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In Deutschland stehen Neuwahlen bevor. Erstmals seit 20 Jahren, seit dem Ende des zweiten Schröder-Kabinetts, hat es ein Kanzler oder eine Kanzlerin nicht über die Legislaturperiode geschafft. Die sich zuspitzenden Widersprüche im multipolaren Weltsystem und ein damit einhergehender Vertrauensverlust relevanter Kapitalfraktionen sowie großer Teile der Bevölkerung lässt Olaf Scholz und die regierenden Parteien vor einem Scherbenhaufen ihrer Regentschaft stehen. Aber nicht für die herrschende Klasse, sondern für die Mehrheit der Menschen in diesem Land haben die dreieinhalb Jahre Ampelkoalition verheerende Folgen gehabt: die Inflation frisst Gehälter und Renten auf, die Preise für Grundnahrungsmittel und Heizen sind stark gestiegen, der Wohnungsmarkt ist durch ausbleibenden sozialen Wohnungsbau leergefegt und die Schere zwischen Arm und Reich hat sich immer weiter geöffnet, während die Herrschenden massiv in „Zeitenwende“ und Aufrüstung investieren.

Außenpolitische Lage


Die Jahre der Ampelkoalition waren bestimmt von einer Zunahme der innerimperialistischen Konkurrenz. Die Auseinandersetzung der imperialistischen Staaten um Märkte und Rohstoffe hat in den letzten Jahren zu einer Rekordzahl an bewaffneten Konflikten und einer dem folgenden Vertreibung von Menschen geführt. Das wiederum produziert an den Rändern des Systems zunehmend Widerstand, auch auf der nationalstaatlichen Ebene, wie wir an dem Aufschwung der BRICS-Staaten sehen können.

Diese Auseinandersetzung in der multipolaren Weltordnung bewegt sich anhand der Trennlinie zwischen zwei Lösungsmodellen für die aktuelle Akkumulationskrise des kapitalistischen Systems: Zum einen sind da die Kapitalfraktionen, welche mit einer Neuauflage des Neoliberalismus einen Green New Deal anstreben, einen neuen status quo wenn man so will, einen „Grünen Kapitalismus“ und den neokonservativen und offen reaktionären Kapitalfraktionen, welche eine rückwärtsgewandte aggressive Verteidigung der bestehenden Machtverhältnisse propagieren, einhergehend mit einem Abbau von Errungenschaften in den Bereichen Arbeit und Produktion. Zu den Ersteren gehören unter anderem große Unternehmen aus der High-Tech-Branche die von der Entwicklung neuer, „grüner“ Technologie am meisten profitieren und einen ungehinderten Fluss an Fachkräften und Wissen weltweit benötigen. Zur zweiten Fraktion gehören traditionell Chemie-, Energie- und Rüstungskonzerne, wobei wir immer stärker auch eine anarchokapitalistische Strömung mit einem Hang zu nihilistischen und faschistischen Einstellungen in der Tech-Branche, vor allem der nordamerikanischen, beobachten können.

In der Auseinandersetzung zwischen beiden und den sie vertretenden Nationalstaaten als ideelle Gesamtkapitalisten zeichnen sich die neokonservativen und reaktionären Monopole immer mehr als (vorläufige) Sieger ab und zwar im globalen Maßstab. Steigende Investitionen in Rüstung und Atomkraft, mehr Kriege, mehr fossile Energie, Abbau von Arbeitsplätzen und Beschneidung demokratischer Rechte haben zugenommen. Wir sehen wie die verschiedenen Machtblöcke ohne Rücksicht auf Verluste für die jeweiligen nationalen und internationalen Kapitale nach Investitions- und Ausbeutungsmöglichkeiten suchen, sei es in Form von Märkten, Rohstoffen oder Handelsrouten. Die Effekte auf Mensch und Umwelt sind zweitrangig, wie wir in der Ukraine, in Syrien oder in Gaza sehen können.

Deutschland als Teil des euro-atlantischen Machtblocks hat sich nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine mehr denn je an die USA als Hegemon des kapitalistischen Weltsystems gebunden: Flüssiggas aus Nordamerika, bedingungslose Treue zur NATO und weiteren internationalen Organisationen zur Kontrolle und Durchsetzung von Herrschaft über den globalen Süden oder den Ausbau der eigene Rolle in der imperialistischen Staatenkette mit US-amerikanischen Militärbasen und der Stationierung weitreichender US-Waffen in Deutschland. Außerdem soll die deutsche Vormacht in Europa ausgebaut werden, insbesondere im militärischen Bereich. Führende deutsche Politiker:innen aus der Ampel und der Opposition fordern, dass Deutschland wieder Weltmacht werden und dafür eben auch „wehrhaft“ und „wehrfähig“ werden muss. Die staatlichen Investitionen in Rüstungskonzerne und die Wiedereinführung der (noch) freiwilligen Wehrpflicht sprechen eine deutliche Sprache.

Die Konfrontation mit den BRICS-Staaten, insbesondere mit China, wird dabei unabsehbare Folgen für die deutsche Wirtschaft und Bevölkerung haben. Die Sanktionen gegen Russland und die damit einhergehenden Teuerungen sind deutlich begrenzter als bei einem ähnlichen Konflikt mit China, insbesondere was den Export von Produkten aus den hochtechnologisierten Sektoren oder den Import von Rohstoffen und Fertigprodukten aus der Volksrepublik angeht. Nicht umsonst haben nationale Konzerne wie VW oder Bosch begonnen vor einer drohenden Eskalation im Handelskrieg mit China ihre nationalen Konzernsparten vom Mutterkonzern abzuspalten um Gegenmaßnahmen der chinesischen Regierung zuvorzukommen. Die Politik der Ampelkoalition in dieser Hinsicht bewegt sich zwischen aggressiver Zurschaustellung militärischer und wirtschaftlicher Macht und dem Versuch diejenigen nationalen Kapitale, für die China der wichtigste Markt ist, wie beispielsweise die Automobilindustrie, so lange wie möglich vor negativen Folgen einer westlichen Sanktionspolitik zu schützen.

Die deutsche Regierung verweigert es in alter Kolonialherrenmanier die Realität einer multipolaren Welt anzuerkennen, sie setzt stattdessen einerseits im Außen auf die alten Instrumente der hard und soft power im Verbund mit dem euro-antlantischen Block um ihre Interessen im globalen Süden durchzusetzen und sich Fachkräfte und Ressourcen zu sichern, im Inneren andererseits auf eine Militarisierung der Gesellschaft und ein Schüren von Rassismus und Sexismus um die eigene Machtbasis zu erhalten.

Innenpolitische Lage


Die verheerenden Folgen dieser Kanonenbootpolitik für die unterdrückte Klasse wurden oben schon kurz angerissen: Verarmung, Unsicherheit, Spaltung durch das Eindringen und die Mobilisierung reaktionärer Denkmuster, Entpolitisierung und Militarisierung.

Die Sanktionen nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine, die damit verbundene Inflation samt Preissteigerungen im Winter 2022, die Coronafolgen, welche zu dem Zeitpunkt noch nicht ausgestanden waren, die fortschreitende Deindustrialisierung in energieintensiven Branchen samt einer Vernichtung von Arbeitsplätzen durch das (inter-)nationale Kapital wie sie seit den 1970er Jahren fast beispiellos ist und einer rigoros durchgesetzten Militarisierung der Gesellschaft samt Ausgaben für Rüstung die weit über 200 Milliarden Euro liegen, haben innenpolitisch zu einem Erstarken rechter und faschistischer Einstellungen in der Gesellschaft geführt. Um ihren Sozialkahlschlag zu kaschieren hat die vermeintlich progressive Koalition dabei oft genug auf Ressentiments in der Bevölkerung zurückgegriffen, um von eigenen Fehlern abzulenken: Kürzungen für Bürgergeldempfänger:innen, Bezahlkarte für Geflüchtete, „Abschiebeoffensive krimineller Ausländer“ und nicht zuletzt der Mythos vom importierten Antisemitismus der Geflüchteten. Die Herrschenden produzieren einfache Wahrheiten, die sie zum Konsum anbieten um über eine konstruierte nationale Schicksalsgemeinschaft Sicherheit zu versprechen und die Bevölkerung von Verarmung und sinkender Lebensqualität abzulenken. Die Amtszeit einer sozialdemokratischen Innenministerin war beispielsweise von Verschärfungen des Asylrechts wie sie sich Horst Seehofer damals gewünscht hätte samt einer Ausweitung der Repression gegen Geflüchtete, der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an allen Grenzen oder einer Ausweitung der Befugnisse aller sogenannter Sicherheitsbehörden von Verfassungsschutz bis BKA geprägt. Ein sozialdemokratischer Kanzler ließ sich Stolz auf den Titelblättern deutscher Leitmedien mit markigen Sprüchen zu „Abschiebungen im großen Stil“ zitieren und eine selbsternannte feministische Außenministerin zählt Länder wie Israel und die Türkei zu den engsten Verbündeten, Länder die sich durch anhaltende Femizide und Genozide auszeichnen.

