das Gerichtssystem und die Staatsanwaltschaft zu säubern” und die Verteidigung der Interessen der „ehrlichen” Unternehmer:innen, die nicht länger vom oligarchenhörigen Staat drangalisiert werden sollten. „Ich werde die ernsthafte Anwältin des moldawichen Business sein!”. Nicht der eigenen Geschäftsinteressen, wie die „politische Klasse”, die sie säubern möchte, sondern eben Anwältin des Rechts auf kapitalistisches Wirtschaften an sich.

So viel guten Willen sollen die westlichen Demokratien nach ihrer Vorstellung belohnen, indem sie helfen die russischen „Friedenstruppen” aus der international nicht anerkannten Republik Transnistrien zum Abzug zu zwingen.

Weder die durchwachsene Erfolge dieser Strategie in anderen postsowjetischen Republiken, noch die Tatsache, dass sich die Geschäftswelt Moldawiens schlicht nicht in „böse Korrupte” und „ehrliche Unternehmer” sortieren lässt, da Kontakte zur Politik für erfolgreiches Kapitalistsein unverzichtbar sind und die Parteien häufig als Eigentum der Oligarchen fungieren, können Sandu ins Zweifeln bringen. Dass auch Plahotniuc sich zur Westintegration bekannte, während er den Staat zum Instrument seiner privatwirtschaftliche Interessen machte, erklärt Sandu schlicht damit, dass er und ihm nahestehende Politiker:innen „verlogen” seien. Wenn die erneuerten Gerichte endlich die alte politische Klasse kräftig durchsäuberten, würde im armen Moldawien auf einmal kräftig Kapital akkumuliert, so die Logik von Sandus Erneuerungsprogramm.

Ihre Gegner:innen mobilisieren gegen sie mit Ängsten vor „Lockdown-Politik” nach europäischen Vorblid, vor Verlust der Unabhängigkeit oder „westlichem Sittenverfall”. Die Abhängigkeit Moldawiens von Russland wird als Argument gegen Sandus EU-Pläne positiv gewendet.

Kampf um die Kompetenzen

Noch bevor Sandu ihr – laut der aktuellen Verfassung in Kompetenzen sowieso stark eingeschränktes – Amt als Präsidentin antreten konnte, beschloss das Parlament immer neue Gesetze, die die Macht beim Parlament selbst und der Regierung konzentriert. So soll unter anderem der Geheimdienst SIS nun nicht mehr der Staatschefin, sondern dem Parlament unterstellt werden. Zudem kann das Verfassungsgericht die Amtsführung des Präsidenten immer wieder unterbrechen. Da die Abgeordneten im moldawischen Parlament beständig die Fraktionen wechseln, war die Bedeutung der Wahlergebnisse in der Republik schon seit langem relativ klein. Sandu spricht dem Parlament, in dem nach wie vor eine Plahotniuc-hörige Mehrheit existiert, offen die Legitimität ab.

Ähnlich wie ihr ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj, der ebenfalls mit Antikorruptionsparolen an die Macht kam, stellt Sandu fest, dass die Legislative und die Judikative in ihrem Staat ein einziges Instrument der Oligarchie seien, die Abgeordente und Richter:innen fraktionsübergreifend mit Bestechung und Erperessung dazu bringt in ihrem Sinne abzustimmen. Als Mittel dagegen fällt den selbsterklärten Held:innen des Antikorruptionskampfes Sandu und Selenskyj vor allem die Stärkung der Präsidialmacht ein. Schon vor zwanzig Jahren hat der Lieblingsfeind der beiden, der russische Präsident Wladimir Putin im Bezug auf sein Land und das dortigen Parlament sehr ähnliche Schlüsse gezogen.

# Titelbild: Jennifer Jacquemart, Europäische Union, 2019, Maia Sandu

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Während Deutschland und andere Staaten des globalen Nordens sich schon Millionen Impfstoffdosen verschiedener Hersteller gesichert haben, ist für die Länder des globalen Südens nicht absehbar, wann dort überhaupt ein Impfstoff zur Verfügung steht. Die Sicherung von Profiten für die Pharmaindustrie hat vor der Gesundheit der Menschen Priorität, wie sich auch am Beispiel der HIV/AIDS-Epidemie gezeigt hat.

Es handele sich um ein globales öffentliches Gut, den Corona-Impfstoff zu produzieren und ihn dann auch in alle Teile der Welt zu verteilen, erklärte Angela Merkel noch vor acht Monaten. Damals war noch gut reden, denn der Impfstoff schien in weiter Ferne. Heute, wo verschiedene Impfstoffkandidaten in greifbarer Nähe sind, handeln sowohl die deutsche Bundesregierung, als auch alle anderen Staaten des globalen Nordens nach dem Motto: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“.

Alle Versuche beispielsweise der Weltgesundheitsorganisation WHO eine globale Verteilung zu erarbeiten, an der alle Staaten gleichmäßig beteiligt wären, blieben ungehört. Stattdessen handelten einzelne wohlhabende Staaten, wie die USA und Deutschland, private Verträge mit der Industrie aus. Mit diesen Einzelverträgen sicherten sich einige wenige Länder des globalen Nordens, die 13% der Weltbevölkerung repräsentieren, bereits über die Hälfte der zur Verfügung stehenden Impfstoffdosen.

Solidarität, wie sie vorher oft beschworen wurde, ist zu einem Hauen und Stechen um die verfügbaren Impfstoffdosen geworden. Und im Hauen und Stechen haben Jahrhunderte kolonialer und imperialer Ausbeutung die Macht im globalen Gefüge entsprechend verteilt.

Die Doppelmoral, die deutsche Politiker*innen zur Schau tragen, ist dabei besonders irritierend. Während sich in den vergangenen vier Jahre über Donald Trumps „America First“ Strategie echauffiert wurde, tun in Krisensituationen alle Staaten, die es sich leisten können genau das selbe. Hauptsache vor der eigenen Haustür kehrt die Normalität ein und das Wirtschaftswachstum zurück. Und während in Deutschland Provinzfürsten wie Markus Söder schon anfangen zu blöken, wie weit oben Polizist:innen auf der Impfprioritätenliste stehen sollen, ist in Ländern des globalen Südens noch nicht einmal absehbar, wann das medizinische Personal und die Risikogruppen geimpft werden können.

Was in all dem Tamtam untergeht ist allerding, dass es bei dieser globalen Verteilungsfrage tatsächlich um ein menschengemachtes Problem in einer kapitalistischen Gesellschaft handelt: Patente von Pharmaunternehmen sichern deren Profite und verhindern, dass Medikamente im großen Stil produziert und in den Staaten des globalen Südens verfügbar sind, obwohl dies technisch gesehen bereits möglich wäre.

Der Streit um die Patente

Das hat eine lange Tradition, denn der Streit um Patentrechte für Medikamente, zieht sich schon seit Jahrzehnten hin. Das TRIPS Abkommen von 1995 regelt handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, darunter fallen auch Patente für Medikamente und medizinische Forschungserfolge. Eines der federführenden Unternehmen, welches damals dieses Abkommen maßgeblich mitgeformt hat, war übrigens Pfizer. Pfizer hat jetzt einen der ersten Corona-Impfstoffe auf den Markt gebracht hat und wird von eben dieser Regelung profitieren. Die Patentierung von Medikamenten führt dazu, dass andere Firmen die „Rezepte“ nicht benutzen dürfen um die patentierten Medikamente „nachzubauen“, sondern warten müssen bis der Patentschutz ausläuft, was bis zu 20 Jahre dauern kann. „Generika“ nennt man solche Medikamente, mit den gleichen Wirkstoffen wie das Original Präparat, die sich höchstens in den Zusatzstoffen und Herstellungsprinzipien unterscheiden. Die Kosten für Generika betragen häufig nur einen Bruchteil des Originalpreises.

Patente und die HIV/AIDS Pandemie

Die bislang größte Auseinandersetzung um Generika betraf die Medikamente gegen das HI-Virus und die AIDS Erkrankung. Insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent wurden jahrzehntelange Auseinandersetzungen geführt. Bis Generika dort eingesetzt werden konnten, vergingen Jahre, hunderttausende Menschen starben in dieser Zeit, obwohl die lebensrettenden Medikamente längst vorhanden waren. Viele Länder des globalen Südens sind mittlerweile Mitglieder in der Welthandelsorganisation (WTO), was sie dazu verpflichtet ebenfalls dem TRIPS Abkommen zuzustimmen. Durch dieses Abkommen müssen sie wie oben bereits erwähnt, den Patentschutz auf Medikamente wahren. Ein großer Teil der HIV Medikamente kam auf den Markt, bevor viele Länder des globalen Südens dem TRIPS Abkommen beigetreten sind, daher konnten für diese, kostengünstige Generika produziert werden. Für neuere Medikamente gilt allerdings der Patentschutz. Viele Patient*innen müssen mit der Zeit auf Grund von Nebenwirkungen der alten Medikamente auf neuere Substanzen umgestellt werden, die ihnen nun verwehrt bleiben. Für sie bleibt also nur ein Abwägen zwischen Nebenwirkungen und einem möglichen Ausbruch von AIDS.

Einige Länder, unter anderem Deutschland, pochen auf Verschärfungen des TRIPS Abkommens, welches die Herstellung von Generika noch weiter erschweren würde. Unter anderem eine Konsequenz dieser Verschärfung wäre die Notwendigkeit Medikamentenstudien zu wiederholen, weil auch Forschungsdaten geschützt werden sollen. Das bedeutet einen enormen Kosten- und Zeitaufwand der häufig von Generikafirmen nicht gestemmt werden kann. In Deutschland muss sich jede medizinische Studie einer ethischen Prüfung unterziehen, beispielsweise dürfen Versuche an Menschen nur durchgeführt werden, wenn dadurch neue, essenzielle und nicht anders zu erlangende Kenntnisse erzielt werden können. Diese ethischen Überzeugungen enden offensichtlich an den EU Außengrenzen.

Die aktuelle Auseinandersetzung um die Coronaimpfstoffe

Als hätte man nichts gelernt aus der HIV-Pandemie geht derselbe Streit aktuell um die Corona-Impfstoffe von Neuem los. Die Industrie forscht an ihren Impfstoffen, behält die Nutzungsrechte an dem erlangten Wissen für sich und patentiert dann ihre Erfolge, damit sie bloß keiner nachahmen kann. Die Forschung für die Coronaimpfstoffe wird zu großen Teilen mit öffentlichen Geldern finanziert und die Gewinne werden privatisiert und einzelnen Firmen vorbehalten. Ein erster Versuch der WHO diesem Trend entgegen zu wirken, ist bereits gescheitert. Costa Rica regte an, einen Patentpool zu erstellen, in dem das Wissen und Technologien für Impfstoffe und Medikamente gegen Covid 19 gebündelt werden würde und mehr Ländern zur Verfügung gestellt werden würde.

Mit dem C-TAP genannten Programm sollten Forschungsergebnisse transparent gemacht werden und finanzielle Unterstützung für die Forschung sollte an Bedingungen geknüpft werden, wie zum Beispiel einen globalen Zugang und günstige Preise. Die Bundesregierung verweigert ihre Teilnahme an dem Programm, gleichzeitig investierten sie 500 Millionen in die Forschung privater Firmen. Während sich zahlreiche Länder des globalen Südens an diesem Projekt beteiligten, boten nur fünf EU Länder ihre Unterstützung an. In einem zweiten Versuch beantragten Südafrika und Indien wenigstens den Patentschutz für die Coronaimpfstoffe auszusetzen, was in Krisensituationen explizit im TRIPS Abkommen festgelegt wurde. Die EU, sowie die USA, Kanada und die Welthandelsorganisation lehnten diesen Antrag ab. Der Abgrund zwischen Nord und Süd wird weiter vertieft.

Bis ein Impfstoff den Ländern im globalen Süden ausreichend vorhanden sein wird, wird es noch lange dauern. Nur knapp 800 Millionen Impfstoffdosen sind bis jetzt für die ärmsten Länder vorgesehen. Die Prämisse der Pharmaindustrie ist und bleibt eben die Profitmaximierung; die Regierungen des globalen Nordens machen munter mit, und internationale Verträge sichern diese Profite ab – auf Kosten von Millionen Menschenleben.

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Das Ende des unipolaren Menschenrechtsimperialismus während der Trump-Ära.

Es wäre falsch, in schlechter bürgerlicher Tradition dem scheidenden US-Präsidenten vorzuwerfen, während seiner Amtszeit nichts Nennenswertes erreicht zu haben – selbst wandelnde Katastrophen wie Trump vollbringen zwangsläufig in vier Präsidentschaftsjahren einiges. Neben dem beschleunigten Ruinieren des Klimas und vieler lokaler Ökosysteme, der emsigen Förderung faschistischer Gruppierungen, sowie der Entfesselung der mit Abstand größten Pandemiewelle in den USA seit der Spanischen Grippe, kann der Rechtspopulist auch auf handfeste außenpolitische „Erfolge“ zurückblicken.

Anfang Mai 2017 kündigte Trumps damaliger Außenminister Rex Tillerson an, es künftig mit den bürgerlichen Menschenrechten nicht mehr so genau nehmen zu wollen, die immer wieder als Legitimation für US-Interventionen dienten. Tillerson degradierte dabei Menschenrechte zu „Werten“ der Vereinigten Staaten, die sich zunehmend zu „Hürden“ bei der globalen Verfolgung von US-Interessen entwickelten. „Dies sind unsere Werte. Aber sie sind nicht unsere Politik“, so der damalige Spitzendiplomat. Tillerson brachte somit schon 2017 die kommende außenpolitische Praxis Trumps – der sich in Gesellschaft von Diktatoren und Despoten wie Erdogan wohlfühlte – auf den Punkt.

Am Ende seiner Amtszeit kann konstatiert werden, dass diesem außenpolitischen Kurs Trumps ein durchschlagender Erfolg beschieden war. Menschenrechte spielen in der Legitimierung von Geo- und Außenpolitik kaum noch eine Rolle. Interventionen und Kriege, wie etwa die US-Invasion des Irak, die zuvor standardmäßig mit Demokratiedurchsetzung und Menschenrechten begründet wurden, gehören der Vergangenheit an. Seit dem Ende des Kalten Krieges bildete das propagandistische Repertoire des Menschenrechtsimperialismus die Begleitmusik westlicher Interventionen insbesondere in Bürgerkriegs- oder Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes: in Kosovo, Somalia, Afghanistan oder eben dem Irak.

Nun werden Kriege zumeist ohne diese pseudodemokratische Rhetorik geführt; oder sie ist dermaßen durchsichtig, dass sie kontraproduktiv ist – das nackte imperialistische Interesse tritt unverhüllt hervor. Eine Karikatur dessen lieferte ja gerade Trump selber, der trotz des strategischen Rückzugs, den er in vielen Weltregionen einleitete, punktuell durchaus militärisch intervenierte. Das Aufrechterhalten einer US-Präsenz in Nordostsyrien wurde etwa vom US-Präsidenten ausdrücklich mit der Ausbeutung der dortigen Ölquellen begründet, obwohl dies kaum praktikabel ist und diese im regionalen Vergleich unbedeutend sind.

Ungeschminkter Imperialismus wurde von Trump – der Amerika „wieder groß machen“ wollte – zur Staatsräson erhoben, während dieser faktisch als Totengräber der US-Hegemonie agierte. Die kolossal gescheiterte Strategie des scheidenden US-Präsidenten bestand darin, durch Protektionismus und Wirtschaftsnationalismus eine Reindustrialisierung der Vereinigten Staaten einzuleiten, während die kostspielige Militärpräsenz der US-Army, die faktisch als Weltpolizist des Westens tätig war, zurückgefahren werden sollte, um ausschließlich dem nationalen imperialen Interesse Washingtons zu dienen. Gefolgschaft und Zugeständnisse der westlichen Bündnispartner wollte Trump durch einen selektiven Zugang zum US-Binnenmarkt im Rahmen von Handelsabkommen (gegenüber Berlin), sowie durch die buchstäbliche „Vermietung“ der US-Militärmaschinerie als Schutzmacht sicherstellen (dies etwa in Polen, Südkorea). Die US-Hegemonie wandelte sich so zur bloßen, militärtechnisch grundierten Dominanz.

Die Abwicklung des Menschenrechtsimperialismus, von der Trump-Administration eingeleitet, wurde aber von den Mächten vollendet, die in das geopolitische Machtvakuum vorstießen, das Washington hinterließ. Für die Türkei, die in Konfrontation wie Kooperation mit Russland auf Expansionskurs ging, spielen solche Legitimationsmuster keine Rolle mehr. Erdogan ist beispielsweise in der Lage, den Krieg gegen Armenien in Bergkarabach unter verweis auf das Völkerrecht zu führen, und zeitgleich mit seiner Zweistaatenforderung in Zypern den Völkerrrechsbruch zu fordern. Die weitgehende Entsorgung des Völkerrechts ist gerade ein Merkmal des „multipolaren“ Imperialismus nach dem Ende der US-Hegemonie, der Erinnerungen an die Hochzeit des klassischen Imperialismus im 19. Jahrhundert aufkommen lässt. Legal, illegal, scheißegal – dies scheint die Devise dieses neuen Machtstrebens zu sein, das kaum noch ideologisch verschleiert wird.

Im Nahen Osten, dem Mittelmeerraum und dem südlichen Kaukasus hat sich folglich ein in permanenten Wandel befindliches und äußerst instabiles Machtgeflecht herausgebildet, bei dem – neben den USA – unter anderem die Türkei, Russland, der Iran, Frankreich, die BRD oder auch Saudi-Arabien als imperialistische Akteure nach größtmöglichen Einfluss streben – koste es, was es wolle. Die Auseinandersetzungen und Stellvertreterkriege – in Libyen, im Jemen, in Syrien und im Südkaukasus – der beteiligten Staaten gehen mit gleichzeitiger Kooperation in anderen Regionen oder Bereichen einher, etwa dem Pipelinebau im Schwarzen Meer zwischen Moskau und Ankara. Ähnlich verhält es sich bei der Bündnisbildung, die im Wochenrhythmus wechseln kann. Die islamofaschistische Türkei hat ihre geopolitische Schaukelpolitik zwischen Moskau, Berlin und Washington perfektioniert, um im Rahmen rasch wechselnder geopolitischer Vorstöße ihren neo-onsmaischen Expansionskurs zu forcieren. Gegen Griechenland und die EU gerichtete Provokationen im östlichen Mittelmeer wechseln sich mit Kriegen im Südkaukasus, im Hinterhof Russlands, ab.

Zurück in die Vergangenheit?

Als ob das spätkapitalistische Weltsystem in seine eigene Vergangenheit zurückreiste, etablieren sich im frühen 21. Jahrhundert faktische Grenzverschiebungen, Kriegsabenteuer und ethnische Säuberungen ganzer Landstriche (in Rojava wie in Bergkarabach) zu einer massenmörderischen Praxis imperialistischer Politik, die nun von einer Vielzahl von Staaten betreiben wird, die alle nur ein unerreichbares Ziel haben: so zu werden, wie es die USA einstmals waren. Der Hegemon ist abgestiegen – und zugleich ist aufgrund der Systemkrise kein Nachfolger in Sicht, der über die Ressourcen verfügte, ihn zu beerben. Dies versetzt die krisengebeutelte One World des Kapitals in einem permanenten Vorkriegszustand, bei dem die zunehmenden Spannungen und Kleinkriege jederzeit in eine Katastrophe eines Großkrieges umschlagen können (etwa zwischen den USA und China in Südostasien).

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich – diese alte imperialistische Konstante lässt sich nicht nur in Nahost, sondern auch beim Kampf um die Ressourcen Afrikas im frühen 21. Jahrhundert beobachten. Eine ganze Reihe von Akteuren, mitunter Schwellenländer umfassend, ist seit Jahren bemüht, in Konkurrenz mit den alten europäischen Mächten den jeweiligen Einfluss zu mehren. Die EU versucht etwa, die Staaten Afrikas durch Freihandelsverträge in einseitige Abhängigkeiten zu treiben, während die USA unter Trump ihr verstärktes Engagement auf dem geschundenen Kontinent ausdrücklich als ein Konkurrenzprojekt zu dem Expansionskurs Chinas und Russlands deklarierten.

Russland ist derzeit vor allem in Libyen und dem Sudan aktiv, ebenso die Türkei, die ihre alten imperialen Ambitionen in Ostafrika, im Sudan und Somalia, reanimieren will. China – im 19. Jahrhundert selber Objekt der Opiumkriege des britischen Imperialismus – unterhält inzwischen enge Beziehungen zu einer Vielzahl afrikanischer Länder, bei denen milliardenschwere Investitionen in Infrastruktur mit der Extraktion von Rohstoffen einhergehen. Auch Indien, Opfer des britischen „Late Victorian Holocaust“, ist auf dem afrikanischen Kontinent durch Kapitalexport präsent, etwa beim Land-Grabbing in Äthiopien.

