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Zwei Jahre nach den rassistischen Morden von Hanau scheinen sich alle einig zu sein: Rassismus ist ein Problem, der Anschlag muss aufgeklärt werden. Die Migrantifa Berlin mit einem Gastbeitrag darüber, warum antirassistische Lippenbekenntnisse angesichts des strukturellen Rassismus, der sich durch „Auklärung“ rassistischer „Einzelfälle“, Rechtssprechung und Politik zieht, bei weitem nicht genug sind.

Vor zwei Jahren, am 19. Februar 2020, wurden Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Sedat Gürbüz von einem Rassisten ermordet. Zwei lange Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt, kurz vor dem 19. Februar 2022, sind die Medien wieder voll mit Beileidsbekundungen und dem Ruf nach mehr Toleranz und “Diversity”. Der Antirassismus (Antira) ist im Mainstream angekommen. Die Antira-Bewegung der letzten Jahrzehnte hat ihn mit Beharrlichkeit und Kraft dorthin geschoben. Das ist aber gleichzeitig Fluch und Segen. Zeit also, die Linse zu schärfen.

Was haben zwei Jahre nach Hanau mit sich gebracht

Seit dem 3. Dezember tagt der Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag zum 19. Februar. Dort soll eine Aufarbeitung erzwungen und Antworten auf viel zu viele offene Fragen gefunden werden. Fragen, wie zu den Waffenscheinen des Täters, zur Nichterreichbarkeit des Notrufs, zum verschlossenen Notausgang am zweiten Tatort, zu den ungeklärten Umständen am Täterhaus, zum respektlosen Umgang mit den Angehörigen in der Tatnacht und danach oder zur Rolle des Vaters des Täters. Der Untersuchungsausschuss und der damit angestoßene Aufarbeitungsprozess wurden nur durch die Beharrlichkeit der Angehörigen und Unterstützer*innen erkämpft.

Die Liste der Fälle, die bisher folgenlos blieben, ist immer noch lang. Rassistisches Verhalten der Behörden vor, während und nach der Tat haben keine Konsequenzen gehabt – weder in Polizeibehörden noch beispielsweise im hessischen Innenministerium. 13 Mitglieder der SEK-Einheit, die am Anschlagsort im Einsatz waren, waren Teil einer rechtsradikalen Chatgruppe. Diese SEK-Einheit wurde nach Bekanntwerden aufgelöst, was jedoch nicht bedeutet hat, dass die jeweiligen Polizisten ihren Job los waren.

Im Dezember 2021 hat sich die Generalbundesanwaltschaft mal wieder damit lächerlich gemacht, dass sie die Ermittlungen gegen mögliche Mittäter eingestellt hat. Somit reihen sie Hanau in die unzähligen rassistischen Vorfälle ein, bei denen die Behörden behaupten es handle sich um Einzeltäter, um die strukturelle Dimension von Rassismus auszublenden. Nur so ist es rhetorisch überhaupt möglich Solidarität zu heucheln, ohne sich selbst konsequent in die Verantwortung zu nehmen.

Weiterhin unbekannt ist, wer die Scheiben der Arena Bar zwei Monate nach dem Anschlag eingeschlagen hat. Es gibt auch keine nennenswerten Debatten um die Ignoranz und den Rassismus der sogenannten Mitte: Noch bevor Details zum Anschlag klar waren, mutmaßten einige Medien schon über eine “Milieutat”, die Hanau-Gedenkdemonstration sechs Monate nach dem Anschlag wurde unverhältnismäßig kurzfristig vom SPD-Bürgermeister aufgrund der Infektionslage abgesagt und die CDU wünschte sich nicht lange nach dem Anschlag, dass Hanau wieder zur „Normalität“ zurückkehre.

Wo wir zwei Jahre nach Hanau als Bewegung stehen

Die Angehörigen, die Initiative 19. Februar und die Antira-Bewegung haben es geschafft, die Namen und Erinnerungen an Ferhat Unvar, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Fatih Saraçoğlu, Vili Viorel Păun, Kaloyan Velkov, Hamza Kurtović, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin in und durch uns weiterleben zu lassen. Serpil Temiz Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhats, hat inmitten der Trauer, der Wut und des Schmerzes die Bildungsinitiative Ferhat Unvar gegründet. Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt vernetzen sich über Generationen und Identitäten hinweg, stehen zusammen und schaffen damit neue Allianzen für den Kampf für ihre gemeinsamen Forderungen. Es sind auch diese gemeinsamen Kämpfe, die die Themen Polizeigewalt, rechte Strukturen in Behörden sowie institutionellem Rassismus immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Politische und gesellschaftliche Debatten zur (De)legitimierung des Verfassungsschutzes und der Abschaffung der Polizei haben es in die breite Öffentlichkeit geschafft, unter anderem durch die starken und abolitionistisch geprägten #BLM-Proteste unserer Schwarzen Geschwister, die aus den USA kamen und auch hier in rassifizierten Communities verbreitet wurden.

Gleichzeitig erleben wir einen sich immer weiter ausbreitenden liberalen Antirassismus, bei dem nicht um materielle Bedingungen, sondern ausschließlich um “Diversity”, Quoten und individuelles Bewusstseinstraining oder Privilegiencheck geht. Selbst die Bundesregierung hat vor etwa einem Jahr einen 89 “starken” Maßnahmenkatalog beschlossen, als “klares Signal gegen Rechtsextremismus und Rassismus”. Die Bürger*innen sollen zu “wehrhaften Demokrat*innen” erzogen werden, um so dem Rechtsruck entgegen zu treten. Diese extreme Verharmlosung rechter Gewalt und ihrer Netzwerke zeugt von einer fatalen analytischen Unschärfe, innerhalb dessen struktureller Rassismus und Unterdrückung nicht verstanden werden kann. Infolgedessen laufen antirassistische Kämpfe Gefahr, vom herrschenden System vereinnahmt zu werden.

Mehr als nur Aufklärung 

Gerade beim Attentat in Hanau zeigt sich, wie wenig Menschen wirklich verstanden haben, wenn selbst diejenigen, die politisch für den Anschlag mitverantwortlich sind, unreflektiert zum Gedenken aufrufen. Für sie bedeutet Gedenken ein bloßes Erinnern und einen Kranz niederzulegen. Sie sehen nicht, dass Hanau Ursache einer Klassengesellschaft und eines Systems ist, in dem zwangsläufig ein oben und unten existieren. Hanau steht in einer Kontinuität zum Anwerbeabkommen, zum Asylrechtskompromiss und zum NSU-Komplex. Sie verstehen nicht, dass Hanau nicht als einzelner, abgekoppelter Einzelfall betrachtet werden kann, den es zu “lösen” gilt. Jeder einzelne Fall rassistischer und rechter Gewalt könnte wahrscheinlich umfangreicher aufgeklärt werden, wenn der Wille da wäre – doch selbst wenn, würden zu jedem aufgeklärtem Fall zehn neue dazu kommen.

Wenn wir uns die Geschichte von Aufklärungs- und Aufarbeitungsarbeit seitens der Behörden und des Staates bei rechten, antisemitischen und rassistischen Taten anschauen, müssen wir wohl auch beim 19. Februar davon ausgehen, dass er leider nur begrenzt erfolgreich sein wird. Die unzähligen Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex, der Ausschuss zur Anschlagsserie in Neukölln und die zahlreichen Gutachten im Fall Oury Jallohs zeigen zum einen, dass die Verantwortlichen sich gegenseitig in ihren Erzählungen und Schuldabweisungen stützen und schützen werden. Zum anderen haben wir strukturell gesehen nicht viel gewonnen. Natürlich ist es enorm wichtig, die verfügbaren rechtlichen Mittel maximal auszuschöpfen, um die konkreten Täter*innen zu benennen, zur Verantwortung zu ziehen und Netzwerke aufzudecken. Kommt ein Untersuchungsausschuss mit dem nötigen Druck zustande, so ist es ein Etappenerfolg innerhalb des herrschenden Systems und aus Sicht der Angehörigen ein kämpferisches Mittel. Deshalb gebührt ihnen die vollste Solidarität und Unterstützung in ihrem Kampf um Aufklärung, Gerechtigkeit, Erinnerung und Konsequenzen.

Wir dürfen jedoch nicht glauben, dass das Zurücktreten von Politiker*in X oder die Versetzung von Beamt*in Y die Revolution herbeiführen wird. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass das System in sich gut funktioniert und nur hier und da sind noch ein paar Schönheitsfehler durch neues Personal oder Zusatzparagraphen zu beheben. Es kann nicht bei bloßer Aufklärung bleiben. Wir müssen für eine Gesellschaft kämpfen, die rechte Ideologien und Gewalt an den Wurzeln bekämpft – und die sitzen im Herzen des kapitalistischen Systems.

Solange wir in diesem kapitalistischen System leben, werden wir immer wieder konfrontiert sein mit dem Auffliegen von rechten Strukturen innerhalb der Polizei, der Bundeswehr, den Sondereinsatzkommandos und werden hören von Reservisten, die Sprengstoffe horten und Todeslisten führen. Die sogenannte Mitte wird weiterhin nach Abschiebungen von Menschen, die sich „illegal“ hier aufhalten schreien. Die Rechten werden die Erzählung eines „Rassenkrieges“ immer weiterspinnen, bis sie schlussendlich handeln werden. Es werden wieder und wieder Menschen in Gewahrsam zu Tode kommen, ohne jegliche Konsequenzen für die verantwortlichen Polizist*innen. Das EU-Grenzregime wird ungebremst seine Mauern höherziehen und ihre Grenzen “verteidigen”. Und unsere Geschwister im globalen Süden werden Tag für Tag weiter in mörderischen imperialistischen Kriegen um Ressourcen und Macht nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre Leben verlieren. 

Diese Normalität rechten Terrors müssen wir bekämpfen. Dabei dürfen wir uns nicht von bürgerlichen Parteien, Politiker*innen oder sonstigen staatlichen Bediensteten vereinnahmen lassen. Denn deren einziger Zweck ist es, eben jenes System und den Staat als ideellen Gesamtkapitalisten zu schützen. Zwar versuchen sie es durch eine Reform hier und da weniger brutal erscheinen zu lassen, am Grundproblem ändert sich jedoch nichts.

Warum am 19. Februar auf die Straße gehen 

Die Forderungen nach Aufklärung, Erinnerung, Gerechtigkeit und Konsequenzen der Angehörigen, Betroffenen und der Initiative 19. Februar gilt es zu unterstützen, wo und wie immer wir können. Gleichzeitig werden wir unser Streben nach radikaler Veränderung der Gesellschaft und Selbstorganisierung weiterverfolgen. Wir vergessen nicht, sondern werden weiterhin all diejenigen anklagen, die für das rassistisches Klima verantwortlich sind, die rechte Strukturen schützen, rechten Terror durch rassistische Politik befeuern sowie den Nährboden für Ausbeutung und Ausgrenzung  füttern. Wir können keine Forderungen an einen Staat stellen, der genau das tut und aktiv daran beteiligt ist, zu vertuschen und zu manipulieren. Wir lassen uns nicht mit leeren Worten und Gesten abspeisen, sondern werden selber machen!

Wir wollen eine Alternative schaffen zu diesem ausbeuterischen, kapitalistischen System, in dem es um Profite statt um Menschenleben geht. Wir wollen kontinuierliche Arbeit in den Nachbarschaften leisten, weiter mit unseren Nachbar*innen in Kontakt treten, zuhören, unsere politischen Visionen teilen und gemeinsam organisieren und umsetzen. Die Verankerung und Bezug zur Nachbarschaft ist besonders wichtig, denn hier wachsen wir auf, haben unsere Beziehungen, Geschichten und führen unsere Kämpfe. Nichtsdestotrotz stehen wir Seite an Seite mit unseren Geschwistern und Genoss*innen im globalen Süden, denn nur der globale Kampf kann eine Befreiung aller sein!

Für den 19. Februar 2022 heißt es, Menschen auf die Straßen zu holen, die tagtäglich erfahren was es heißt, diskriminiert, ausgebeutet und entmenschlicht zu werden. Für viele sitzt die Trauer und die Wut um Hanau, aber auch um unzählige andere Fälle rassistischer Gewalt, immer noch tief. Daher werden wir zur Tatzeit gemeinsam auf den Straßen sein, um kollektive Momente der Trauer, der Wut, der Hoffnung, des Widerstands und der Solidarität zu teilen!

Ajde, alerta, haydi, yallah und bijî Migrantifa!

# Titelbild: neukoellnbild / Umbruch Bildarchiv

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2022 wird, glaubt man den Kommentatoren aus Handel, Industrie und Forschung, ein Jahr der „Knappheit“. Die Engpässe in globalen Lieferketten werden bleiben, mit „einer schnellen Entspannung sei nicht zu rechnen“, warnt der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm. Die Stockungen betreffen alle Bereiche des wirtschaftlichen Lebens, von Rohstoffen über Halbfrabrikate bis zu Lebensmitteln. Die Lieferengpässe seien in Deutschland inzwischen „Alltag“, erklärt auch REWE-Chefmanager Lionel Souque. „In vielen Wochen werden zurzeit von der Industrie weniger als 90 Prozent der bestellten Lebensmittel geliefert. Das ist völlig ungewöhnlich und teilweise inakzeptabel“, sagte er.

Die Krise in den Lieferketten macht sichtbar, was in Zeiten des reibungslosen Ablaufes im Hintergrund bleibt. Die meisten Waren, die in den westlichen Zentren des Kapitalismus konsumiert werden, haben weite Reisen zurückgelegt. Der Kaffee aus Brasilien, die T-Shirts aus Bangladesch, die Schuhe aus der Dominikanischen Republik, die Smartphones aus China und Indien, die Auto-Bestandteile aus Südafrika – sie alle sind fester Bestandteil eines Systems, in dem sich die herrschenden Klassen einiger weniger Nationen die Arbeitskraft und Ressourcen des gesamten Planeten aneignen.

Die Internationalisierung der Produktion in weltumspannenden Warenketten hat spätestens seit den 1980er-Jahren zu einer neuen Phase in dem geführt, was marxistische Theoretiker:innen seit der Wende zum 20. Jahrhundert „Imperialismus“ nannten. Viel deutschsprachige Literatur gibt es leider zur neueren Imperialismusforschung nicht. Deshalb soll es im folgenden um einige Bücher internationaler Marxist:innen gehen, die genau hier ansetzen und Imperialismusanalysen entwickeln, die in erster Linie von dieser globalen Produktionsweise ausgehen: John Smith („Imperialism in the twenty-first century. Globalization, Super-Exploitation and Capitalism‘s Final Crisis“) und Intan Suwandi („Value Chains. The New Economic Imperialism“) kommen aus dem Umfeld der Zeitschrift „monthly review“, für die einst Albert Einstein sein Essay „Why Socialsm?“ schrieb und die später einflussreiche Antiimperialist:innen wie Samir Amin hervorbrachte. Torkil Lauesen („The Global Perspective. Reflections on Imperialsm and Resistance“) war Mitglied der antiimperialistischen militanten Gruppe „Blekingegade-Bande“,die aus einer maoistischen Tradition kommend spektakuläre Überfälle in Dänemark durchführte, deren Erlös an Befreiungsbewegungen im Trikont ging.