Die reaktionäre Dynamik erfasst dabei alle Teile der Gesellschaft und dringt tief in die Arbeiter:innenklasse ein, was nicht zuletzt die starken Zustimmungswerte zur AfD zeigen. Eine Regierung, die maßgeblich mit dem Versprechen nach einer Liberalisierung der Gesellschaft im Sinne eines Green New Deal angetreten ist und dafür gewählt wurde, hat sich unter dem Eindruck der realen Entwicklungen im kapitalistischen Weltsystem radikal zu einer Koalition des Machterhalts entwickelt. Erfolglos wurden immer mehr Positionen von den Rechten übernommen in der Hoffnung die eigene Macht und Karriere im parlamentarischen System zu retten. Dabei wurde der Nährboden gedüngt auf dem seit jeher faschistische Elemente wachsen: Angst, Armut, Entpolitisierung und Brutalisierung der Gesellschaft. Die Spaltung der Arbeiter:innenklasse und die Atomisierung der Gesellschaft wurden soweit vorangetrieben, dass Reflexe gegen eine reaktionäre Staatspolitik beinahe zum Erliegen gekommen sind. Einzig die Mobilisierungen gegen die deutsche Beteiligung am Völkermord in Gaza und die Aktionen gegen den Wahnsinn des fossilen Kapitalismus brechen zumindest Teilweise mit der Passivität und dem Rückzug weiter Teile der Gesellschaft ins Private.

Das Ende der Koalition war deshalb auch kein Wunder, es sollte allerdings klar sein, dass davon vor allem die Rechten profitieren werden. Was können wir also vor diesem Hintergrund von den bevorstehenden Neuwahlen erwarten?

Zur Einordnung wollen wir deshalb im Folgenden schlaglichtartig auf die großen relevanten Parteien und ihr Spitzenpersonal schauen.

Die Linke – endgültiger Absturz?


Der für eine linke Bewegung in Deutschland wohl nach wie vor relevantesten Partei, sei es wegen Geldern, Bündnispolitik oder ihrer parlamentarischen Arbeit, Die Linke, droht mit der kommenden Wahl das endgültige Scheitern ihrer Politik in der jetzigen Form. Schon nach der letzten Wahl stark geschwächt durch einen Verlust an Relevanz in der Arbeiter:innenklasse und einem für eine tatsächliche linke Partei unwürdigen Geschacher um Posten in einem rot-rot-grünen Kabinett, welches dann nie zustande kam, haben die zahlreichen Irrflüge im Zuge des Ukraine-Krieges, des Krieges in Gaza und interne Querelen mit dem anschließenden Austritt des Wagenknecht-Flügels zu einer Erosion der Wähler:innenbasis und einer faktischen Dominanz des rechten Parteiflügels um die einflussreichen Landesverbände aus Berlin und Bremen gesorgt. Die innerlinke Opposition ist zwar existent, konnte sich aber auf dem jüngsten Parteitag in Halle (Saale) weder mit eigenen Anträgen durchsetzen noch das neue Bild der Partei entscheidend prägen.

Die Linke präsentiert sich ohnmächtig und angesichts der geopolitischen Entwicklungen unfähig eine Orientierung für die Arbeiter:innenklasse zu sein, sondern trägt die Politik der Bundesregierung im Großen und Ganzen mit. Die Einflusssphäre der Partei ist auf ein akademisches, urbanes Milieu geschrumpft und statt einen Kampf um die Lebensbedingungen im Kontext der globalen Entwicklungen aufzunehmen, also echte Opposition zu sein, zeigt sich einmal mehr die Unfähigkeit des jetzigen Personals sich von Posten und Gehältern zum Wohle der Mehrheit loszusagen.

Das Einschwenken der neuen Parteivorsitzenden Jan van Aaken und Ines Schwerdtner auf eine oppositionelle Linie im Stile der KPÖ, samt symbolischem Verzicht auf fette Gehälter aus Berlin, bedeutet nichts anderes als die Rückkehr zu einer sozialdemokratischen Politik im eigentlichen Sinne: höhere Steuern, mehr staatliche Eingriffe, mehr Sozialausgaben.

Es bleibt abzuwarten, ob es der Partei so gelingt die am meisten unterdrückten Teile der Arbeiter:innenklasse zu erreichen und sich als echte Alternative zu verkaufen. Die Regierungserfahrungen aus Berlin oder Thüringen können dabei nur ein Klotz am Bein sein. Es scheint auf einen klassischen Wahlkampf herauszulaufen, der die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse nicht erreichen, sprich politisches Bewusstsein schaffen kann und der infolgedessen dem Sog des rechten Kulturkampfes nur hilflose Parolen entgegenhalten wird.

BSW – echte Opposition oder Stütze des Systems?


Das Bündnis Sara Wagenknecht (BSW) hat geschafft, was seit der AfD keiner Partei mehr gelungen ist: sich gegen die etablierten Parteien durchzusetzen und relevante Teile der Bevölkerung anzusprechen. Die Partei greift dabei vor allem das Unbehagen in der Bevölkerung über die Kriegspolitik der Bundesregierung und die Bündnistreue der BRD der NATO, allen voran den USA und Israel, gegenüber auf und verwandelt dies vor allem in den östlichen Bundesländern in zweistellige Prozentsätze in fast allen Umfragen. Der Rest des Parteiprogramms ist vor allem was die Wirtschafts- und Sozialpolitik angeht vergleichsweise progressiv, allerdings schlagen in puncto Innen- und Migrationspolitik deutlich der rechte Zeitgeist und die Positionen von Sara Wagenknecht durch. Die Eintritte in verschiedene Länderregierungen wie in Brandenburg oder Thüringen lassen erhebliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit der oppositionellen Rolle des BSW aufkommen. Sara Wagenknecht ist Selbstdarstellerin und Machtmensch, deutet immer wieder einen rechten Standortnationalismus an, der sich an der kapitalistischen Logik der Verwertung orientiert und mitnichten mit den Grundlagen des Systems brechen will. Stattdessen scheint sich das BSW eher an den Erfahrungen der sozialistischen Parteien der osteuropäischen Staaten zu orientieren, die für einen Ausgleich der Interessen von Russland und der NATO zum Wohle der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung eintreten und Sozialprogramme über höhere Steuern finanzieren, die ansonsten aber die Bevölkerung auf einen wertkonservativen Lebensstil festlegen. Hierdurch wird das BSW weniger zum Ziel von Angriffen im Kulturkampf mit den Rechten, allerdings um den Preis, einige Positionen in Bezug auf Sicherheits- und Migrationspolitik zu übernehmen.

Die Bundestagswahl wird ein Gradmesser sein, inwieweit sich das BSW in der bundesdeutschen Parteienlandschaft etablieren kann und wie ernst es dem Führungspersonal um Sara Wagenknecht mit einer wirklichen Opposition zu den Missständen in der BRD ist.

FDP – Reserve des Kapitals


Egal wie verschwindend die Zustimmungswerte der FDP sind, die Freidemokraten und ihre Klientel sind dennoch auf Kurs. Sei es in der Ampel-Regierung oder in der Opposition, als Scharfmacher:innen was die Militarisierung der Gesellschaft angeht oder bei der Hetze gegen Migrant:innen und Bürgergerldempfänger:innen steht die FDP den rechten Parteien in nichts nach. Der alte bürgerrechtliche Flügel hat längst ausgedient, es geht gegen die Schwächsten in der Gesellschaft, eine Umverteilungspolitik der schwarzen Null von unten nach oben und die Förderung der Reichen und Superreichen stehen auf dem Programm. Dafür wird die FDP weiterhin aus dieser Klasse finanziell unterstützt, egal wie gering ihre Wahlanteile sind.