Handelt es sich bei den geopolitischen Realitäten nach dem Zerfall der US-Hegemonie somit um ein bloßes Reenactment des 19. Jahrhunderts mit wechselnden Akteuren? Ein zentrales Merkmal des neuen imperialistischen „Great Game“ macht klar, dass dem nicht so ist: der imperialistische Expansionsdrang geht mit Abschottungsbestrebungen einher. Kaum ein Staatschef verkörpert diese seit längerem bestehenden Tendenzen zum großen Mauerbau in den Zentren stärker als Donald Trump, wobei die diesbezügliche mörderische Abschottungspraxis in den USA und der EU sich kaum unterscheidet.

Imperialistische Politik im frühen 21. Jahrhundert zielt somit nicht nur auf Ressourcenraub in der Peripherie ab, sie ist zugleich bemüht, die Abschottung der Zentren gegenüber den Massen ökonomisch überflüssiger Menschen in der Peripherie zu perfektionieren – etwa bei der Finanzierung und dem Umdeklarieren libyscher Milizen zu „Grenzschutzkräften“ durch die EU. Flüchtlinge aus den ökonomisch abgehängten und durch Entstaatlichungskriege verwüsteten Zusammenbruchsgebieten des Weltmarkts werden überdies als geopolitische Waffe eingesetzt. Diese Taktik hat der türkische Islamofaschismus gegenüber der EU zur Anwendung gebracht, um ökonomische und politische Konzessionen von Berlin zu erpressen. Die Intervention der Türkei in Libyen zielte nicht nur auf die Kontrolle der dortigen Energieträger und die Annektion libyscher Seegebiete im Rahmen eines „Vertrags“ mit islamistischen Milizen ab, sondern auch auf die Kontrolle der entsprechenden Fluchtrouten, um so einen weiteren Hebel bei Machtkämpfen mit Brüssel zu erlangen.

Expansion und Abschottung

Demgegenüber fehlt ein weiteres Moment des „klassischen“ Imperialismus nahezu vollkommen: die massenhafte Ausbeutung der Lohnabhängigen des globalen Südens. Es reicht, sich beispielsweise in Erinnerung zu rufen, dass Europas historische Expansion auch durch den Hunger nach Arbeitskräften getrieben war, die durch Sklavenarbeit in den Plantagen der „Neuen Welt“ ausgebeutet werden konnten. Die Blutspur dieser Ausbeutung von Arbeitskräften reicht vom Genozid an den Ureinwohnern Amerikas, über den berüchtigten „atlantischen Dreieckshandel“ mit afrikanischen Sklaven in der frühen Neuzeit, bis zur mörderischen Auspressung des Kongos durch die Belgier, die Afrikanern massenhaft die Hände abhacken ließen, wenn diese die vorgegebenen Arbeitsnormen nicht erfüllten. Der belgische König Leopold II. reagierte auf entsprechende Anschuldigungen in der Presse empört: „Hände abhacken, das ist idiotisch! Ich würde eher alles übrige abschneiden, aber doch nicht die Hände. Genau die brauche ich doch im Kongo!“

Niemand würde heutzutage auf die Idee kommen, dass die neoimperialistischen Interventionen der vergangenen Dekaden ausgerechnet deswegen unternommen wurden, um die „Hände“ der einheimischen Bevölkerung zur Sklavenarbeit zwingen zu können. Der Charakter des Imperialismus in der historischen Krisenphase des Kapitals unterscheidet sich somit tatsächlich grundlegend vom Imperialismus in der Expansions- und Aufstiegsphase des kapitalistischen Weltsystems. Die Ausbeutung von Arbeitskräften des globalen Südens ist im Spätkapitalismus in ihr Gegenteil umgeschlagen – in die Exklusion von Arbeitskräften. Dies vollzieht sich einerseits marktvermittelt durch die zunehmenden Produktivitätsungleichgewichte zwischen Zentren und Peripherie, durch Agrarsubventionen und durch erpresserische Freihandelsverträge, die Kleingewerbe und bäuerliche Agrarstrukturen in der Peripherie zerstören. Die EU und die USA „produzieren“ faktisch die Fluchtbewegungen, die von der Neuen Rechten in beiden Regionen dann verteufelt werden.

Aber auch die direkten Kapitalinvestitionen in der Peripherie, etwa in exportorientierte Agrarprojekte, führen oftmals schlicht zu Land Grabbing und zur Enteignung der lokalen Bevölkerung, wobei der niedrige Arbeitskräftebedarf auf den effizient aufgebauten Plantagen eine breite Transformation der vertriebenen Bevölkerung in Lohnarbeiter unmöglich macht. Überlides werden viele strategisch wichtige Rohstoffe in den ökonomischen Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes – etwa im Kongo – unter brutalsten und archaisch anmutenden Bedingungen von Milizen und sonstigen postsaatlichen Rackets gefördert, um dann durch eine Kette von Zwischenhändlern und Zuliefern ihren Weg auf den Weltmarkt und in die Hightech-Geräte der globalen Mittelklasse zu finden. (Einschränkend ließe sich aber durchaus diskutieren, inwiefern die umfassenden chinesischen Kapitalexporte in Afrika dem Kontinent eine objektive Entwicklungschance innerhalb der engen systemischen Zwänge bieten, da die Volksrepublik inzwischen zum größten Investor Afrikas avancierte, der auch wichtige Infrastrukturprojekte finanziert.)

Von den Charakteristika des „klassischen“ Imperialismus ist beim gegenwärtigen Krisenimperialismus vor allem das Bemühen um Kontrolle der Energieträger und Ressourcen der Peripherie übrig geblieben. Diese imperialistischen Tendenzen, bei denen Expansion mit Abschottung einhergeht, lassen sich nur dann vollauf begreifen, wenn imperialistische Praxis mit dem historischen Krisenprozess des kapitalistischen Weltsystems in Zusammenhang gebracht wird.

Die einzelnen Staatssubjekte versuchen nach dem partiellen Rückzug der USA, in alter imperialistischer Manier ihre Machtmittel zu mehren. Neben dieser „subjektiven“ Ebene, auf der die einzelnen geopolitischen Subjekte agieren, muss aber die „objektive“ Ebene berücksichtigt werden, auf der sich die Krise des Kapitals entfaltet und den geopolitischen Akteuren in Form zunehmender innerer Widersprüche und „Sachzwänge“ gegenübertritt. Die Charakteristika des Krisenimperialismus ergeben sich somit aus der Wechselwirkung zwischen den geopolitischen Subjekten und dem objektiven Krisenprozess, der sich hinter dem Rücken der Subjekte entfaltet. Auch die mächtigsten „Imperialisten“ agieren als Getriebene der eskalierenden inneren Widersprüche des Kapitalverhältnisses.

Hieraus entspringt die für den Krisenimperialismus charakteristische Form der „negativen“ Krisenkonkurrenz, in der die Großmächte ihre eigene Stellung im erodierenden Weltsystem nur noch auf Kosten des Abstiegs anderer Konkurrenten vorübergehend halten können (was ja auch die zunehmende Konkurrenz zwischen der EU und den USA erklärt). Der gegen die Peripherie gerichtete Ausgrenzungsimperialismus geht mit dieser Ausscheidungskonkurrenz – eine Art geopolitischen Kampf auf der Titanic – innerhalb der erodierenden Zentren einher. Gerade deswegen wächst die Gefahr eines Großkrieges im 21. Jahrhundert.

Die zunehmenden inneren Widersprüche sollen hierbei durch äußere Expansion überbrückt werden, wie es ja auch im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges der Fall war – mit dem Unterschied, dass nun das vom Spätkapitalismus akkumulierte Vernichtungspotential der menschlichen Zivilisation, ja der Gattung Mensch jederzeit ein Ende bereiten könnte. Der Expansionskurs der Türkei im allgemeinen, wie auch die von Ankara unterstützte Aggression Aserbaidschans gegen Armenien, bilden aktuelle Beispiele für diese imperialistische Krisentendenz (Kurz vor dem Angriff auf Berg Karabach bedrohten zunehmende soziale Unruhen die Macht Alijews).

Krise und die neue imperialistische Erhlichkeit

Die Krise sitzt somit allen spätkapitalistischen Staatsmonstern im Nacken – und sie versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten, durch diverse Formen der politischen oder ökonomischen Expansion, mitunter durch blanke militärische Aggression, die Krisenfolgen auf andere Staatssubjekte abzuwälzen. Trump selber ist ja gerade ein politisches Symptom dieser Krise – er kam 2016 hauptsächlich durch die Stimmen der abgehängten weißen Arbeiterklasse aus dem ehemals demokratischen „Rostgürtel“ der USA an die Macht.

Aus diesem Krisenprozess resultieren folglich die Tendenzen zur Barbarisierung imperialistischer Praxis, deren Symptom der Eingangs geschilderte Abschied des Westens vom Menschenrechtsimperialismus ist. Die Bereitschaft, sich bei der Rechtfertigung imperialer Aggression nicht mehr auf Menschenrechte und Völkerrecht zu berufen, somit Ideologie über Bord zu werfen, verweist zuallererst auf die Gesellschaften des Zentrums selber.

Dieser Menschenrechts-Diskurs war ja praktisch ein Überbleibsel des Kalten Krieges, als der Staatssozialismus der imperialistischen Gewaltanwendung des Westens in der Peripherie doch gewisse Grenzen setzte. Der Menschenrechtsdiskurs nach dem ende der Systemkonkurrenz wies aber einen ambivalenten Charakter auf. Menschenrechte fungierten auf geopolitischer Ebene einerseits als Ideologie. Sie dienten dazu, ein falsches Bewusstsein zu schaffen, mit dem Kriege gerechtfertigt werden konnten. Anderseits waren sie – auch in ihrer kapitalistisch verkürzten, um jede soziale Dimension beraubten Form – weiterhin gesellschaftlich wirksam.

Dies war vor allem deswegen der Fall, weil es in den Zentren des Weltsystems noch eine breite Mittelschicht gab, die diese bürgerlichen Werte – wenn auch unvollkommen – verwirklicht sah und an ihren universellen Anspruch glaubte. Es gab folglich eine gesellschaftliche Nachfrage nach der Verklärung der brutalen kapitalistischen Realität in der zunehmend zerfallenden Peripherie des Weltsystems. Dies ist – gerade in den USA – nicht mehr der Fall. Die breite amerikanische Mittelschicht, in der noch ein massenhafter Bedarf nach einem menschenrechtspolitischen „Weichzeichner“ der imperialen Realität herrschte, befindet sich seit dem Krisenschub von 2008 in Auflösung. Folglich zerfällt auch der ideologische Schleier, der diese Phase des „Mittelklassekapitalismus“ kennzeichnete.

Die zunehmende Härte des alltäglichen Existenzkampfes im Spätkapitalismus lässt somit die menschenrechtspolitische Legitimierung von Ausbeutung, Marginalisierung und Unterdrückung auch auf geopolitischer Ebene als unnötigen Ballast erscheinen. Illusionen über den barbarischen Zustand des Spätkapitalismus will man sich nicht mehr leisten. Die imperialistische Logik – zuvor noch durch die übliche Freiheitsrhetorik maskiert – wurde von Trump Außenminister direkt, in aller Brutalität formuliert: Amerika soll wieder groß werden, gerade durch die rücksichtslose Vertretung des nationalen Interesses. Dies ist letztendlich das Angebot des Imperialismus an die erodierende und krisenbedingt angstschwitzende Mittelklasse: Ihr Reproduktionsniveau soll auf Kosten der Konkurrenz, der Peripherie gehalten werden. Und es ist eben diese barbarische Leistung der Trump-Administration, auf der seine Nachfolger aufbauen können.

Der von regressiven Antiimps aller Couleur innigst gehasste Adorno bemerkte schon auf dem Höhepunkt des fordistischen Nachkriegsbooms hellsichtig, dass es sich bei Ideologie letztendlich um ein Luxusgut handelt: „Zur Ideologie im eigentlichen Sinn bedarf es sich selbst undurchsichtiger, vermittelter und insofern auch gemilderter Machtverhältnisse.“ Die „gemilderten“ Machtverhältnisse weichen aber für immer größere Teile der Bevölkerung der Zentren dem offenen Terror der amoklaufenden Ökonomie. Die offene Verelendung und die offene Gewalt machen Ideologie überflüssig. Insofern kommt der Abschied von der „gemilderten“ Form des Menschenrechtsimperialismus einem weiteren Abstieg in die offene Barbarei gleich. Nicht die imperialistische Politik wurde von Trump aufgegeben, sondern deren „Maskierung“ in Menschenrechtsrhetorik. Seine Anhängerschaft, die diese Haltung als „Ehrlichkeit“ und „Geradlinigkeit“ bewundert, geht somit in offene Bejahung des Imperialismus über, der ohne jedwede Legitimierung auskommt.

Es ist der Tod der Ideologie, der sich in den USA als den avanciertesten Metropolenstaat andeutet (und den der Rest der Welt mit der üblichen Verzögerung nachvollziehen wird). Die Herrschaftsverhältnisse treten ungeschminkt hervor, ohne Legitimierung. Die Welt ist ein Höllenloch. Es ist, wie es ist. Und wir wollten herrschen – auf diesen Nenner lässt sich diese durch Trump vollführte Kehrtwende, die seinem geopolitischen Erbe entspricht, bringen.

#Titelbild: Töten und Sterben fürs Kapital – US-Soldaten während einer Luftlandeübung in Deutschland The U.S. Army/CC BY 2.0

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Starbucks pflegt ein Wohfühl und FairTrade-Image, an dem am Ende wenig real ist. Direkt in Deutschland betreibt Starbucks, wie in der Systemgastronomie üblich, rabiates UnionBusting.“ Am Freitag, den 13. November 2020 finden deswegen in mehreren deutschen Städten Aktionen gegen Starbucks statt. Interview mit Elmar Wigand von arbeitsunrecht über die Hintergründe.

Was hab ihr gegen Starbucks?

Starbucks bekämpft Betriebsräte. Starbucks beutet die Beschäftigten aus und hält sie mit Ketten-Befristungen gefügig. Starbucks betreibt systematische Steuerhinterziehung, die aufgrund viel zu lascher staatlicher Regulierung und Strafverfolgung in Deutschland leider bislang legal ist.

Ganz konkret unterstützen wir mit unserem Aktionstag den Betriebsratsvorsitzenden Michael G. aus Berlin. Er hat inzwischen über ein Dutzend böswillig konstruierter Kündigungsversuche angesammelt. Wir fordern seine Wiedereinstellung und ein Ende der Repressalien gegen aktive Betriebsräte.

Sticht Starbucks durch Union Busting gegenüber anderen Ketten besonder hervor?

Starbucks folgt im Wesentlichen der Strategie von McDonalds, dem Vorreiter der US-amerikanischen Systemgastronomie in Deutschland. Starbucks arbeitet wie McDonalds nach dem Franchise-Prinzip. Das Management von Starbucks sitzt, ebenso wie das von McDonalds, in München.

Bis in die 1990er war die Maxime: keine Betriebsräte, keine Tarifverträge. Durch öffentlichen Druck haben Starbucks und McDonalds diese Linie aufgeweicht und gehen nun raffinierter vor. Starbucks ist dem Bundesverband der Systemgastronomie beigetreten, den McDonalds 1988 gegründet hat, um den Tarifvertrag der Dehoga (Deutscher Hotel- und Gaststättenverband) zu unterlaufen. Dabei ist der Dehoga-Tarif schon ziemlich bescheiden. So gibt es inzwischen zwar einige wenige Betriebsräte bei Starbucks — schätzungsweise weniger als 15 bei 165 Filialen in Deutschland — aber davon sind die meisten eingeschüchtert oder trojanische Pferde des Managements.

Wer bei Starbucks tatsächliche eine unabhängige Interessenvertretung für die Beschäftigten im Sinn hat und bereit ist, Forderungen aufzustellen, die unweigerlich Konflikte mit dem Management bedeuten, der bekommt die volle Breitseite der Zermürbungsstrategien ab: Abmahnungen, Schikanen, Kündigungsversuche, Mobbing. Ziel des Starbucks-Managements ist es, unliebsame Elemente aus dem Betrieb zu entfernen und aktive Betriebsräte zu zerschlagen. Nach außen hin leugnen und verschleiern Firmen-PR und Anwälte das aber.

Was hat es mit dem Franchise-System auf sich?

Manche Fillialen betreibt die Münchener Zentrale selbst, die meisten werden an Franchise-Nehmer verkauft. In Deutschland gingen sie an den globalen Franchise-Großunternehmer AmRest, der auch sämtliche deutschen Filialen von Pizza-Hut betreibt. AmRest wurde vom ehemaligen Pepsi-Cola-CEO Donald M. Kendall gegründet, dem Mann, der Pepsi nach Russland brachte, nach dem Zerfall der UdSSR. AmRest ist besonders in Osteuropa stark und betreibt dort Filialen verschiedener US-Franchiseketten wie auch Burger King und KFC.

Zurück zum Franchise-Prinzip. Wie geht das?

Die Filialen und ihr Management haben strikte Vorgaben zu erfüllen und müssen sämtliche Produkte und Werbematerialen von der Zentrale abnehmen. Über das Franchise-Prinzip erfolgt auch die legale Steuerhinterziehung. Die Gewinne der Starbucks-Filialen werden klein gerechnet durch horrende Lizenzgebühren, die nach Amsterdam überwiesen werden müssen. So zahlt Starbucks in Deutschland fast keine Unternehmenssteuern, denn Niederlande ist eine Steueroase. Das hat die ZDF-Sendung, die Anstalt in einer Sendung vom 28.10.2014 schön heraus gearbeitet.

Welche Rolle spielt Starbucks in Deutschland und welche Rolle spielt der deutsche Markt für Starbucks?

Starbucks ist im Vergleich zu McDonalds in Deutschland mit ca. 165 Filialen ein ganz kleiner Fisch. Auch die geschätzten 160 Millionen Euro Umsatz in Deutschland gelten in der Branche als Peanuts. McDonalds hat im Vergleich fast 1.500 Filialen in Deutschland und erzielt 3,8 Milliarden. Der Marktführer der Kaffee-Bars ist derzeit Segafredo. Die haben seit 2018 ein massives Wachstum hingelegt und laut Statista im Jahr 2019 derzeit 354 Filialen. Weltweit sieht die Sache anders aus. Da ist Starbucks der Marktführer mit einer intergrierten Wertschöpfungskette vom Kaffee-Anbau im Trikont bis hin zu Starbucks-Lizenzprodukten in Supermärkten, die von Nestlé vertrieben werden. Der weltweite Umsatz belief sich im Jahr 2019 auf rund 26,5 Milliarden US-Dollar. Starbucks belegt mit über 46,8 Millionen US-Dollar Markenwert den zweiten Platz im Ranking der wertvollsten Fast-Food-Marken weltweit. Das einzige was in Deutschland diesem Ruf als Big Player gerecht wird ist die Bekanntheit der Marke. Zwei Drittel der Deutschen kennen laut Umfragen das Starbucks-Logo. Deutschland ist ansonsten ein Starbucks-Entwicklungsland. Dennoch ist es für einen globalen Konzern wichtig, auch hier an Orten sichtbar zu sein, die ein internationales Publikum besucht: Bahnhöfe, zentrale Shopping-Meilen, Tourismus-Hot-spots.

Wem gehört das Unternehmen eigentlich?

Den üblichen Verdächtigen. Die größten Anteilseigner sind aggressiven Finanzinvestoren wie Vanguard mit 7,7 % der Aktien, Blackrock (7,2%), State Street (2,7%), Magellan Asset Management (2,7%) und der Starbucks-Gründer Howard Schultz mit 2,9 %, was im Juni 2020 ein unglaubliches Vermögen von 2,3 Milliarden ausmachte.

Was können wir tun, um gegen diese imperialen Mächte anzukämpfen?

Der Aktionstag #Freitag13 dürfte dazu beitragen, die Ausbreitung von Starbucks in Deutschland klein zu halten. Zudem wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Systemgastronomie eine von Grund auf üble Sache ist. Wir sollten neben klassischem Organizing, das in der Systemgastro stark ausbaufähig ist, auch unsere Macht als Konsument*innen stärken. Sprich: Boykott und Image-Korrekturen.

Kann ein Aktionstag wie #Freitag13 überhaupt etwas bewirken?

Wir gehen davon aus, dass es für jedes Unternehmen ärgerlich ist, wenn dessen Marke mit Ausbeutung und schmutzigen Methoden assoziiert wird. Starbucks ist hier besonders angreifbar, weil die Produkte überteuert sind. Der Preis wird durch „Fair trade“ und Wohlfühlatmosphäre gerechtfertigt. Das Starbucks-Image ist inwendig hohl.