John Smith: Imperialism in the Twenty First Century, New York 2016

Imperialismus und Globale Warenketten

Im alltäglichen Sprachgebrauch findet „Imperialismus“ statt, wenn eine Nation sich militärisch auf das Territorium einer anderen Nation ausdehnen will. Auch für Marxist:innen spielte Krieg stets eine wichtige Rolle für den Imperialismusbegriff – allerdings als Symptom, nicht als erstes Wesensmerkmal. „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“, formulierte einst der französische Sozialist Jean Jaures. Und Revolutionär:innen wie Rosa Luxemburg, W.I. Lenin oder Nikolaj Ivanovic Bucharin ging es in erster Linie darum, zu verstehen, wie die Wolke beschaffen ist, dass sie überhaupt zum Regen führt.

Würde man eine möglichst kurze „Definition“ von Imperialismus in dieser Tradition geben wollen, bietet sich eine Formulierung an, die John Smith kürzlich in einem Interview gebraucht hat: „Die konziseste und konkreteste Definition von Imperialismus, die mir in den Sinn kommt, ist die Unterordnung der gesamten Welt unter die Interessen der herrschenden kapitalistischen Klassen aus einer Hand voll Unterdrückernationen.“

Bleibt diese Formulierung zwar für alle Phasen des Imperialismus gleich, so änderten sich seit Lenins Zeiten doch auch fundamentale Eigenschaften des Systems, wie sich die in den imperialistischen Nationen ihre Basis habenden herrschenden Klassen den aus aller Welt abgeschöpften Surplus aneignen. Seit der formalen Dekolinialisierung hat sich die globale Arbeitsteilung drastisch verändert.

Als die beiden Ökonomen Hans Wolfgang Singer und Raul Prebisch im Jahr 1949 ihre These entwickelten, dass die Verschlechterung der „terms of trade“ für die abhängigen Nationen aus dem Umstand resultieren, dass sie vor allem Rohstoffe und Agrargüter in den Weltmarkt einbrachten, konnte man noch die Hoffnung hegen, eine nachholende Industrialisierung würde diese Länder aus dem Joch der „Unterentwicklung“ befreien. Doch diese ist zumindest in einigen Ländern der Peripherie längst eingetreten – und dennoch blieb der Globale Süden abhängig, „unterentwickelt“ und verarmt. Woran liegt das?

John Smith und Intant Suwandi sehen den wesentlichen Punkt in der gegenwärtigen imperialistischen Produktionsweise in Globalen Warenketten, deren Knotenpunkte dazu dienen, dem Proletariat im Globalen Süden per „Super-Exploitation“ Mehrwert abzupressen und ihn in die Zentren zu schaffen. In diesen Zentren sind es einige Zehntausend Mulitnationaler Konzerne, die an der Spitze der jeweiligen Ketten von Zulieferern stehen und die direkt – per Ausländische Direktinvestition – oder indirekt – per amrs lenght contracts – bestimmen, was, wie und wieviel produziert wird.

Am „unteren“ Ende der Warenketten stehen die bis aufs Blut ausgebeuteten Arbeiter:innen der Peripherie, die in endlosen Schichten zu niedrigsten Löhnen in den Produktionsablauf eingespeist werden, die Sweatshops der Textilfabrikanten genauso wie die Assembly Lines der Smartphone-Hersteller. Am oberen Ende die Eigentümer und das Management der Multis samt ihrer Marketing-, Forschungs- und Brandingabteilungen in den imperialistischen Zentren.

Globale Warenketten

„Outsourcing“ und „Offshoring“ sind – diese These ist der Kern der Theorien von Suwandi und Smith – Symptome der Suche nach billigeren Lohnstückkosten. Diese Ausnutzung der „Arbitrage“ von Arbeitskosten (global labor arbitrage) motiviert die Verlagerung großer Teile der Produktion aus den Zentren in ausgewählte Länder der Peripherie. Der „fundamentale Treiber und Formgeber der Globalisierung“ sei die „global labor arbitrage, die Ersetzung von Arbeitern mit relativ hohen Löhnen in imperialistischen Zentren durch Niedriglohnarbeiter in China, Bangladesch und anderen Nationen des Globalen Südens“, konstatiert Smith (S188). Die marxistische Theorie müsse auf diese Neuerung mit einer „Werttheorie des Imperialismus“ antworten, die in Rechnung stellt, dass zusätzlich der beiden von Marx ausführlich analysierten Arten der Erhöhung des relativen und absoluten Mehrwerts auch eine dritte, vom Autor des Kapital angedeutete Form der Maximierung der Mehrwertrate eine immer größere Rolle spielt, die auf „Überausbeutung“ basiert – dem Versuch des Kapitals, die Ware Arbeitskraft unter ihren Wert zu drücken.

Smith und Suwandi wissen, dass es gegen diese Theorie in den früheren Auseinandersetzungen zwischen Dependenztheorie und „orthodoxem“ Marxismus gewichtige werttheoretische Einwände gab. Doch es gelingt ihnen, sie sowohl auf Basis der Marxschen Theorie wie auch empirisch zu widerlegen – insbesondere die alte Mär, dass der Lohnunterschied zwischen Zentrum und Peripherie schlichtweg die Widerspiegelung von unterschiedlichen Produktivitätsniveaus sei. „Die deutlich höheren Ausbeutungsraten der Arbeiter im Globalen Süden haben nicht einfach mit niedrigen Löhnen zu tun, sondern auch mit dem Fakt, dass die Lohnunterschiede zwischen Nord und Süd größer sind als die Unterschiede in der Produktivität“, so Suwandi (S.59).

Smith verabschiedet sich aber zugleich auch von Vorstellungen, der Werttransfer ließe sich ausschließlich als „Monopolrente“ begreifen – viel mehr gehe es um ein „Konzept, dass das ökonomisch wesentliche – Monopolkapitalismus – mit dem politisch Wesentlichen – der Teilung der Erde in unterdrückte und Unterdrückernationen – vereint und beides in Begriffen der von Marx in seinem Hauptwerk Das Kapital entwickelten Werttheorie erklären vermag.“

Den Transfer von Mehrwert dabei tatsächlich empirisch nachzuverfolgen, ist nicht immer einfach: Die Rahmentheorien von bürgerlichen Statistiken taugen dazu nur beschränkt. Das „Bruttoinlandsprodukt“ etwa, so bemängeln beide Autor:innen, sei etwa keineswegs ein zureichender Maßstab der produktiven Leistungen einer Volkswirtschaft. Es bezeichne in Wahrheit nicht „value added“, sondern eher schon „value captured“, sei also eher ein Indikator dafür, wie viel Wert in einer Nation angeeignet, nicht produziert werde. Sieht man sich etwa die – gut erforschte – Wertkette eines Nokia-Smartphones an, so erscheint der überwiegende Teil von „value added“ als Leistung des Mutterkonzerns – und damit des Landes, in dem sich dessen Firmensitz befindet -, selbst wenn die Teile und die Endproduktion des physischen Geräts „Smartphone“ in Asien oder anderswo stattfinden.

Die Werttransfers sind zudem nicht immer offen sichtbar. Werden bei ausländischen Direktinvestitionen die Profite zumindest teilweise noch ausweisbar ins Mutterland rückgeführt, so bleiben bei „arms length contracts“ die Ausbeutungs- und Machtverhältnisse hinter Ketten von Äquivalententausch unsichtbar. Gerade diese allerdings werden in den Produktionsketten immer relevanter: Apple produziert kein Iphone selbst, Nike keinen Schuh. Das machen Zulieferer, die im Konkurrenzkampf um die Gnade der Multis ihre Arbeiter:innen so preiswert wir möglich auf den Weltmarkt werfen.

Instan Suwandi: Global Value Chains, New York 2019

Globale Klasse, gespaltene Klasse

Die Notwendigkeit einer „Werttheorie des Imperialismus“ ist angesichts der globalen Klassenrealität keine theoretische Spielerei. Das Gros des Industrieproletariats lebt schon heute in den Nationen des Globalen Südens. Rechnet man die im „informellen Sektor“, der globalen „Slum-Ökonomie“, dahindarbenden, aber oft genug in die Wertketten des Kapitals eingebundenen Proletarier:innen sowie die Kleinbäuer:innen dazu, sehen wir eine aus Milliarden Menschen bestehende Masse unter der Knute des Imperialismus.

Ohne eine internationale Verbindung von deren Kämpfen mit denen in den Metropolen wird keine Befreiung möglich sein. Doch der Haken ist: Die Interessen dieser Teile der Klasse und zumindest der „privilegierteren“ Schicht von Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren sind nicht einfach deckungsgleich. Schon Lenin sprach von einer „kleinen Schicht“ der „Arbeiteraristokratie“ in den entwickelten imperialistischen Zentren, die von „ihrem“ nationalen Kapital mit Krümeln gefüttert werden, um den nationalen Klassenfrieden gegen den äußeren und inneren Feind zu sichern. Diese Arbeiteraristokratie bildete die potentielle soziale Basis von Opportunismus und Sozialchauvinismus, modern gesprochen: Der „Sozialpartnerschaft“ für den kapitalistischen Standort.

Torkil Lauesen und die aus dem „Kommunistischen Arbeitskreis“ in Dänemark hervorgegangene Theorietradition des „Schmarotzerstaats“ überspitzten nun in den 1970er-Jahren diese These im Eindruck der Nachkriegsphase des Klassenkompromisses bis zu der Schlussfolgerung: Eigentlich sind in den Metropolen gar keine revolutionären Klassenkämpfe mehr möglich oder zu erwarten, solange nicht der stetige Zufluss von Monopolprofiten aus dem Trikont abgerissen ist. Ergo: Die Praxis verschob sich von lokalen Kämpfen zu Unterstützungsaktionen für Kämpfe anderswo.

In seinem aktuellen Buch vertritt Lauesen diese These nicht mehr in dieser Form, bleibt aber bei der Betonung der Relevanz, die „Arbeiteraristokratie“ in die aktuellen Klassenanalysen einzubeziehen: „Eine Reihe von Faktoren binden die Interessen der Arbeiterklassen des Nordens an die des Globalen Kapitals. Die Superprofite der transnationalen Konzerne aus Investitionen im Globalen Süden ermöglichen es ihnen, relativ hohe Löhne im Globalen Norden zu zahlen, die Arbeiter dort mit einer signifikanten Kaufkraft ausstattet. (…) Gleichzeitig halten die Niedriglöhne des Globalen Südens die Preise für Konsumgüter relativ niedrig.“ Wenngleich Lauesen auch eingesteht, dass sich seit der Aufkündigung des Klassenfriedens durch die „neoliberale“ Offensive auch in den Metropolen die Kämpfe verschärfen, bleibt er bei der These: Die aus dem globalen System der Ausbeutung entspringenden Profite sind die Bedingung der Möglichkeit, sich einen (relativen) Klassenfrieden in den imperialistischen Metropolen zu erkaufen.

Notwendiger Antiimperialismus

Aus einer einigermaßen ausgearbeiteten Theorie des Imperialismus erwächst auch die Möglichkeit, die gängigen Debatten des „progressiven Neoliberalismus“ besser einzuordnen und die bürgerlichen Spielarten von Antirassismus und Feminismus besser von den proletarischen zu unterscheiden.

So spielen etwa nationale Grenzen eine zentrale Rolle in der Theorie der „global labor arbitrage“. Sie sind jene Schranke, die die überausgebeutete Klasse nicht überschreiten kann : „Während die Arbeitskraft nach wie vor durch das Migrationsregime in nationale Grenzen eingeschlossen ist, können das globale Kapital und die Waren sich weitaus freier bewegen – zunehmend noch durch die in den vergangenen Jahren durchgesetzte Liberalisierung des Handels“, schreibt Suwandi (S53). Die Grenzen sind so eingerichtet, dass sie die große Masse des globalen Proletariats da halten, wo es „hingehört“ und damit die Möglichkeit der höheren Mehrwertraten in der Peripherie garantieren. Gleichzeitig sind sie aber durchlässig genug, um billigere, migrantische Arbeitskraft (so weit sie nötig ist) in die Metropolen durchzulassen. Die Millionen „undocumented workers“ in den USA spielen dabei genauso eine wichtige Rolle für das imperialistische Geschäftsmodell wie die immer Wanderarbeiter aus Osteuropa und die immer noch deutlich schlechter verdienenden Arbeiter:innen mit „Migrationshintergrund“ in Deutschland. Die systematische Abwertung des Werts der Ware Arbeitskraft im Hinblick auf „migrantische“ Werktätige oder das Proletariat in der Peripherie bildet zugleich die Grundlage des Rassismus – und nicht der „schlechte Charakter“ von ungebildeten Weißen in den Zentren, wie ein auf völlige Individualisierung angelegter bürgerlicher Antirassismus meint.

Torkil Lauesen, The Global Perspective, Montreal 2018

Weiters zeigt sich in den Globalen Warenketten in bestimmten Sektoren – ganz deutlich in der Textilindustrie, aber auch in vielen „Exportproduktionszonen“ generell – ein überwiegender Anteil von Frauen, die noch schlechter bezahlt werden als ihre männlichen Kollegen und einer Reihe zusätzlicher Belastungen – von familiären oder kulturellen Verpflichtungen bis sexualisierter Gewalt – ausgesetzt sind. Die Auslagerung der sozialen Kosten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft in weitere Familienzusammenhänge gehört genauso in diesen Bereich wie das internationale „gender pay gap“ und das Problem der Kinderarbeit. Auch hier ist es eine Frage des Klassenstandpunkts: Sind die Textilarbeiter:innen in Bangladesch ein Bezugspunkt feministischer Kämpfe oder die Girlboss-Stars des Westens, die ihre Modekollektionen in Bangladesch nähen lassen?