Mit der Veröffentlichung der internen Papiere vor dem Bruch der Ampelkoalition, Stichwort „D-Day“, wurde offen gelegt wie berechnend und taktisch die FDP mit politischen Richtungsentscheidungen, die breite Teile der Gesellschaft betreffen, umgeht. Das dürfte bei anderen Parteien nicht anders sein, dumm nur, dass es bei der FDP durchgestochen wurde. Ein paar Köpfe hat das ganze gekostet, Parteichef Christian Lindner als Advokat des Kapitals sitzt jedoch weiter fest im Sattel, 10% der Stimmen sollen es bei den Neuwahlen sein.

Die FDP bleibt Stichwortgeberin einer rigorosen Sparpolitik, Verbündete des transnationalen Kapitals und erklärte Gegnerin von Arbeiter:innenrechten. Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse der nächsten Wahl beinahe unerheblich, die Eigenschaften der FDP werden sich nicht ändern, sie bleibt eine bei Bedarf aktivierbare Reserve des Kapitals, Mehrheitsbeschafferin für alle Schweinereien zugunsten der Reichen, ob in einer CDU-geführten Regierung oder wie zuletzt in der Ampel.

CDU – auf dem Weg zu alter Stärke


2021 noch krachend am internen Kandidatenquiz und dem lahmen Wahlkampf eines Armin Laschet gescheitert ist die CDU heute wieder stärkste Kraft in allen Umfragen. Der Vorsitzende Friedrich Merz hat in den letzten Jahren hart daran gearbeitet die CDU nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Im Vergleich zu den eher moderaten Jahren unter Angela Merkel hat sich die CDU wieder ihren Kernthemen zugewandt: innere Sicherheit, außenpolitischer Expansionskurs, kapitalnahe Wirtschaftspolitik und rechte Agitation im Kulturkampf gegen den „grünen Mainstream“.

Mit Generalsekretär Carsten Linnemann hat Merz einen engen Vertrauten in eine mächtige Position innerhalb der Partei gebracht, der sich vor allem in der Auseinandersetzung mit Russland und beim Umgang mit Geflüchteten als Scharfmacher präsentiert. Mit dem Grundsatzpapier zur deutschen Leitkultur kehrt die CDU zu ihren Wurzeln zurück und unterstreicht ihre chauvinistische Politik in allen Bereichen. Frauen und Queers sollen sich in patriarchale Rollenbilder fügen, verschärfte Polizei- und Migrationsgesetze für Ruhe an der Heimatfront sorgen. Nebenbei wird die Wiedereinführung der Wehrpflicht gefordert, die Erhöhung der Personalstärke der Bundeswehr auf bis zu 460.000 Soldat:innen gefeiert und Geschenke ans einheimische Kapital verteilt.

Die CDU macht sich selbstbewusst auf nach knapp vier Jahren Opposition wieder als stärkste Kraft eine Regierung zu führen, am liebsten mit der FDP als Juniorpartner. Der Ex-Banker Friedrich Merz an der Spitze vereint die Eigenschaften die das Klientel der CDU schätzt: männlich, wirtschaftsnah und chauvinistisch.

Die Stärke der CDU resultiert dabei nur zu einem Teil aus der Schwäche der gesellschaftlichen Linken. Die Bundes-CDU wie die Landesverbände haben es geschickt geschafft die Themen der AfD zu übernehmen und sie authentisch zu verkörpern, dabei haben die Jahre in der Opposition wie eine Verjüngungskur gewirkt. Man könnte meinen die Altlasten der Merkel-Ära wären längst Geschichte so selbstbewusst tritt das Spitzenpersonal in der Öffentlichkeit auf. Es ist eine erfolgreiche Strategie einerseits mit den Themen und Schlagworten der AfD gesellschaftliche Ressentiments und Ängste zu stimulieren und sich andererseits als die seriöse weil christlich-bürgerliche Kraft zu inszenieren die Deutschland vor den Extremisten von Rechts und Links bewahren kann. Das wird in der Zukunft zu einer noch stärkeren Annährung an die AfD führen. Sollte die CDU die nächsten vier Jahre regieren wollen ist sie darauf angewiesen die Forderungen der oppositionellen AfD aufzunehmen sollen die Wähler:innen nicht auf die Idee kommen bei den nächsten Wahlen doch für das Original zu stimmen. Längst gibt es in der Kommunalpolitik eine Zusammenarbeit mit der AfD. Mit dem Mantra von der demokratischen Legitimation durch die Wähler:innen hält sich die CDU eine Zusammenarbeit auf Landes- und Bundesebene in Zukunft offen, einzelne Vorstöße in diese Richtung genießen allerdings (noch) nicht die Unterstützung breiterer Teile des Parteiapparats.

Das Kapital wird in den nächsten Wahlen voll auf die CDU setzen, die Linie des Green New Deal um die grüne Partei ist zu sehr in Verruf geraten als dass sie nochmal zum Zugpferd werden könnte.

Es ist unzweifelhaft, dass es eine Transformation der Schlüsselindustrien bedarf, das wird allerdings vor allem durch eine Liberalisierung von Arbeiter:innenrechten, Entlassungen und Subventionen geschehen. Die Automobilindustrie und andere energieintensive Branchen erwarten die Deckung ihrer Transformationskosten durch den Staat, eine nachhaltigere Wirtschaftsform ist nicht in Sicht. Deshalb werden u.a. Atomenergie und Rüstungsindustrie als nachhaltig und „grün“ umettiketiert um dementsprechend Förderungen mit EU-Geldern zu kassieren.

Die Grünen – neues Image, neuer Erfolg?


Der Lack ist ab bei den Grünen. Die Partei musste in den Jahren in der Ampelkoalition einsehen, dass ihre Linie des Green New Deal von den realpolitischen Entwicklungen überholt wurde und auch die zweite Regierungsbeteiligung nach der Zeit in den Kabinetten Schröder endet mit einer Bruchlandung. Der Übergang in Regierungsverantwortung hat den Realo-Flügel an sein Ziel gebracht, welches er seit den 90ern verfolgt hatte. Die Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit waren der Schlüssel zum Erfolg, wurden sie doch in den Jahren vor 2021 breit gesellschaftlich diskutiert und fanden in der grünen Partei eine (scheinbar) authentische Entsprechung. Mit Eintritt in die Machtsphäre wurde deutlich, dass das grüne Spitzenpersonal wieder einmal sehr opportunistisch mit dem Wähler:innenwillen umgeht: Klimaziele werden Aufrüstung geopfert, Bauchschmerzen ersetzen Opposition bei Waffenlieferungen und eine bedingungslose Unterstützung der NATO ersetzt Friedenspolitik. Das Spitzenpersonal um Robert Habeck und Annalena Baerbock versucht deutlich den Malus des rechten Kulturkampfes als die Verbots- und Umerziehungspartei loszuwerden. Sie sehen sich konsequent an der Seite des Militärs und der Großkonzerne. Nicht umsonst bieten sie sich der CDU, wie in Person der Parteivorsitzenden Franziska Brantner, als Juniorpartnerin an.

Vergessen sind längst auch die Forderungen und Versprechen aus verschiedenen Wahlkämpfen zu Asyl- und Menschenrechten. Annalena Baerbock ließ sich vor einiger Zeit mit der Forderung nach der Entwaffnung der Selbstverteidigungseinheiten in Nord- und Ostsyrien zitieren, ungeachtet der Massaker der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten.

Die Grüne Partei hat sich endgültig auf Machtpolitik und Mehrheitsbeschaffung festgelegt und auch die naivsten Wähler:innen müssen einsehen, dass die Partei längst für eine Politik der Abschottung und Aufrüstung steht. Abgesehen von Parolen und Schlagworten wie „Humanismus“ und „Solidarität“ haben die Grünen dem Aufstieg der extremen Rechten nichts entgegen zu setzen.

Die Übernahme rechter Positionen hat zumindest in einigen Jugendverbänden zu starken Absatzbewegungen um bekannte Gesichter wie Sarah-Lee Hinrichs geführt. Es bleibt abzuwarten was aus einem zu gründenden linken Jugendverband letztendlich wird.