Das Format #Freitag13 hat bereits richtig weh getan: Der Essenskurier Deliveroo flüchtete regelrecht aus Deutschland, der H&M-Aktienkurs rutschte 2017 ab. Am 13.9.2019 sind wir gegen Werkverträge bei Tönnies vorgegangen; jetzt steht das gesetzliche Verbot in der gesamten Fleischindustrie an.

Was können die Leser*innen des Lower Class Magazines konkret tun?

Die Starbucks Beschäftigten brauchen flankierende Maßnahmen kritischer, solidarischer Konsument*innen!

Wir rufen zum unbefristeten Konsum-Streik gegen Starbucks auf bis unsere zentralen Forderungen erfüllt sind: Betriebsratswahlen, Schutz aktiver Betriebsräte, Schluss mit Ketten-Befristungen. Hier könnt ihr euch online anschließen: https://arbeitsunrecht.de/starbucks.

Außerdem stellen wir Flublätter zum download bereit, die ihr in Supermärkten und Starbucks-Filialen hinterlassen könnt: https://arbeitsunrecht.de/freitag13_starbucks/#mitmachen.

Elmar Wigand ist Pressesprecher der Aktion gegen Arbeitsunrecht. Mehr zum Aktionstag #Freitag13: https://arbeitsunrecht.de/fr13

#Titelbild: arbeitsunrecht, Elmar Wigand vor Starbucks am Neumarkt in Köln

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Mit einem trilateralen Abkommen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland wurde nach 44 Tagen der Krieg um die umstrittene Region Berg-Karabach beendet. Analyse eines dramatischen Zerfalls Armeniens und einer neuen politischen Situation in der Region.

Seit dem 10. November schweigen die Waffen. Rund 2.000 russische Soldaten überwachen den Waffenstillstand in der Region, die die Armenier*innen Arzach nennen und das bis vor kurzem die selbst erklärte Republik Arzach war. Der Krieg, der jetzt vorerst vorbei scheint, begann am 27. September mit einem groß angelegten Angriff seitens Aserbaidschans mit Hilfe der Türkei. Obwohl die armenische Armeeam Anfang einige Abwehrerfolge erzielen konnte, wurde mit der Zeit die türkisch-aserbaidschanische Überlegenheit zu groß. Besonders mithilfe der türkischen und israelischen Drohnen konnte Aserbaidschan zusammen mit den von der Türkei rekrutierten islamistischen Dschihadisten an der Südfront vorrücken. Da das Gelände dort flach ist, kontrollierte Aserbaidschan nach rund vier Wochen die südliche Grenze zum Iran, während sich Armenien in die Berge zurückzog. Die Drohnen erwiesen sich als sehr effizient und waren kriegsentscheidend: Obwohl die Verluste Aserbaidschans in die tausenden gehen, konnte damit regelmäßig vorgerückt werden.

Die entscheidende Schlacht begann um die Stadt Shushi, den die Aserbaidschaner*innen Shusha nennen und die im nationalen Mythos eine große Bedeutung hat, weil viele Schriftsteller*innen und Poet*innen aus erStadt kommen, die nur vier Kilometer von der Hauptstadt Azrachs,Stepanakert, entfernt liegt. Am 29. Oktober sagte der Präsident der Republik Arzach, Arayik Harutyunyan, dass die aserbaidschanischen Truppen nur fünf Kilometer vor der Stadt seien: „Wer Shushi kontrolliert, kontrolliert Arzach”, so die Aussage, die auch zutreffend beim letzten Krieg war, als die armenischen Partisan*innen die Stadt im Handstreich erobern konnten und von da an einen strategischen Vorteil hatten.

Doch Shushi wurde de facto ohne Kampf aufgegeben, am 8. November die Evakuierung der Stadt angeordnet. Spätestens als dann der aserbaidschanische Diktator Ilham Aliyev die Stadt für “befreit” erklärte und das Verteidigungsministerium in Baku entsprechende Bilder verbreitete, kam es zu einem beispiellosen Zerfall der armenischen Front, ja des armenischen Staates ingesamt.

Was besagt das Abkommen?

Bis zum Redaktionsschluss war nicht bekannt, wo sich der armenische Premierminister Nikol Paschinyan befindet. Paschinyans Verschwinden hängt damit zusammen, dass sich im Land eine enorme Wut gegen ihn richtet, weil er nach eigener Aussage das trilaterale Abkommen, das den Krieg beendet hat, unterzeichnet hat. Was besagt dieses Abkommen? Im Grunde ist es eine Kapitulation Armeniens und eine nationale Demütigung:

  • Ab dem 10. November tritt ein Waffenstillstand ein, beide Kriegsparteien bleiben an ihren Positionen; russische „Friedenstruppen” sorgen für die Einhaltung dessen
  • Armenien zieht sich in dei Phasen bis zum 1. Dezember aus den sieben umliegenden Provinzen zurück, Aserbaidschan übernimmt
  • Karabach wird de facto aufgeteilt, Aserbaidschan behält die eroberten Gebiete, wie Hadrut und Shushi; der Status der Region bleibt unklar
  • Der Rest von Azrach mit Stepanakert bleibt armenisch, die Versorgung über den Lachin-Korridor unter russischer Kontrolle sichergestellt
  • Die über 90.000 Geflüchteten aus Azrach können in die Restgebiete Karabachs zurückkehren
  • Austausch von Gefangenen und toten Soldaten
  • Aserbaidschan bekommt über Südarmenien eine direkte Verbindung zu seiner Enklave Nachitschewan. Diese Verbindung wird vom russischen Geheimdienst FSB überwacht.

Für Aserbaidschan bedeutet dieses Abkommen einen enormen Gewinn, besonders hinsichtlich der sieben Provinzen und der Einnahme Shushis. Das Land hatte infolge der letzten Kriegsniederlage ein tiefes nationales Trauma erlitten und rund 700.000 Geflüchtete im eigenen Land. Selbst heute noch bilden die Geflüchteten 7 Prozent der aserbaidschanischen Gesellschaft. Einige von ihnen sind zwar zum Beispiel nach Russland immigriert, andere wiederum werden sicherlich in diese Provinzen zurückkehren. Es bleibt aber fraglich, wie ihre soziale Lage inmitten eines hochmilitarisierten Gebiets sein wird, zumal seitens der Diktatur wenig Unterstützung kommen wird. Die Regierung kümmerte sich schon in den 90er-Jahren kaum um die Geflüchteten, sodass diese sogar Jahre später noch in Lagern lebten.

Karte: wikimedia commons emreculha, CC BY-SA 4.0,

Der letzte Punkt wiederum ist vielleicht der brisanteste, auch wenn er derzeit nicht so im Rampenlicht steht: Es ist die Realisierung der panturkistischen Träume von Reçep Tayyip Erdogan, da die Türkei damit eine direkte Verbindung bis nach Baku, zum ölreichen Kaspischen Meer bekommt. Für die Türkei bedeutet das die Etablierung im Südkaukasus, nachdem sie im Krieg quasi Kriegspartei war und an den Planungen und Durchführungen der Militäroperationen direkt beteiligt war. Anfang Oktober schoss ein türkischer F-16-Kampfjet sogar einen armenischen Kampfjet über armenisches Territorium ab; immer wieder heizte Ankara den Krieg unter dem panturkistischen Motto “Eine Nation, zwei Staaten” den Krieg an und drohte offen mit einer direkten Intervention.

Erdogan wird sich in dem Einsatz der islamistischen Söldner bestätigt sehen und diese als nächstes gegen Rojava einsetzen, da sie zusammen mit Aserbaidschan als klare Gewinner des Krieges rausgehen. Zwischenzeitlich war sogar auch von türkischen “Friedenstruppen” die Rede, die ebenfalls zusammen mit den russischen Streitkräften das Abkommen (das zunächst für fünf Jahre gilt) überwachen sollten, aber das wird nicht der Fall sein und wäre angesichts der türkischen Aggressionen blanker Zynismus. Nichtsdestotrotz wird die Türkei ihren Einfluss auf Aserbaidschan ausweiten und sehr wahrscheinlich eine Militärbasis im Land aufbauen. Mehrere hundert Militärangehörige waren die gesamte Zeit über im Land: Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar war bei der Lancierung des Angriffs sogar im Kommandostab dabei.

Die Türkei hat es damit trotz großer eigener wirtschaftlicher Probleme geschafft, im Südkaukasus einen Zwischenerfolg zu erringen und das in einer Zeit, wo im Land selbst der Hunger wächst, wie der Kolumnist Bülent Mumay für die FAZ schreibt: “Der Konsum roten Fleisches ist im Laufe der vergangenen zwölf Monate um dreißig Prozent gesunken. Der Verkauf von Nudeln, einem der günstigsten Nahrungsmittel, stieg um 25 Prozent. Einer universitären Studie zufolge reicht in 38 Prozent der Haushalte das Geld nicht mehr für den Lebensmittelbedarf aus. Siebzig Prozent der Bürger kommen kaum über die Runden. Aus Verzweiflung häufen sich die Suizide. In den letzten fünf Jahren, die wir in der Wirtschaftskrise stecken, setzten 1380 Personen ihrem Leben aus wirtschaftlicher Not ein Ende.”

Hinzukommen 20.000 Verhaftungen von HDP-Politiker*innen in den letzten vier Jahren, die letzte große Welle gab es jüngst kurz vor Beginn des Krieges. Der Krieg der Türkei in Arzach war damit die Fortsetzung des Krieges im Inneren, aber es wird zu sehen sein, wie lange diese fragile Balance noch anhalten wird.

Die Bourgeoisie führt das Land in den Ruin

Auf der anderen Seite mutierte Armeniens Premierminister Nikol Paschinyan aufgrund der Unterzeichnung des Abkommens zur Hassfigur.. In der Nacht zum 10. November stürmten tausende Demonstrant*innen das Parlament und das Regierungsgebäude. Der Parlamentssprecher Ararat Mirzoyan wurde fast zu Tode geprügelt und liegt im Krankenhaus. Stundenlang war von Paschinyan selbst nichts zu hören, ehe er sich mitten in der Nacht per Livevideo von seinem privaten Facebook-Account meldete — allein diese Tatsache zeigt deutlich den dramatischen Zerfall der armenischen Staatsstrukturen. Die Regierung ist abgetaucht, die Armee in Auflösung begriffen und die oligarchische Opposition um den 2018 gestürzten Sersch Sargsyan in Lauerstellung für einen Putsch. Selbst der armenische Präsident Armen Sarkisyan erklärte, dass er von dem Abkommen durch die Presse erfahren habe.

Es herrscht eine desaströse Situation im Land, wo ein Teil den Kopf von Paschinyan fordert und in ihm den größten Verräter in der armenischen Geschichte sieht. Dieser wehrt sich und erklärte in seinem Livevideo, dass die korrupte Oligarchie um die ehemaligen Machthaber Robert Kocharyan und Sersch Sargsyan die Verantwortung für die militärische Niederlage trage, da sie das Land 25 Jahre ausgeplündert und die Armee unterfinanziert habe. Beide Tatsachen sind unbestritten richtig, aber das Problem sind nicht einzelne Personen, die Oligarchen, sondern die Klassenherrschaft der Bourgeoisie insgesamt. Armenien war im Krieg von Anfang gewaltig im Nachteil, nicht nur was die Ausrüstung anging (Aserbaidschans Militärbudget ist größer Armeniens gesamter Haushalt), sondern auch, was die Unterstützung von außen anging: Russland verhielt sich äußerst passiv und reagierte selbst dann nicht, als kurz vor dem Abkommen ein russischer Militärhubschrauber über Armenien von Aserbaidschan abgeschossen wurde und zwei russische Soldaten starben.

Zwar wurden die moskauhörigen Machthaber wie Kocharyan und Sargsyan nach der demokratischen Massenbewegung 2018 vor Gericht gebracht, allerdings fand eine Verurteilung, geschweige denn eine Enteignung ihrer riesigen Vermögen nie statt. Während es den Selbstverteidigungskräften Arzachs, die zu Recht für ihr Selbstbestimmungsrecht kämpften, sogar Schutzkleidung mangelte, wurde das Vermögen der reichen Bourgeoisie nicht angetastet. Während in der Diaspora für Armenien gespendet wurde und alleine über den zentralen Hilfsfonds Himnadram 160 Millionen US-Dollar zusammenkamen, wurde zur gleichen Zeit einer reichsten Menschen des Landes, Gagik Tsarukyan, aus der Untersuchungshaft entlassen und plant zusammen mit der alten Elite ein politisches Comeback. Er unterzeichnete zusammen mit 16 weiteren (teilweise sehr kleinen) Parteien noch vor der Unterzeichnung des Abkommens ein Dokument, das den Rücktritt der Regierung forderte. Mit dabei ist auch die Partei von Sersch Sargsyan, der aber im Land weiterhin sehr unpopulär ist.

Armenien konnte im Zuge der sogenannten Samtenen Revolution wirtschaftlichen Fortschritt und demokratische Errungenschaften vorweisen. Es bleibt nicht zu vergessen, dass das armenische Proletariat nach jahrzehntelanger neoliberaler Indoktrination am 2. Mai 2018 ein fulminantes Comeback hinlegte und mit einem spektakulären Generalstreik dafür sorgte, dass letztendlich Paschinyan Premierminister wurde. Anfang Dezember 2018 fanden in Armenien nach sehr langer Zeit wieder freie Wahlen statt, auch die Presse- und Versammlungsfreiheit besserte sich. Nun aber stehen diese Errungenschaften auf dem Spiel, weil nicht nur politisches Chaos herrscht, sondern sogar ein Bürgerkrieg droht.

Das Abkommen zementiert auch die politische Herrschaft des Kremls über Armenien: Russland zwang dieses Abkommen Yerevan auf und verwandelt das Land damit in seine eigene Kolonie. Die Tatsache, dass Arzach aufgeteilt und unter russischer Herrschaft gestellt wird, ist eine Tatsache, eine andere, dass der FSB die Routen Armeniens mit Aserbaidschan und dem Iran überwacht. Russland ist schon länger für die Überwachung der Grenzen zur Türkei und dem Iran zuständig und hat eine eigene, souveräne Militärbasis im Land und weitet diese Präsenz nun weiter aus. Das Abkommen ist auch eine Bestrafungsaktion dafür, dass die liberale Regierung es wagte, sich mehr in Richtung Westen zu bewegen, freilich ohne mit Moskau zu brechen (im Gegensatz etwa zu den rein westlich orientierten ehemaligen Präsidenten Michail Saakaschwili in Georgien oder Petro Poroschenko in der Ukraine).

Dieser Krieg hinterlässt eine tiefe Wunde im nationalen Bewusstsein der Armenier*innen, nicht nur weil es eine Niederlage gab, sondern wie diese Niederlage zustande kam. Tausende Soldaten starben, mehr als 90.000 Menschen sind geflüchtet, sodass gleichzeitig eine ethnische Säuberung stattfand und die Bilder der flüchtenden Konvois nur allzu sehr an die Bilder auf Afrin 2018 erinnern, die ebenfalls Opfer der türkisch geführten Aggression wurden. Zusammen mit der heftig wütenden Corona-Pandemie im Land und einer kommenden politischen Machtprobe befindet sich das Land am Abgrund und so wie es aussieht, wird die nächste Regierung sowieso unter der Kontrolle Russlands stehen.

Aber das ist die Geschichte Armeniens über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg, eine Geschichte des Überlebens. Auch wenn die unmittelbare Zukunft düster aussieht und viel Ungewissheit mit sich bringt, bleibt der Geist der Massenmobilisierungen und des Generalstreiks im Gedächtnis.

# Titelbild: ANF, Ein zerstörtes Haus in Shuhsi

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Am morgigen Sonntag wird in #Bolivien zum ersten Mal seit dem rechten Putsch gegen den indigenen Sozialisten Evo Morales im vergangenen Jahr gewählt. In allen Umfragen führt die linke Partei MAS („Bewegung zum Sozialismus“) – doch es wachsen Befürchtungen, die Rechte könnte versuchen, durch Wahlbetrug oder Gewalt an der Macht zu bleiben.

Lower Class Magazine hat – in Kooperation mit redfish media – mit Luis Acre Catacora (57), dem Präsidentschaftskandidaten der „Bewegung zum Sozialismus“ gesprochen. Acre ist studierter Ökonom und war während der Regierung von Evo Morales erst Finanz- dann Wirtschaftsminister. Im Interview redet er über seine Wahlchancen, die Erfolge der MAS und den rechten Putsch nach den Wahlen im vergangen Jahr.

Sie führen derzeit in allen Umfragen zur anstehenden Präsidentschaftswahl in Bolivien. Sehen Sie irgendwelche Hindernisse auf dem Weg zum Wahlsieg?

Nun, es ist klar, dass wir die Wahl gewinnen werden. Aber wir haben Zweifel daran, wie das Oberste Wahlgericht damit umgeht. Es gibt viele Maßnahmen, die wir nicht für die geeignetsten halten. Eine davon ist, dass es in Bolivien üblich ist, die Wahlergebnisse pro Tisch und nicht pro Wahlbezirk zu erhalten. Und nun hat dieser Oberste Gerichtshof festgelegt, dass er die Informationen nach Wahlbezirk und nicht nach Wahltisch geben wird. Das scheint uns ein Rückschritt zu sein, es scheint uns nicht transparent genug zu sein.

Indem wir über die Wahlbezirke sprechen, wird die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Menschen sehen können, wie sie gewählt haben. Es gibt auch andere Zweifel, die mit der Frage der Prüfung des Computersystems zu tun haben, von dem wir jetzt erfahren haben, dass ausländische Unternehmen dafür zuständig sind. Tatsächlich gibt es zwei Unternehmen, von denen wir nichts wissen, und wir sind kurz vor der Wahl. Wir haben eine ganze Reihe von Beobachtungen, die ihnen, dem obersten Wahlgericht, vorgetragen wurden.

Warum stimmt das bolivianische Volk für die MAS?

Ich denke, wir müssen auf die Wahlen vom vergangenen Oktober zurückblicken. Seitdem sind elf Monate vergangen und wir haben weder Demokratie und – schlimmer noch – stehen vor einer völlig ruinierten und kaputten Wirtschaft. Das bolivianische Volk kann also den Vergleich anstellen zwischen den 14 Jahren der Verwaltung der MAS und der Verwaltung – wenn man das so nennen kann – in diesen elf Monaten der De-facto-Regierung. Die Wirtschaft ist sehr schlecht gelaufen, nicht nur wegen der Pandemie, sondern schon vorher, und die Menschen haben es in ihren Geldbeuteln gespürt. Dazu kommt die Angst vor der Pandemie. Diese Regierung, die Rechte kümmert sich außerdem nicht um Bildung. Sie hat ein Dekret erlassen, mit dem das Schuljahr beendet wird, weil sie nicht in der Lage ist, während der Pandemie den Bildungsbetrieb am Laufen zu halten. Dies zeigt die völlige Unfähigkeit, die Wirtschaft, das Gesundheits- und Bildungswesen in unserem Land zu verwalten. Und sie beginnen, Schlüsselministerien, wie das Kulturministerium und andere, zu schließen.

Also: Es gibt ernsthafte Probleme, und die Bevölkerung hat erkannt, wie es ist, in einer MAS-Regierung zu sein, in der es Fortschritt, Entwicklung, Beschäftigung, Wachstum und all das gab, im Gegensatz zu einer rechten Regierung, in der man nichts davon hat, sondern nur Probleme. Wenn man also die Bilanz zieht ist klar, wohin die Abstimmung tendieren wird.

Wie hat sich das Leben der Arbeiter*innen und Indigenen während der Regierung von Evo verändert?

Die Veränderung war grundlegend, insbesondere für die indigenen Brüder. Sie hatten keine Rechte in der Verfassung. Heute haben sie die Möglichkeit an der politischen Aktivität und an der Entscheidungsfindung des Landes teilzunehmen, was vorher nicht geschah, weil sie ausgeschlossen wurden. Mit den vielen Gesetzen, die diese Verfassung begleiten, haben unsere indigenen Brüder jetzt viele Privilegien und viele Rechte, die zum Wohle der indigenen Völker angewandt werden.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter haben auch große Fortschritte gemacht. Zum Beispiel gab es Fortschritte bei einem Rentengesetz, das einen Beitrag des Arbeitgebersektors vorseiht. Jetzt gibt es in Bolivien einen Arbeitgeberbeitrag, der direkt in den Solidaritätsfonds fließt, der die Verbesserung des Einkommens der Bescheidensten, der Ärmsten, die weniger Lohn haben, ermöglicht. Der nationale Mindestlohn wurde von 440 Bolivianos – das waren in der Vergangenheit mehr oder weniger 35 Dollar – auf etwa 1120 Bolivianos – jetzt mehr oder weniger 300 Dollar – angehoben. Das sind wirklich wichtige Steigerungen der Kaufkraft der Arbeitnehmer. Es hat viele soziale Errungenschaften gegeben, und es wurden Vorschriften angewandt, die den Arbeitnehmern in allen Sektoren zugute kamen. Es gab also einen großen Fortschritt auf Seiten der Arbeiter mit der MAS-Regierung.