Die Ausarbeitung einer antiimperalistischen Theorie auf Grundlage des Marxismus ist aber vor allem in einer Hinsicht zentral: Wer sich als Sozialist:innen in der Klassenfrage ausschließlich auf den Bezugsrahmen der „eignen“ Arbeiterklasse innerhalb der nationalen Grenzen stellt, landet in den imperialistischen Metropolen nahezu automatisch bei Opportunismus und Sozialchauvinismus. In den Worten Lenins: „Die ökonomische Grundlage des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist ein und dieselbe: die Interessen einer ganz geringfügigen Schicht von privilegierten Arbeitern und Kleinbürgern, die ihre privilegierte Stellung, ihr ‚Recht‘ auf Brocken vom Tische der Bourgeoisie verteidigen, auf Brocken von den Profiten, die ‚ihre‘ nationale Bourgeoisie durch die Ausplünderung fremder Nationen, durch die Vorteile ihrer Großmachtstellung usw. einstreicht.“Und dieser Standpunkt führt unweigerlich zum Verrat der Interessen des gesamten Proletariats.

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„Endlich ist ein Arzt im Amt“ zitiert der Spiegel einen Intensivmediziner über die Ernennung Karl Lauterbachs zum Gesundheitsminister. Auch sonst ist der neue Ministerposten des talkshow-erprobten Fliegenträgers allerorten Thema. Das ansonsten eher wenig Beachtung findende Amt hat durch die Corona-Pandemie eine seltene Wichtigkeit bekommen. Es ist zwar nicht schwer, nach dem Totalversagen des Pharmalobbyisten Jens Spahn im Amt gut auszusehen. Trotzdem sind die Erwartungen an Lauterbach hoch. Die Hoffnung ist, dass er – der Mediziner –als Gesundheits- und Twitterexperte endlich Lösungen liefern wird für die Coronapandemie. Denn er ist ja Experte.

Diese Hoffnungen, die von der bürgerlichen Öffentlichkeit auf den Arzt Lauterbach gesetzt werden, sind symptomatisch für ein grundlegendes Problem beim Verständnis der Pandemie. Corona wird als rein technisches, naturwissenschaftliches Problem betrachtet, dass es sodann mit den Mitteln der Naturwissenschaften technokratisch zu lösen gilt. So betrachtet erscheint es nur logisch, dass der neoliberale Arzt Lauterbach für seinen neuen Job die perfekte Besetzung ist. Oder um es mit der Tagesschau zu sagen : „In der Pandemie ist die Sehnsucht nach einem Technokraten wie Scholz, der alles geräuschlos regelt, sicherlich groß.“ Das gilt dann wohl auch für den Gesundheitsminister.

Die Ursachen der Pandemie

Der Fehler in der Analyse liegt aber schon in der Betrachtung der Pandemie an sich.

Im ideologisch verstellten Blick der bürgerlichen Öffentlichkeit ist die Pandemie eine plötzliche Naturkatastrophe, die völlig unverhofft von außen über die Welt einbricht. Doch das Virus kommt keineswegs aus heiterem Himmel. Bereits 2008 wurde festgestellt, dass die Anzahl an Ausbrüchen „neuer Infektionskrankheiten“ stetig zunimmt. Schon vor Corona haben uns SARS, MERS, Vogelgrippe, Ebola und so weiter durch das 21. Jahrhundert begleitet. Covid-19 ist also nur der vorläufige Höhepunkt einer sich stetig verschärfenden Entwicklung, die schon seit Jahrzehnten stattfindet.

Dabei ist der Zusammenhang mit der zerstörerischen Ausdehnung des Kapitalismus bis in die letzten, noch nicht in die Wertschöpfungsketten intergrierten Ecken der Welt offensichtlich, wird aber von profitorientierter Seite geflissentlich ignoriert.

Das Überspringen von Krankheitserregern von Tieren auf Menschen (wie bei Corona und den oben beschriebenen Krankheiten passiert) wird mit jedem Quadratmeter Land, den sich die kapitalistische Maschinerie einverleibt, wahrscheinlicher. „Die Öffnung der Wälder für globale Kapitalströme stellt an sich bereits eine Hauptursache für alle diese Krankheiten dar“, schreibt etwa Andreas Malm in seinem Buch Klima|x. Und – Überraschung – es sind Profitinteressen aus dem globalen Norden, welche in Form von Palmöl, Rindfleisch, Sojabohnen und Holzprodukten für den Export, diese Öffnung vorantreiben. Und das auf Kosten indigener Gemeinschaften und des globalen Proletariats, mit tödlichen pandemischen Folgen für die ganze Welt. Die Pandemie ist also nicht einfach eine Naturkatastrophe, sondern – genau wie die Klimakatastrophe auch – eine Folge des sich immer weiter ausbreitenden dabei Mensch und Natur vernichtenden Kapitalismus.

Imperiale Konkurrenz aller Orten

„In jeder Krise steckt auch eine Chance“ – das gilt auch für die Coronapandemie. Nicht für die mehr als fünf Millionen Toten im Zusammenhang mit dieser, nicht für die Arbeiter*innen in der Gesundheitsindustrie; Aber für die Pharmakonzerne. Und Deutschland hat da einen nationalen Champion: BionTech. Das Unternehmen, welches in Zusammenarbeit mit dem US-Pharmariesen Pfizer den auf der mRNA-Technologie basierenden Impfstoff Cominarty produziert und allein 2021 17 Milliarden € Gewinn gemacht hat.

Das Geschäftsmodell von BionTech und Co ist aber bedroht: Die massigen Gewinne basieren auf Patenten, die BionTech hält, und die es dem Unternehmen erst möglich machen mit jeder verimpften Dosis ordentlich Profit zu machen. Aus technischer Sicht würde es selbstverständlich Sinn machen, diese Patente freizugeben, das fordern nicht nur verrückteLinksradikale, sondern sogar die Weltgesundheitsorganisation WHO.

BionTech muss sich aber trotzdem keine Sorgen machen, in absehbarer Zeit wegen ausbleibender Gewinne Konkurs anzumelden, denn es hat starke Partner:innen. Angela Merkel, die effizient-bodenständige Interessenvertreterin des deutschen Kapitals und ihre Bundesregierung blockierten wo sie gehen und stehen Inititiativen, welche die Freigabe der Patente fordern. Dabei wird kaum versteckt, dass es darum geht, die Profite der (deutschen) Pharmaunternehmen zu sichern: Die Welt werde auch in Zukunft darauf angewiesen sein, dass Impfstoffe entwickelt würden und das ginge nur, wenn der Schutz des geistigen Eigentum gewahrt bleibe, so Merkel im Vorfeld des G7-Gipfels im Frühjahr 2021. Erfolgreiche Forschung – 

so die Vorstellung – passiere nur, wenn dabei irgendjemand in Deutschland einen Reibach machen kann.

Angela Merkel erklärte auch, dass ein weiterer Grund für die Verweigerung der Patentfreigabe sei, dass das Wissen über mRNA-Technologie an China abfließen könnte. Hier wird deutlich: Sich gegen die imperialistische Konkurrenz zu behaupten hat für die Technokrat:innen in der Bunderegierung absoluten Vorrang. 

Vorrang vor dem zumindest erklärten Ziel, möglichst vielen Menschen weltweit den Zugang zu Impfstoffen zu ermöglichen. Vorrang davor, die Ausweitung und Eskalation der Pandemie zu verhindern. Die Entstehung der Omikron-Variante des Covid-19-Virus (wie auch schon die Entstehung der bereits grassierenden Delta-Variante), ist schließlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass ein erheblicher Teil der Menschheit eben keinen Zugang zu Imfpstoffen hat. Den Expert:innen sei Dank.

Pflege und die Krankenhäuser

Ein weiteres immer wieder diskutiertes Problem in der Pandemie ist die Auslastung der Krankenhäuser, bzw. die Überlastung der Arbeiter:innen im Gesundheitssektor. Zu Recht kündigen immer mehr Beschäftigte angesichts der schlechten Bezahlung und der miserablen Arbeitsbedingungen, die sich durch Corona noch weiter verschärft haben. Das Problem liegt aber auch hier nicht einfach in der Pandemie. 

Schon der „Normalzustand“ ist in den zu Gesundheitsfabriken umfunktionierten Krankenhäusern in Deutschland für die Arbeiter:innen katastrophal. Die dem Profitstreben unterworfenen Krankenhauskonzerne machen das, was die kapitalistische Logik von ihnen fordert: Möglichst viel Geld. Das heißt, es gilt das Personal möglichst effizient einzusetzen, sprich, möglichst viel Arbeit mit möglichst wenig Arbeiter:innen und Lohnkosten erledigen zu lassen. Das war auch schon vor der Pandemie so: „Oft muss man im Alltag 110% geben, um den Patienten irgendwie gerecht zu werden. Man verzichtet auf seine Pause, hat acht Stunden nichts getrunken und war nicht einmal auf Toilette.“

Die Situation in den Krankenhäusern ist genausowenig eine Naturkatastrophe, wie die Entstehung der Pandemie oder die Verweigerung der Patentfreigabe. Das Elend der Arbeiter:innen und die dysfunktionale Gesundheitsversorgung sind Folgen der neoliberalen Umgestaltung des Gesundheitssektors, in dem die Daseinsfürsorge für Klinikonzerne geöffnet wurde, die eben nicht die Gesundheit ihrer Patient:innen zum Ziel haben, sondern mit der Behandlung von Kranken Profite machen. Die Entscheidung dazu wurde bewusst von der Politik gefällt. Genau genommen von der Gesundheitsministerin in der Ära Schröder, Ulla Schidt (SPD). Fleißig beraten wurde sie dabei von diversen Expert:innen, allen voran– ihr habt‘s erraten – Karl Lauterbach. 

Und jetzt?

Was wird der Experte Lauterbach angesichts dieser politischen Probleme und Entscheidungen wohl tun? Wird er die von ihm vorangetriebene Neoliberalisierung des Gesundheitssektor umkehren? Wird er den deutschen Imperialismus über den Haufen werfen? Wird er auch nur einen Schritt dafür tun, dass die immer weiter fortschreitende Zerstörung des Planeten und damit auch die Begünstigung von weiteren Pandemien verhindert wird? Wohl kaum.

Die vermeintliche technische Lösung für die Pandemie, die personifiziert in Form von Lauterbach, dem Mediziner, präsentiert wird, kann mehr schlecht als recht verstecken, dass es innerhalb der imperialen Logik keinen Ausweg gibt; wenn nicht aus dieser Pandemie, dann aus der nächsten. Lauterbach, Scholz, Baerbock, Lindner und wie sie alle heißen, werden weder die Ursachen der Pandemie angehen, noch die Auswirkungen in einer Weise bearbeiten, die im Interesse der Bevölkerung ist, sondern weiter Kapitalinteressen bedienen. Wenn dabei ein bisschen ImpfSchutz für die europäische Bevölkerung abfällt ist das okay, denn Hauptinteresse bleibt, die hiesige Profitmaschine am Laufen zu halten.

„Um das Coronavirus tatsächlich zu besiegen und uns zu erholen, müssen wir verhindern, dass Pandemien wie diese jemals wieder geschehen,“ hat der britsche Premierminister Boris Johnson während des G7-Gipfels im Juni erklärt. Damit hat er Recht. Doch auch er wird sich nicht an einer tatsächlichen Lösung des Problems beteiligen. Denn die notwendigen Schritte dafür werden nicht im technokratischen Kleinklein der neoliberalen Elendsverwaltung eingeleitet. Sondern nur, wenn Charaktere wie eben Johnson, Scholz und Merkel mit ihrer Politik Geschichte sind. Mit ihnen wird es nur ein weiter so, tiefer ins Elend des pandemiegeplagten, imperialistischen Kapitalismus geben. Da hilft auch kein „Experte“ Lauterbach.

#Foto: Wikimedia Commons

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Zum Abschied wünschte sich Angela Merkel einen Schlager aus dem Osten – und ein letztes Mal führten Kanzlerin, mediale Öffentlichkeit und leider auch einige Linke das absurde Merkelschauspiel auf. Die Rollen dabei sind inzwischen perfekt einstudiert: Auf der einen Seite steht die Regierungschefin des mächtigsten Landes der mächtigen EU, die bei aller Macht aber so schön bodenständig und unprätentiös auftritt. Auf der anderen sind Leute, die ganz hin und weg sind davon. Entweder sie sind mit Merkels neoliberaler Politik sowieso einverstanden oder aber finden „eigentlich“ Merkels Politik doof, die Person jedoch derart hinreißend sympathisch, dass sie es eben doch nochmal sagen müssen: Wir werden sie vermissen. Danke Merkel.

Diese Unfähigkeit (oder ist es Unwillen?), Form und Inhalt zu trennen und zu priorisieren, ist frustrierend. Aber mit etwas Distanz lässt sich auch sagen: Man kann Merkel Respekt dafür zollen, dass sie es geschafft hat, durch die äußere Form den Inhalt ihrer Politik derart nachrangig werden zu lassen, dass ihn viele – auch Linke – kaum mehr wahrnehmen. Also im Grunde: die Politik zu entpolitisieren und damit die Selbstentwaffnung der kritischen Öffentlichkeit voranzutreiben. Ihrer Nachfolgeregierung, vor allem dem Merkelianer Olaf Scholz, übergibt die Kanzlerin damit ein wertvolles Erbe.

Nicht Schröders Stil, aber seine Politik

Bei ihr selbst war das noch anders: Merkels Vorgänger, Gerhard Schröder von der SPD, war ein klassischer Großmaul-Politiker, bei dem Form und Inhalt bestens miteinander korrespondierten. Schröder stand für eine Politik, die Arme noch ärmer werden ließ, die zutiefst Arbeiter*innenfeindlich, dafür aber richtig gut fürs deutsche Kapital war. Schröder ließ sich lachend mit Zigarre fotografieren, beschimpfte Arbeitslose, markierte den Macho und am Ende konnte er nicht einmal in Würde abtreten, sondern blamierte sich vor aller Augen am Wahlabend 2005, als er in der Elefantenrunde immer wieder behauptete, auch die nächste Regierung anzuführen, obwohl da schon jede*r wusste, dass er verloren hatte. Danach ging Schröder zu Gazprom. Es passte alles.

Merkel indes pflegte bis zum Ende einen anderen Stil. Sie verhielt sich in den Augen der meisten nicht so großmäulig, arrogant, demonstrativ machthungrig und auf den eigenen Vorteil bedacht wie man es von Spitzenpolitiker*innen gewohnt ist. Linksfraktionschef Dietmar Bartsch hat sogar recht, wenn er – anlässlich des Zapfenstreiches zu ihren Ehren – sagt, Merkel sei unbestechlich gewesen, weil „zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Weise materielle Werte Maßstab für ihr Agieren“ gewesen seien. Gemeint ist hier vermutlich: Sie hat sich in ihrem Amt nie selbst bereichert. Das trifft zu – auf Merkel persönlich (auf andere Politiker*innen ihrer Partei, wie wir wissen, nicht) .