Die Ernennung von Robert Habeck zum Spitzenkandidaten ist der endgültige Triumph des Realo-Flügels der für Westintegration und Krieg steht und ein Signal nach außen, dass die Partei sich von allen progressiven Ideen verabschiedet hat.

SPD Blick nach Rechts


Wie nicht anders zu erwarten war haben die erfolglosen Jahre der Ampelkoalition auch der Kanzlerpartei SPD mehr geschadet als genützt, wird sie doch neben den Grünen als „linke“ Partei für die Missstände in Deutschland verantwortlich gemacht. Was an der SPD links sein soll bleibt wie immer ein Geheimnis der Rechten, ist Scholz‘ Kanzlerschaft doch geprägt von Sozialabbau und Militarisierung. In seine Amtszeit fällt das Sondervermögen der Zeitenwende samt Wiedereinführung der (noch freiwilligen) Wehrpflicht, eine Sozialpolitik der schwarzen Null samt Kürzungen in allen relevanten Bereichen, eine Rekordinflation durch transatlantische Bündnistreue und Abschiebungen in „großem Stil“.

Ungeachtet dessen hat Olaf Scholz im aktuellen Wahlkampf seine soziale Ader wiederentdeckt und wirbt in alter sozialdemokratischer Manier mit Bekenntnissen zu höherem Mindestlohn, mehr sozialem Wohnungsbau, Frieden und einer Reform der Schuldenbremse. Das alles soll die SPD wieder nach vorne bringen und sie von der Union als dem großen Rivalen unterscheiden. Die rechten Töne in der Innen- und Migrationspolitik behält die Partei selbstverständlich bei, sind sie doch die bestimmenden Themen in der aktuellen Situation.

Die Auseinandersetzung im Vorfeld der Nominierung des Kanzlerkandidaten innerhalb der Partei verweist auf die Dissonanzen im Apparat und es bleibt abzuwarten ob sich einige Wähler:innen nach der Niederlage des beliebten Boris Pistorius‘ nun doch der CDU zuwenden.

Die SPD orientiert auf eine Koalition mit Olaf Scholz als dem starken Mann was angesichts von Umfragewerten um die 16% mitunter illusorisch anmutet. Eine Neuauflage der Großen Koalition mit der SPD als Juniorpartner erscheint angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse wahrscheinlicher und dürfte der SPD am Ende wieder so schlecht tun wie beim letzten Mal, da die Rechtsentwicklung in den letzten Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen und die SPD dem nichts entgegenzusetzen hat.

AfD – bald am Ziel?


Ein Blick nach Österreich ist vielleicht auch für die BRD lohnenswert. Dort ist die FPÖ am Ziel und stellt erstmals den Kanzler. Dass auch die AfD darauf seit Jahren (erfolgreich) hinarbeitet ist offensichtlich. Unter dem Mantel demokratischer Legitimation durch Wahlen bereitet sich die AfD auf die Machtübertragung auf Bundesebene vor. Das dafür ein paar zu vulgär auftretende Faschisten öffentlich fallengelassen werden müssen oder sich ein „neuer“ Jugendverband konstituiert ist Kosmetik. Die AfD als zumindest in Teilen faschistische verkörpert nicht trotz sondern grade deswegen authentisch die Stimmungen in den reaktionärsten Teilen der Gesellschaft und vertritt konsequent die Interessen relevanter Kapitalfraktionen. Dass es bisher nicht zu Bündnissen auf Länder- oder Bundesebene kommt liegt zum einen daran, dass die regierenden Parteien bereitwillig weite Teile des Programms der AfD selbst umsetzt und zum einen, dass nach wie vor große Teile des Kapitals den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen der Partei mit Blick auf das eigene Akkumulationsregime skeptisch gegenüber treten.

Das Spitzenpersonal um Parteichefin Alice Weidel setzt weiterhin auf die Vorreiterrolle der AfD im Kulturkampf um die eigene Wirksamkeit zu zeigen. In der Wählergruppe unter 35 Jahren war die AfD bei den Europawahlen stärkste Kraft. Nebenbei wird das Netz an Thinktanks und Verbündeten national und international ausgebaut, wie verschiedene Treffen wie in Potsdam oder die neue Fraktion im EU-Parlament zeigen. Es bleibt abzuwarten, ob es die AfD wie in Teilen Ostdeutschlands, schaffen wird eine faschistische Bewegung auf die Straße zu bringen, die der Partei langfristig als eine eigene Machtbasis und Rekrutierungsbecken außerhalb des Staatsapparats dienen kann. Die Unterstützung von popkulturellen Faschisten wie Elon Musk wird dabei sicherlich hilfreich sein.

Die kontinuierliche Arbeit der Partei auf allen Ebenen hat 2024 zur Übernahme einiger Rathäuser auf Kommunalebene geführt und wird damit nicht zu Ende sein. Ziel ist die Beteiligung an Landes- und Bundesregierungen, auch wenn das 2025 noch nicht der Fall sein sollte.

Inhaltlich vertritt die AfD die aggressivste chauvinistische Politik welche die Errungenschaften der Arbeiter:innenklasse der letzten Jahrzehnte rückgängig machen und die Gesellschaft in bisher unbekannter Weise für die Ausbeutung durch das Kapital öffnen wird. Die AfD treibt die Brutalisierung der Gesellschaft auf die Spitze und ist eine Gefahr für alle Menschen die nicht in das reaktionäre Weltbild der Partei passen. Ein Kampf gegen die AfD schließt zwangsläufig einen Kampf gegen die ausbeuterischen und menschenfeindlichen Verhältnisse des Kapitalismus mit ein.

Fazit


Angesichts der Hegemonie rechter Positionen und Strukturen und der Krise des kapitalistischen Welt-Systems stellt sich mehr denn je die Frage „Wie weiter?“. Wie weiter mit der rechten Formierung der Gesellschaft, mit dem Abbau sozialer Errungenschaften, der Abschaffung des Asylrechts, der Kriegstreiberei und der Repression?

Wie schaffen wir es als revolutionäre Linke der Unzufriedenheit der Arbeiter:innenklasse einen Ausdruck zu verleihen? Wir denken dass dazu eine gemeinsame Diskussion über den jetzigen Wahlkampf hinaus, egal welche Koalition am Ende zustande kommt, notwendig ist.

Nichts liegt uns ferner als eine Wahlempfehlung in der aktuellen Situation abzugeben. Es sollte klar sein, dass die nächste Koalition die reaktionärste sein wird, die es in Deutschland seit Jahren gegeben hat. Auf die Schwierigkeiten, die das für die Arbeiterinnen:klasse und eine radikale Linke mit sich bringt gilt es sich entsprechend vorzubereiten. Die Probleme unsere Zeit kann derweil nur eine starke weil organisierte und entschlossene weil proletarische revolutionäre Bewegung lösen. Auf die Errungenschaft des Wahlrechts zu verzichten erscheint trotz dessen kurzsichtig, gilt es doch das Parlament so gut es geht wenn schon nicht als Bühne des Klassenkampfs so doch als Geld- und Informationsquelle zu nutzen.

Mit Blick auf die Wahl fragen wir uns wie umgehen mit der Partei Die Linke in Zukunft, gerade wenn sie absehbar nicht mehr im Bundestag vertreten sein wird? Hat sie für unsere Bewegung aktuell noch einen Nutzen? Wie kann eine Zusammenarbeit aussehen?

Diese und noch weitere Fragen wollen und müssen wir gemeinsam diskutieren.

Fotos:

Pääministeri Petteri Orpo ja Saksan liittokansleri Olaf Scholz tapasivat Berliinissä perjantaina 14. heinäkuuta,Bernhard Ludewig, CC-BY SA 3.0, via flickr

Christian Lindner im Wahlkampf 2021, Michael Lucan, CC-BY_SA 3.0 de, via Wikimedia

Friedrich Merz (2024) ID-1808, Michael Lucan,Michael Lucan, CC-BY_SA 3.0 de, via Wikimedia

2024-05-29 Event, Konferenz, re-publica STP 5625 by Stepro,CC BY-SA 4.0, Steffen Prößdorf, via Wikimedia

2020-10-28 Trauerfeier Thomas Oppermann, Olaf Kosinsky, CC BY-SA 3.0.-de, via Wikimedia

Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine in Weimar – 51402380297, Martin Heinlein, CC Attribution 2.0 Generic, via Wikimedia

Hallescher Parteitag – Die Vorsitzenden 03, Ferran Cornellà, CC Attribution-Share Alike 4.0 International, via Wikimedia

Bellini-Vitra-chairs in German-Bundestag, Times, CC Attribution-Share Alike 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic and 1.0 Generic, via Wikimedia

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Interview mit Peter Egger, Mitglied des Bund der Kommunist:innen, über Folklore am Arbeiter*innenkampftag, den DGB auf der Revolutionären-1.-Mai-Demo und die Notwendigkeit, die Systemfrage zu stellen. Das Gespräch führte Casia Strachna

Der Bund der Kommunist*innen gehört als Teil des Bündnisses „Nicht auf unserem Rücken“ zu den Organisator*innen der Revolutionären 1. Mai Demo in Berlin. Ist das nicht mittlerweile eher überholte linke Folklore?