Sie waren an der Verstaatlichung der Bodenschätze zur Finanzierung von Sozialprogrammen beteiligt. Werden Sie diese Linie fortsetzen?

Wir sind die einzige Partei in Bolivien, die diese Sozialprogramme garantieren kann. Wir haben sie geschaffen. Diese Regierung hat dieser Art von Sozialpolitik nicht die geringste Bedeutung beigemessen. Heute ist die Binnennachfrage im Land völlig reduziert, und mit diesen Programmen meinen wir, dass wir die Binnennachfrage verbessern sollten.

Besteht auch bei diesen Wahlen die Möglichkeit eines Staatsstreichs oder eines Wahlbetrugs?

Diese Möglichkeit besteht immer. Wir haben eine Rechte, die verzweifelt ist, weil sie weiß, dass sie bei den Wahlen verlieren wird, und viel Geld ausgegeben hat, um den Staatsstreich im letzten November zu finanzieren. Es ist also klar, dass sie die Regierung nicht schnell und einfach aufgeben wollen. Sie haben auch schon auf eine Reihe von Mitteln zurückgegriffen, um die Durchführung der Wahlen zu vermeiden, wie der dauerhaften Verschiebung des Wahltermins. Aber es gab eine große Mobilisierung, um ein endgültiges Datum festzulegen, und es ist dieser 18. Oktober. Unter Berücksichtigung der Geschehnisse des letzten Jahres, wo es internationale und inländische wirtschaftliche und politische Interessen gab, sind ein Putsch oder Wahlbetrug weiter möglich. Denn diese Interessensind nicht verschwunden. Alle wollen das bolivianische Lithium kontrollieren. Alle wollen wieder mit dem bolivianischen Gas handeln, und, ich wiederhole, es gibt ausländische und inländische Interessen.

Warum hat das Militär beim Putsch letztes Jahr Evo nicht unterstützt? Im Vergleich etwa mit dem Fall Chávez in Venzuela?

Ich glaube, dass die ideologische Frage, das Bewusstsein für den Prozess des Wandels, in den Streitkräften nicht so stark war, so dass ein paar Geldscheine es erlaubten, dass die Führung das Interesse der Bolivianer aus den Augen verloren hat. Ich denke, das ist einer der Hauptgründe. Es gibt keine Ideologie, keine Verbundenheit der Streitkräfte mit ihrem Volk.

Wie haben Sie den Putsch erlebt? Wurden Sie bedroht?

Sie hatten eine Strategie der permanenten Einschüchterung. Den ganzen Oktober über gingen sie zu Häusern und malten Parolen an die Türen, beschmierten die Häuser. Ich wohne in einem Gebäude, und sie haben sich sogar getraut, an die Tür meiner Wohnung zu kommen. Auf Whatsapp gab es ein Foto vom Google Maps mit dem Hinweis „hier lebt Luis Acre, Wirtschaftsminister“ und eine Reihe von Adjektiven, die ich nicht wiederholen möchte. Es gab also Einschüchterungen nicht nur am Tag des Staatsstreichs, sondern viel früher. Nach dem Staatsstreich mussten wir uns an geheime Orte begeben, denn wir sahen, wie sie die Häuser von Genossinnen und Genossen, von Ministern, von Leuten, die mit der MAS in Verbindung stehen, niederbrannten. Sie haben Häuser geplündert, man musste also vorsichtig sein, um in Sicherheit zu sein. Ich war damals untergetaucht, weil man nicht die geringste Sicherheit in unserem Land hatte.

Was waren die größten Fehler der Regierung von Evo? Was hätte man besser machen können? Und was würden Sie anders machen?

Es gibt mehrere Themen, zum Beispiel die Justiz. Ich denke, es war ein Fehler, Wahlen für Richter zu machen, die nicht funktioniert hat. Das ist ein Problem, das korrigiert werden musste. Hinzu kommt die Tatsache, dass viele der Arbeiten recht langsam vorankamen, da sie nicht rechtzeitig abgeschlossen wurden. Es gibt viele Dinge, die unvollendet geblieben sind. Wir werden all dies wieder aufgreifen müssen.

Haben Sie eine Botschaft für die Menschen in Europa?

Am 18. Oktober dieses Jahres haben wir eine wichtige Wahl, nicht nur, weil es eine Wahl für den Präsidenten oder die Legislative in Bolivien ist. An diesem 18. Oktober wird Bolivien die Demokratie wiederherstellen. Sie haben uns im November letzten Jahres mit einem blutigen Staatsstreich, bei dem es mehrere Tote gab, die Demokratie verweigert. Deshalb ist diese Wahl sehr wichtig, denn wir müssen zeigen, dass wir Bolivianer eine demokratische Berufung haben und dass wir Bolivianer uns nicht mit Gewalt begegnen wollen. Ich glaube, dass die Demokratie das beste Zeichen ist, das wir der ganzen Welt zu geben haben. Und natürlich ist es nicht nur eine Botschaft für das bolivianische Volk, sondern auch für die Region. Die Region ist in einer sehr komplizierten Situation, in der wir mehrere neoliberale Regierungen haben, die viel Armut mehr Arbeitslosigkeit in ihren Ländern erzeugen.

Und Bolivien ist seit langem eine der besten Volkswirtschaften, die von einer fortschrittlichen Regierung geführt wird, von einer Regierung, die an das Volk glaubt und für das bolivianische Volk arbeitet. Daher ist die große Herausforderung für Bolivien, die Demokratie wiederherzustellen.

# Titelbild: Brasil de Fato, Luis Acre links neben Evo Morales im Januar 2020 CC BY-NC-SA 2.0



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Die Söldner hatten Großes vor. Am 17. April 1961 landeten knapp 1.500 von der CIA ausgebildete Söldner auf Kuba, um genau zu sein in der Schweinebucht. Etwas mehr als zwei Jahre nach dem Sieg der kubanischen Revolution und der Befreiung Kubas von Diktator Fulgencio Batista orchestrierte der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst, während der Regerungszeit des – in linksliberalen Kreisen oft zum Heilsbringer verklärten – US-Präsidenten John F. Kennedy diesen Angriff.

Die Fußtruppen bildeten Exilkubaner der ehemals herrschenden Klasse, die vor den kubanischen Revolutionären geflohen waren und das Land zurückerobern und erneut zu einem Vasallenstaat im Hinterhof der USA zu machen. „Einige waren Kriegsverbrecher, die in die Vereinigten Staaten geflüchtet waren, denn die Offiziere waren fast ausnahmslos Offiziere der alten Batista-Armee, und in der Truppe der Invasoren gab es eine Menge Söhne von Großgrundbesitzern und anderen reichen Familien. Hier wurde der klassenspezifische Charakter der Invasion deutlich“, erinnert sich Fidel Castro in seiner Biografie. Das Ergebnis ist bekannt: Nach weniger als zwei Tagen waren alle gelandeten Söldner entweder gefallen oder gefangen genommen. Ein krachendes Scheitern US-imperialistischer Aggression in Lateinamerika.

Auch 2020 haben Söldner großes vor. Allerdings absurd dilettantisch und schlechter geplant und umgesetzt. In den vergangenen Tagen versuchten mehrere Boote mit bewaffneten US-Amerikanern und Venezolanern in Venezuela zu landen. Der US-Veteran Jordan Goudreau, der das Söldnerunternehmen Silvercorp USA gegründet hat, erklärte gegen über Bloomberg, er habe mit dem von der US-Regierung gestützten venezolanischen Politiker Juan Guaidó einen Vertrag über 212 Millionen US-Dollar geschlossen, um die venezolanische Regierung zu stürzen, bekommen habe er aber nur 50.000. Warum die ganze Chose trotzdem gestartet ist, ist ein Rätsel. „Die Hauptmission war die Befreiung Venezuelas, die Gefangennahme Maduros, aber die Mission in Caracas scheiterte“, erklärt der Ex-Soldat gegenüber Bloomberg. Guaidó selbst hat dementiert, mit den Söldnern zusammenzuarbeiten.

Anfängliche Behauptungen, die ganze Sache sei von der Regeirung Maduros inszeniert, kann man mittlerweile als Propaganda abtun. Bereits am Sonntag war ein Schnellboot beim Versuch in La Guaira an Land zu gehen von Sicherheitskräften abgefangen worden. Acht von zehn Personen wurden von Sicherheitskräften getötet. Einen Tag später machten Fischer die Küstenwache auf ein zweites Boot aufmerksam, das westlich von La Guaira aufgegriffen wurde. Dabei wurden auch zwei US-amerikanische Staatsbürger gefangen genommen, Luke Alexander Denman und Airan Berry, die beide für die obskure Sicherheitsfirma von Goudreau arbeiten. Darüber hinaus wurden ehemalige Angehörige des venezolanischen Militärs festgenommen.

Das Himmelfahrtskommando, das mehr dem Plot eines Actionfilms – eine kleine Truppe Helden gegen „bad guys“ –, denn einer militärischen Aktion gleicht, scheint vorerst vorbei zu sein. 1961 warteten vor der Küste Kubas Marineschiffe der USA darauf, dass die Invasion erfolgreich zu Ende gebracht würde. Goudreau hat für sein Abenteuer scheinbar nicht die Unterstützung der US-Regierung bekommen, obwohl er versucht habe mit Donald Trump zu sprechen, aber nicht zu ihm durchgekommen war.

Die Interessen von allen Beteiligten sind allerdings die gleichen: Die Regierung von Venezuela zu stürzen. Noch im April hatte die US-Marine Kriegsschiffe in die Karibik verlegt, um Druck auf die Regierung von Maduro aufzubauen. Schon in Trumps Wahlkampf war Venezuela als Bedrohung aufgebaut worden, der ökonomische Druck seither gewachsen und die Unterstützung für den selbsterklärten Oppositionsführer Guiadó immer größer. Die Gründe dafür sind dabei heute genauso wie 1961 nicht humanitärer Natur, sondern simpler Antikommunismus. „Sozialismus zerstört Nationen“, erklärte Präsident Trump in Hinblick auf seine Venezuela-Politik noch im Februar.

In der langen Geschichte des US-Imperialismus in Lateinamerika ist diese Aktion wohl nur eine kuriose Fußnote. Eine privat finanzierte Schweinebucht in dilettantisch. Die Erfahrung zeigt aber, dass nicht alle solchen Aktionen nach diesem Muster ablaufen. Über kurz oder lang werden militärisch und politisch durchdachtere Manöver auf Venezuela zukommen, ob von Seiten der lokalen Oligarchie oder dem Noch-Hegemon. Allein die Putsche der letzten Jahre in Brasilien, Honduras und Bolivien haben das deutlich gemacht.

Foto: @camilateleSUR via twitter

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Der gegenwärtige Krisenschub scheint den Spätkapitalismus im Rekordtempo in eine längst überwunden geglaubte, barbarische Vergangenheit abstürzen zu lassen.

Wie lange lässt sich die Notwendigkeit der Überwindung der spätkapitalistischen Produktionsweise ignorieren, während diese offen in Krise und Barbarei versinkt? Weite Teile der sozialdemokratisch verhausschweinten Umverteilungslinken in der Bundesrepublik mögen noch immer die Augen ganz fest zudrücken angesichts des sich global entfaltenden Desasters, um die notwendigen, radikalen Schlussfolgerungen nicht ziehen zu müssen, die so abträglich für Koalitionskalkül und Karriereplanung sind. Den deutschen Funktionseliten aber dämmert es inzwischen durchaus, was da auf sie zukommt. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), dem informellen Verlautbarungsorgan der deutschen Bourgeoisie, spricht man inzwischen von einem „Pearl-Harbor-Moment“. Der wirtschaftliche Umbruch, den das Virus ausgelöst habe, werde über „Generationen dauern“, hieß es in einem Kommentar. Die „Dramatik dessen, was sich gegenwärtig vollzieht“ entziehe sich weitgehend gängiger Einordnung.

Der wirtschaftliche Einbruch kommt

Der IWF versuchte sich Mitte April an einer ersten substantiellen Einschätzung des kommenden Wirtschaftseinbruchs, der durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ausgelöst wurde. Schon jetzt stehe fest, dass die überschuldete Weltwirtschaft in die größte Krise seit der großen Depression der 30er abstürzen werde. Selbst die Finanzkrise von 2008/09 würde dahinter verblassen, so die Zusammenfassung der IWF-Prognose seitens der FAZ. Die Weltwirtschaft werde demnach in diesem Jahr um rund drei Prozentpunkte schrumpfen, wobei rund 170 Länder mit einem Rückgang der Wirtschaftsleitung rechnen müssten.

Der Währungsfonds geht von einem diesjährigen Einbruch von rund sieben Prozent in der Bundesrepublik aus, in der gesamten Eurozone soll die Wirtschaftsleistung um 7,5 Prozent schrumpfen. Besonders hart soll es Italien treffen, wo ein tiefer konjunktureller Fall von 9,1 Prozent prognostiziert wird. Auf die USA kommt ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von mindestens 5,9 Prozentpunkten zu. Etliche Länder des globalen Südens, in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems, könnten hingegen auch in diesem Jahr ein knappes nominelles Wirtschaftswachstum verzeichnen. Für die übergroße pauperisierte Bevölkerungsmehrheit in diesen ökonomisch abgehängten Weltregionen bedeute dies nichtsdestotrotz eine Verschärfung des täglichen Überlebenskampfes, weil die „Wachstumsgewinne“ sehr ungleich verteilt seien, wie es die FAZ formulierte. Im Klartext: nur bei kräftigem Wachstum können in der „Dritten Welt“ Pauperisierungstendenzen eingedämmt werden, schwaches Wachstum führt zu fortgesetzter Verelendung.

Für nahezu alle Länder und Regionen prognostiziert der IWF im kommenden Jahr einen Aufschwung, der aber in kaum einem Fall die massiven Verluste dieses Jahres kompensieren können werde. Nennenswerte Ausnahmen bilden hier nur China und Indien. In diesem Jahr sollen beide „Schwellenländer“ um ein bis zwei Prozentpunkte wachsen, während 2021 ein kräftiger Aufschwung von 7,4 Prozent (Indien) bis 9,2 Prozent (China) vorhergesagt wird. Diese Zahlen des IWF beruhen allerdings auf einem optimistischen Szenario, das davon ausgeht, dass die Folgen der Pandemie in der zweiten Jahreshälfte 2020 erfolgreich eingedämmt werden. Sollten die schon jetzt anlaufenden Maßnahmen zur Lockerung des „Lockdowns“ nicht erfolgreich sein und die globale Mehrwertmaschine auch in der zweiten Jahreshälfte stillstehen, dann droht ein historisch beispielloser Zusammenbruch der Weltwirtschaft. Den kapitalistischen Funktionseliten aus Politik und Wirtschaft bleibt nichts Anderes übrig als, allen Warnungen von Virologen zum trotz, die Wirtschaft wieder schnellstmöglich „hochzufahren“.

Es brennt an allen Ecken und Enden. Inzwischen haben mehr als 90 Länder beim IWF Notfallfinanzierungen beantragt, um Schuldenkrisen oder Staatspleiten abzuwenden, wobei die für ihre berüchtigten Sparprogramme berüchtigte Institution diesmal die neoliberalen Zügel lockerer anlegen will. Rund 25 der ärmsten „Entwicklungsländer“ hat der Währungsfonds sogar Erleichterungen beim Schuldendienst zugesagt. Die Krise der „Schwellenländer“ (Semiperipherie) und der Peripherie wird durch eine historisch beispiellose Kapitalflucht in die Zentren des Weltsystems, sowie dem Absturz der Preise für Energieträger angefacht. Die Preise für Rohöl rutschten bei der US-Sorte WTI absurderweise sogar ins Negative, was auf die Auslastung aller Lagerkapazitäten bei weiterhin laufender Förderung und eine kollabierende Nachfrage zurückzuführen ist.

Die Lohnabhängigen trifft es am härtesten

Gigantisch sind insbesondere die – mitunter existenzgefährdenden – Verluste, die die Lohnabhängigen im Verlauf dieses Krisenschubes hinzunehmenhaben. Die International Labour Organization (ILO) der Vereinten Nationen spricht von „niederschmetternden Verlusten“ an Arbeitsstunden und Beschäftigung, die einen „katastrophalen Effekt“ auf die globale Arbeiterschaft hätten. Der Wirtschaftseinbruch werde durch pandemiebedingte Produktionsstillegungen mindestens 6,7 Prozent der weltweit geleisteten Arbeitsstunden ausfallen lassen, was knapp 200 Millionen Vollarbeitsplätzen entspräche. Insgesamt 1,9 Milliarden Arbeiterinnen und Arbeiter sind in Sektoren beschäftigt, die von „drastischen und verheerenden“ Arbeitszeitkürzungen, Lohnkahlschlag und Entlassungen bedroht seien. In Indien sind – trotz leichtem Wachstums – beispielsweise 400 Millionen arbeitende Arme im informellen Sektor vom Abrutschen in eine existenzgefährdende Armut bedroht, was auf die rasche Ausbreitung von Hunger und Mangelernährung hinausläuft. In Europa sollen allein im zweiten Quartal dieses Jahres 7,8 Prozent aller Arbeitsstunden ausgefallen sein, was in etwa 12 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen entspricht. Zum Vergleich: Während der Eurokrise, als Spanien und Griechenland eine Arbeitslosenquote jenseits der 20 Prozent verzeichneten, sind in der Eurozone 3,8 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen.

Innenalb der Zentren des kapitalistischen Weltsystems sind die Vereinigten Staaten bislang am stärksten von dem Krisenschub getroffen worden – sowohl in Bezug auf die Anzahl der Todesfälle, als auch der ökonomischen Verheerungen im Gefolge der Pandemie. Die Arbeitslosenquote ist dort, nach dem Scheitern der halbherzigen Bemühungen sie durch Übergangsregelungen abzufangen, regelrecht explodiert. Innerhalb eines Monats mussten sich bis Mitte April 22 Millionen US-Bürger arbeitslos melden, was einen einsamen historischen Rekord darstellt und der globalen Prognose der ILO nahekommt. Somit haben rund 13,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung der USA ihre zumeist ohnehin prekären und mies bezahlten Jobs binnen kürzester Zeit verloren. Die offizielle Arbeitslosenrate der USA, die ohnehin stark geschönt ist, soll Prognosen zufolge von 4,4 Prozent im März auf rund 15 Prozent im April hochschnellen. Da breite Bevölkerungsschichten der Vereinigten Staaten bereits seit der Immobilienkrise 2008 einen sozialen Abstieg erfahren haben, der die Mittelklasse massiv abschmelzen ließ, sind auch kaum finanzielle Reserven gegeben, um den Absturz abzufangen.

Die Folge ist eine rasche Zunahme extremer Armut. Viele US-Bürger sind nicht mehr in der Lage, sich selbst zu ernähren: In Szenen die an die große Depression der 30er Jahre erinnern, werden die Lebensmittelbanken in den Vereinigten Staaten von rasch anschwellenden Massen verzweifelter Menschen überrannt, die mitunter stundenlang in ihren Fahrzeugen warten müssen, um etwas Nahrung für sich oder die Familie ergattern zu können. Zugleich werden von Agrar- und Lebensmittelkonzernen massiv Lebensmittel vernichtet, um die Marktpreise zu stabilisieren. Hilfsorganisationen berichten zudem über eine Zunehme sexueller Belästigung durch Vermieter gegenüber Frauen, die mit ihrer Miete in Verzug geraten seinen. Die verhassten „Landlords“ forderten bei diesen Erpressungsversuchen Sex gegen Mietnachlässe.

Sündenbock China

Die Trump-Administration setzt derweil auf die faschistische Karte, um den Wahlkampf gegen den dementen demokratischen Establishment-Kandidaten Joe Biden für sich zu entscheiden. Kurz nach der Kapitulation des linken Sozialisten Sanders mobilisierte Trump seine rechte Anhängerschaft zu Massenprotesten gegen den Lockdown, während zugleich die US-Administration und rechte Massenmedien wie Fox News zu wütenden Angriffen gegen China übergingen, das für die Pandemie verantwortlich gemacht wird. Die rechte Strategie im Wahlkampf 2020 zeichnet sich klar ab: Sofortiges Hochfahren der Wirtschaft und Aufbau von China als auswärtigem Sündenbock für das Desaster in den USA.