Politikerkorruption ist aber nicht der Kern der Politik; die Aufgabe einer Regierung an der Spitze eines mächtigen kapitalistischen, im Fall Deutschlands auch imperialistischen Staates ist es keineswegs, sicherzustellen, dass sich ihre Mitglieder die eigenen Taschen füllen können – das ist, wenn überhaupt, nur willkommene Nebensache. Die vorrangigste Aufgabe einer deutschen Bundesregierung ist es, für optimale Akkumulationsbedingungen für das deutsche Kapital zu sorgen. Bartschs Tweet ist insofern wiederum falsch, als dass für Merkels Politik materielle Werte sehr wohl Maßstab waren. Denn darum, es dem nationalen Kapital so gut es ging zu ermöglichen, sich (Mehr)Wert anzueignen (es zu reinvestieren und so weiter), zielte ihr Regierungshandeln ja sehr oft ab.

Und dafür, diese Politik für das Kapital und gegen die Ausgebeuteten im In- und Ausland umzusetzen, war sie eine wirklich gute Besetzung, gerade wegen ihrer Integrität und Rechtschaffenheit. Allzu korrupte Politiker*innen oder Staatsbedienstete sind eher hinderlich für ein Land, das Supermacht ist und bleiben will; eine in den Augen vieler unbestechliche Kanzlerin, die wirklich daran glaubt, dass es für alle das Beste ist, wenn es „der deutschen Wirtschaft“ gut geht, dagegen Gold wert.

Damit es ihr „gut geht“, war unter anderem wesentlich, das von Schöder hinterlassene Erbe der Agenda 2010 zu erhalten, zu pflegen und weiterzuentwickeln. Merkel mag einen anderen Stil als ihr Vorgänger gepflegt haben, hat aber dessen Politik konsequent fortgeführt. Präsentiert und dauerhaft vermittelt hat sie das viel weniger ekelhaft und damit unterm Strich besser als etwa Schröder, sogar jenen, die von ihrer Politik nicht profitieren konnten oder unter ihr objektiv litten: Keine habe sich ziviler und ehrlicher präsentiert, resümierten zwei Journalistinnen im RBB-Inforadio zu Merkels Abschied sehr zutreffend, und ergänzten: „Das hat sie wählbar und akzeptabel gemacht für viele.“ Anders als Schröder, der augenscheinlich für Bruch, Kahlschlag und brutalen Umbau stand, stand Merkel für kleine Schritte, dafür, unaufgeregt und „leise“ zu regieren. Das war ungemein effektiv, weil sie so das Programm der Ungleichheit fast immer wie die normalste, oder auch: natürlichste Sache der Welt aussehen ließ.

Gute Merkel, schlechte Regierung

Die mit den Jahren zum Kult gewordene Bildsprache half dabei: Merkel mit eingefrorenem Gesicht beim Karneval, während die Funkemariechen um sie herum springen; Merkel kreischend mit Papageien in Mecklenburg; Merkel beim Einkaufen mit Klopapier im Wagen („wie ein normaler Mensch!!“); zuletzt: Merkel beim Zapfenstreich, die sich Nina Hagen vorspielen lässt. Andere Bilder – Merkel als Bundesministerin für Frauen und Jugend Anfang der 1990er Jahre beim Plaudern mit Nazi-Skinheads; Anti-Merkel-Plakate bei Protesten gegen das Spardiktat in Griechenland – konnten dagegen nicht ankommen.

Die Bilder der lebensnahen und uneitlen, der menschlichen Merkel haben außerdem geholfen, zwei weitere bemerkenswerten Trends zu verstärken, die vor allem in den späteren Merkel-Jahren wirkten und wiederum mit Trennung zu tun hatten: Die Trennung Merkels von ihren Minister*innen in der Rezeption des Regierungshandelns sowie die Trennung von Merkel und den Leidtragenden ihrer Politik.

Während beispielsweise Merkels Atem beim Zapfenstreich am Reichstagsufer unter Beobachtung Tausender ergriffener Journalist*innen und Linker gefror, drohen weiterhin Geflüchtete an der polnisch-belarussischen Grenze zu erfrieren (mehrere haben ihr Leben bereits verloren), also an der östlichen Außengrenze jener Staatengemeinschaft, deren mächtigstes Mitgliedsland die Bundesrepublik Deutschland ist. Die Verweigerung Deutschlands, die Geflüchteten aufzunehmen und die demonstrative Unterstützung Polens folgen der Weigerung, die Geflüchteten aus Moria zu evakuieren, dem EU-Abschottungskurs, dem in den letzten Jahren Tausende an den Außengrenzen sinnlos zum Opfer gefallen sind, dem von Merkel maßgeblich ausgehandelten EU-Türkei-Deal, den unmenschlichen Ankerzentren – die Liste ließe sich fortsetzen.

Doch regelmäßig, ganz so, als sei Merkel losgelöst von ihrem Kabinett und schwebe über den Dingen, nahm die Wut, die sich auf Gestalten wie Horst Seehofer, Julia Klöckner oder Jens Spahn richtete, Merkel explizit aus. Und ähnlich wie die Minister*innen von der Kanzlerin separiert wurden, scheinen auch die Opfer der Politik der vergangenen 16 Jahre gar nichts mehr mit derjenigen zu tun zu haben, die sie maßgeblich lenkte. Bartschs oben zitierte Aussage steht hier auch exemplarisch für eine atemberaubende Empathieverweigerung, die mit dem „Merkel-Kult“ einiger Linker zwangsläufig einhergeht: Obwohl sie genau wissen, was die Merkel-Regierung der griechischen Arbeiter*innenklasse angetan hat, was sich an den Außengrenzen abspielt, wie es Kindern von Hartz-IV-Bezieher*innen geht, was Prekarität mit den Menschen macht… – trotzdem gebührt Merkel ihr Dank, Respekt und ihre Anerkennung.

Rechte Dämonisierung

Das Beschriebene bezieht sich auf die mediale, linke und linksliberale Öffentlichkeit. Ganz rechts sieht es natürlich anders aus: Hier wird Merkel völlig überhöhend und persönlich dämonisiert, vor allem aus rassistischen Beweggründen, wegen der Aufnahme von Geflüchteten im Jahr 2015, eine Portion Sexismus spielt auch eine Rolle. Rechte haben keine Analyse davon, wie der Kapitalismus funktioniert beziehungsweise sind sehr gut mit ihm arrangiert, oft konsequenter als der neoliberalste Neoliberale; ihr Hass richtet sich nach unten oder eben auf Einzelne, die oben sind, es aber aus ihrer Sicht dort falsch machen. Dabei sind einzelne Politiker*innen, selbst wenn sie so mächtig sind wie Merkel, nicht der Skandal, sondern das System, das sie verteidigen und dessen Reproduktion sie dienen.

Das heißt andersherum auch: Klar kann ich als Linke finden, ich wäre lieber mit Merkel als mit Schröder oder Spahn oder Trump in einem Raum eingesperrt (allein schon, da sie wahrscheinlich schön schweigsam ist). Doch 16 Jahre lang Form und Inhalt kaum voneinander unterscheiden zu können und sich im Gegenteil immer weiter in die Form zu verlieben, ist eine schwache Leistung. Mehr noch: Dass nach 16 Jahre Amtszeit „Merkel muss Weg“ ein zu 100 Prozent rechts besetzter Slogan ist und Linke ihn nicht einmal während der schlimmsten Zeiten der Griechenlandkrise riefen, ist – ehrlich gesagt – zum Schämen. Oder, ganz nüchtern betrachtet, einer der größeren Erfolge ihrer Kanzlerinnenschaft. Jetzt ist Merkel weg und was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, dass das giftige Handeln von Mächtigen auch von vielen Linke allzu gerne bereitwillig geschluckt wird, wenn die Verpackung nur freundlich genug ist.

# Titelbild: pixabay

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24. November 2016: Vor genau fünf Jahren unterzeichnete der kolumbianische Staat ein Dokument, welches einen 50 Jahre langen aufständischen Bürgerkrieg beenden sollte. Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, besser bekannt als FARC-EP, setzten sich mit ihren jahrzehntelangen Feinden zusammen an den Verhandlungstisch.

Während 7.000 Guerrilerxs der FARC-Guerilla ihre Waffen in der aufrichtigen Hoffnung auf Frieden abgaben, hatte der Staat seine ganz eigene Motivation. Die kolumbianische Elite erkannte: Ein Krieg gegen Kommunisten ist schlecht fürs Geschäft.

Das Abkommen machte den Menschen Hoffnung auf Frieden und Wandel, gleichzeitig badete sich der derzeitige Präsident Juan Manuel Santos im Rampenlicht der internationalen Presse; Santos wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Jetzt, 2021, ist am vergangenen Montag der UN-Generalsekretär im Land eingetroffen, um sich mit den Opfern des bewaffneten Konfliktes, Regierungsdelegierten und ehemaligen hochrangigen Führern der FARC-EP zu treffen. Am Mittwoch, dem 24. November, dem fünften Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensabkommens, wird es einen großen Festakt geben. Was genau gefeiert wird ist unklar, denn Frieden gibt es in Kolumbien keinen.

Im Jahr 2016 war die FARC-EP bereit, ihre Waffen abzugeben. Jetzt werden unbewaffnete, ehemalige FARC-Veteranen erschossen. Systematische Morde an ehemaligen FARC-Guerilleros erschüttern das Land. Wenn der derzeitige Trend der gezielten Tötungen anhält, werden etwa 1.600 ehemalige FARC-Gueriller@s bis Ende 2024 ermordet werden, teilte das kolumbianische Tribunal für Übergangsjustiz am 28. April 2021 mit. Bereits jetzt wurden seit dem Friedensvertrag über 260 ehemalige FARC Mitglieder ermordet. Ehemalige FARC-EP-Gueriller@s fürchten um ihr Leben, während die Überzeugung, dass das so genannte Friedensabkommen auf einer Illusion beruht, immer mehr an Popularität gewinnt.

Nicht alle fügen sich diesem Schicksal. Der bittere Verrat am Friedensvertrag seitens des Staates war für viele ehemalige Mitglieder, Kommandeur:innen und Gueriller@s der FARC-EP und der mit ihrem verbundenen Kommunistischen klandestinen Partei Kolumbiens (PCCC) der Anlass, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. Derzeit sind die Strukturen der „neuen“ FARC-EP landesweit in 138 Gemeinden präsent, was auf ein enormes Wachstum seit 2016 hinweist, dem Jahr, in dem der Friedensprozess zwischen der „alten“ FARC-EP und der kolumbianischen Regierung abgeschlossen wurde.

Tausende zerrissen den Vertrag in zwei Teile und griffen wieder zu den Waffen. Die „Partei der Rose“, die legale Partei aus ehemaligen FARC Mitgliedern, verlor viele ihrer Mitglieder. Die einflussreichsten FARC-Kommandeure Jesus Santrich und Iván Márquez kehrten in die Berge zurück, um die Gründung der FARC-EP bekannt zu geben: Die Zweite Marquetalia. Fast täglich gibt es Gefechte. Frieden in Kolumbien eine Illusion.

Frieden gibt es in dem Land schon allein deswegen keinen, weil die FARC und der Staat nicht die einzigen Parteien im Krieg sind, und rechte Paramilitärs, die für die überwiegende Anzahl an politischen Morden verantwortlich sind, Kartelle und der Staat selbst immer noch einen bewaffneten Kampf gegeneinander und das Volk führen. Wie instabil der Status Quo aktuell ist, wurde während des Nationalstreiks 2021 und dem anschließenden Volksaufstand als Reaktion auf Polizei- und paramilitärischer Gewalt deutlich. Mindestens 84 Menschen wurden getötet, über 1.790 verwundet und 3.274 verhaftet. Dazu kommen 106 geschlechtsspezifische Gewaltakte.

Der Besuch von dem UN-Generalsekräter António Guterres findet inmitten einer Welle der Gewalt statt. Allein 2021 wurden  mehr als 150 Aktivisten und seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1270 sozialen Aktivisten ermordet. In Kolumbien gibt es das Sprichwort: „Es ist weniger gefährlich in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen.“ Die kolumbianische Bevölkerung und vor allem die Revolutionäre Bewegung ist sich bewusst, dass über die verfaulte bürgerliche Demokratie die korrupte Herrschaft der Oligarchen nicht überwunden werden kann. Aus diesem Grund sind die einzigen konstanten Kriegsparteien in dem über 50 Jahre dauernden Bürgerkrieg die Kommunistischen Guerilla und der Staat. 

# Titelbild: Juan Manuel Santos, ehem. Präsident von Kolumbien und Rodrigo Londoño Echeverri, alias «Timoleón Jiménez“ von den FARC, 2016

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Die Deutsche Bahn erhöht (mal wieder) die Preise. Warum die Bahnpolitik einer Verkehrswende und dem Kampf gegen die Klimakrise zuwiderläuft. 

Mit der deutlichsten Erhöhung der Preise (+1,9%) im Fernverkehr seit 2012 wird das Bahnfahren in Deutschland ab Dezember diesen Jahres wieder einmal unattraktiver. Der Konzern kommentiert jedoch: „Im langfristigen Vergleich bleibt Bahnfahren weiter günstig.“ Bahnfahrende in Deutschland wissen, dass das völliger Quatsch ist. Kaum eine Strecke ist mit dem Auto, dem Bus oder dem Flugzeug nicht günstiger und schneller zu bestreiten als mit dem Zug. Dieser bietet so gut wie keine Vorteile für die Reisenden, abgesehen vom guten Gefühl möglichst ökologisch zu reisen. Und selbst das verschwimmt bei genauerem Hinsehen deutlich. Aber beginnen wir etwas weiter vorn.



Bahnreform – Der Anfang vom Ende

1994 tritt das Eisenbahnneuordnungsgesetz in Kraft, allgemein besser bekannt als „Bahnreform“. Dazu gehörte die Ausgliederung der Deutschen Bahn AG als privatrechtlich organisierte Eisenbahngesellschaft des Bundes. Arno Luik beschreibt in seinem Buch „Schaden in der Oberleitung“ die Folgen dieser Reform eindrücklich. (https://www.westendverlag.de/buch/schaden-in-der-oberleitung/ ) Der Staatskonzern agierte von da an wie ein privates Unternehmen: Schlechterer Service, höhere Kosten, Einsparungen an jeder Ecke, sowie Entlassungen und Kürzungen auf der einen und fette Boni auf der anderen Seite. Insgesamt steigerte sich das Gehalt der Bahnchefs von 1991 bis 2017 um 2000% und der Sanierungsstau wuchs auf 57 Milliarden Euro an.