So leichtfertig sollte man die Bedeutung der Demonstration nicht abtun: Sie gehört immer noch zu den größten regelmäßig stattfindenden Demonstrationen in Deutschland. Sie ist zehnmal größer als die Demo des DGB, die vormittags stattfindet und hinter der ein ganzer Gewerkschaftsapparat steht. Und sonst wird man dem Tag, dessen Tradition eine wichtige, nicht nur symbolische Bedeutung für die Arbeiter:innenklasse hat, auch nicht gerecht. Es geht um die Rechte der Arbeiter:innen und Ausgebeuteten. Es geht darum, sich zu wehren, grade in Zeiten von Wirtschaftskrise und nationalistischem Kriegstaumel. Wie kann das überholt sein? Natürlich bleibt es wichtig, genau diese Demonstration weiter zu führen.

Aber ähnelt es mittlerweile nicht eher einem Schaulaufen für Touris und die Leute kommen eigentlich nur noch, weil sie alten Kreuzberger Glamour erwarten? Konkret frage ich mich: Ist es die Arbeiter:innenklasse, die am Arbeiter:innenkampftag um 18 Uhr mit der Revolutionären-1.-Mai-Demo durch Neukölln und Kreuzberg ziehen wird?

Auch, na klar. Vermutlich nehmen an der revolutionären Demo mehr Arbeiter:innen teil, als an den meisten anderen Demonstrationen. Klar sind die Leute durchschnittlich eher jünger als bei der DGB-Demo, viele gehen halt noch zur Schule oder studieren. Dennoch sind sie Teil der Klasse und werden spätestens nach ihrer Ausbildung ebenso in den kapitalistischen Verwertungsfleischwolf geworfen wie die von uns, die arbeiten. Und natürlich kommen sie auch, weil wir eben die Klassenwidersprüche aufzeigen und Lösungen dafür anbieten.

Und wie sind die Lösungen?

Brot, Frieden und Sozialismus: Die Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen dürfen nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht diejenigen, die eh schon wenig haben, nun auch noch am meisten unter der Inflation leiden. Konkret muss es also um höhere Löhne gehen, vor allem um bessere Tarifabschlüsse. Wir haben jetzt einen Verlust unserer Kaufkraft und brauchen auch jetzt mehr Geld, nicht erst in einem Jahr höhere Löhne. Es geht um Frieden in der Ukraine – aber auch im Jemen, Libyen, Afghanistan und überall. Das massenhafte Abschlachten der Armen für die Profitinteressen der Reichen muss ein Ende finden. Sofort.
Wir müssen über Aufrüstung reden, wofür Geld im Überfluss vorhanden ist und das gegenüberstellen zu allem, wofür angeblich kein Geld da ist, wie Schulen, Kitas, bezahlbarer Wohnraum, faire Löhne, die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen.

Aber bekommt man das nicht besser hin im Schulterschluss mit den anderen Teilen der Arbeiter*innenklasse, konkret also dem DGB?

Der DGB kann natürlich gerne bei uns mitlaufen, wenn er sich hinter die Forderungen eines Revolutionären 1. Mai stellt. Wir werden ja auch vormittags auf der DGB-Demo mitgehen. Ob da jetzt alle 20.000 kommen werden, die abends zu uns kommen? Wahrscheinlich eher nicht, aber der organisierte Teil ist da.

Wie ist denn die Perspektive über den 1. Mai, über den hohen Feiertag hinaus? Wie geht es am 2. Mai weiter?

Unser Fokus liegt auf der Arbeit in und um unsere Kiezläden, der Roten Lilly in Neukölln, der Kommune65 im Wedding und dem Café Wostok in Lichtenberg, also konkret in der Stadtteilarbeit unserer Stadtteilkomitees. Da haben wir einen Einfluss auf den Kiez und bauen eine Linke von unten auf. Nachdem traditionelle Gruppen wie FelS, Avanti und ALB in der Interventionistischen Linken aufgegangen sind, haben deren Vertreter*innen leider faktisch überhaupt keine Vernetzung mehr in der Klasse, die meisten anderen postautonomen Gruppen sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Uns geht es um revolutionäre Stadtteilarbeit. Wir organisieren unsere Nachbarschaft. Bei uns gibt es Sozialberatung, Hilfe bei Problemen mit dem Vermieter, Sprachschulen, Veranstaltungen, Lebensmittelausgaben, Kiezkantinen und machmal sogar Kino. Natürlich ist die Resonanz jeweils unterschiedlich, aber es stößt in jedem Fall auf Interesse. Auffällig dabei ist, dass eine klare kommunistische Perspektive im Kiez ankommt.

Woran machst du das fest?

Naja, man merkt ja schon, dass etliche Leute einerseits nachfragen, und andererseits auch klare Positionen einfordern und wir verstecken unsere Gesinnung ja auch nicht. Die Leute lassen sich nicht mit hohlen Phrasen abspeisen und der Behauptung, dass man nur einzelne Stellschrauben oder einzelne Gesetze ändern müsste, und dann ginge es ihnen besser. Die Menschen werden im Wortsinne radikaler, gehen an die Wurzel der Probleme und wollen grundlegende Veränderungen. Ja, das ist natürlich die Systemfrage und es ergibt keinen Sinn so zu tun, als würde man diese Systemfrage nicht stellen, nur um gefälliger zu sein.

Revolutionäre 1. Mai Demonstration in Berlin 17:00 U-Boddinstraße
„Brot, Frieden, Sozialismus – Ihre Krise nicht auf unserem Rücken!“

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Seit knapp zwei Monaten greift der faschistische türkische Staat wieder großflächig Gebiete in Rojava an. Diese erneute militärische Operation mit dem Namen „Klauenschwert“ zeichnet sich dabei vor allem durch wahllose Angriffe auf zivile Infrastruktur aus, der revolutionäre Geist Rojavas soll mit allen Mitteln des Spezialkrieges gebrochen werden. Drohnen-Attentate, Flugzeugangriffe und Großflächenbombardements sind in Rojava unlängst wieder zum Alltag geworden. Überdies hat Erdoğan mehrmals mit einer Bodenoffensive bis tief in die Gebiete der Autonomen Selbstverwaltung gedroht. Wir haben mit Kämpferinnen von YPJ-International über ihre Einschätzung der Lage, ihre Gründe vor Ort zu sein und ihren Appell an uns Linke in Deutschland gesprochen. YPJ-International ist eine Einheit aus Frauen und umfasst internationalistische Freiwillige aus verschiedenen Ländern der Welt und ist strukturell an die vielfältigen Verteidigungseinheiten Rojavas angebunden. Das Interview entstand im Dezember 2022.

Warum habt ihr euch entschieden, Teil von YPJ-International zu werden? Werdet ihr auch in Zukunft dort bleiben?