Dabei ist Peking ein bestenfalls relativer Gewinner der Pandemie. Auch die staatskapitalistische „Werkstatt der Welt“ musste einen der schwersten Wirtschaftseinbrüche ihrer Geschichte verzeichnen. Um 6,8 Prozent ist die Wirtschaftsleistung in der „Volksrepublik“ im ersten Quartal 2020 geschrumpft, das ist der stärkste Einbruch seit der Kulturrevolution. Inzwischen mehren sich die Anzeichen für eine Erholung der Wirtschaft, doch dürfte China mittelfristig kaum noch als eine globale Konjunkturmaschine fungieren können. Zum einen, weil die globale Nachfrage für die chinesische Exportindustrie eingebrochen ist, zum anderen, weil das Land selber schon unter hohen Schuldenbergen leidet, die gigantische Konjunkturprogramme wie 2008/09 verhindern dürften.

EU in der Existenzkrise

Die USA und China fallen somit bis auf Weiteres als Absatzmärkte aus. Für das Krisenkalkül der Bundesrepublik – die auf eine rasche Erholung ihres exportgetriebenen Wirtschaftsmodells hofft – dürfte das verheerend sein. Es waren ja insbesondere die gigantischen Handelsdefizite der USA, die in den vergangenen Dekaden stabilisierend auf die Weltwirtschaft wirkten. Die EU befindet sich ohnehin in einer Existenzkrise, da die Streitfrage gemeinsamer europäischer Anleihen die – ohnehin gegebenen – zentrifugalen Tendenzen in Europa befeuert. Die Saaten und Machtblöcke der „Europäischen Union“ bemühen sich wie 2008/09 die Folgen der Krise auf die europäische Konkurrenz abzuwälzen um selber im innereuropäischen Machtkampf gestärkt aus dem Krisenschub hervorzugehen.

Bislang ist es der Bundesrepublik gelungen, Forderungen der südlichen Peripherie nach gemeinsamen Anleihen und umfassenden Konjunkturmaßnehmen abzuwehren. Der Preis dafür besteht in einer zunehmenden Erosion der Eurozone. Ob es Berlin abermals möglich sein wird, die Krisenkosten auf die südliche Peripherie abzuwälzen darf diesmal aber bezweifelt werden – der konjunkturelle Einbruch ist zu heftig, als dass der dominante deutsche Wirtschaftsnationalismus nicht entsprechende politische Reaktionen, etwa in Italien, auslöste. Das Gespenst des europäischen Nationalismus, so irreal und funktionslos es angesichts der Dichte globale Verflechtung ist, könnte bei der Implosion der Eurozone ein letztes kurzes Revival in Form einer unbeständigen Krisenideologie erfahren.

Dies erodierende Europa dürfte sich in den folgenden Jahren mit den Folgen eines abermaligen Entstaatlichungsschubes in der Peripherie konfrontiert sehen. Die Folgen der Pandemie im subsaharischen Afrika, wo sich das Virus mit zweimonatiger Verspätung ausbreitet, drohten „Chaos, Unruhen und Bürgerkriege“ zu intensivieren, warnte Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU). Viele Saaten in der Peripherie, die unter einer historisch einmaligen Kapitalflucht in die Zentren leiden, hätten keine Möglichkeiten, sich auf die Krise adäquat vorzubereiten. Pandemievorsorge ist in den gigantischen Slums kaum möglich. Selbst Länder wie der Libanon, die rund 1,5 Millionen syrischer Flüchtlinge aufgenommen haben, stehen nun vor der Staatspleite. Islamistische Terrorgruppen dürften in vielen Zusammenbruchregionen die Krise für sich nutzen und ihre Kampagnen intensivieren und die staatlichen Erosionsprozesse beschleunigen.

Drohende Stagflation

Von den USA, über viele Peripherie- und Schwellenländer bis zu Europa – das System befindet sich am Abgrund. Dies wird vor allem anhand der Verwerfungen im Finanzsektor deutlich, wo nur noch extreme Maßnahmen den Zusammenbruch verhindern konnten. Die Notenbanken haben massenhaft Wertpapiere wie Staatsanleihen oder Bonds der Privatwirtschaft aufgekauft, um die panischen Finanzmärkte mit Liquidität zu überfluten. Diese Gelddruckerei lässt die Bilanzen der Zentralbanken im Rekordtempo anschwellen. Laut der Financial Times dürfte die Fed im aktuellen Krisenverlauf ihre Bilanz auf bis zu neun Billionen US-Dollar aufblähen – von rund vier Billionen bei Krisenausbruch. Zum Vergleich: Vor dem Ausbruch der Immobilienkrise 2008 lag die Bilanzsumme der Fed bei einer knappen Billion Dollar. Schrottpapiere werden also aufgekauft, um die Finanzsphäre liquide zu halten und eine „Kreditklemme“ zu verhindern. Kurzfristig ist dieses Vorgehen bürgerlicher Krisenpolitik alternativlos. Ähnlich agieren die Bank of Japan, aber auch die EZB, die ein Gegengewicht zur deutschen Blockadehaltung bei der Frage europäischer Anleihen bildet, indem sie Staatspapiere der südlichen Peripherie aufkauft.

Mit dieser Liquiditätswelle steigt aber auch das Risiko einer Inflation, vor allem wenn die Finanzmärkte wieder einbrechen sollten und diese frisch generierte Liquidität Zuflucht in realen Werten suchen müsste. Mittelfristig droht somit ein altes Gespenst wiederzukehren, das gewissermaßen als Geburtshelfer des neoliberalen Zeitalters fungierte: Die Stagflation, also eine Krisenphase einer stagnierenden oder schrumpfende Konjunktur, die von einer starken Inflation begleitet wird. Die Stagflationsperiode der 70er Jahre markierte in vielen Industrieländern das Ende des langen, fordistischen Nachkriegsbooms, da sich dieses Akkumulationsregime aufgrund zunehmender Automatisierungstendenzen in der Warenproduktion erschöpfte. Und es war gerade diese lang anhaltende Krisenperiode der Stagflation, an deren Überwindung der damals herrschende Keynesianismus scheiterte – und die dem Neoliberalismus ab den 80er Jahren in den USA und Großbritannien zum Durchbruch verhalf.

Der Neoliberalismus hat die Krise nur herausgezögert

Die strukturelle Krise kapitalistischer Warenproduktion, die durch das Auslaufen des fordistischen Akkumulationsregimes initiiert wurde, löste der Neoliberalismus durch eine blinde Flucht nach vorn ins kapitalistische Extrem, die einer Flucht in die brutale kapitalistische Vergangenheit gleicht: Die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft wurde verschärft, sodass in den USA das reale Lohnniveau seit den späten 70ern stagnierte. Das Arbeitslebenben wurde prekarisiert, um bei zunehmender Krisenanfälligkeit schnell heuern und feuern zu können. Diese Maßnahmen wurden begleitet von umfassenden Privatisierungen der gesellschaftlichen Infrastruktur, die dem unter einer strukturellen Überproduktionskrise leidenden Kapital neue Verwertungsfelder eröffneten. Als Resultat ist diese so marode und heruntergewirtschaftet, dass die effiziente Bewältigung von Naturkatastrophen oder Pandemien kaum noch möglich ist.

Es war aber vor allem die Expansion des Finanzsektors, die dieses neoliberale Zeitalter erst ermöglichte, indem hier die kreditgetriebene Nachfrage in Gestalt beständig global wachsender Schuldenberge und der korrespondierenden Spekulationsblasen generiert wurde, die eine hyperproduktive Industrie vor dem Kollaps bewahrte. Die neoliberale Globalisierung war somit vor allem einer Globalisierung dieser Schuldenberge, indem Länder mit Exportüberschüssen (Deutschland China) sich Defizitländern wie den USA gegenübersahen.

Historisch betrachtet brachte der Neoliberalismus einen Aufschub der kapitalistischen Systemkrise um rund drei Dekaden mit sich. Jetzt zeichnet sich nun eine ähnliche Krisenkonstellation ab, wie am Vorabend des neoliberalen Zeitalters in der zweiten Hälfe der 70er: Stagnation samt drohender inflationärer Welle. Dennoch ist dies nicht einfach nur die Wiederkehr eines alten Krisengespenstes – Geschichte wiederholt sich nicht einfach, und beim Kapitalismus handelt es sich eben um keinen ewigen Naturzustand, sondern eine konkrete, historische und durch innere Widersprüche in blinde Expansion getriebene Gesellschaftsformation. Der neoliberale Krisenaufschub hatte einen furchtbaren Preis. Dies nicht nur im Hinblick auf die eskalierende Klimakrise, oder auf den Abbau demokratischer Rechte und die aus dem Zerfallsprodukten neoliberaler Ideologe sich formierende Neue Rechte. Das Krisenniveau – verstanden als Intensität der inneren Widerspruchsentfaltung des Kapitals – ist 2020 weitaus höher als in den 80er Jahren des 20. Jahrhundert, sodass die Krise nun mit dieser historisch beispiellosen Wucht einschlägt. Die Schuldenberge sind in Relation zur Weltwirtschaftsleistung viel höher, die Produktivität der globalen Verwertungsmaschine ist in astronomische Dimensionen vorgerückt, die Verrohung und Faschisierung der Metropolengesellschaften ist evident. Deswegen dürfte auch der nach der Deflation drohende Inflationsschub weitaus heftiger ausfallen als in den späten 70ern, als in den USA zweistellige Inflationsraten verzeichnet wurden.

Das ist die Krisenrealität, die sich nun gnadenlos entfalten wird. Alle Insassen der kapitalistischen Tretmühle werden gezwungen sein Stellung zu beziehen, wie inzwischen auch die Funktionseliten des Kapitals zu ahnen scheinen. Ob mensch es nun wahrhaben will, oder nicht, die Frage stellt sich mit aller Macht der an Dynamik gewinnenden Systemtransformation: Which side are you on?

#Titelbild: Gespenst eines Ermordeten von Katsushika Hokusai (1760–1849), gemeinfrei

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Ein Versuch, die „multipolare“ imperialistische Dynamik rund um den Konflikt in Syrien zu beleuchten und theoretisch zu erfassen.

Tomasz Konicz

Das, was sich im Februar 2020 in Syrien zwischen der Türkei und Russland vollzieht, ist selbst für kapitalistische Verhältnisse außergewöhnlich. Während türkische und russische Truppen an der Grenze zwischen der Türkei und der nordsyrischen Autonomieregion Rojava gemeinsame, von wütenden Kurden immer wieder mit Steinen angegriffene Patrouillen durchführen, bombardieren russische Kampfflugzeuge wenige Kilometer weiter südlich in der westsyrischen Provinz Idlib von der Türkei unterstützte Dschihadisten und türkische Truppen, die bereits erhebliche Verluste hinnehmen mussten.

Die spätkapitalistischen Staatssubjekte sind keine Menschen, keine bürgerlichen Marktsubjekte, die in ihrem Konkurrenzgebaren zumeist sehr eindimensional sind. Die imperialistischen Staatsmonster können miteinander kooperieren, Bündnisse oder Allianzen bilden und zugleich in anderen Politikbereichen oder Einflusssphären heftige Konflikte austragen. Pack schlägt sich, Pack verträgt – dies ist die jahrhundertealte blutige Normalität imperialistischer Auseinandersetzungen, bei denen Millionen von Menschen verheizt wurden und werden.

Die vertrackte Lage in Syrien, wo Kooperation und Konfrontation zweier imperialistischer Mächte bei ihrem mörderischen „Great Game“ eng beieinander liegen, ist Ausdruck der auf die Spitze getriebenen Widersprüche im russisch-türkischen Verhältnis. Während Moskau und Ankara sich einerseits bekriegen, wollen sie andererseits Kooperieren und ziehen enorme Vorteile aus dieser Kooperation. So konnten in den vergangenen Monaten und Jahren einige wichtige wirtschaftspolitische Projekte initiiert oder realisiert werden, die für beide Seiten von Vorteil sind.

Einseitige Abhängigkeit –Russisch-türkische Kooperation

Die Anfang 2020 in Dienst gestellte Turkstream-Pipeline, die russisches Erdgas über das Schwarze Meer bis in die Türkei befördert, bring sowohl für den Kreml wie für Ankara enorme strategische Vorteile, da sie – gemeinsam mit der Ostseepipeline – Russland dabei hilft, die Transitwege russischen Erdgases nach Westeuropa zu diversifizieren, sowie Ankara der ersehnten Rolle einer energiepolitischen Drehscheibe an der südöstlichen Flanke der EU näherbringt. Zudem haben beide Seiten den Bau eines russischen Atomkraftwerks in der Türkei vereinbart, der Russlands Atomindustrie einen Auslandsauftrag einbringt und Ankara dabei hilft, seine Abhängigkeit von Energieimporten zu reduzieren und die Option einer türkischen Atombombe eröffnet.

Diese handelspolitischen Bezeigungen sind aber von einer einseitigen Abhängigkeit geprägt, da die Türkei in sehr viel größeren Ausmaß von Russland abhängig ist als umgekehrt – dies vor allem bei dem Import fossiler Energieträger. Hier verfügt der Kreml, der beim Export zur Not Turkstream schließen und auf andere Pipelines ausweichen kann, eindeutig über den längeren Machthebel.

Weitere Interessenüberschneidungen zwischen Ankara und Moskau existierten bei der Geopolitik, wie es der strategische Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 durch die Türkei zeigte, der in Washington für Empörung sorgte und der das türkisch-amerikanische Verhältnis stark belastet. Ankara und Moskau haben – gemeinsam mit dem Iran – ein Interesse daran, den Einfluss des Westens – hier vor allem der USA – in der Region zurückzudrängen. Zusätzlich motiviert wurde diese kurzfristige Allianz zwischen Ankara, Teheran und Moskau durch das gemeinsame Interesse an der Zerschlagung des basisdemokratischen Experiments in Rojava, das alle autoritären, islamistischen Regimes und Rackets in der Region als eine existenzielle Bedrohung ansahen, wobei die klerikalfaschistische Türkei und das theokratische Regime im Iran aufgrund ihrer substanziellen kurdischen Minderheiten hier besonders schnell zur einer punktuellen Kooperation bereit waren.

Über die Leiche Rojavas – der Verrat der USA

Gerade die zeitweilige Zusammenarbeit der USA mit den kurdischen SDF zwecks Bekämpfung des Islamischen Staates hat maßgeblich zum Zerwürfnis zwischen Ankara und Washington beigetragen, das Moskau durch Zugeständnisse gegenüber Erdogan, die in der Invasion Afrins gipfelten, möglichst weit forcieren wollte. Es ließe sich gar argumentieren, dass die Annäherung zwischen Moskau, Teheran und Ankara gerade über die Leiche des selbstverwalteten nordsyrischen Kantons Afrin erfolgte, das sich in Russlands Einflusssphäre befand – und das Putin der türkischen Soldateska zum Fraß vorwarf, um die Türkei zusätzlich aus der westlichen Einflusssphäre zu lösen.

Mit dem Verrat der USA an den Kurden Nordsyriens im vergangenen Oktober wurde dieser reaktionären, gegen die USA wie auch den emanzipatorischen Aufbruch in Nordsyrien gerichteten unheiligen Allianz der wichtigste gemeinsame Nenner entzogen. So wie Putin sich bemühte, durch die Opferung Afrins an den türkischen Kelrikalfaschismus die Türkei aus dem Westen zu lösen, so hat Trump durch den Verrat an den östlichen Kantonen Rojavas die Türken dazu motivieren wollen, die Annäherung an Moskau zu revidieren. Die USA benutzten somit die Kurden im Kampf gegen den Islamischen Staat, um sie hiernach der islamistischen Regionalmacht auszuliefern, die zu den wichtigsten Unterstützern des Islamischen Staates gehörte, da die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien den wichtigsten Streitpunkt bei der Entfremdung zwischen Ankara und Trump bildete.

Tatsächlich könnte dieses brutale imperialistische Kalkül Washingtons, wo man trotz des Verlusts der Hegemonie noch maßgeblich Einfluss auf die Gestaltung der Region nehmen will, aufzugehen. Die USA haben Rojava verraten und sich weitgehend zurückgezogen aus Syrien, sie okkupieren nur noch die – regional unbedeutenden – Ölquellen in Ostsyrien. Dies tun sie nicht etwa, um dieses Öl in Eigenregie zu verkaufen, wie wohl nur Trump glaubt, sondern um die Kosten der Intervention Russlands und der eventuellen Wiederaufbaubemühungen in Syrien in die Höhe zu treiben, sowie einen Keil in die Achse Damaskus–Teheran zu treiben.

Doch, und dies ist entscheidend, überwiegen seit dem partiellen Rückzug Washingtons die Differenzen der Regionalmächte das vormalige Interesse an der Verdrängung der USA. Nun steht Russland unter Druck in Syrien, es muss sich mit Ankara auseinandersetzen und das komplexe Interessengewirr in der Region managen. Washington spekuliert schlicht darauf, dass Moskau damit überfordert sein wird.

Die Hegemonialmacht tritt ab

Was sich nun in der Region entfaltet, ist somit schlicht jene Realität einer „multipolaren Weltordnung“, die von allen Herausforderern der US-Hegemonie in den vergangenen Dekaden gefordert wurde. Die USA, seit Langem im hegemonialen Abstieg begriffen, haben ihre seit dem Zerfall des Ostblocks etablierte Rolle als globale militärische „Ordnungsmacht“ – die Interventionen, Strafexpeditionen und Invasionen in der Peripherie des Weltsystems über gut drei Dekaden weitgehend monopolisieren konnte – zumindest im Nahen und Mittleren Osten – endgültig verloren. In dieses Vakuum drängen nun viele kleine Nachwuchs-USA, die dem großen, abgetakelten Vorbild jenseits des Atlantiks nacheifern und ihr eigenen geopolitisches und imperialistisches Kalkül verfolgen.

Die Hegemonialmacht tritt ab – doch der Imperialismus bleibt bestehen, da dessen ökonomisches Fundament, die krisengebeutelte und widerspruchszerfressene kapitalistische Produktionsweise, weiterhin bestehen bleibt. Mehr noch: Der Abstieg der ökonomisch durch die Krise verwüsteten und weitgehend deindustrialisierten Vereinigten Staaten wird nicht mehr durch den Aufstieg eines neuen globalen Hegemons begleitet, der es wiederum schaffen würde, die Anwendung militärischer Gewalt weitgehend zu monopolisieren. Keine Großmacht – auch nicht China – ist dazu in der Lage; aufgrund zunehmender Krisentendenzen, wie einer ausartenden Verschuldung. Die Folge: Der partielle Rückzug der USA geht nicht mit einem Ende der Spannungen einher, sondern mit deren „multipolarer“ Vervielfältigung.

In der Region entfalten folglich der schiitische Iran und das sunnitische Saudi-Arabien bei ihrem jeweiligen Hegemonialstreben eine zunehmende geopolitische Konkurrenzdynamik, in deren Folge etwa der Jemen von einem blutigen Stellvertreterkrieg erfasst wurde, bei dem die USA nur noch eine Nebenrolle spielen. Diese Inflationierung des Konfliktpotenzials in einem in Auflösung übergehenden spätkapitalistischen Weltsystem kann somit gerade an den konkreten Konfliktlinien in der Region nachvollzogen werden – dies vor allem hinsichtlich der klerikalfaschistischen, von neo-osmanischen Wahn beseelten Türkei. Erdogan muss Expandieren, da ihm die schwere ökonomische Krise in der Türkei dazu nötigt, mittels äußerer Expansion die zunehmenden sozioökonomischen Verwerfungen im Land zu überbrücken. Es geht hierbei nicht nur um das klassische Schüren chauvinistischer Stimmungen, um so vom permanenten Grütel-enger-schnallen breiter Bevölkerungsschichten in der Türkei abzulenken, sondern um ganz konkrete Strategien oder Kontrolle der Beseitigung der Massen ökonomisch „überflüssiger“ Menschen, die die Systemkrise in der Region produzierte.