Die Chefs der Deutschen Bahn kamen seit der Reform 1994 fast ausnahmslos aus der Auto- oder Luftfahrtindustrie. Viele von ihnen wechselten nach ihrer Tätigkeit bei der Bahn auch wieder dorthin zurück, weshalb Vermutungen, dass die Bahn im Namen der deutschen Autoindustrie bewusst zugrunde gerichtet wurde, nicht unlogisch erscheinen. Wer das für unrealistisch hält, der sei an die „General Motors Streetcar Conspiracy“ erinnert: Zwischen 1930 und 1960 kauften US-Autofirmen unter der Führung von General Motors Bahnunternehmen in den ganzen USA auf, um den Bahnverkehr stillzulegen und ihn durch Autos zu ersetzen. Mit Erfolg.

Beispielhaft für die stümperhafte Führung des deutschen Konzerns steht Hartmut Mehdorn, der breitspurig erklärte, Bahnfahren über vier Stunden sei „eine Tortur“ und wenn er persönlich von Berlin nach München müsse, nehme er meist das Flugzeug. Passend dazu orderte er dann auch 500 Dienstwagen für die Bahn-Führungskräfte. Auch er arbeitete zuvor für Airbus und Lufthansa, und kehrte nach seiner Zeit bei der Bahn dorthin zurück: Erst zur Fluglinie Air Berlin und dann zum Flughafen BER.

In den fast 30 Jahren seit der Bahnreform wurde aus der Deutschen Bahn außerdem ein weltweit aktiver Logistikkonzern. Über die Hälfte ihres Umsatzes macht das Unternehmen mittlerweile im Ausland, weitere knapp 50% mit Geschäften, die mit Bahnfahren nichts zu tun haben. Bevor Hartmut Mehdorn im Jahr 1999 die Zügel bei der Bahn in die Hand nahm, wurden mehr als 95% der Umsätze im Inland und mehr als 90% mit Bahnfahren erwirtschaftet. Heute besteht die Bahn AG hingegen aus einem Konglomerat von knapp 1000 Firmen und ist in über 130 Ländern aktiv. Die wirre Firmenstruktur mit acht Töchterfirmen, hat auch ganz praktische Auswirkungen für Bahnfahrende: Fällt beispielsweise bei der Tochterfirma DB Fernverkehr eine Lok aus, kann diese nicht durch eine nebenan abgestellte Lok ersetzt werden, wenn diese DB Regio gehört. 


Die Bahn wird international tätig

Im Jahr 2002 ging es dann so richtig los mit der Welteroberung, als die Bahn den Logistik-Konzern Schenker für 2,5 Milliarden € aufkaufte. Hinzu kamen weitere Übernahmen, beispielweise in den Niederlanden und Dänemark, sowie eines US-Logistik-Konzerns.

Nachdem Hartmut Mehdorn wegen einer Spitzelaffäre gehen musste – nicht ohne eine saftige Abfindung zu kassieren – führte Rüdiger Grube aus dem Hause Daimler seine Weltmachtsfantasien fort.

Vor mittlerweile zehn Jahren kaufte die Bahn das britische Busunternehmen Arriva für knapp 3 Milliarden Euro und wurde so zum größten Busbetreiber in Europa. Während man es hierzulande nicht schafft, einen funktionierenden Bahnverkehr aufrecht zu erhalten, treibt man auf dem ganzen Globus die wildesten Geschäfte: Wein- und Minenlogistik in Australien, E-Car-Sharing in Kopenhagen, Krankentransporte in Großbritannien, Busse in Kroatien, Portugal, Polen, Dänemark und Spanien, Transport von See- und Luftfracht auf der ganzen Welt. Ganz aktuell beteiligt sie sich an einem skandalösen Vorhaben, dem sogenannten „Tren Maya“ in Mexiko. Da mit diesem Projekt die Zerstörung der letzten Regenwälder Mexikos, Vertreibung und Missachtung der Rechte der indigenen Bevölkerung, eine Militarisierung der Region und die geopolitische Funktion einer „Migrant:innen-Sperre“ einhergeht, sagt Dr. Sergio P. Díaz, der das Projekt als Forscher an der Universität Campeche seit Jahren vor Ort beobachtet und dessen geopolitische Dimension untersucht, im Interview mit dem Ya-Basta-Netz: „Der größte Fehler besteht darin, den „Maya Zug“ nur als Zug zu betrachten.“


Die Bahn als lukratives Sprungbrett

In den 24 Jahren der beiden Amtszeiten von Mehdorn und Grube haben sie es geschafft 18 Milliarden € Schulden anzuhäufen und dennoch Abfindungen in Höhe von rund 9 Millionen zu kassieren. Besonders frech: Rüdiger Grube arbeitete im Jahr 2017 genau 30 Tage bevor er fristlos kündigte. Für diesen Zeitraum erhielt er eine stolze Abfindung von 2,3 Millionen Euro – ungefähr 76.000€ pro Tag. Nach seiner Bahnkarriere besetzte er Posten im Aufsichtsrat von Bombardier, einem Konzern, der unter anderem Züge baut, und als Berater für die Tunnelbaufirma Herrenknecht. Das ist besonders brisant, da diese satte Profite an Stuttgart21 macht. Einem Bauprojekt, das bekanntermaßen einzig und allein den involvierten Firmen, Unternehmern und Investoren nützt. Die alt-bekannte „revolving-door“-Politik. 


Kaputtgespart

In dieser Zeit wurde die Bahn regelrecht kaputtgespart. Weichen, Schwellen, Abstell- und Ausweichgleise wurden abgebaut, Stellwerke geschlossen, unzählige Kilometer Gleise stillgelegt, Personal entlassen, an der Wartung gespart, auf Verschleiß gefahren. Ebenso rigoros spart die Deutsche Bahn an Lärmschutzmaßnahmen. Im oberen Mittelrheintal beispielsweise zerstört der Güterzugverkehr die landschaftliche Idylle. Die Liste ließe sich beinahe ewig fortführen, ja selbst Lautsprecherdurchsagen zur Vorsicht bei vorbeifahrenden Zügen wurden aus Kostengründen abgeschafft. Auch an der Sicherheit der Fahrgäste wird gespart. Das Eisenbahnbundesamt wies den Konzern in dutzenden von amtlichen Bescheiden an, „notwendige Reparaturen“ vorzunehmen, um „Gefahren für Leib und Leben“ abzuwenden. Da allerdings im Bahngesetz von 1993 festgeschrieben ist, dass die Bahn für Reparaturen aufkommen muss, der Bund jedoch Neuanschaffungen bezahlt, lässt die Deutsche Bahn vieles einfach verrotten, bis es neu gebaut werden muss. Dass sie bei Neubauten auch noch Geld für die „Planungsaufsicht“ einstreicht, macht das Ganze für die Deutsche Bahn noch lukrativer. So steht der Konzern mittlerweile fast schon symbolisch für prahlerische Riesenprojekte, bei deren genauerer Betrachtung sich Sinn- und Zweckhaftigkeit meist nicht erschließen. So wie die neue ICE-Strecke zwischen München und Berlin, die schon bei ihrer Jungfernfahrt mit 2 Stunden Verspätung glänzte. Bei der Fertigstellung hatten sich die Kosten auf 10 Milliarden Euro verdoppelt, wobei der Staat immer wieder einsprang und im internationalen Vergleich beeindruckt eine Fahrtzeit von 4 Stunden (plus den einzuplanenden Verspätungen) absolut nicht. Für eine ähnliche Entfernung z.B. von Barcelona nach Madrid braucht der Schnellzug dort nur zweieinhalb Stunden.

Seit Mehdorns Amtsantritt hat die Deutsche Bahn rund 2500 Bahnhöfe verkauft, besonders im Osten wurden viele von ihnen dicht gemacht. All diese Bahnhöfe hat die Deutsche Bahn nicht selbst gebaut oder finanziert, dennoch fließt der Erlös ausschließlich in den Konzern. 1994 war die Bahn neben der Kirche und dem Fürsten Fritz von Thun und Taxis im Besitz des größten Immobilien- und Grundstückseigentums Deutschlands. Auch viele dieser Grundstücke wurden für den schnellen Profit verscherbelt. Oft werden diese vom Staat gekauft, wie beispielsweise der Bahnhof Altona. Die Kommunen bezahlen also Unsummen an die Deutsche Bahn für Eigentum, das dem Unternehmen von der Allgemeinheit geschenkt wurde.

Und auch das Streckennetz in Deutschland ist skandalös schlecht ausgebaut. Nicht nur, dass es im Jahr 2019 um gerade einmal sechs Kilometer erweitert wurde, auch werden immer mehr Regionen vom Fernverkehr abgekoppelt. Über 100 Städte, darunter Potsdam, Krefeld, Trier oder Bayreuth – und damit knapp 17 Millionen Menschen – sind von diesen Sparmaßnahmen betroffen. Viele von ihnen werden auf das Auto umgestiegen sein.

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Bahn sich lieber auf profitable Prestige-Projekte konzentriert, als tatsächlich eine funktionierende Infrastruktur für die breite Bevölkerung zu betreiben.


Güterverkehr


Auch beim Güterverkehr, der in Sachen Verkehrswende eine immense Rolle spielt, macht die Bahn alles erdenklich mögliche falsch. Während in den letzten 2 Jahrzehnten das Straßennetz in Deutschland um knapp 300.000 Kilometer gewachsen ist, wurde das Schienennetz um mehr als 20% zurückgebaut. Auch die Gleisanschlüsse für die Industrie werden immer weniger, was dazu führt, dass diese beim Transport auf die Straße umsteigen. Beispielhaft hierfür steht die Abschaffung der Postzüge im Jahr 1997 durch Heinz Dürr, Ex Daimler-Vorstandsmitglied. Die Deutsche Post AG schaffte sich damals 6000 neue LKW an. Natürlich von Daimler. Pro Kilometer stößt ein LKW viermal so viele Klimagase aus wie ein Güterzug, der aber die Transportkapazität von 40 LKW’s hat. Ein umweltpolitischer Wahnsinn.

Dabei gibt sich die Bahn gern als umweltfreundliche Alternative zum Auto oder zum Flugzeug und wirbt damit, dass der Fernverkehr komplett mit Ökostrom fahre. Allerdings ist der Fernverkehr die kleinste Sparte im Konzern und dieser „Ökostrom“ kann durchaus auch aus einem Atomkraftwerk kommen. Am AKW Neckarwestheim, einem uralten Meiler, besitzt die Deutsche Bahn sogar Anteile. Hinzu kommt, dass nicht einmal 60% des Schienennetzes elektrifiziert sind – fast 2500 Triebwagen und Lokomotiven mit Dieselmotoren gehören noch zur DB-Flotte. Fast die Hälfte des Bahnstroms kommen aus Kohle- oder Atomkraftwerken. Außerdem ist der Konzern der größte Einzelverbraucher von Glyphosat in Deutschland. Rund 65 Tonnen werden jährlich versprüht um Unkraut im Schotterbett zu bekämpfen. Ein großes Problem stellen auch die vielen Tunnel dar. Nicht nur, da sich beim Durchfahren durch den höheren Luftwiderstand der Energieverbrauch verdoppelt, vor allem im Bau benötigen sie riesige Mengen an Stahl und Beton. Dabei sind die Zement- und Stahlindustrie für knapp 20% der von den Menschen produzierten Klimagase verantwortlich.


Immer schlechter, immer teurer

Unzählige Skandale und einzelne Themen könnte man noch anführen und kritisieren. Aber kommen wir noch einmal auf das Preissystem der Deutschen Bahn zurück. Da gibt es Sparpreise, Sommerpreise, Supersparpreise, Sparangebote, Spartickets, normale Tickets und vieles mehr. Zwischen 1993 und 2018 sind die Fahrpreise im Bahnverkehr um gut 80% gestiegen, während die allgemeine Teuerungsrate gerade mal bei knapp 40% lag. Durch die erneute Preissteigerung wird das im europaweiten Vergleich in Deutschland ohnehin schon teure Bahnfahren noch unerschwinglicher.

Eine echte Umstellung wäre zwar möglich, würde aber auch echten Willen zur Verkehrswende verlangen. Mal angenommen, der im Jahr 2017 von der Deutschen Bahn alleine im Personenverkehr erwirtschaftete Gewinn von 14 Milliarden Euro, sowie der deutsche Haushaltsüberschuss von 62 Milliarden Euro wären investiert worden: Dann hätten alle in diesem Jahr gekauften Tickets stattdessen verschenkt werden können, ohne dass dies wirtschaftliche Probleme mit sich bringt. Mit den übrigbleibenden Milliarden könnte man die Streckennetze ausbauen, neue Züge anschaffen und Mitarbeiter:innen anstellen, sowie fair bezahlen. Angesichts der Klimakrise wäre das das Mindeste, doch nichts davon geschieht. Die Autolobby und ihre Funktionäre werden weiter hofiert und eine echte Verkehrswende dadurch auf absehbare Zeit nahezu unmöglich gemacht. 

Wir sind gefragt: Verkehrswende bleibt Handarbeit!

#Titelbild: David Abadia on unsplash

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Am Sonntag den 24. Oktober erreichte die türkische Lira ein Rekordtief und mit Bange beobachtete die Bevölkerung des Landes wie ihre wirtschaftliche Situation sich wieder ein Stück weiter verschlimmerte. Aber nicht allen geht es so – für viele andere ist der politisch-mediale Apparat des faschistischen türkischen Staates nämlich wieder so effektiv, dass kaum eine Minute bleibt, um an Inflation und eine horrende Suizidrate aufgrund von Armut im Land zu denken, denn die weitere rechtsnationalistische Sau muss durch das Land gejagt werden. So wurden kürzlich beispielsweise Verfahren und sogar sofortige Abschiebebefehle gegen mehrere syrische Flüchtende ausgesprochen, die „provokativ“ Bananen auf social media aßen, nachdem sich ein türkischer Bürger auf Social Media darüber beschwerte, dass die durchschnittliche türkische Person sich diese im Gegensatz zu den Geflüchteten nicht leisten könne. In Denizli beging wieder einmal ein Mann einen Femizid an seiner Ex-Freundin und wieder einmal wird in den Kommentarspalten darüber diskutiert, was die Frau alles gemacht haben muss, um den Mann so provoziert zu haben. Und schließlich beschloss das türkische Parlament öffentlichkeitswirksam, dass sowohl die militärischen Einsätze in Syrien als auch im Irak um zwei Jahre verlängert werden sollen – gemeint ist natürlich der vermeintliche Krieg gegen die PKK. Wieso man sich Bananen nicht leisten können sollte, wieso FLINTA* Personen täglich sterben müssen, wieso das kurdische Volk bei jeder noch so kleinen Gelegenheit vernichtet werden muss, das fragen sich die wenigsten in einem Land, wo vor allem eins intersektional ist: Das Elend und die Krisen.

Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass in Konsequenz dieser parlamentarischen Entscheidung eine größere neue Militäroffensive in Rojava von Seiten der Türkei ansteht. Genau wie bei den Operationen Euphrates Shield 2016/2017, Olive Branch 2018 (bekannter als der Krieg um Afrin) und Peace Spring (eine böswillige Untertreibung der ethnischen Säuberungskampagne zwischen Girespi und Serekaniye im Herbst 2019) werden sowohl türkische Luftkräfte, türkische Spezialkräfte am Boden und eine Horde an islamistischen Schergen der SNA (Syrian National Army, ehemals bekannt unter FSA/TFSA) mobilisiert. Dabei ist man sich nach wie vor nicht zu schade vormalige IS oder al-Kaida Kräfte mit einzubinden, wie der Sprecher des SDF Medienzentrums, Farhad Shami, feststellt.

Diesmal sieht es so aus, als würde die Türkei weiter ihrem Projekt nachkommen, die Verbindung zwischen den größeren Gebieten Rojavas zu kappen, wie auch schon zuvor geschehen. Afrin konnte die Türkei erfolgreich durch die Operation Euphrates Shield isolieren, um sich so auf die Einnahme des Gebiets vorzubereiten. Und auch der Vorstoß in Girespi und Serekaniye im Jahr 2019 lief vor allem darauf hinaus, das Gebiet bis zum M4 Highway (der Schnellstraße, die alle wichtigen Städte entlang der syrisch-türkischen Grenze verbindet) einzunehmen. Damals musste die türkische Armee den Highway nach einigen Wochen wieder freigeben, weil auch alle anderen Kräfte, unter anderem die russischen und US-amerikanischen, über diesen verkehrten. Doch ein strategisches Auge hat der NATO-Partner weiterhin darauf geworfen – besonders auf die am Highway gelegene Stadt Ain Issa, die südwestlich vom durch die Türkei besetzten Girespi (arabisch: Tel Abiyad) liegt.

In Ain Issa sammeln sich mitunter einige der wichtigsten Strukturen der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) und wer etwa vom Nordosten also von Qamishlo oder Heseke nach Kobani will, muss durch diese Stadt hindurch. Man kann also davon ausgehen, dass die nächste größere türkische Operation genau dieses tendenziell abgehängte Glied Rojavas einnehmen und vor allem Kobani isolieren will – ein militärischer und vor allem symbolischer Vorstoß, der ohne Gleichen wäre. 

In der Region Kurdistan (KRI) im Irak, wo der türkische Drohnenkrieg gegen die kurdische Bevölkerung allerhöchstens zum Eklat von Gare führte, konnte hingegen noch kein symbolischer Sieg errungen werden, der ausreichend von den eigenen Krisen ablenken könnte. Während die Türkei mit allen Mitteln die gesamte Grenzregion zwischen dem Irak bzw. der KRI und der Türkei mit Drohnen und Giftgas bombardiert und ganze Waldflächen rodet, fliegt sie mittlerweile bis in das östlich von Kirkuk gelegene Chamchamal Drohnenangriffe gegen vermeintliche PKK-Stellungen. Besonders zugute kommt der Türkei eine schwache PUK – Jene Partei, welche im Osten der KRI das Sagen hat und durch interne Machtkonflikte enorm an Kraft verlor. Der bis dato mächtigste Mann der PUK, Lahur Sheikh Jangi, der als im weitesten Sinne als PKK-freundlich gilt, wurde infolge dieser Auseinandersetzungen seines Amtes enthoben. Zwischenzeitlich war sogar die Rede davon, ihn des Landes zu verweisen. Kurz nach diesen schicksalshaften Tagen hagelte es in der sonst sicheren und eher links eingestellten Stadt Sulaimaniya Kugeln. Mehrere PKK-Kader wurden getötet, darunter Yasin Bulut. Die türkischen NATO-Truppen bombardieren in Südkurdistan also weiterhin so gut wie alle Gebiete und dank dem erneuten Parlamentsmandat ist kein Ende dieser Kampfhandlungen in Sicht. Besonders makaber in diesem Kontext: Nur wenige Tage nach der Entscheidung des türkischen Parlaments postet die Twitter-Seite der NATO einen Ehrentweet an den NATO-Alliierten Türkei um mit ihnen den Nationalfeiertag zu zelebrieren. 

Wie gegen Ende des Jahres die Sicherheitslage der Kurd*innen im Irak aussehen wird, ist absolut unklar. Denn bis auf Weiteres sollen alle US-Truppen das Land verlassen, wie Präsident Biden schon im Juli nach Absprache mit Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi ankündigte. Das irakische politische Establishment hat wiederholt keinerlei Einspruch gegen das kilometerweite Eindringen der Türkei geäußert und mit einem Ende der US-Präsenz und somit einem Vorteil für den Iran und iranische Milizen gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Region Kurdistan von freundlichen Kräften umzingelt und besetzt sein wird. Ein Szenario, in dem die KRI weiter von türkischen NATO-Drohnen bombardiert und gleichzeitig von iranischen Raketen angegriffen wird, ist nicht besonders unwahrscheinlich. Es zeichnet sich ab, dass 2022 das Jahr des Überlebenskampfes der Region Kurdistan wird. Dafür sprechen nicht zuletzt die Rekordzahlen an flüchtenden Kurd*innen aus der KRI, die vor allem gerade an der polnisch-belarussischen Grenze feststecken. Denn zwischen der Korruption von KDP und PUK sowie dem fortwährenden Vernichtungskrieg der Türkei bleibt für die Zivilbevölkerung kaum eine Alternative. Und so nehmen viele eher den Tod auf der Fluchtroute in Kauf, als weiter dort im Elend zu leben.

An der vermutlich künftigen Koalition der Bundesregierung ist allerdings nur ihre Farbkombination pro-kurdisch, denn zum Thema Türkeipolitik hüllt man sich in Ampelkreisen in Schweigen. Nachdem Erdogan fast ohne Konsequenzen die Ausweisung verschiedener Botschafter*innen, unter anderem des Deutschen, verlangte und auch dies in Deutschland höchstens Mahnungen zur Besonnenheit hervorgerufen hat, gab es keinerlei weitere Statements zum Kameraden vom Bosporus. Gerade in bei SPD und Grünen begnügt man sich damit, politisch akzeptierte Oppositionelle wie Can Dündar oder Osman Kavala mit Phrasen  – oder mit einem netten Abendessen, wenn sie denn nun frei sind – zu beehren, anstatt sich wirklich zur Vernichtungspolitik der Türkei gegen Kurd*innen oder Armenier*innen zu positionieren. Man feiert 60 Jahre Gastarbeiter*innenabkommen, aber schweigt zur allgegenwärtigen Kriminalisierung kurdisch-linker und türkisch-linker Organisationen in Deutschland.

Vielleicht eint das Deutschland und die Türkei also am meisten: Während ökonomische Krisen, fundamentale Verteilungsfragen, tägliche Femizide und vieles mehr die Systemfrage hervorrufen sollten, vergnügt man sich lieber mit besonders emotionalisierten und symbolischen Debatten. So kann man leider davon ausgehen, dass die sich anbahnende neue Militäroffensive nicht die geringsten Reaktionen in den Kreisen des deutschen politischen Establishments auslösen wird. So wenig man mit diesen rechnen kann, so wenig sollten sie ein Standard politischen Handelns sein. Die nächsten Monate müssen vor allem dafür genutzt werden auf allen Ebenen Widerstand gegen den Vernichtungskrieg der NATO in Kurdistan – an allen Fronten – zu leisten. Sowohl in Südkurdistan als auch in Rojava geht es um nichts weniger, als um den Überlebenskampf der einzigen existierenden kurdischen Autonomieregionen – ihnen und vor allem ihrer Bevölkerung sollte nichts als grenzenlose Solidarität gelten.

#Bildquelle: ANF

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Die Türkei führt – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – ihren Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung nicht nur an der irakisch-türkischen Grenze weiter. Sie setzt dabei neben der Luftwaffe und Bodentruppen mittlerweile auch immer häufiger international geächtete Waffen wie Giftgas ein. Doch die Guerilla und die Bevölkerung leisten weiterhin Widerstand – mit Erfolg. Wir haben mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Revolutionären Jugendbewegung Syriens und der Internationalistischen Kommune in Rojava (Teil der Kampagne Riseup4Rojava) über die aktuelle Lage gesprochen.

Du bist ja derzeit in Rojava, im Norden Syriens, und dort politisch aktiv. Wie ist die Situation im Moment vor Ort nach deiner Einschätzung? Wir hören vermehrt von der konkreten Gefahr einer neuen Großoffensive der türkischen Armee gegen kurdische Gebiete in Syrien. Wie ist die Stimmung bei euch und wie bewertet ihr die aktuellen Entwicklungen in der Region?

Was auch immer passiert, das Leben geht hier natürlich weiter. Die Menschen hier haben sich daran gewöhnt unter Kriegsbedingungen und mit dem andauernden Embargo zu leben. Auch die Drohung mit neuen Angriffen gegen das befreite Rojava ist nichts neues, sondern immer wiederkehrende Realität. Das soll nicht heißen, dass wir das nicht ernst nehmen, doch Krieg und Widerstand sind hier nicht an einen “Tag X” gebunden. Der türkische Staat handelt in Zeiten, in denen er nicht mit einer großangelegten Offensive versucht Gebiete zu besetzen, nach einer Strategie des Krieges niedriger Intensität.

Sie töten unsere Genossi:nnen und auch Zivilist:innen täglich durch Luftschläge mit ihren Drohnen. Sie schneiden die Wasserversorgung Rojavas ab, versuchen für Probleme und Chaos zu sorgen, indem sie Agenten in die Region einschleusen, versuchen Kurd:innen und Araber:innen gegeneinander aufzuhetzen und verbreiten Lügen und Anti-Propaganda. Gleichzeitig hat der physische Krieg an den essentiellen Frontlinien nie aufgehört. Tagtäglich werden die Gebiete rund um Til Temir, Eyn Îsa, Minbic und Şehba bombardiert und natürlich leisten die Leute hier dagegen Widerstand und verteidigen sich aktiv.

Es geht auch nicht nur um Rojava, sondern wir müssen verstehen, dass die Kriege in den Bergen, in Rojava, in Nordkurdistan, usw. miteinander verbunden sind. Der türkische Staat ist ein faschistischer Staat, seine Regierung ist faschistisch. Sie haben ihre eigene Existenz auf Krieg und Völkermord aufgebaut und setzen diese ihre Existenzgrundlage heute auf gleiche Weise fort. Der Widerstand dagegen ist immer legitim und dieser Widerstand ist heute grenzübergreifend und im Interesse aller Völker der Region.

Die letzten Jahre waren geprägt von Krieg und Widerstand, sowohl hier in Rojava als auch überall anders in der Region. Seit Februar diesen Jahres versucht die türkische Armee verzweifelt in weitere Gebiete der von der Guerilla im Süden Kurdistans (Nordirak, d. Red.) kontrollierten Medya-Verteidigungsgebiete vorzudringen. So startete sie eine aufwändige Blitzoperation gegen die Gare-Region am 10. Februar mit Unterstützung der KDP (vom Barzani-Clan geführte, von der Türkei, Deutschland und den USA abhängige Kompradorenpartei in der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak, d.Red.), musste sich jedoch nach 4 Tagen schwerer Gefechte geschlagen geben und unverrichteter Dinge abziehen.

Kurz darauf begann die nächste Großoffensive am 24.04. gegen die Regionen Metina, Zap und Avaşîn. Diese Operation unter dem Namen “Claw Lightning and Claw Thunderbolt” hält bis heute an. Erst vor ein paar Tagen veröffentlichten die Volksverteidigungskräfte HPG eine Bilanz der letzten sechs Monate. Daraus geht hervor, dass die türkische Armee trotz allen Aufwands, modernster Technik, unablässiger Luftüberwachung, flächendeckender Bombardements, dem Einsatz tausender Soldaten und der hinterhältigen Unterstützung durch die KDP und Roj-Peşmergas (Von der Türkei ausgebildete KDP-nahe Milizen, d.Red.) schwere Rückschläge einzustecken hatte und keine großen Gebietsgewinne für sich verzeichnen kann.

Besonders in den Gebieten Zendura, Mamreşo, Girê Sor und Werxelê leistete die Guerilla einen historischen und kompromisslosen Widerstand, der weiterhin anhält. Die einzige Lösung, welche der türkische Staat für sich dabei zu sehen scheint ist der massive Einsatz von chemischen Waffen. Laut der sechsmonatigen Bilanz der Volksverteidigungskräfte HPG setzte die türkische Armee innerhalb dieses Zeitraumes 323 mal verschiedene Arten von Chemiewaffen und Giftgas ein.

Wir wissen alle, dass das ein international anerkanntes Verbrechen ist, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, doch wirklich zu kümmern scheint das niemand. Nun sieht es so aus, dass die türkische Armee in den Bergen an ihre Grenzen gestoßen ist. Gleichzeitig geht es der Erdoğan-Regierung alles andere als gut. Laut Umfragen würde ihr Regierungsbündnis nicht einmal annähernd in die Nähe einer Mehrheit kommen bei kommenden Wahlen. Die Wirtschaft steckt in der Krise, den Menschen in der Türkei geht es nicht gut und sie sind unzufrieden. Der Staat versucht jetzt, wie immer, die Probleme einfach unsichtbar zu machen, indem die Kriegspolitik weiter angeheizt wird. Für das AKP-MHP-Regime sind die Menschen im eigenen Land nichts wert, sie haben alles und jeden dem Ziel untergestellt den Widerstand des kurdischen Volkes zu brechen und die Freiheitsbewegung militärisch zu vernichten. Die gesamte Innen- und Außenpolitik des türkischen Staates ist darauf ausgerichtet und auch die Wirtschaftskrise selbst rührt eben genau daher. Als diesen Sommer Wälder in der Türkei brannten, da bemühten sie sich sehr darum die kurdische Freiheitsbewegung dafür verantwortlich zu erklären, doch auch mit diesen dreckigen Spielchen konnten sie nicht davon ablenken, dass die Unfähigkeit zur Bekämpfung der Brände vor allem daher rührte, dass Investitionen zum Großteil ins Militär, Kriegstechnologie und Waffen gesteckt werden, während es dann z.B. an notwendig ausgerüsteter Feuerwehr mangelt.