Zunächst wollen wir euch erst einmal für euer Interesse und eure Fragen danken. Es ist wichtig, insbesondere in Zeiten des intensivierten Angriffs miteinander im Austausch zu bleiben und internationalistische Perspektiven aufzubauen.
Die Gründe, sich den Frauenverteidigungseinheiten YPJ anzuschließen, sind vielfältig und oft auch mit persönlichen Erfahrungen verknüpft. Dennoch lässt sich feststellen, dass viele von uns mit dem Leben innerhalb der durch Kapitalismus, Patriarchat und Staat zersetzten Gesellschaft nicht mehr einverstanden waren. In unserer Suche nach Alternativen schien uns die Revolution in Rojava Antworten zu bieten. Viele von uns haben bereits vorher die Analysen von Abdullah Öcalan gelesen und wollten an den Ort, wo nach seinen Ideen eine Revolution entsteht. Insbesondere als Frau liegt es oft nicht nahe sich einer bewaffneten Einheit anzuschließen. Zu groß die Zweifel am eigenen Können, zu fremd das Bild der kämpfenden Frau – auch wenn wir es mit Bewunderung auf Fotos wahrnehmen. Doch wir haben den Schritt gewagt und keine von uns hat ihn bisher bereut. Im Gegenteil, wir lernen uns selbst, die Revolution und den Befreiungskampf der Frauen täglich besser kennen und sind ein Teil davon geworden. Es ist wichtig zu verstehen, dass wir nicht in erster Linie hier sind, weil die Verteidigungseinheiten auf unsere Unterstützung angewiesen wären. Wir sind hier, weil wir ein Teil der Revolution, ein Teil der Antwort auf den faschistischen Angriff und ein Teil der Hoffnung auf eine freie Welt sein wollen. Einige von uns werden irgendwann in ihre Heimat zurückkehren und dort weiter für die Revolution kämpfen, doch aktuell sehen wir uns einer Offensive entgegen, die keine von uns ans Zurückkehren denken lässt. Wir haben dafür trainiert und uns vorbereitet, an der Seite der Freund*innen, Genoss*innen und der Menschen Nord- und Ostsyriens gegen den türkischen Faschismus Widerstand zu leisten.

Wie bewältigt ihr euren Alltag, euer Leben in der Gemeinschaft in der aktuellen Situation? Hat sich etwas grundlegend verändert? Wie ist eure Stimmung?

Der türkische Staat greift insbesondere die Infrastruktur, also Gas-, Strom-, Wasser- und Kraftstoffanlagen an. Das wirkt sich auf alle, die hier in Nord- und Ostsyrien leben, aus. Als militärische Einheit sind wir auf eine mögliche Bodeninvasion vorbereitet. Es war seit langer Zeit davon auszugehen, dass wir uns eines Tages erneuten Invasionsbestrebungen gegenüber sehen werden und die Revolution verteidigen müssen. Wir müssen jedoch feststellen, dass Rojava auch vor dem 19. November im Kriegszustand war, wenn auch in einem Krieg niederer Intensität. Einige Freundinnen sind nun an die Front gegangen, andere konzentrieren sich auf medizinische Notversorgung oder Pressearbeiten. In einer Situation wie dieser steigt natürlich das Arbeitslevel nochmal an und es entsteht auch mal Stress. Aber durch unsere Prinzipien und eine gemeinsame Planung und Bewältigung des Alltags können wir uns immer gegenseitig unterstützen und aufeinander achten. Die Stimmung ist kämpferisch.


Was bereitet euch am meisten Sorge und was sind eure Ängste? Was gibt euch Hoffnung und Moral?

Niemand von uns will Krieg, denn Krieg bedeutet immer Leiden, insbesondere für die Bevölkerung. Doch im Falle eines Angriffes, wie diesem, sind wir bereit die Revolution und die befreiten Gebiete zu verteidigen – bis zum letzten Blutstropfen. Wir können auf unsere eigene Stärke und ebenso auf die Freundinnen neben uns vertrauen. Das gibt uns Mut. Hoffnung ist kein sich ohne dein Zutun einstellender Zustand. Hoffnung ist immer eine Entscheidung. Solange wir also hoffen, solange kämpfen wir und solange lassen wir nicht zu, dass das faschistische System Angst in unseren Herzen sät. Das System des Nationalstaats hat uns gelehrt, dass es keine Alternative gäbe und dass wir nichts an all dem Leid, der Gewalt und Unterdrückung ändern könnten. Also ist Hoffnung auch Widerstand gegen eine Lüge, die dir Fesseln anlegt und dich zum Stillstand bringt.

Wie schätzt ihr die aktuelle Lage vor Ort ein und die Androhung des türkisch-faschistischen Staates von einem erneuten Einsatz von Bodentruppen? Denkt ihr, dass es dieses Mal um den Fortbestand oder die Zerschlagung der Revolution geht?

Wir nehmen die Androhung einer erneuten Invasion durchaus ernst und bereiten uns darauf vor. Die Angriffe des türkischen Staates sind nicht als bloße Landbesetzungsversuche zu werten. Es geht um einen Genozid, um die Vernichtung des kurdischen Volkes sowie all der Menschen, die hier in Frieden und Freiheit nach dem Paradigma des demokratischen Konföderalismus leben wollen. Wir befinden uns in einer Phase des Kampfes um das Sein oder Nicht-Sein. Nachdem Erdoğan in den Bergen Kurdistans empfindliche Rückschläge erlitt, scheint er es nun erneut in Rojava probieren zu wollen. Es gibt für ihn nur die Möglichkeit des Krieges, eine andere Lösung käme ebenso seiner Vernichtung gleich wie eine militärische Niederlage. Der heldenhafte Widerstand der Freundinnen und Freunde in den Bergen Kurdistans hat ihn noch mehr in die Enge getrieben. Die vielfältigen grausamen und völkerrechtswidrigen Mittel, zu denen er vergeblich greift, um den Widerstand zu brechen, zeigen wozu er bereit ist. In Nord- und Ostsyrien greift der türkische Staat insbesondere auf islamistische Schläferzellen und Söldnertruppen zurück. Damit verfolgt er die Strategie, die Revolution an möglichst vielen Fronten anzugreifen und zu schwächen. Es wurden in den letzten Wochen sowohl gezielt Sicherheitskräfte, die für die Bewachung IS-Gefangener zuständig waren, bombardiert als auch sogenannte IS-Schläferzellen aktiviert.

Wie schätzt ihr die Drohnenangriffe auf Vertreter*innen der Internationalen Anti-IS Koalition und die ausbleibenden Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft ein?

Es ist nicht möglich für den türkischen Staat in den syrischen Luftraum einzudringen, ohne dass die Koalitionsmächte und Russland davon erfahren. Die Angriffe waren abgesprochen und zielten darauf, unsere Kräfte vor Ort zu treffen. Gerade hier zeigt sich das Gesicht unseres wahren Feindes – des Systems des kapitalistischen, imperialistischen Nationalstaats. Die Türkei ist ein wichtiger Teil dieses Systems, wohingegen die Revolution eine Bedrohung für dieses darstellt. Dementsprechend wollen wir nicht auf direkte Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft bauen. Doch sollte der Welt bewusst sein, dass mit den Angriffen des türkischen Staates auch der weltweit gefürchtete Islamische Staat, der durch unsere Verteidigungseinheiten besiegt wurde, wieder erstarkt. Immer noch sind zehntausende IS-Terroristen und Terroristinnen in unseren Händen, unter ihnen auch Tausende aus Europa und den USA. Eine unserer Missionen gegen Untergrundbewegungen des IS mussten wir bereits auf Grund der Angriffe stoppen. Sollte die Situation sich zuspitzen, wird es immer schwerer werden all die Gefangenen sicher zu verwahren.

Wie bewertet ihr die Aussage der deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD), fest an der Seite der Türkei im „Kampf gegen Terrorismus“ zu stehen und die Rolle Deutschlands im Krieg gegen die Revolution von Rojava generell?

Der deutsche Staat und der türkische Staat sind historisch eng miteinander verbunden. Die beiden Staaten verfügten immer über weitgehende diplomatische, wirtschaftliche, militärische aber auch ideelle Verbindungen. Das türkische Militär wurde maßgeblich durch deutsche Soldaten ausgebildet und die Waffenindustrie mit deutscher Unterstützung aufgebaut. Mustafa Kemal Atatürk galt Hitler als großes Vorbild. Der Aufstand von Dersim 1937 wurde durch deutsches Giftgas niedergeschlagen. Heute wird Cyanwasserstoff (Blausäure, Anmerk. d. R.) gegen die Guerilla eingesetzt. In Deutschland ist diese Chemikalie besser bekannt unter dem Namen Zyklon B. Auch in dem Kampf gegen das kurdische Volk und die Befreiungsphilosophie Öcalans stand die BRD immer an der Seite des türkischen Staates. Als Innenministerin erhält die Sozialdemokratin Nancy Faeser eine Politik der Verfolgung und Kriminalisierung kurdischer und internationalistischer Kämpfe aufrecht. Die Arbeiterpartei PKK und ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan werden als terroristisch eingestuft. Die Solidaritätsbewegung Rojavas als auch Gruppen, die das System des demokratischen Konföderalismus als ihre Grundlage betrachten, werden Repressalien ausgesetzt. Der erste Bericht der Tagesschau zu den türkischen Angriffen war mit Aufnahmen aus dem türkischen Verteidigungsministerium gespickt. Dabei wurde gezeigt, wie Drohnen 12 Zivilist*innen ermordeten. Kurzum: Machen wir uns nichts vor, der türkische und der deutsche Staat bilden eine Einheit und sind Feinde unserer Befreiungskämpfe. Doch umso mehr müssen wir uns bewusst werden, dass auch die revolutionären und widerständigen Kämpfe der kurdischen und türkischen Menschen mit denen in Deutschland verbunden sind. Nur wenn wir unsere Bewegung als eine gemeinsame internationalistische Revolution begreifen, können wir uns erfolgreich wehren.