Idlib – geopolitische Sackgasse

Idlib soll als informelles türkisches Protektorat vor allem dazu dienen, die Flüchtlingsmassen, die der syrische Bürgerkrieg produzierte, dort zu konzentrieren, da sie aufgrund der Krise in der Türkei nicht mehr als Billiglohnsklaven verwertet werden können. Ähnliche Planungen zur Errichtung einer Art gigantischen Flüchtlingsghettos gibt es in den von der Türkei okkupierten Region Rojavas, wo die ethnische „Säuberung“ der kurdischen Bevölkerung durch die türkische Soldateska mit der Ansiedlung von Islamisten und der Deportation von Flüchtlingen abgeschlossen werden soll. Dieses Vorgehen Erdogans, der Flüchtlinge längst als politische Waffe gegenüber der EU einsetzt, brachte ihm die taktische und finanzkräftige Unterstützung Berlins ein, wo man aufgrund des Aufstiegs der Neuen Rechten panische Angst vor weiteren „Flüchtlingswellen“ hat. Merkel hat sich bei ihrer letzten Türkeivisite dazu entschlossen, im Endeffekt ethnische Säuberungen in Rojava zu finanzieren. Flüchtlinge und Abschottungstendenzen bilden somit – neben dem Kampf um Ressourcen und Energieträger – inzwischen einen neuartigen, zentralen Faktor beim „multipolaren“ neoimperialistischen Hauen und Stechen in der Region, das Phasenweise an die Hochzeit des Imperialismus in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert erinnert. Es ist gewissermaßen eine alte, neue Weltunordnung, die sich nun etabliert.

Die Dramatik und Gefährlichkeit der Lage in Idlib, die jederzeit eskalieren kann, resultiert andrerseits aus dem simplen Umstand, dass beide Seiten – sowohl die Türkei wie auch Russland – aller geschilderten Kooperation zum Trotz ihre zunehmenden geopolitischen Interessenskonflikte nicht mehr weiter verdecken oder überbrücken können. Erdogan kann sich einen Verlust von Idlib samt zu erwartender Massenflucht in der ökonomisch zerrütteten Türkei kaum politisch erlauben, da dies seine Herrschaft – und buchstäblich seine physische Existenz – bedroht. Der Kreml kann wiederum letzten Endes kaum dazu übergehen, Teile von Syrien langfristig an die Türkei in geopolitischen Deals zu verscherbeln, will Putin tatsächlich Russland als einen verlässlichen regionalen Machtfaktor im Nahen- und Mittleren Osten etablieren. Beide Seiten befinden in einer geopolitischen Sackgasse, aus der der Verlierer nur unter einem massiven Verlust an Prestige oder Einfluss ausbrechen kann.

Die Grenzen des türkischen Dominazstrebens

Zudem ist das geopolitische Vabanque Spiel Erdogans, bei dem Ankara im Gefolge des regionalen Dominanzstrebens erfolgreich zwischen Ost und West pendelte, um immer neue Zugeständnisse von Moskau (Afrin), Washington (östliches Rojava) und Berlin (Geld und Investitionen) zu erpressen, an seine Grenzen gelangt. Auch diesmal ging die türkische Konfrontationshaltung gegenüber Russland mit einer raschen Annäherung an den Westen, vor allem an die USA, einher, doch konnte Erdogan keine handfeste militärische Unterstützung seitens der Trump-Administration erwirken. Die brandgefährlichen Forderungen Ankaras nach amerikanischen Luftabwehrsystemen oder einer Flugverbotszone über Idlib sind im Sande verlaufen, da das Pentagon nicht den 3. Weltkrieg riskieren will. Die USA sind zwar im Abstieg begriffen, aber sie bilden weiterhin einen wichtigen Machtfaktor in der Region – ähnlich dem Großbritannien der Nachkriegszeit, dass ja sogar in der Suez-Krise 1956 einen erfolgloses imperialistisches Comeback versuchte.

Washington ist derzeit schlicht bemüht, dafür sorge zu tragen, dass der vergangenen Oktober begangene Verrat an der Kurden sich nun geopolitisch rentiert. Der Imageverlust vom Herbst 2019 – der den USA die Bündnisbildung in der Region ungemein erschweren wird – soll im Frühjahr geopolitische Rendite einbringen, indem der Konflikt zwischen Ankara und Moskau möglichst weit angeheizt wird, um so die Türkei zurück in die westliche Einflusssphäre zu bugsieren. Auch dies ist ein Balanceakt, den Washington vollführen muss: Es gilt, die Konfrontation durch rhetorische und öffentliche Solidaritätsbekundungen an das Erdogan-Regime anzuheizen, ohne je konkret zu werden. Die Trump-Administration muss im Wahljahr 2020 eine militärische Eskalation in Syrien um nahezu jeden Preis vermeiden – vor allem bei einem eventuellen Duell zwischen Trump und dem Antikriegskandidaten Sanders.

Dabei wählte Putin einen guten Moment, um die letztendlich unausweichliche Konfrontation mit Erdogan zu suchen, da dieser sich in seinem – durch innertürkische Widersprüche angetriebenen – Expansionsdrang regional weitgehend isoliert hat. Die arabischen Länder, wie etwa Jordanien und Ägypten, bilden aufgrund der neo-osmantische Ambitionen Erdogans eine nahezu geschlossene antitürkische Front, währnend weite Teile der EU, angeführt von Frankreich, sich wegen der Auseinandersetzungen um die Energieträger vor der Küste Zyperns im Streit mit der Türkei befinden. Koordiniert von Paris, bemühen sich Teile der EU somit, den türkischen Hegemonialstreben eindeutige Grenzen zu setzen. Die USA wiederum werden Erdogan nur verbal zur Auseinandersetzung mit Putin ermuntern, da man Ihm in Washington den Kauf der russischen S-400 so schnell, und vor allem so billig, nicht verziehen wird. Mal ganz abgesehen davon, dass man es sich in Ankara ganz genau überlegen wird, ob man sich wieder einer Großmacht in die Arme wirft, die laut türkischer Überzeugung den gescheiterten Putsch gegen Erdogan unterstützt haben soll.

Die evidente, nahezu vollständige Erosion der US-Hegemonie führte somit dazu, dass etliche kapitalistische Staaten in der Region (Türkei, Russland, Teile der EU, Saudi-Arabien, Iran) ihre Interessen stärker geopolitisch zur Geltung bringen können; es entsteht eine multipolare Dynamik vielfältiger regionaler imperialistischer Interessen, die sehr viel stärker und deutlicher in Erscheinung treten können, nachdem der hegemoniale Druck der US-Militärmaschine schwindet. Diese prekäre Rückkehr zu einem instabilen Imperialismus ohne Hegemon sorgt bei vielen Beobachtern, die es gewohnt sich, in den Frontstellungen des Zeitalters der US-Hegemonie zu denken, für Verwirrung und Desorientierung. Die USA, oftmals in verkürzter Kapitalismuskritik als Urquell allen Übels wahrgenommen, steigen ab, aber die mörderischen imperialistischen Kriege, letztendlich angefacht durch den widersprüchlichen Verwertungszwang des Kapitals, blieben bestehen. Die drohende Eskalation in Idlib stellt letztendlich auch eine Blamage des dummdeutschen Antiamerikanismus dar, der sich schon immer nicht primär aus einer fehlgeleiteten antiimperialistischen Motivation, sondern aus blankem imperialistischen Neid speiste.

#Titelbild: türkische und US-Soldaten in Syrien, wikipedia

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In der Nacht zum 3. Januar töteten die Streitkräfte der USA den hochrangigen iranischen Militär Qassem Suleimani mit einem gezielten Drohnenschlag in der Nähe des Flughafens von Bagdad. Mit ihm starben mindestens sechs weitere Menschen, darunter der Kommandant der irakischen Volksmobilmachungseinheiten (PMU), Abu Mahdi Al-Muhandis.

Die Ermordung der beiden dem Regime in Teheran nahestehenden Befehlshaber stößt bei der rechten transatlantischen Presse auf Zustimmung. Trump habe „uns von einem Monster befreit“, titelt etwa die Bild. Was aber bedeutet der Anschlag für den Mittleren Osten?

Sie bedeutet noch mehr Blutvergießen, Eskalation und imperialistische Kriege. Das ist nichts Neues. Seit Jahrzehnten besteht der Alltag der Menschen von Afghanistan bis Palästina und von Kurdistan bis in den Jemen aus Krieg, Zerstörung und Vertreibung. Sind es gerade nicht die amerikanischen, russischen, türkischen oder israelischen Luftschläge, so sind es die Bomben von Al-Qaida oder die Kriegsverbrechen von Daesh und Hashd al-Shaabi. Die Region ist ein blutiges Schachfeld zwischen imperialistischen Großmächten und den expansionistischen Bestrebungen regionaler Mächte, ausgefochten auf dem Rücken der proletarischen Klassen und der unterdrückten Völker. Einer der Akteure in diesem Machtkampf ist eben auch die Islamische Republik Iran.

1979 ging die Islamische Republik als dominante Kraft aus der Revolution gegen die US-gestützte Schah-Diktatur hervor und festigte sich als Nachfolgersystem. Ein Kind der ersten Tage der Islamischen Republik, als das Militär und der Geheimdienst noch von Schah-treuen Elementen gesäubert wurden und somit nicht handlungsfähig waren, war die „Armee der Wächter der Islamischen Republik“ – auch bekannt als die „Revolutionsgarden“.

Die „Revolutionsgarde“ wurde als ideologisch treue Parallelarmee zur Verteidigung der Werte der Islamischen Revolution aufgestellt und spielte fortan eine zentrale Rolle in dem Prozess der Festigung der Islamischen Republik – der fast eine Dekade lang dauerte. Dieser Prozess der inneren Festigung war nicht nur begleitet von Krieg und Massakern in Torkamansahra und Kurdistan, sondern forderte auch das Leben Zehntausender Linker und Kommunisten, die auf offener Straße und in den Gefängnissen gefoltert und ermordet wurden.

Dabei beschränkte sich die „Revolutionsgarde“ nicht nur auf die innenpolitische Repression politischer Opposition, sondern richtete ihren Blick auch jenseits der iranischen Grenzen. Das von Khomeini theoretisierte Paradigma vom „Exportieren der Islamischen Revolution“ gilt dafür bis heute als Grundlage. Im Paragraph 154 der iranischen Verfassung verankert, galt sie als Grundlage um sich in der muslimischen Welt auszubreiten, insbesondere Schiiten nach Vorbild der Islamischen Republik zu organisieren und somit die eigenen nationalen Expanisonsbestrebungen zu ermöglichen.

Diese Politik spielte eine signifikante Rolle in der Provokation des Irak und dem anschliessenden Überfall Saddam Husseins 1981 auf den Iran, was in den ersten Golfkrieg mündete und das Leben Hunderttausender junger Menschen an den Fronten eines achtjährigen Krieges forderte. Die zuständige Abteilung bei den Revolutionsgarden für den „Export der Revolution“ trug zunächst den Namen „Einheiten für die Unterstützung der Befreiungsbewegungen“. Sie bestand aus Islamischen Revolutionären, die seit den 1970er-Jahren Kontakte nach Libyen und in den Libanon hatten und teilweise militärisch dort ausgebildet worden waren. Im Libanon beteiligten sie sich auch z.B an der Seite der Amal-Bewegung am Bürgerkrieg.

Im Verlauf der 1980er-Jahre bauten diese die Grundlagen einer strategischen Partnerschaft bis zum Mittelmeer aus. Vor allem sollte die arabische Linke, die revolutionäre Bewegung Paläsitinas und der irakische Baathismus geschwächt werden und der islamische und schiitische Widerstand als Alternative aufgebaut werden. Auch die strategische Allianz mit Hafez Assad, dem Vater des jetzigen syrischen Machthabers, geht auf diese Zeit zurück.

Im Zuge der Iran-Contra-Affäre und als Friedensgeste der Islamischen Republik an die USA wurden jedoch die „Einheiten für die Unterstützung der Befreiungsbewegungen“ aufgelöst und ihre Anführer als Konterrevolutionäre liquidiert. Als einige Jahre später die Islamische Republik ihre Expansionspolitik wieder aufnahm, nannte sich die Abteilung für die internationalen Operationen der Revolutionsgarden „Al-Quds-Brigaden“. Eben jenen stand der nun ermordete Sulaimani vor.

Die Erfahrungen die in den 1990er-Jahren an der Seite der Nordallianz in Afghanistan, in Bosnien und mit der Hizbollah im Libanon gesammelt wurden, flossen ab 2003 in die Organisierung der irakischen Schiiten ein. Qassem Suleimani der schon an dem Krieg in Rojhilat (iranisches Kurdistan) beteiligt war, übernahm seit 1997 die Führung der Al-Quds-Brigaden und spielte eine zentrale Rolle in der Festigung des politischen und militärischen Einflusses des Iran im Irak nach der Militäraggression der USA im Jahr 2003. Seit 2011 und später mit dem Aufkommen des IS in Syrien und im Irak übernahmen die Al-Quds-Brigaden defacto die Aufgabe paramilitärische und ideologisch treue Strukturen aufzubauen, um die Interessen der Islamischen Republik im Nahen Osten zu sichern. Der Kampf gegen den IS, aber auch die Stützung von Bashar al-Assad und von Marionettenregierungen im Irak um jeden Preis, sind zentraler Bestandteil ihrer Aufgaben.

Wie im Iran, wo die Revolutionsgarden fast alle wirtschaftlichen Stränge kontrollieren, heißt es hier auch neoliberale Umstrukturierung, Vetternwirtschaft, Korruption und die gewaltsame Unterdrückung der Bevölkerung, wenn sie für die eigene Souveränität, Unabhängigkeit und Würde auf die Strassen geht. Ob nun im Iran die proletarischen Klassen nach Brot und Freiheit rufen oder im Irak und Libanon die Menschen sich gegen Armut, Sektierertum und Diktaturen auflehnen – stets antworten die Revolutionsgarden, die Al-Quds-Brigade und die ihnen treuen Milizen mit roher Gewalt.

So viel zu Suleimani. Aber die Rechnung bliebe unvollständig ohne die Gräueltaten jener zu erwähnen, die ihn heute töteten. Der US-Imperialismus hat zur Durchsetzung seiner politischen und wirtschaftlichen Agenda in der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg Abermillionen Menschen ermordet. Im Mittleren Osten zieht sich seine Blutspur vom Irakkrieg mit über einer halben Million Toten bis in den Jemen, in dem derzeit Tag für Tag gemordet und ausgehungert wird. Die USA brachten dem Mittleren Osten nie Frieden, nie Prosperität, nie irgendetwas Gutes. Und auch die Hinrichtung von Suleimani wird nur noch mehr Verheerung bringen.

Die revolutionären Kräfte sollten Suleimani keine Träne nachtrauern, denn die proletarischen Klassen im Nahen Osten tun es bestimmt nicht. Und im gleichen Atemzug gilt die Verachtung dem amerikanischem Imperialismus, der seit Jahrzehnten eine mörderische Präsenz im Nahen Osten hat und nach Belieben Menschen aus der Luft ermorden lässt. Was im Irak dagegen notwendig wäre, ist der sofortige Abzug aller ausländischen Mächte und die Hoffnung und der Kampf für den Tag an dem Kriegsverbrecher – ob nun Trump oder Figuren wie Suleimani – zur Rechenschaft gezogen werden.

# Bildquelle: wikimedia.commons

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Der Krieg im Jemen hat immer brutalere Konsequenzen für die dortige Bevölkerung. Anders als gerne behauptet geht es weniger um religiöse und ethnische Auseinandersetzungen, sondern um knallharte kapitalistische Interessen, auch der deutschen Rüstungsindustrie, die von der BRD freie Hand bekommt. Christoph Morich mit einer Analyse.

Als zum erstenmal das Wort »Friede« ausgesprochen wurde, entstand auf der Börse eine Panik. Sie schrien auf im Schmerz: Wir haben verdient! Lasst uns den Krieg! Wir haben den Krieg verdient!“ (Karl Kraus, 1909)

„Rheinmetall – So sehen Sieger aus!“ So titelte die Internetseite Finanztrends im letzten Monat anlässlich des steigenden Aktienkurses des Konzerns. Nicht nur ließen die nackten Zahlen das Herz der Aktienbesitzer*innen höherschlagen, auch die „Stimmungslage in den sozialen Netzwerken war in den vergangenen Tagen überwiegend positiv.“ Rheinmetall, ein deutscher Autozulieferer und Rüstungskonzern, konnte seinen Gewinn im ersten Halbjahr 2019 um 2,2% auf circa 2,8 Milliarden Euro steigern. Die Einbußen in der Automobilsparte wurden durch zusätzliche Einnahmen im globalen Waffengeschäft kompensiert. Ein wichtiger Abnehmer dieser Waffenlieferungen war die Allianz um Saudi-Arabien, die seit 2015 im Jemen einen blutigen Krieg führt, dem die Zivilbevölkerung zum Opfer fällt. Insgesamt wurden der deutschen Waffenindustrie in der ersten Jahreshälfte 2019 Exporte im Wert von 1,1 Milliarden Euro an diese Allianz genehmigt. Die Menschen im Jemen sind die Verlierer*innen dieses Geschäftes. Während die Rüstungsindustrie und ihre Aktionäre hierzulande jubeln, herrscht bei den Opfern der saudischen Luftangriffe das blanke Elend.

Der Krieg im Jemen begann mit der saudischen Intervention, nachdem weite Teile des Landes durch Huthi-Rebellen erobert worden waren. Er wird gemeinhin als ein Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten bezeichnet, was der Komplexität des Geschehens jedoch keineswegs gerecht wird. Tatsächlich überlagern sich im Jemen verschiedene politische, ökonomische und ideologische Konflikte, regionaler und globaler Ausprägung.

Im Januar 2011 begannen Proteste gegen den korrupten Präsidenten Salih, der wenig später auf Anweisung Saudi-Arabiens durch seinen Stellvertreter Hadi ersetzt wurde. Unter beiden dienten die staatlichen Strukturen in erster Linie der Bereicherung einzelner Cliquen (insbesondere durch den Export von Öl), während ein großer Teil der Bevölkerung in bitterer Armut lebte. Ein Schicksal, das der Jemen mit vielen ehemaligen Kolonien teilt, die mittlerweile allesamt zu günstigen Rohstofflieferanten für den Weltmarkt geworden sind, während sich an den Schaltstellen der Macht eine kleine Elite bereichert. Die an den Protesten maßgeblich beteiligte Bevölkerungsgruppe der Huthis wurde im Zuge des Regierungswechsels übergangen und erkannte den neuen Präsidenten nicht an. Es gelang ihnen daraufhin weite Teile des Jemens zu erobern, was die Allianz um Saudi-Arabien zu einer Intervention veranlasste. Erst daraufhin kam es nach Ansicht vieler Beobachter*innen zu einer zunehmenden Konfessionalisierung des Konfliktes.

Ursprünglich sind wirtschaftliche und machtpolitische Interessen von entscheidender Bedeutung in dem Konflikt. Dem Kapital geht es darum sich Zugang zu profitablen Anlagemöglichkeiten, insbesondere den Ölvorkommen, und Absatzmärkten, z.B. für Lebensmittel, zu sichern. Um davon zu profitieren, sind verschiedene Fraktionen der politischen Elite der Region bemüht, die Herrschaft über entsprechende Regionen und Schaltstellen im Staatsapparat für sich zu sichern. Die vernachlässigten Teile der Bevölkerung, die eine entscheidende Rolle bei den Protesten seit 2011 spielten, fordern einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum ein. Deren Armut und erlebte Ungerechtigkeit nutzen diverse Gruppen, um Anhänger*innen für ihre mehr oder weniger ideologisch motivierten Kämpfe zu rekrutieren, hinter denen in der Regel ebenfalls materielle Interessen stehen. Auch die sezessionistischen Bestrebungen im Süden Jemens werden auf die gefühlte Benachteiligung der dortigen Bevölkerung gegenüber dem Rest des Landes zurückgeführt.

In diesen Kampf um Macht und Profit im Jemen sind zahlreiche Länder verwickelt. Vor allem Saudi-Arabien fürchtet um seine Vormachtstellung, da der Iran zunehmen Einfluss auf die Huthi-Rebellen gewinnt. Ähnliche Überlegungen trieben die USA zur Beteiligung am Krieg im Jemen, wo sie über lange Zeit eine Basis für ihren „Krieg gegen den Terror“ hatten. Auch Frankreich und Großbritannien leisten der Allianz logistische Unterstützung. Der „Krieg gegen den Terror“ wendet sich in erster Linie gegen Al-Qaida, die Teile des Jemens beherrschen, selbst aber in den vergangenen Jahren Konkurrenz vom ebenfalls sunnitischen Islamischen Staat bekam. Im Kampf gegen die Huthi-Rebellen (und somit indirekt gegen den Iran), verfolgten die USA und Saudi-Arabien wiederum dieselben Ziele wie Al-Qaida. Also die Gruppe, die das saudische Königshaus stürzen möchte und für die Anschläge vom 11. September auf das World-Trade-Center verantwortlich war. Ähnlich paradox erscheint, dass der ehemalige Präsident Salih sich nach seiner Entmachtung mit seinen ehemaligen Gegnern, den Huthi-Rebellen verbündete, sich dann erneut mit ihnen überwarf und letztendlich von ihnen umgebracht wurde. Die sunnitischen Stämme verfolgen ebenfalls eigene Interessen und sind mit verschiedenen Akteur*innen – der Regierung Hadi, Al-Qaida oder dem IS – verbündet. Auch die Sezessionisten gehen teils wechselnde Bündnisse ein.