Interessant ist auch, dass die türkische faschistische Regierung seit Jahren alles tut, um die HDP zu isolieren, ihre Verankerung in der Bevölkerung zu brechen und sie somit in die Bedeutungslosigkeit zu schicken. Doch Massenverhaftungen, drakonische Strafen für quasi nichts und wieder nichts, Folter, Mord und Verfolgung haben nichts dergleichen erreichen können und die Unterstützung der Bevölkerung für die HDP ist ungebrochen. Das Erdoğan-Regime erhofft sich nun durch eine Fortsetzung ihrer vorherigen Invasionen in Nordsyrien/Rojava ein Deckel auf die eigenen Problem packen zu können und einen lang ersehnten Erfolg für sich verbuchen zu können, welchen sie weder in den Bergen militärisch noch gesellschaftlich und politisch im eigenen Land erreichen konnten.

Natürlich spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle. Die weitere Besatzung eines Gebietes in Rojava, nach der Besatzung von Efrîn und Serêkaniyê, wäre ein schwerer Schlag gegen die Revolution, von dem sich Rojava nur noch schwer erholen würde. Dessen ist sich der türkische Staat bewusst und auch die internationalen, imperialistischen Kräfte, die in der Region aktiv sind, sprich USA und Russland, wissen das und versuchen dementsprechend für ihre eigenen Interessen Druck aufzubauen. Die Türkei selber versucht für sich die notwendige politisch-diplomatische Grundlage zu schaffen, um grünes Licht für eine neue Invasion zu bekommen. Ob sie dieses grüne Licht bereits bekommen hat von einer der genannten Großmächte und ob sie vielleicht schon morgen mit der nächsten Offensive anfangen wird, das wissen wir nicht. Doch hier sind sich alle dessen bewusst, dass eine solche Situation nicht unwahrscheinlich ist und wir uns deshalb alle auf den Widerstand vorbereiten müssen. Die Stimmung ist aber nicht negativ, ganz im Gegenteil. Das ist die Realität hier: Ohne Krieg und Widerstand hätte sich die Revolution bis heute nicht halten können und da Gewalt die einzige Sprache ist, die der Faschismus versteht, müssen wir ihm mit aller uns zur Verfügung stehenden Gewalt gegenübertreten. Wir sind zuversichtlich, dass wir erfolgreich Widerstand leisten werden. Natürlich gibt es auch viel Wut, Frust und Hass der Türkei und der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber. Wenn es anders gehen würde und allein mit Worten ein würdevolles Leben erkämpft werden könnte, dann würde hier niemand zur Waffe greifen. Da die Realität jedoch anders aussieht, sind die Menschen hier dazu bereit die Waffe in die Hand zu nehmen um die eigene Würde zu verteidigen.

In den kurdischen Nachrichten wird insbesondere von Til Refat und Kobane als möglicher Zielorte einer neuen Invasion gesprochen. Wie schätzt ihr vor Ort ein, wo und wann es eskalieren wird?

Das ist schwer zu sagen und es wäre falsch anzunehmen eine hundertprozentige Vorhersage treffen zu können. Nichtsdestotrotz zeichnen sich einige mögliche Szenarien ab und türkische staatsnahe Medien sprechen selber von diesen Szenarien. Wie du selber gerade gesagt hast, stehen die Regionen Til Refat, also Şehba im Norden Allepos und Südosten Efrîns, Kobanê und Minbic zur Zeit im Vordergrund. Alle diese drei Regionen sind der Türkei seit Jahren ein Dorn im Auge. Ein weiteres mögliches Szenario wäre eine Operation in der Region Dêrik im nordöstlichen Länderdreieck Rojavas. Dies ist ein weiteres strategisches Ziel für den türkischen Staat, da dort die Verbindung Rojavas nach Südkurdistan besteht, desweiteren könnte eine für den türkischen Staat erfolgreiche Besatzung der Region Dêrik den direkten Landweg für den türkischen Staat nach Şengal öffnen.

Eine andere Möglichkeit ist auch die Fortsetzung einer Offensive an den bestehenden Frontlinien in Eyn Îsa, Til Temir und Zirgan. Es kann auch sein, dass mehrere dieser Szenarien zur selben Zeit versucht werden. Wie auch immer, die Rhetorik des türkischen Staates ähnelt sehr der Rhetorik im Vorlauf zum Krieg in Efrîn und später in Serêkaniyê. Truppenbewegungen an den Grenzen finden vermehrt statt, die islamistischen Banden der SNA werden mobilisiert und offensichtlich versucht die Türkei, die notwendige internationale Unterstützung für sich zu sichern. Ob es morgen anfängt oder in einem Monat ist weniger wichtig, wichtig ist, dass wir alle darauf vorbereitet sind, sowohl hier vor Ort als auch international, um Widerstand zu leisten und den türkischen Faschismus zu zerschlagen.

Als Kampagne RiseUp4Rojava, was ist eure Antwort auf die aktuellen Entwicklungen und wie wird eure Antwort aussehen, sollte es zu einer neuen Bodenoffensive gegen die Autonome Selbstverwaltung in Nordost-Syrien (AANES) kommen?

Als Kampagne RiseUp4Rojava existieren wir ja bereits seit Frühjahr 2019 und insbesondere zur Zeit des Krieges in Serêkaniyê und Girê Spî waren wir dazu in der Lage, gemeinsam mit anderen Initiativen weltweit hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen und ernsthaften Druck von unten aufzubauen. Seither versuchen wir eine Kontinuität in unserer Arbeit gegen den türkischen Faschismus zu gewährleisten und auf dieser Grundlage fanden über die letzten 2 Jahre zahlreiche Aktionstage zur Unterstützung der Revolution in Rojava und dem Widerstand gegen die türkische Aggression, als auch gegen die internationalen Profiteure vom Krieg und Kollaborateure mit dem Faschismus statt. Wir versuchen durch unsere Website als auch soziale Medien über die Situation vor Ort zu informieren, die internationalen Helfer der Türkei aufzudecken, unsere Position zu verbreiten und gegen den türkischen Faschismus zu mobilisieren.

Kampagnenintern haben wir diskutiert, dass wir bei einer erneuten Offensive der Türkei nicht direkt von einem “Tag X” sprechen können, denn der Krieg ist jeden Tag, auch wenn er in den Mainstreammedien meistens nicht sichtbar ist. Gleichzeitig können auch wir uns nicht komplett der Dynamik eines solchen “Tag X” entziehen. Im Falle einer neuen Offensive rufen wir alle auf unserem Aufruf zu folgen und den Protest direkt vor die Türen der internationalen Vertretungen des türkischen Staates zu tragen. Gleichzeitig geht es uns nicht um eine einzige Aktion oder einen Tag. Wir werden kontinuierlich weiter mobilisieren und mit unseren Initiativen versuchen den türkischen Staat und alle Institutionen, die ihn unterstützen zu blockieren, zu stören und zu besetzen.

Unabhängig davon bereiten wir auch im Moment neue internationale Aktionstage für das Wochende vom 26. bis 28. November vor. Der Slogan lautet “Smash Turkish Fascism – Stand with the Guerrilla!”. Unter unserem Motto “Block! Disturb! Occupy!” rufen wir auch hierzu alle auf aktiv zu werden und auf die Straße zu gehen.

Die Aktionstage vom 26.-28. November, von denen du sprichst, wie werden die konkret aussehen und wie können sich Gruppen und Menschen außerhalb eurer Kampagne daran beteiligen?

Der Aufruf zu den Aktionstagen wird in den kommenden Tagen veröffentlicht werden. Unsere zentralen Ziele sind erstens, den Vertrieb von Olivenöl aus dem besetzten Efrin anzugreifen, an dem sich einige eine goldene Nase auf Kosten des Leidens der Bevölkerung von Efrin verdienen. Zweitens, die Waffenindustrie, welche weiterhin für die türkische Kriegsmaschinerie produziert. Drittens, die Kollaborateure in Politik und Diplomatie, welche weiterhin mit Erdogan liebäugeln und dem türkischen Faschismus Grund und Boden für seine Vernichtungspolitik liefern. Gleichzeitig wollen wir den Widerstand der Guerrilla unterstützen und den Gebrauch von Chemiewaffen durch den türkischen Staat verurteilen. Der 27.11. stellt auch den 43. Jahrestag der Gründung der PKK dar. Wir erklären uns solidarisch mit dem Kampf der PKK, gratulieren ihr zum Geburtstag und sagen klar und deutlich, dass die Kriminellen hier nicht die Kämpfer:innen der PKK sind, sondern diejenigen, die Kurdistan besetzt halten und ausbeuten.

An den Aktionstagen können alle teilnehmen, die wollen. Es wird in einigen Städten sicherlich auch zentrale Veranstaltungen geben, aber darüber hinaus wollen wir, dass alle dezentral selbst aktiv und kreativ werden.

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oder: Was macht(e) die Bundeswehr in Afghanistan

Gastbeitrag von Antimilitaristischen Gruppen aus Berlin

Dies ist kein Beitrag über die Bundeswehr im Auslandseinsatz generell. Die Bundeswehr sammelt seit spätestens 1993 in Somalia erste Kriegserfahrungen, mit dem Einsatz in Jugoslawien wurde 1999 erstmals wieder Krieg – wenn auch noch nicht so bezeichnet – von deutschem Boden aus geführt. Dies ist ein Text über den bislang längsten und umfangreichsten Bundeswehreinsatz, der 2001 begann und erst vor wenigen Wochen mit viel Ach und Krach beendet wurde.

Nach den Anschlägen 2001 in New York und Washington wurde als erste Vergeltungsmaßnahme der Nato-Bündnisfall ausgerufen. Die Anschläge wurden als Angriff auf ein Mitglied der Kriegsallianz gewertet und damit als Angriff auf alle verstanden. Dies stellte für die westliche Militärbündnisgeschichte eine Zäsur dar. Kurz darauf machten sich die westlichen Bündnismächte auf, Afghanistan – das als Hort des Terrorismus auserkoren wurde – mit Krieg und Besatzung zu überziehen. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2003 im Irak. Nur diesmal nicht vom Nato-Bündnisfall gedeckt, sondern von einer „Koalition der Willigen“ vollzogen und ohne direkte deutsche Beteiligung.

Dass die Bundesrepublik als Nato-Mitglied ihre Bündnispflichten erfüllen musste, war nicht der Grund für die Beteiligung am Krieg in Afghanistan. Es war vielmehr eine willkommene Gelegenheit, die Bühne der global player auch im Tarnfleckoutfit zu betreten, um die eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Deshalb schickte sich die Propagandamaschine an, die noch nicht vollends an Kriegseinsätze gewöhnte bundesdeutsche Öffentlichkeit darauf vorzubereiten, dass Krieg führen ein gängiges Mittel deutscher Außenpolitik ist. Und wie schon 1999 begann der Kriegseinsatz der Bundeswehr 2001 mit einer Lüge. Anders als damals wurden aber nicht Hufeisenpläne und konzentrationslagerähnliche Zustände erfunden, sondern von einem humanitären Einsatz zum Schutz der Frauen und zum Bohren von Brunnen schwadroniert. Zehn Jahre nach Kriegsbeginn wurde zu diesem Zweck sogar die bundesdeutsche Entwicklungshilfe militarisiert. Ehemals zivilen Entwicklungshilfeeinrichtungen wurden zur GIZ GmbH – der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit – fusioniert. Sie soll sicherstellen, dass bundesdeutsche Mittel nur dann vergeben werden, wenn damit eine Kooperationsvereinbarung mit der Bundeswehr im Einsatz einhergeht. Dies alles nur, um die eigentlichen Kriegsgründe zu verschleiern: Die Freude darüber, die erste größere Nebenrolle mit Aussicht auf weitere Engagements im Theater der kriegsführenden Nationen zu spielen.  Gleichzeitig auch Bereitschaft dafür zu zeigen, zur Sicherung der eigenen Interessen auch militärisch einzustehen.

Wer anderes behauptet, dem konnte diese Behauptung Kopf und Kragen kosten – mustergültig durchexerziert am am Beispiel des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. Dieser hatte sich im Mai 2010 in einem Interview mit dem Deutschlandradio erdreistet, eine Wahrheit gelassen auszusprechen. „[… E]in Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“ Kurz gesagt: Krieg führen, damit es der deutschen Wirtschaft gut geht. Für diese einfache Wahrheit schien die bundesdeutsche Öffentlichkeit noch nicht bereit, dafür die Suche nach einem neuen Bundespräsidenten.

Doch bereits im März 2010 hatte der ehemalige Gebirgsjäger und damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg davon gesprochen, dass Mensch bei dem, was die Bundeswehr in Afghanistan mache, durchaus „umgangsprachlich“ von Krieg reden könne. Und das nachdem sein Amtsvorgänger Franz Josef Jung zurückgetreten war. Grund für den Rücktritt war die Bombardierung zweier Tanklastzüge nahe Kunduz. Auf Befehl von Oberst Klein wurden bei diesem ersten Kriegsverbrechen seit dem 2. Weltkrieg 142 Zivilisten ermordet.

Vielleicht läuteten nach diesem Tabubruch von zu Guttenberg bei Köhler die Glocken. Vielleicht dachte er sich, wenn jetzt schon in der Bundeswehr-Einsatz ein Stückchen weiter ins rechte Licht gerückt werden kann, wieso dann nicht auch gleich den eigentlichen Grund klar und deutlich benennen. Wir werden es nie erfahren. Wessen wir uns aber sicher sein können, ist, dass bei ähnlichen Fauxpas weiterhin Politiker*innen-Köpfe unter das Schafott der öffentlichen Meinung gelegt werden würden. Das Gegenteil kann gerne bewiesen werden: Als Anlässe schlagen wir z. B. die Entsendung der Fregatte Bayern ins Südchinesische Meer oder die seit zwei Jahren stattfindenden Defender-Europe-Manöver vor.

Dass aber auch der Kriegsminister zu Guttenberg bald ins Straucheln kam und letztendlich gefallen ist, ist ein Treppenwitz der Geschichte. Das lag aber nicht an dem feinen Näschen des ehemaligen Elitesoldaten für kriegerische Angelegenheiten. Immerhin kam seine Äußerung nur wenige Tage vor dem sog. Karfreitagsgefecht 2010. Diese erste länger anhaltenden Kampfhandlung unter deutscher Beteiligung brachte der bundesdeutschen Öffentlichkeit bei, dass Bundeswehrsoldaten nicht nur in der Lage sind, andere zu töten, sondern auch, getötet zu werden. Zu Guttenberg ist darüber gestolpert, weil rauskam, dass er bei seiner Doktorarbeit beschissen hatte. Und ein Kriegsminister, der sich bei Lügen erwischen lässt, ist für den Job nicht zu gebrauchen. Es sei denn, er lügt im Sinne der politischen Propaganda

Aber lange Rede, kurzer Sinn: Aus bundesdeutscher Perspektive ging es in Afghanistan nie darum, Freiheit and democracy nach Afghanistan zu bringen. Spätestens nach der Halbzeit des Einsatzes war klar, dass sog. Entwicklungshilfe, Brunnenbohren und Schulen bauen und all die anderen Elemente dieser Aufstansbekämpungsstrategie in Afghanistan nicht fruchten würde. Deshalb wurde ab 2014 auch der ISAF-Einsatz beendet und von der Mission Resolute Support, die den Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte zum Ziel hatte, gestartet. Im April 2021 wurde bekannt, dass auch dieser Einsatz beendet wird und alle westlichen Truppen bis September abgezogen werden und das Land seinem Schicksal überlassen wird.