Wie beurteilt ihr die aktuelle Kriegssituation hinsichtlich der Angriffe und des Widerstands in Rojhlat (Ostkurdistan) und dem Iran?

Der Widerstand in Rojhilat und dem Iran zeigt uns, dass die Revolution der Frauen im 21. Jahrhundert nicht mehr aufzuhalten ist. Dass der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ dabei weltweit an Stärke gewann und Frauen dazu ermutigte gegen ihre Fesseln anzukämpfen, zeigt erneut, dass die Revolution in Kurdistan nicht nur für das kurdische Volk oder den Mittleren Osten eine entscheidende Rolle einnimmt. Diese Revolution ist eine Internationalistische, was bedeutet, dass ihre Philosophie auf der gesamten Welt Perspektiven auf eine Befreiung von Unterdrückung ermöglicht.

Nehmt ihr einen Unterschied in der Motivation/ Kraft/ Moral der Bewegung wahr im Vergleich zu 20152018 oder 2019?

Nach dem Besatzungsangriff gegen Serêkaniyê und Gire Spî intensivierte der türkische Staat Drohnenangriffe, die gezielt führende Personen der Revolution töteten. Allein in diesem Jahr sind mindestens acht YPJ-Kämpferinnen, darunter erfahrende Kommandantinnen, im Kampf gegen den IS durch Drohnenangriffe getötet worden. Außerdem wurden wichtige Vertrauenspersonen, Politiker*innen und Menschen mit gesellschaftlichen Aufgaben aus den zivilen Gebieten gezielt exekutiert. Erdoğan will der Gesellschaft dadurch gezielt ihre Vorreiter*innen nehmen. Die Ausweitung der angewandten Kriegsmethoden macht sich bemerkbar. Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren mussten wir uns auf die neue Art der Angriffe einstellen und dementsprechend andere Vorkehrungen treffen. Was dem türkischen Staat jedoch bis heute nicht gelungen ist, ist mit diesen Methoden die Bevölkerung von der Revolution zu entfernen. Im Gegenteil, als die Angriffe seit dem 19. November intensiviert wurden, sind viele ehemalige YPG- und YPJ-Kämpferinnen, die aus unterschiedlichen Gründen die militärischen Einheiten verlassen hatten, wieder zurückgekommen. Das politische Verständnis innerhalb der Bevölkerung über das Ziel dieser Methoden, ist sehr hoch und noch höher ist die Entschlossenheit, sie ins Leere laufen zu lassen. Der Fortschritt in der Organisierung der Zivilgesellschaft, im Vergleich zu den Jahren zuvor, ist spürbar. Kommunen, Räte, Initiativen und Vereine geben täglich Erklärungen ab, die ihre Verbundenheit mit den YPJ/YPG und SDF (Syrian Democratic Forces, Anmerk. d. R.) ausdrücken. 
Gerade dadurch, dass die Angriffe so stark gegen die Bevölkerung gerichtet werden, entwickelt sich dort ein ungemeiner Kampfgeist und Wille. Über die Jahre haben wir an Erfahrung gewonnen, die wir teils schmerzlich bezahlen mussten, etwa mit dem Verlust Efrîns und Serêkaniyês. Insbesondere im Kampf innerhalb der Städte gegen eine gut ausgestattete NATO-Armee mit dschihadistischer Unterstützung am Boden haben wir uns weiterentwickelt. Es wurde aus Fehlern und Kritiken gelernt, so dass sich nun besser auf die aktuelle Lage angepasst werden kann.

Nehmt ihr die Proteste in Deutschland gegen die Angriffe auf Kurdistan wahr?

Auf jeden Fall. Die weltweiten Proteste werden in den Abendnachrichten im kurdischen Fernsehen gezeigt. Es gibt uns sehr viel Hoffnung und Stärke unsere Freund*innen und Genoss*innen Zuhause zu sehen. Manchmal erschreckt es uns aber auch, wenn z.B. in Berlin nur etwa 20 Personen an einer Kundgebung teilnehmen. Dennoch, jede Aktion ist ein Ausdruck der Solidarität und ebenso ein Teil des Kampfes, wie unsere Arbeiten hier vor Ort.

Was wollt ihr den linken, feministischen Kräften in Deutschland sagen? Was kann aus eurer Sicht hier in den Zentren der Rüstung gegen den Krieg getan werden?

Wie bereits oben erwähnt, freuen wir uns über jegliche Form von solidarischen Aktionen. Doch Internationalismus bedeutet nicht fremde Kämpfe zu unterstützen, sondern vielmehr sich als Teil des Kampfes, als Teil eines revolutionären Prozesses zu begreifen, unabhängig davon, wo man sich gerade befindet. Deswegen ist es wichtig, sich mit der Idee, der Philosophie dieser Revolution auseinander zu setzen, eine eigene militante Persönlichkeit aufzubauen und sich, insbesondere als Frauen gemeinsam zu organisieren. Statt uns zu spalten, Hoffnungslosigkeit zu verbreiten und im Individualismus zu versinken, müssen wir insbesondere in Deutschland wieder eine kämpferische Bewegung werden, die um ihre Geschichte weiß und Antworten auf die Probleme der Gesellschaft geben kann. Wie Şehîd Bager Nûjiyan sagte: „Den härtesten Kampf führst du immer gegen dich selbst.“

Auch wollen wir dazu aufrufen, nach Rojava zu kommen und sich uns hier anzuschließen, um zu lernen und gemeinsam zu wachsen. Neben den Verteidigungseinheiten könnt ihr euch auch an Arbeiten in der Jugend, Gesellschaft, Jineolojî sowie an Frauen-, Kultur-, Presse- und Gesundheitsarbeiten beteiligen. Gerade wegen der engen Verbundenheit zwischen dem deutschen und den türkischen Staat ist es notwendig, dass die Komplizenschaft mit dem faschistischen AKP-MHP Regime der Türkei aufgedeckt wird. Wir glauben, dass es viele verschiedene Formen gibt dies zu tun und appellieren an euch, jetzt den Druck von unten und auf der Straße zu verstärken. Wir wissen, dass der türkische Staat den Zeitpunkt für die aktuelle Operation gegen Rojava nicht zufällig gewählt hat. Fussball-WM und der Krieg in der Ukraine sind für Erdoğan gute Ablenkungsmöglichkeiten. Auch haben wir beobachtet, dass den Angriffen hier nicht die nötige Aufmerksamkeit in der BRD zukommt. Wir glauben, dass es die dringende Aufgabe einer sich als internationalistisch verstehenden Linken in Deutschland sein muss, der Bevölkerung ins Gedächtnis zu rufen, was hier gerade passiert und entsprechende Personen in Wirtschaft und Politik dafür zur Verantwortung zu ziehen. Genauso wie die Verteidigungseinheiten der YPJ/YPG alles geben, um das historisch einmalige revolutionäre Projekt staatenloser Radikaldemokratie als Wert der ganzen Menschheit zu verteidigen, müssen Linke in Deutschland ihrer Verantwortung nachkommen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Krieg zu stoppen. Wir glauben, dass die Möglichkeiten hierfür noch lange nicht ausgeschöpft sind. Zudem kommt es aktuell wieder zu einer verstärkten Reorganisierung des Islamischen Staats. Leider beobachten wir, dass in Europa islamistische Gruppen nach wie vor kaum als Gegner im antifaschistischen Kampf verstanden werden und es immense Schwachstellen in Bezug auf Recherche, Aufklärung und Aktionen gibt. Es muss uns bewusst sein, dass der IS in Europa sowohl massenhaft Ressourcen sammelt, als auch Kämpfer rekrutiert. Die Menschen hier vor Ort sind bereit, ihr Leben für die Verteidigung der Frauenrevolution aufs Spiel zu setzen. Wir erwarten daher, dass unsere Genoss*innen in der BRD die Wichtigkeit von Rojava verstehen und ihr Handeln als eine historische Verantwortung begreifen, vor allem all denjenigen gegenüber, die ihr Leben für den Traum einer freien Gesellschaft gegeben haben.