In solchen Gemengelagen werden plötzlich Identitäten, die bislang kaum eine Rolle spielten, zur materiellen Gewalt, da bisherige Ordnungen in sich zusammenbrechen und sich keine neue an deren Stelle etablieren kann. Religiöse Identitäten bieten Orientierung. Sie erlauben das Dasein im täglichen Kampf ideologisch aufzuladen und zum „heiligen Krieg“ zu verklären. Gleichzeitige werden sie von Saudi-Arabien und dem Iran genutzt, um Verbündete zu rekrutieren und gegen den Gegner mobil zu machen.

Es handelt sich also bei dem Konflikt im Jemen weniger um einen schon immerwährenden Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, als um eine zerfallende Gesellschaft im Zuge der globalen Krise, in der nicht vollends auszumachen ist, wer eigentlich gerade gegen wen kämpft.

Die UNO bezeichnet die Situation im Jemen als „die größte humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts“. Nach Schätzungen des „Armed Conflict Location and Event Data Project« (Acled) haben seit Beginn des Krieges fast 100.000 Menschen ihr Leben verloren. Millionen von Menschen sind vertrieben und auf Hilfslieferungen angewiesen, die sie oftmals aufgrund der andauernden Kämpfe nicht erreichen. Videoaufnahmen und Fotos zeigen Kinder, die aus nichts als Haut und Knochen bestehen und zu jeglicher menschlicher Regung zu schwach sind. Viele von ihnen sterben aufgrund der mangelnden Ausrüstung in Krankenhäusern, wenn sich ihre Eltern den Weg dorthin überhaupt leisten konnten. Alle 10 Minuten verliert ein Kind im Jemen durch Hunger sein Leben. UNICEF bezeichnet das Land als „living hell for children“.

Diese lebende Hölle wird durch deutsche Waffen noch weiter befeuert. Die Hilfeschreie unzähliger Journalist*innen und Menschenrechtsorganisationen über die Situation im Jemen, die seit Jahren den sofortigen Stopp von Waffenlieferungen an die saudische Allianz fordern, verhallen ohne Konsequenz.

Der Allianz wurde in den vergangenen Jahren immer wieder Bombardierungen von zivilen Einrichtungen, von Krankenhäusern bis Schulen und Schulbussen, nachgewiesen. Durch eine Seeblockade, die verhindert, das Lebensmittel und Hilfslieferungen ins Land kommen,ist sie maßgeblich für die Hungersnot im Jemen verantwortlich. Auch hierbei kamen in Deutschland gebaute Schiffe zum Einsatz. Dennoch: Saudi-Arabien wird weiterhin von der deutschen Rüstungsindustrie versorgt.

Bei der Produktion von Waffen kommt das Verhältnis von Tausch- und Gebrauchswert einer Ware in besonders brutaler Weise zum Ausdruck. Damit bei den Produzent*innen einer Ware und ihren Aktionären die Kurse stimmen, also durch den Verkauf der Ware aus Geld mehr Geld gemacht wird, muss sie andernorts gebraucht werden. Im Fall einer Waffe, indem sie Menschen tötet. Die Gewinne auf dem Aktienmarkt, werden mit dem Verlust von Menschenleben bezahlt. Die Undurchsichtigkeit der heutigen Weltgesellschaft erlaubt es dabei allen Akteur*innen die eigene Verantwortung für diesen offensichtlichen Zusammenhang zu leugnen. Es sei ja nicht Rheinmetall, die Bomben werfen, erklärt etwa ein Aktionär einem Team der ARD. „Und wenn wir die nicht liefern, dann tun es andere“, ist ein häufig angeführtes Argument von Seiten der Politik. Rheinmetall selbst beruft sich auf den Druck der Aktionär*innen, und den Erhalt der Werke in Deutschland, bei denen zumindest noch gewisse Mindeststandards in der Ausfuhrkontrolle existieren. Die Fabriken baut Rheinmetall aber mittlerweile in strukturschwachen Regionen in Sardinien und Südafrika, da dort mit wenig Widerstand gegen das Geschäft mit dem Krieg zu rechnen ist. An diesen, wie auch an den deutschen Standorten wird dann gerneauf die Notwendigkeit verwiesen, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, um halbwegs würdig überleben zu können. Was Saudi-Arabien mit den Bomben macht, entzieht sich dann der europäischen Verantwortung. Und da es die Menschen aus dem Jemen nur in den seltensten Fällen bis ans europäische Festland und die Bilder der Sterbenden nur ausnahmsweise in die hiesigen Medien schaffen, können sich weiterhin alle stillschweigend darauf einigen, die Hände in Unschuld zu waschen.

Der, Ende letzten Jahres von der Bundesregierung verhängte, Exportstopp für Waffenlieferungen zeugt von der Scheinheiligkeit aller beteiligten Akteure. So waren es weder die saudischen Bombenangriffe auf Schulen und Krankenhäuser, noch die Tausenden Toten und Millionen von Hungernden im Jemen, die Deutschland zu einem Exportstopp veranlassten. Erst als die saudischen Behörden den Journalisten Jamal Kashoggi in ihrer Botschaft in der Türkei wohl bei lebendigem Leib zerstückelten und damit einen diplomatischen Skandal auslösten, sah sich die deutsche Regierung gezwungen zu handeln. Doch selbst bei diesen Maßnahmen einigte man sich auf genug Ausnahmen und Schlupflöcher, um die Profite deutscher Unternehmen nicht ernsthaft zu gefährden, wie die Zahlen aus dem ersten Halbjahr 2019 belegen. Indem es Rheinmetall gestattet wird, Tochterunternehmen in Sardinien und Südafrika zu unterhalten, kann der Waffenhersteller ohnehin weitestgehend autonom gegenüber der deutschen Gesetzeslage produzieren und verkaufen. Die Sozialdemokraten sind in gewohnter Manier an dieser Heuchelei beteiligt. Bezeichnete es Sigmar Gabriel 2013 noch als „große Schande“, dass Deutschland als Waffenexporteur „Helfershelfer für die Aufrüstung von Diktaturen“ geworden sei, sind sie in der Regierungsverantwortung federführend an der Genehmigung von Waffenlieferungen an Akteur*innen in den blutigsten Konfliktregionen beteiligt. Der Zynismus, mit dem Politiker*innen der Regierungsparteien seit Jahren ihre Verantwortung für den Mord an Unschuldigen leugnen, ist nur schwer zu überbieten.

Doch gegen die Verwicklung Europas in den Krieg im Jemen regt sich vermehrt Protest. Bei der kürzlich in Berlin stattgefundenen Aktionärs-Hauptversammlung von Rheinmetall, gelang es Aktivist*innen kurzzeitig die Bühne zu besetzen, um auf das mörderische Geschäft des Unternehmens aufmerksam zu machen. In Italien und Frankreich streikten Hafenarbeiter*innen, um die Beladung eines saudischen Schiffes mit neuem Kriegsgerät zu verhindern. Für Anfang September veranstaltet das Bündnis ‚Rheinmetall entwaffnen‘ ein Protestcamp und ruft dazu auf, die Produktion des Rüstungsherstellers durch Blockaden lahmzulegen. Jede Unterbrechung der Produktion und Lieferung von Waffen kann Menschenleben im Jemen retten und hoffentlich langfristig dazu beitragen, einen Massemord zu beenden, an dem deutsches Kapital und deutsche Politik maßgeblich beteiligt sind.

#Titelbild: Zerstörte Häuser im Süden von Sanaa, wikimedia commons

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Über die Frauenbewegung in Afghanistan, die Rolle der Besatzungsmächte und die Abhängigkeit der internationalistischen Linken von Mainstreammedien. Ein Gespräch mit Mehmooda von der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA) .

Kannst du unseren Leser*innen einen kurzen Überblick über die Geschichte und Gegenwart deiner Organisation RAWA geben?

RAWA steht für „Revolutionary Association of Women in Afghanistan“. Die Organisation wurde 1977 von Meena Keshwar Kamal und einer Gruppe intellektueller Frauen in Afghanistan gegründet. Es handelt sich um eine unabhängige Organisation von Frauen. Wir kämpfen für Frauenrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Das war von Anfang an unser Ziel.

Ein Jahr nach der Gründung, 1978, wurde Afghanistan von sowjetischen Soldaten besetzt. Das war eine große Veränderung, denn wir denken, dass, wenn ein ganzes Land nicht frei ist, wir nicht nur über die Befreiung der Frau sprechen können. Also sind wir Teil des Widerstands geworden. Denn wie leider nicht alle wissen, begann der Widerstand gegen die russische Besatzung von demokratischer Seite, nicht von fundamentalistischer. Der Widerstand hat friedlich begonnen, und die Regierung hat viele Studierende und Lehrende der Universitäten festgenommen, viele Intellektuelle und Linke. Sie haben sie in ihre Gefängnisse gesteckt, sie haben sie gefoltert und sie haben sie getötet.

So wurden in dieser Zeit auch einige RAWA-Mitglieder von der Regierung verhaftet, da Meena, die Vorsitzende von RAWA, und andere Frauen Demonstrationen in Kabul und verschiedenen anderen Städten organisiert haben. Da die Situation für die Menschen, die gegen das Regime waren, zu dieser Zeit sehr schlecht war, flohen viele Menschen nach Pakistan und Indien. Auch RAWA hat sich dafür entschieden, nach Pakistan zu gehen. Also haben wir begonnen, mit den geflüchteten Menschen in Pakistan zu arbeiten, vor allem in Quetta und Peschawar [in Ostpakistan nahe der Grenze zu Afghanistan, d. Red.]. Das Problem war, dass unmittelbar nach der russischen Besatzung die USA und andere westliche Länder damit begonnen haben, Fundamentalisten zu unterstützen.

Und diese Fundamentalisten waren noch gefährlicher als das russische Regime. Somit waren wir in Pakistan mit großen Problemen konfrontiert, weil die pakistanische Regierung und der ISI [pakistanischer Geheimdienst] fundamentalistische Gruppen wie Abu Sajaf unterstützt hat. Wir kämpften also nicht nur gegen das russische Regime, sondern auch gegen die Fundamentalisten. Unsere Vorsitzende Meena hat erkannt, dass, wenn die Fundamentalisten die Kontrolle in Afghanistan übernehmen, die Situation noch schlechter sein würde als unter russischer Besatzung. Und weil RAWA die einzige Stimme gegen diese Fundamentalisten war, und Meena die Stimme von RAWA, haben sie beschlossen, diese Stimme verstummen zu lassen, und haben unsere Vorsitzende Meena 1987 in Pakistan ermordet.

Als wir nach Pakistan gegangen sind, haben wir in zwei Bereichen gearbeitet: im Politischen und im Sozialen. Von Anfang an war RAWA eine politische Organisation von Frauen. Denn die anderen Frauenverbände und Organisationen, die es 1977 in Afghanistan gab, drehten sich lediglich um solche Dinge, wie wie werde ich eine gute Frau, eine gute Ehefrau und Mutter, und es wurde vor allem darüber gesprochen, wie man das Haus zu putzen und zu kochen hat und wie man Kinder am besten erzieht. RAWA war die erste Organisation, die damit angefangen hat, über mehr als das zu sprechen; zu sagen, dass Frauen Teil von politischen Prozessen und Entscheidungen in Afghanistan sein können. Also sind wir eine politische Organisation, denn wir denken, dass, um die Situation der Frauen in Afghanistan zu ändern, die politische Struktur geändert werden muss.

Doch als wir in Pakistan waren, haben wir angefangen, in beiden Bereichen zu arbeiten. Denn geflüchtete Frauen brauchten vor allem soziale Aktivitäten, Schulen, Waisenhäuser, Krankenhäuser. Durch diese Projekte konnten wir in Kontakt mit Frauen treten.

Nach der Ermordung unserer Vorsitzenden haben wir nicht aufgehört, ihrem Weg zu folgen. Denn RAWA war nicht Meena, RAWA war und ist eine Organisation. Sie hat sie angeführt, doch andere Mitglieder hatten auch etwas zu sagen und wollten weitermachen. Und trotz all der Schwierigkeiten haben wir auch weitergemacht, auch in Afghanistan waren wir aktiv. Hier jedoch waren wir von der ersten Minute an nur im Untergrund tätig. Selbst während der Zeit der Taliban, als die Fundamentalisten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1992 die Kontrolle in Afghanistan übernahmen, war RAWA die einzige Organisation, die Berichte und Bilder aus den Städten schickte. Denn während dieser Zeit haben sämtlichen Medien und internationale Organisationen das Land verlassen. Afghanistan war vergessen. Aber wir haben dort weitergearbeitet, wir haben die Verbrechen der Taliban dokumentiert und weiterhin Frauen organisiert. Alle Schulen für Frauen waren geschlossen; also hat RAWA im Untergrund Bildung organisiert, überall im Land. Das war unsere Form des Kampfes, so haben wir uns am Leben erhalten.

Wir waren erneut mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert, denn die Taliban und auch die Jihaddisten, die anderen Fundamentalisten, wussten, dass RAWA als einzige Organisation sehr klar und sehr stark gegen sie agiert. Außerdem war es für sie kaum zu verstehen, dass ausgerechnet Frauen Widerstand leisten. Also haben sie immer wieder versucht, uns zu stoppen, indem sie uns verfolgten und unsere Mitglieder verhaften ließen.

Desweiteren war RAWA nach dem Kollaps des Taliban-Regimes mit vielleicht ein paar anderen demokratischen Parteien die einzige Organisation, die klar gesagt hat, dass mit US-amerikanischer Besatzung nichts verändert werden wird. Denn die USA sind Imperialisten, und Imperialisten werden einer Nation nicht zur Freiheit verhelfen. Natürlich sind die Taliban ein diktatorisches Regime gewesen und sie mussten entmachtet werden. Aber das muss in der Hand der afghanischen Bevölkerung liegen, nicht in der der USA oder der anderer westlicher Staaten. Es ist nicht ihre Aufgabe, uns Demokratie und Frauenrechte zu geben.

Seitdem und bis heute arbeiten wir in Afghanistan, wegen der Situation, leider immer noch im Untergrund. Als wir noch in Pakistan waren, konnten wir offener arbeiten und zum Beispiel Demonstrationen veranstalten.

Unsere politische Arbeit besteht vor allem aus der Bildung von Mädchen und jungen Frauen – aber immer im Untergrund. Auch machen wir Veranstaltungen, feiern zum Beispiel Frauen- und Menschenrechte. Diese Veranstaltungen müssen wir mit anderen demokratischen Organisationen zusammen machen, die offen arbeiten können. Wir arbeiten mit ihnen, wenn sie beispielsweise Demonstrationen organisieren, aber nicht unter dem Namen RAWA. Dasselbe gilt aus Sicherheitsgründen für unsere Arbeit im Sozialen Bereich.

Ihr arbeitet nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land. Wie gestaltet sich diese Arbeit und wie weit ist die Bevölkerung dort vom Fundamentalismus geprägt?

In den Städten arbeiten wir eher mit intellektuellen Frauen wie zum Beispiel Studentinnen und Lehrerinnen, Frauen, die lesen und schreiben können. Wir versuchen, sie für Aktionen und Demonstrationen gegen die Besatzung der USA und gegen die Fundamentalisten zu mobilisieren. In den Dörfern haben wir mehr soziale Projekte. Unsere Projekte sind anders als die von anderen Organisationen, die vor allem Geld damit machen wollen. Wir dagegen arbeiten mit sehr wenig Geld, und worum es uns geht ist, mit den Menschen gemeinsam zu arbeiten. In den Dörfern ist es sehr wichtig, unter den Leuten zu sein. Denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass es zu Zeiten der russischen Besatzung eine große linke Bewegung gab. Da diese stark verfolgt wurde, sind viele dieser Menschen nach Europa geflohen. Dort sind sie einfach verschwunden. Aber der Grund, dass RAWA weiterhin existiert, ist, dass wir nicht versuchen, aus dem Land zu fliehen. Wir wollen mit und unter den Menschen sein. Wenn du kämpfen willst, musst du in der Bevölkerung sein, und der beste Ort für eine revolutionäre Organisierung sind die Dörfer; in den Dörfern vertrauen dir die Leute, und du kannst den Leuten ebenfalls vertrauen. Wenn du das Vertrauen der dörflichen Bevölkerung erst einmal gewonnen hast, werden diese Menschen dich um jeden Preis verteidigen. Außerdem wollen wir genau diese Menschen mobilisieren, denn die soziale Ungleichheit betrifft vor allem die Leute in den Dörfern. Heute sind die meisten Dörfer unter der Kontrolle der Taliban, ISIS oder anderer Jihaddisten – wir wollen genau dort sein, mit diesen Frauen arbeiten und sie gegen diese Kontrolle mobilisieren. Die Menschen haben weniger Möglichkeiten und weniger Zugang, also brauchen sie auch mehr Unterstützung. Das ist gut für sie, und das ist gut für uns. Mit diesen Menschen können wir die Revolution machen. Wir dürfen uns nicht nur auf die Städte konzentrieren. Auch ist es so, dass es in den Städten viele Spione gibt, die dich innerhalb kürzester Zeit fertig machen können. In den Dörfern jedoch ist es einfacher, zu überleben – auch deswegen sind wir dort.

Du hast gesagt, dass ihr auch politischen Unterricht organisiert und dass RAWA eine explizit politische Organisation ist. Was unterrichtet ihr?

RAWA ist eine demokratische, säkulare Organisation. Offiziell sind wir keine Marxistinnen, dennoch arbeiten wir mit Marxistinnen zusammen, die sehr willkommen sind. Wir sind nicht anti-marxistisch, wir haben keine Angst vor dem Marxismus und denken auch nicht, er könne in Afghanistan nicht funktionieren. Aber die Situation in Afghanistan bedingt, dass wir erst einmal eine demokratische Veränderung brauchen. Das ist für uns im Moment das Wichtigste. In unseren Klassen sprechen wir über verschiedene Dinge, vor allem über die aktuelle Situation. Denn leider ist die afghanische Bevölkerung, mit diesen Medien und der imperialistischen Besatzung, beinahe apolitisch geworden. Die Menschen versuchen erst mal, nach sich selbst zu schauen, oder sie sind stark beeinflusst von den Medien. Unser Versuch ist es, den Menschen vor allem zwei Dinge nahezubringen; erstens, dass diese „Friedensgespräche“ nicht wirklich solche sind. Wir sprechen über die imperialistischen Pläne für unser Land und versuchen, die Menschen für den Widerstand zu organisieren, sie für Demonstrationen zu mobilisieren und sie dazu zu bringen, ihre Stimmen zu erheben. Aber natürlich lesen wir auch manchmal marxistische Bücher, denn es handelt sich um eine Ideologie, die in manchen Ländern funktionieren kann und manche Menschen, auch manche unserer Mitglieder, denken, der Marxismus sei der einzige Weg, uns zu befreien. Auch lesen wir Bücher über den Iran, zum Beispiel Bücher von Frauen in den dortigen Gefängnissen, schauen Filme oder sprechen über die Politik in Kobanê und Afrin. Denn in einem Land wie Afghanistan müssen wir uns auch Beispiele aus anderen Ländern anschauen. Wenn du mit einer Kultur aufwächst, die dir beibringt, dass Frauen die Hausarbeit machen müssen, dass sie Mutter, Schwester oder gute Ehefrau sein müssen, dann ist es wichtig, Frauen zu ermutigen und ihnen andere Perspektiven beizubringen. Vielleicht macht das für europäische Länder nicht so viel Sinn, aber in unserer Situation funktioniert das sehr gut. Andere Bildung zu erhalten, in einer Gesellschaft, die dir erzählt, Frauen können nur diese kleinen Dinge tun, und sie könnten nur Lehrerinnen, Mutter oder Gynäkologin werden. Wir müssen ihnen eine andere Bildung verschaffen. Das Hauptthema unserer Bildung ist also genau das.

Wie ist eure Selbstverteidigungsstruktur, wie verteidigt ihr euch gegen all die Schwierigkeiten, mit denen ihr konfrontiert seid?

Das Einzige ist, dass wir im Untergrund arbeiten. Natürlich hat diese Untergrundarbeit ihre eigenen Regeln; wir können nicht offen darüber sprechen, was wir tun. Wir ändern unsere Namen, unseren Wohnort regelmäßig. RAWA-Mitglieder ziehen oft in andere Städte, Provinzen oder gehen eine Weile komplett in den Untergrund. Auch können wir elektronische Kommunikationsmittel wie Handys und das Internet nicht für unseren Austausch nutzen. Und vielleicht ist die Burka für Frauen nicht wirklich gut, aber in unserem Fall können wir sie nutzen, um uns selbst zu schützen, vor allem wenn wir in die Dörfer gehen. Wenn du dort eine Burka anziehst, werden dich die Menschen nicht erkennen. Wichtig sind vor allem unsere Verbündeten, Menschen, denen wir vertrauen können und umgekehrt. Diese Beziehungen helfen enorm, dich zu schützen.