Dass durch den Abzug der Truppen kurz- bis mittelfristig die Taliban wieder an die Macht kommen würden, war allen klar. Denn niemand hat ernsthaft damit gerechnet, dass es gelungen wäre, eine Demokratie nach westlichem Vorbild in Afghanistan zu etablieren. Dies zeigen schon die verschiedensten Beispiele aus der Kolonialgeschichte, die bis heute auch die verschiedenen Geschichten von wirtschaftlicher Unsicherheit, kriegerischen Auseinandersetzungen, von Flucht und Vertreibung prägen. Ein Vorhaben wie in Afghanistan konnte nicht klappen. Und wir unterstellen den verantwortlichen Planer*innen, dass ihnen das auch sehr schnell bewusst gewesen sein muss. Deshalb offenbaren die Bilder der verzweifelten Menschen am Flughafen in Kabul, die in die Besatzer ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben gesetzt haben, die grausame Perfidie des Krieges aufs Neue. Es ging nie um die Interessen der Menschen in Afghanistan, sondern immer nur um die Interessen der verschiedenen Akteure im Theater dieses Krieges. Dass die Grausamkeit der westlichen Akteure nun tatsächlich soweit reicht, dass nur unter großem Murren und Bohei dazu bereit sind, Menschen, die während der Besatzungszeit mit ihnen kollaboriert haben, Asyl zu gewähren, ist dennoch erschreckend. Statt dessen droht die derzeitige Kriegsministerin Kramp-Karrenbauer offen damit, künftige Einsätze in Afghanistan, sollte es sie jemals geben, nur noch aufs Brunnenbauen zu beschränken. Gleichzeitig wird aus dem Entwicklungshilfeministerium versprochen ihre Unterstützungsleistungen einzustellen. Wer jetzt denkt, wieder an den Anfang des Textes gerutscht zu sein, irrt sich. Wie die Geschichte weiterginge, sollte es tatsächlich soweit kommen wie angedroht, dürfte sich aber dennoch dort nachlesen lassen.

Aus dem Schock der Bilder vom Kabuler Flughafen heraus, ist es nur allzu verständlich, die sofortige Evakuierung aller Menschen zu fordern. Es ist der Ausdruck eines mitmenschlichen Gefühls, nach Möglichkeit andere Menschen aus lebensgefährlichen Situationen zu helfen. Es ist ein Appell an die Vernunft, die das Menschenrecht auf Asyl einräumt. Es ist aber auch ein Ausdruck der Verzweiflung, Forderungen an diejenigen zu richten, die die Misere maßgeblich verursacht haben.

Einzelne Stimmen aus Afghanistan – die der RAWA (Revolutionäre Vereinigung der Frauen Afghanistans), der Solidaritätspartei und von Malalai Joya – haben immer gefordert, diese Besatzung sofort wieder zu beenden. Denn eine „Befreiung“ von Taliban und Warlords durch Krieg und Besatzung kann keine Befreiung sein, die ihren Namen verdient. Diese Einschätzung hat sich bewahrheitet. Gleichzeitig haben sie an uns gerichtet appelliert, den Krieg in Afghanistan dort zu beenden, wo er begann: vor unserer Haustür. Dieser Forderung sind wir bis dato nicht nachgekommen, sollten sie aber auch angesichts der Bilder aus Afghanistan nicht vergessen.

Die Grausamkeiten von Krieg, Flucht und Vertreibung lassen sich mittel- und langfristig nicht durch Evakuierungsmaßnahmen lösen. Schon gar nicht, wenn sich die Appelle an diejenigen richten, die die Lage verursacht haben. Einigen wenigen mag dadurch geholfen werden, das Problem als solches wird aber nicht gelöst. Die Kunst besteht darin, nicht so zynisch zu werden wie diejenigen, die für die Misere verantwortlich sind. Wir sollten aber aber auch nicht vergessen, dass es Dinge gibt, die wir tun können, die über kurzfristige Forderungskataloge hinausreichen.

Denn die Zeit wird kommen, in der Afghanistan nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Vielleicht ist es dann an der Zeit, die Evakuierung der Menschen aus Mali zu fordern. Oder aus Somalia. Oder aus dem Libanon. Oder von irgendwo sonst, wo die Bundeswehr prominent ihren Kriegseinsatz beendet.

Oder wir fassen uns ein Herz und packen das Übel an der Wurzel. Eine bessere Welt für Alle ist nur möglich ohne Bundeswehr. Sollte der verschobene Große Zapfenstreich zum Ende des Afghanistaneinsatzes noch nachgeholt werden, sind wir gefordert, dieses widerliche Militärspektakel nicht unkommentiert geschehen zu lassen. Aber auch darüber hinaus, sollten wir jede Angriffsfläche nutzen, die sich uns bietet, um der Bundeswehr ein für alle Mal den Gar aus zu machen. Vom Werbeplakat an an der Bahnhaltestelle über Niederlassungen von Kriegsgewinnlern wie Rüstungsunternehmen, Crossmedia und Castenow bis zu öffentlichen Bundeswehrauftritten in Jobcentern, Schulen und Gelöbnissen.

Beteiligt euch an den Antimilitaristischen Protesten:

23.09. 21| 18:00 Uhr  Kohlfurter Str.  41 | Kiez-Demo gegen „Crossmedia“
14.10. 21 | Ort: tba |  Antimilitaristische Demo gegen den großen Zapfenstreich der Bundeswehr

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Es ist ein Phänomen der kapitalistisch geprägten Medienwelt, dass der Scheinwerfer oft nur auf einen bestimmten Punkt und ein bestimmtes Thema gerichtet wird. Wenn irgendwo etwas Aufsehenerregendes geschieht, wird das Ereignis tage- und wochenlang durchgehechelt – allerdings meist ohne jedes Verständnis für historische Hintergründe, gesellschaftliche Prozesse und Ursachen. So geschieht es aktuell mit dem Thema Afghanistan. In der Aufregung um die verpatzten Evakuierungen gehen tiefer gehende Fragen verloren. Um die geht es im Interview mit Luca Heyer. Er ist Politikwissenschaftler und aktiv bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen

Nach 9/11 hat der Westen 20 Jahre unter US-amerikanischer Führung in Afghanistan vorgeblich den Terror bekämpft, was jetzt mit einem ebenso überraschenden wie schmählichen Finale seinen Abschluss fand. Wie fällt Deine Bilanz dieses Krieges aus?

Dieser Krieg zeigt, was auch bereits andere Kriege zuvor zeigten: Frieden lässt sich nicht durch Krieg erzwingen, Menschenrechte und Demokratie ebenso wenig. Keines der Ziele wurde nachhaltig erfüllt. Der Preis dieses Krieges ist jedoch enorm hoch: Mehr als 200.000 Menschen verloren ihr Leben. Eine noch viel höhere Zahl von Menschen ist auf der Flucht. Insgesamt ist die Bilanz erschütternd.

Die Debatte über die Fehler und Versäumnisse der Bundesregierung bei den Evakuierungen der sogenannten Ortskräfte haben verhindert, dass der Einsatz als Ganzes kritisch beleuchtet wurde. Siehst Du das auch so?

Ja. Die dramatischen Ereignisse im August gehen ja unmittelbar zurück auf politische Fehlentscheidungen, die zum Teil vor 20 Jahren, zum Teil während der letzten Monate getroffen wurden. Das betrifft zum einen die Entscheidung, überhaupt im Afghanistan-Krieg mitmischen zu wollen: Entgegen zahlreicher Warnungen und Proteste aus der Friedensbewegung gab man sich der Illusion hin, Menschenrechte und Demokratie könnten militärisch von außen quasi erzwungen werden. Im Laufe der Jahre trugen alle Parteien, die an der Regierung beteiligt waren, also SPD, Grüne, CDU/CSU und die FDP, diesen Einsatz mit – ein Fehler, wie man eigentlich spätestens jetzt einsehen müsste.

Andere Fehler, die zu der dramatischen Lage im August führten, lassen sich direkt der aktuellen Bundesregierung zuschreiben: Bereits vor einem halben Jahr gab es außerparlamentarische Appelle und parlamentarische Anträge der Linken und der Grünen, man müsse die afghanischen Ortskräfte schnell und unbürokratisch aufnehmen. Das wäre damals noch einfacher und ohne einen weiteren Militäreinsatz möglich gewesen. Seitens der Bundesregierung fehlte einfach der politische Wille. Stattdessen wurden sogar noch – wie im übrigen seit Jahren – Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Da wirkt der Militäreinsatz im August gleich doppelt heuchlerisch.

Wegen ihrer aktiven Rolle bei den Evakuierungen steht die Bundeswehr momentan in der bundesdeutschen Öffentlichkeit fast als Freund und Helfer dar, konnte das Ganze offensichtlich für die Aufbesserung ihres Images nutzen. Ist das nicht paradox?

Definitiv. Dabei wäre der Einsatz gar nicht nötig gewesen, wenn man rechtzeitig für sichere Fluchtwege gesorgt hätte. Außerdem ist die Bundeswehr keineswegs Freund und Helfer. Sie hat nicht nur eine Menge Menschen, die mit ihr in den letzten 20 Jahren zusammengearbeitet haben, fallen gelassen, sondern ja selbst auch Unschuldige getötet in diesem Krieg. Exemplarisch wäre da der Luftangriff bei Kunduz zu nennen: 2009 starben dort nach einem Bombenabwurf, den der Bundeswehroberst Klein zu verantworten hat, mehr als 100 Menschen, darunter auch Zivilisten und Kinder. Das scheint aktuell leider in Vergessenheit zu geraten.

In Presse, Funk und Fernsehen sowie den sozialen Medien waren eine Menge Bilder von Soldaten zu sehen, vor allem von der US Army, die Kinder auf dem Arm haben. Die Fotos wirken natürlich durch den Kontrast. Ist hier nicht offenbar die Gelegenheit genutzt worden, die am Afghanistan-Desaster beteiligten Truppen von jeder Schuld reinzuwaschen?

Ja, dieser Eindruck entsteht zumindest. Medial wurde das auch so transportiert. Durch diese Bilder wurde auch eine vermeintliche Handlungsfähigkeit in diesem sinnlosen Krieg suggeriert, die so aber nie bestand. Die Nato-Präsenz am Flughafen diente daneben letztlich der Priorisierung der Flüchtenden. Während ehemalige Ortskräfte von Spezialkräften in den Flughafen geschleust wurden, hielten gleichzeitig andere Nato-Kräfte mit Schusswaffen und Tränengas in Kooperation mit den Taliban andere Flüchtende vom Betreten des Flughafens ab, wobei auch Menschen umkamen. Eigentlich eine weniger rühmliche Geschichte…

Die Bild-Zeitung nannte die bei den Evakuierungen eingesetzten Bundeswehr-Soldaten in den vergangenen Tagen nur noch „Helden“. Auch eine Aktion der umstrittenen Spezialeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr in Kabul wurde bejubelt. War der Einsatz eine willkommene Gelegenheit für das KSK, die Vorwürfe der letzten Monate vergessen zu machen?

Ja, das war auch schon im Juni zu beobachten. Damals wurde das KSK zum ersten mal wieder in den Einsatz geschickt und zwar nach Afghanistan, während die Aufarbeitung des gewaltigen Munitionsdiebstahls und die Verstrickung in rechte Netzwerke am laufenden Band neue Skandale zutage förderten, beispielsweise die Möglichkeit gestohlene Munition anonym und straffrei zurückzugeben oder Unregelmäßigkeiten bei Auftragsvergaben. All das ist bis heute nicht vollumfänglich aufgeklärt – insbesondere der Verbleib von zehntausenden Schuss Munition oder die Rolle des Sicherheitsunternehmens Ferox. Dennoch entschied die Bundesregierung, das KSK wieder in Einsätze zu schicken, vermutlich auch in der Hoffnung, den Ruf der Einheit durch Aktionen wie im August reinzuwaschen.

Dient die ganze Debatte um die Evakuierungen und die Ortskräfte am Ende nicht auch dazu, die Ursachen des Scheiterns in Afghanistan zu verdecken? Also etwa, dass der Einsatz auf das Militärische verengt worden ist und Militärs nicht dazu befähigt sind, wirklich irgendetwas aufzubauen.

Demokratie und gesellschaftlicher Fortschritt können nicht mit Kriegen von außen aufgezwungen werden. Das muss die Lehre aus diesem sinnlosen Krieg sein. Der Einsatz war nicht zu sehr auf das Militärische verengt. Ich würde da weiter gehen: Es war ein Fehler, die Probleme in Afghanistan überhaupt militärisch lösen zu wollen.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und andere sehen den Einsatz nicht als gescheitert an und meinen, die Konsequenz müsse sein, die militärische Selbstständigkeit der EU zu stärken. Was meinst Du dazu?

Das ist gefährlicher Blödsinn, der früher oder später wieder zu einem ähnlichen Scheitern wie in Afghanistan führen wird. In Mali steuern wir zum Beispiel unter EU-Federführung – also ohne die USA – auf ein ähnliches militärisches Desaster zu. Die Ziele wurden bislang verfehlt, die Sicherheitslage verschlechtert sich zunehmend und die von EU-Militärs ausgebildete malische Armee hat seit 2020 zwei mal geputscht. Man sollte einfach einsehen, dass die militärischen, vermeintlich humanitären Auslandseinsätze, die seitens der EU und der Nato die letzten 25 Jahre verstärkt durchgeführt werden, an sich nicht für Stabilität, Demokratie und Menschenrechte sorgen – im Gegenteil. Sie verschlingen Unsummen und führen zu Flucht, Instabilität, wirtschaftlicher Armut und vielen Toten. Wir müssen diese Einsätze nicht ohne die USA durchführen oder um mehr zivile Komponenten ergänzen, sondern wir müssen solche Einsätze umgehend beenden.

# Titelbild: Artillerieeinsatz der US-Armee am 20. Dezember 2018, US-Department of Defense

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