Wie schafft ihr es Demonstrationen nur von Frauen zu organisieren, während zur selben Zeit Bombardierungen stattfinden.

Diese Demonstrationen finden nicht unter dem Name RAWA statt und werden nicht von RAWA, sondern von anderen demokratischen Gruppen organisiert. Sie werden dann bei der Regierung registriert, die diese dann auch schützen muss, aber natürlich vertraut niemand der Polizei. Es gibt zwar auch einzelne Verbindungen zu ihnen, die helfen können, aber natürlich haben RAWA und andere demokratische Organisationen in Afghanistan ihre eigenen Verteidigungsstrukturen.

Vielleicht siehst du sie nicht sofort, aber wenn etwas passiert, sind sie da. Wenn wir zum Beispiel zu Demonstrationen gehen, wird das Gelände ein paar Tage vorher angeguckt, mit den Leuten in den Läden gesprochen, zu denen es gute Verbindungen gibt, und durch sie können dann Informationen gesammelt werden. So arbeiten wir also in etwa, aus Sicherheitsgründen kann ich da leider nicht weiter ins Detail gehen.

Könntest du vielleicht noch ein bisschen mehr über die Situation der US-Besatzung und der Verbindung zu den Fundamentalisten erzählen?

Wie ich bereits gesagt habe, sind all diese fundamentalistischen Gruppen nichts als die Söhne der USA. Denn wir wissen, dass die Vereinigten Staaten sie in den 80er-Jahren unterstützt und bewaffnet haben, um gegen die Sowjetunion zu kämpfen. Aber jetzt gibt es andere Pläne für die Region. Afghanistan ist für alle diese Kräfte aus Gründen der strategischen Lage sehr wichtig. Aber auch aus anderen Gründen, wie Opium oder Waffenhandel und den natürlichen Ressourcen. All die Großmächte, die USA, Russland und jetzt auch China, kämpfen um ihre Vormachtstellung. Die Fundamentalisten sind die Söhne der USA. Sie wurden von ihnen etabliert und sie wurden und werden von ihnen unterstützt. Nach dem Kollaps der Taliban, waren die Jihaddisten nicht gerade mächtig. Aber die USA haben 2001, als sie eine sogenannte demokratische Regierung in Afghanistan errichten wollten, die Jihaddisten an die Macht gebracht.

Und wir sagen immer, dass diese Regierung sogar noch terroristischer ist als die Taliban. Ihre Mentalität, ihre Gedanken sind genau dieselben. Aber die USA hat sie zu Demokraten erklärt. Sie wollen eine demokratische Regierung mit diesen undemokratischen Menschen errichten, mit Frauenfeinden. Diese Jihaddisten sind also nun an der Macht in Afghanistan. Alle von ihnen haben Kriegsverbrechen begangen, aber ohne jegliches Verfahren, ohne Fragen gestellt zu bekommen, kamen sie durch die USA an die Macht. Das, was 2001 mit den Jihaddisten passiert ist, passiert nun mit den Taliban. Sie sprechen mit den Taliban und sie nennen es Friedensverhandlungen, aber das sind keine Friedensverhandlungen, das sind politische Deals. Über die Opfer wird nicht gesprochen. Die Taliban attackiert Menschen, sie haben Tausende Unschuldige getötet. Gerade einmal vor ein paar Tagen gab es einen Anschlag, zwei Tage später wieder, kurz darauf ein neuer. Bei jeder Attacke ermorden sie über hundert Menschen. Und zu dieser Zeit werden dann solche Friedensverhandlungen geführt, und dort wird über alles gesprochen, nur nicht über Kriegsverbrechen. Und befragt man sie dazu, antworten sie, naja, in Afghanistan sind eben alle Menschen Kriminelle. Die Taliban sind ebenfalls Kriminelle, also können sie eben auch regieren. Aber die Wahrheit ist, dass die USA eine Marionettenregierung konstituieren will – mit all diesen Verbrechern. Das Einzige, was ihnen wichtig ist, ist die Wirtschaft und ihre strategischen Interessen. Die Menschen in Afghanistan spielen keine Rolle.

Wir sehen, dass es eine große Verbindung gibt zwischen den USA und den Fundamentalisten. Also sagen wir, dass der einzige Weg, diese Krise zu beenden, der ist, beide Akteure zu bekämpfen; sowohl die Besatzung Afghanistans durch die USA und die NATO als auch die Taliban, die Jihaddisten, ISIS und all die anderen.

Am Anfang der Besatzung Afghanistans, als Deutschland Teil der Besatzung war, gab es eine Rede im Deutschen Parlament, und einer der Abgeordneten sagte, dass die deutsche Freiheit auch in Afghanistan verteidigt werden würde. Haben die deutschen Truppen eine besondere Rolle im Krieg eingenommen?

Wie du bereits gesagt hast, war Deutschland zu Beginn des Krieges in Afghanistan involviert. Deutsche Truppen waren vor allem im Norden des Landes aktiv. Es ist offensichtlich, dass auch sie Verbrechen begangen haben – es gab beispielsweise Bombardierungen, bei denen Unschuldige getötet wurden. Aber seit etwa einem Jahr ist Deutschland nicht mehr so sehr involviert, sowie andere europäische Staaten auch. Nun sind es vor allem die USA; sie sagen zwar, es handele sich um die NATO, aber eigentlich sind es vor allem US-Amerikanische Truppen. Das liegt aber nicht daran, dass Deutschland so besonders friedlich ist. Es geht um imperialistische Interessenkonflikte.

Jeder der Beteiligten will mehr – und die USA lässt das nicht zu. Also sind sie heute nicht mehr so aktiv in Afghanistan, denn es passt ihnen nicht, dass sie nicht mehr Macht abbekommen. Trotzdem unterstützt die deutsche Regierung weiterhin die korrupte afghanische Regierung.

Wir können uns die Situation der geflüchteten Menschen hier anschauen. Viele fliehen vor dem Krieg, und sie landen hier in Deutschland, vor allem junge Menschen. Aber sie werden zurück nach Afghanistan abgeschoben und es wird als „sicheres Herkunftsland“ benannt. Es ist absurd, Afghanistan als einen sicheren Ort zu bezeichnen. Nur muss Deutschland das tun, da sie die afghanische Regierung unterstützen. Sie unterstützen damit aber eine der korruptesten Regierungen der Welt, geben ihnen Geld und lassen die Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, im Stich.

Kannst du uns noch mehr über die Situation der Frauen in Afghanistan erzählen und darüber, wie die Organisierung von Frauen eine Basis für eine Veränderung darstellt?

Leider wird die Situation der Frauen jeden Tag schlechter. Einer der Gründe des Krieges, den die USA begonnen hat, war, dass sie gesagt haben, sie müssten die Frauen befreien. Für uns, als eine Organisation von Frauen, war von Anfang an klar, dass das nur eine Ausrede war, um den Krieg zu beginnen. Sie haben die Situation der Frauen missbraucht.

Aber wie ich vorher sagte, haben sie selbst die Frauenfeinde an die Macht gebracht, sie selbst haben diese Regierung kreiert. Du kannst nicht Frauenfeinde in eine Regierung setzen und dann erwarten, dass sie Frauenrechte respektieren und etablieren, das ist nicht möglich. Manchmal propagieren sie auch, dass sich die Dinge in Afghanistan ändern, und listen ein paar Beispiele auf. Diese Beispiele sind aber wenige, und sie zeigen sie nur zu Legitimationszwecken.

Aber die reale Situation ist eine andere, insbesondere in den Dörfern. Die Lage der Frauen dort ist sehr hart, da die fundamentalistischen Gruppen vor allem in den Dörfern viel Macht haben. Sie sind involviert in viele Verbrechen und Gewalt gegen Frauen; es gibt viele Fälle von Vergewaltigung, sexualisierter Gewalt, Zwangsheirat. Aber niemand redet darüber, denn die, die diese Verbrechen begehen, sind die, die Geld, Waffen und Macht von der US-Regierung erhalten, um gegen die Taliban zu kämpfen. Wir sagen, dass es unmöglich ist, die Frauen eines Landes mit fremder Besatzung zu befreien, mit Bombardierungen. Es liegt in der Verantwortung afghanischer Frauen, für ihre Befreiung selber zu kämpfen. Heute sagen sie, sie hätten Angst, dass die Errungenschaften für Frauen in Afghanistan wieder verschwinden könnten. Und ja, warum werden sie wieder verschwinden? Weil sie einfach so aus dem Nichts gebracht wurden. Afghanische Frauen werden nicht für diese Errungenschaften kämpfen. Wenn die Menschen für etwas gekämpft haben, ist es schwierig, das Erkämpfte wieder zu verlieren. Doch wenn etwas nur etabliert wurde, obwohl niemand dafür gekämpft hat, ist es ganz schnell auch wieder verloren. Also werden sie Deals mit der Taliban machen, und sie werden die Rechte der Frauen opfern, denn für sie sind Dinge wie ihre Interessen, strategisch sowie ökonomisch, wichtiger als die Rechte der Frauen und Menschenrechte allgemein.

Gibt es eine internationalistische Bewegung in Afghanistan oder bekommt ihr Unterstützung von Internationalist*innen, sowohl heute als auch in der Geschichte?

Leider ist Afghanistan so etwas wie ein vergessener Fleck auf der Landkarte. Die USA unterstützen die Fundamentalist*innen, ebenso wie Saudi-Arabien, Pakistan, Iran. Die demokratischen Gruppen bekommen solche Unterstützung nicht.

RAWA als Organisation steht zur Zeit vielen Problemen gegenüber, zum Beispiel was die Sicherheit, aber auch das Finanzielle angeht, ebenfalls wegen der geringen Unterstützung von Internationalist*innen. Wir haben ein paar Soli-Gruppen in den USA, Italien, Japan und Deutschland, aber die Menschen in Europa und den USA, allgemein in westlichen Staaten, sind stark beeinflusst von den Medien. Wenn die Medien nicht über eine Sache sprechen, dann gibt es auch keinerlei Interesse dafür. Selbst Linke sind stark beeinflusst von diesen Medien.

Heutzutage werden die Medien dieser Länder nicht über Afghanistan berichten, denn es heißt, mit Afghanistan ist jetzt alles in Ordnung, die Frauen sind frei oder wenn sie es noch nicht sind, dann wollen sie es wohl auch nicht anders. Deswegen versuchen selbst die Linken nicht, mehr über die Situation dieses Landes zu erfahren. Aber gerade Unterstützung aus anderen Ländern ist sehr wichtig für eine Bewegung. Ich rede gar nicht über die finanzielle Unterstützung, ich rede von der politischen Unterstützung. Insbesondere in europäischen Ländern könnte der Bewegung eine Stimme gegeben werden; aber wir haben in den letzten Jahren keine Demonstrationen zu Afghanistan gesehen. Die USA haben Afghanistan 2001 bombardiert. In diesem Jahr gab es ein paar Demonstrationen; aber nicht im Ansatz so viele wie während des Irakkriegs. Sie legitimieren ihre Kriege und teilen ein in Gut und Böse, selbst die Linken tun das. Sie sagen, das ist ein guter Krieg, denn wir kämpfen schließlich gegen das Böse, die Taliban. Aber es gibt keinen guten und schlechten Krieg. Alle Kriege sind imperialistische Kriege, die wegen finanzieller und ökonomischer Interessen geführt werden.

Wir sagen also unseren Genoss*innen hier in Deutschland und anderen Ländern: Denkt nach, versucht die Realität in anderen Ländern zu sehen und nutzt andere als die Mainstream-Medien. Denn die vertreten nur die Interessen der Imperialisten und Großmächte.

# Interview: Hubert Maulhofer

# Übersetzt aus dem Englischen

# Titelbild: Eine RAWA-Frauendemonstration in Afghanistan

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Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil ist in Südamerika unterwegs, beobachtet die gesellschaftlichen Verhältnisse und spricht mit Menschen im Alltag über die ökonomischen und sozialen Probleme der Region, sowie über ihre verschiedenen Formen, Widerstand zu leisten. In den kommenden Wochen berichtet sie regelmäßig im Lower Class Magazine über ihre Eindrücke. Los geht’s in der peruanischen Küstenstadt Trujillo.

Ich reise mit einem Genossen von Lima über Chimbote an der Küste bis ins acht Autostunden nördlich von der Hauptstadt Lima gelegene nach Trujillo. Als wir am Busterminal ankommen hören wir in den Nachrichten, dass am Vortag drei Menschen in der Stadt ermordet wurden. Die Stadt in der 800.000 Einwohner*innen leben ist nicht nur für seine eine antiken archäologischen Stätten bekannt: Huaca del Sol y de la Luna sind zwei Lehmpyramiden der Moche-Kultur, welche von ca. 300 bis 800 nach westlicher Zeitrechnung (n.Chr.) erbaut und als religiöse sowie administrative Zentren genutzt wurden. Trujillo ist auch die Hauptstadt der Bandenkriminalität und damit verbundener Morde. Der Staadtteil El Porvenir weist die meisten Morde des Landes pro Einwohner*in auf; knapp 20 auf 100.000 Einwohner*innen. Ein Cousin holt uns ab. Das erste was er uns zeigt ist seine Waffe. Er ist Serenazgo, also für die Seguridad Cuidadana, die Sicherheit der Bürger*innen zuständig. Das ist sein Job. Ich dachte die Serenazgos seien zivile Kräfte, die von den Bezirken eher als eine Art Ordnungsamt eingesetzt werden und frage nach. „Nein, die Waffe ist privat“ erklärt mir der Cousin, „aber ich trage sie auch während der Arbeit. Es ist einfach zu gefährlich“.

Peru ist ein abhängiges Land. Nach der offiziellen Unabhängigkeit von der Spanischen Krone 1821 genossen nur knapp drei Prozent der Bevölkerung demokratische Rechte in der neuen Republik: besitzende Männer über 21 Jahren, allesamt Nachfahren von Spanier*innen. Seitdem haben sich die verschiedensten imperialistischen Kräfte um die Ressourcen in dem Andenland gestritten. Vor allem Gold und Silber, aber auch weitere Metalle, sowie Rohöl und das Coca-Blatt, aus welchem Kokain gewonnen wird, bestimmen den Handel der heutigen peruanischen Nationalbourgeoisie. Multinationale Konzerne schaffen sich lokale Lakaien um zu Spottpreisen das Land seiner Reichtümer legal oder weniger legal zu rauben. Die historisch korrupten Gewerkschaftsführungen machen den Aufbau von unabhängiger Klassenmacht fast unmöglich.

Auch Trujillo ist in dieses ökonomische Spiel verwickelt. Die Ware – ob Gold, Rohöl oder Kokain – kommt aus den Anden und dem Regenwaldgebiet oft hier an und wird im nahe gelegenen Chimbote auf riesige Container-Frachter verladen, um über den Hafen in die Welt verschifft zu werden. In den letzten Jahrzehnten haben sich unter anderem durch eine erhöhte Produktivität auch Mafien gebildet, die durch Schmiergelder an Politiker*innen und an die Polizei ihre Geschäfte sichern. Die Bandenkriminalität ist ein Nebenprodukt einer auf Export von Rohstoffen orientierten, abhängigen, kapitalistischen Wirtschaft.

In den folgenden Tagen streifen wir durch die Stadt und klappern die touristischen Höhepunkte ab. Der meiste Tourismus ist einheimisch. Hin und wieder treffen wir eine Reisegruppe von Französ*innen oder Deutschen im Rentenalter. Ein paar mochileros, junge Rucksack-Tourist*innen treffen wir auch. Vor allem in Huanchaco sind diese zu Hauf unterwegs. Der Strand ist eines der Hauptziele für Surfbegeisterte, die nach Peru reisen. Wir hören Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch aus Spanien und Argentinien. Auch die Konsumangebote sind internationaler, als im Rest der Stadt: Es gibt Surfunterricht und sogar Yogastunden auf Englisch.

Uns erstaunt die Anzahl an Venezolaner*innen, vor allem im Einzelhandel und Gastronomie-Bereich. Aber auch auf der Straße des Stadtzentrums. Sie verkaufen Bonbons, Kaffee und Kuchen. An einem Abend bleiben wir länger neben einem jungen venezolanischem Cello-Spieler stehen und hören seinen Interpretationen verschiedenster Pop-Lieder zu. Ihm sind die Venezolaner*innen peinlich, die auf der Straße betteln oder Scheine hoher Geldsummen von Bolivares, der venezolanischen Währung, verkaufen, welche durch die extrem hohe Inflation nun nur noch als Kuriosität Wert haben. „Ich möchte nach Deutschland“ erklärt er uns, und will gleich wissen ob es leicht sei sich eine weiße, deutsche Freundin zu besorgen. Die koloniale Mentalität ist in ganz Lateinamerika tief verwurzelt. Alle Menschen die so aussehen wie man selbst oder gar dunkler sind, gelten als weniger attraktiv. Mejorar la raza, die Rasse verbessern, ist ein Konzept, welches seit der Kolonialzeit überlebt. Mit dem Beginn der Kolonisierung im 16. Jahrhundert, wurden von den Spaniern Rassetabellen geschaffen, welche je nach Grad des mestizaje, der Vermischung, einer Person eine bestimmte Stellung in der kolonialen Hierarchie zuordnete. Je weißer man war, desto bessere Chancen auf eine gute Anstellung und damit auf weniger Ausbeutung hatte man. Deswegen war die Devise möglichst so zu Heiraten, dass die eigenen Kinder weißer wurden. Diese Denkart zeigt sich heute noch immer auf Werbetafeln und in der Kulturindustrie, die neuen postkolonialen Schönheitsideale kommen aus den USA. . Von Plakaten und in Fernsehspots lächeln weiße Models und die Telenovela-Schauspieler*innen sind mehrheitlich weiß. Selbst die Puppen, mit denen die Kinder spielen sind weiß und blauäugig. Und alle Friseur-Läden werben mit riesigen Bildern verschiedenster Haarschnitte an weißen, blonden oder braunhaarigen Menschen. In einem Land mit mehrheitlich Braunen Menschen mit indigenen Vorfahren, sind solche Schönheitsbilder mehr als skurril.

An einem anderen Abend sehen wir eine Menschenmenge an einem Platz im Zentrum von Trujillo. Als wir uns nähern hören wir Hip-Hop Beats. Es findet gerade ein Rap-Battle statt. Ca. 60 Jugendliche haben sich versammelt. Der jüngste Rapper ist vielleicht 13 Jahre alt. Es treten immer vier gegeneinander an und freestylen in kurzen Sequenzen nacheinander. Es geht um ihr barrio, ihre Nachbarschaft, um Gewalt, Waffen und darum wer der beste Freestyler ist. Einer der jugendlichen Rapper disst seinen Vorgänger indem er ihm aufzeigt, dass sein Rassismus hohl ist, und dass es hier nicht um Diskriminierung sondern um den besten Rapper geht. „Montags, Mittwochs und Donnerstag rappen wir in einem Sozialem Zentrum, Samstags machen wir hier die battles“ erzählt uns Crónica. Er ist 17 Jahre alt und hat gerade das letzte Battle gewonnen. „Diese Rap Battles sind eine Bewegung, die schon seit vielen Jahren existiert. Es ist eine massive Bewegung. Beim Freestylen improvisieren wir. Manchmal wird ein Thema vorgegeben, manchmal entwickelt es sich von selbst. Mich interessieren am meisten kulturelle Themen“. Wir fragen ihn nach den Problemen in Trujillo, welche vor allem Jugendliche betreffen. „Eines der Hauptprobleme sind die Drogen. Viele junge Leute sind drogenabhängig. Andere entscheiden sich für Rap und versuchen hierüber ihre Probleme zu verarbeiten. Bei uns skaten und breakdancen junge Leute auch. Dies hilft, damit Jugendliche nicht in die Bandenkriminalität abrutschen“.

# Eleonora Roldán Mendívil
# Titelbild: CHIMI FOTOS/CC BY-NC-SA 2.0

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Cemil Bayik ist Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Co-Vorsitzender des Exekutivrats der Koma Civakên Kurdistan (KCK). Im ersten Teil des Interviews spricht er über den Abzug der US-Truppen aus Syrien, das Kopfgeld der USA, das auf Murat Karayilan, Duran Kalkan und ihn ausgesetzt wurde, und die Eskalation der Iranpolitik der USA.
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