Şehîd namirin

#Gastbeitrag AK36

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Krieg ist ein Geschäft. Im Krieg in erster Linie für den Militärisch-Industriellen-Komplex, der ganz traditionell die Werkzeuge zum Töten und Sterben fabriziert und die Energiekonzerne, ohne deren Erzeugnisse diese Werkzeuge nicht ihrem Zweck zugeführt werden können. Sie wurden produziert, nun müssen sie „konsumiert“ werden, und mit ihnen die für fremde Interessen von beiden Seiten auf die Schlachtbank geführten Proletariermassen.

Und was ist nach dem Krieg? Wenn die schöpferische Zerstörung der Artilleriegranaten ihr vorläufiges Ende gefunden hat, kommen andere Kapitalfraktionen zum Zug, je nachdem, wer gewonnen hat. Die Planungen für den großen Wiederaufbau beginnen natürlich lange vor dem Schweigen des Mündungsfeuers – man möchte ja wissen, ob sich die Investitionen lohnen.

Dass Krieg und Wiederaufbau keine Taten selbstloser Helfer sind, die aus Mitleid mit der im Krieg versehrten Nation handeln, wer würde es leugnen, wenn es um Russland geht? Kaum jemand hierzulande frisst die Propaganda, es ginge etwa bei der Annexion des Donbass um eine Schutzmaßnahme für das geschundene ukrainische Brudervolk. Und jeder würde unterschreiben, dass sich die Privatarmee Prigozhins nicht aus Altruismus die ostukrainischen Minen unter den Nagel reißen wird, wie sie es mit denen im Sudan oder der Zentralafrikanischen Republik getan haben.

Aber der Westen? Da neigt man, zumindest in der veröffentlichten Meinung, zu einem gütigeren Blick. Doch warum eigentlich?

Kalte, harte Interessen“

Zumindest in den USA, wo die Bevölkerung es mehr gewohnt ist, spricht man ganz offen aus, dass Kriege nicht aus Nächstenliebe geführt werden: „Unsere Unterstützung“, gemeint war für die Ukraine, „ist moralisch gerechtfertigt. Aber sie dient auch kalten, harten amerikanischen Interessen“, erklärte Mitch McConell anlässlich des Besuches des ukrainischen Präsidenten in den USA. Die Waffenhilfe, so der prominente Republikaner, sei nicht nur ein politisches, sondern auch ein „ökonomisches Investment“ – schließlich helfe sie „die Kapazitäten unserer Verteidigungsindustrie zu erhöhen und trägt so zu einer Industrie bei, die gutbezahlte amerikanische Jobs zur Verfügung stellt.“

Mit Blick auf die Kritiker der US-Hilfe listet auch das einflussreiche „Center for Strategic & International Studies“ unter dem Titel „US-Hilfe für die Ukraine: Ein Investment, dessen Ertrag die Kosten bei weitem übersteigt“ auf, welchen Nutzen man sich in Washington vom Eingreifen im Osten versprechen darf: „Sich auf das Preisschild der Hilfe zu fokussieren, anstatt auf den Wert dessen, was mit ihr erkauft wird, vernachlässigt den Fakt, dass der Krieg in der Ukraine das Äquivalent eines Stellvertreterkrieges gegen Russland geworden ist, und zwar ein solcher, der ohne tote US-Soldaten geführt werden kann und zugleich die meisten Demokratien der Welt hinter einem gemeinsamen Ziel vereinigt (…)“.

Die geopolitische Schwächung Russlands sowie die Stärkung der Dominanz der USA über die eigenen westlichen „Partner“ sind ein erklärtes Ziel US-amerikanischer Ukraine-Politik. Dieselben Thesen, werden sie hierzulande von Kritikern der NATO formuliert, gelten als Ketzerei und Grund für den Ausschluss aus dem massenmedialen „Diskurs“. In Washington sind sie common sense – und zwar bei den Befürwortern des Krieges.

Proxy War

Den „kalten, harten Interessen“ entsprechend ist auch die Form der Ukraine-“Hilfe“ gestaltet. Es handelt sich ja keineswegs um Geschenke, wie eine vom Hurrapatriotismus berauschte links- bis rechtsliberale Mittelschicht zu glauben scheint. Nehmen wir den „Ukraine Democracy Defense Lend-Lease Act“, der die Grundlage für einen großen Teil der militärischen „Hilfen“ der USA bildet. Wie schon der Titel des Gesetzes besagt, handelt es sich nicht um Schenkungen, sondern um Leih- und Pachtgaben. Insofern heißt es auch im Gesetzestext: „Bedingung: Jedes Darlehen oder Leasing von Verteidigungsartikeln an die Regierung der Ukraine gemäß Absatz (1) unterliegt allen anwendbaren Gesetzen zur Rückgabe und Erstattung und Rückzahlung für Verteidigungsartikel, die an ausländische Regierungen verliehen oder verpachtet wurden.“ Auch die EU-Finanzhilfen sind Kredite. Die Konditionen sehen, wie könnte es anderes sein, ihre Rückzahlung vor. Im Falle der Milliardengelder aus Brüssel ab dem Jahr 2033. Dazu kommen Anleihen aus dem US-dominierten Internationalen Währungsfonds – berüchtigt für ihre Konditionen. Und auch die Weltbank darf nicht fehlen. Zusätzlich hat sich die Ukraine bei privaten und institutionellen Anlegern per Kriegsanleihe Liquidität besorgt – hier mit ganz uneigennützigen Zinssätzen von 11 Prozent.

Kapitalistische Staaten und Finanzkonzerne sind nicht Mutter Theresa. Ihre „Hilfe“ hat einen Preis und sie haben Interessen, die sie per „Hilfe“ durchsetzen wollen. Im Falle der Ukraine werden die angesichts der zunehmenden Gleichgültigkeit bis Kriegsbegeisterung der „kritischen“ liberalen Öffentlichkeit gar nicht mehr groß verschleiert. Unter dem Titel „Russland liegt richtig: Die USA führen einen Stellvertreter-Krieg in der Ukraine“ schreibt der US-amerikanische Außenpolitik-Experte Hal Brands in der Washington Post: „Der Schlüssel für diese Strategie ist es, einen entschlossenen lokalen Partner zu finden – einen Stellvertreter, der willens ist, das Sterben und Töten zu übernehmen – und ihn dann mit Waffen, Geld und Geheimdienstinformationen zu beladen, die er braucht, um einem verletzbaren Feind schwere Schläge zuzufügen. Genau das tun Washington und seine Verbündeten heute mit Russland.“

In einer Kostenanalyse der „Investitionen“ in der Ukraine schreibt das Washingtoner Center for European Policy Analysis: „Die Unterstützung (für die Ukraine, P.S.) beträgt 5,6 % des US Verteidigungsbudgets. Aber Russland ist ein Hauptgegner der USA, ein Top-Level-Rivale nicht weit hinter China und die Nummer eins als strategischer Herausforderer. In kalten, geopolitischen Worten: Dieser Krieg ermöglicht eine erstklassige Gelegenheit für die USA, Russlands konventionelle Verteidigungskraft zu schwächen und abzutragen – ohne Soldaten am Boden und mit geringem Risiko für US-amerikanische Leben.“ Die Schlussfolgerung ist logisch: „Das US-Militär kann vernünftigerweise wollen, dass Russland fortfährt, Truppen in die Ukraine zu schicken, damit sie dort vernichtet werden.“

Schlacht um den Energiemarkt

CEPA schneidet in seiner Rechnung eine weiteres wichtiges Schlachtfeld an – und das liegt nicht nur in der Ukraine. Der russische Einmarsch hat die Gelegenheit eröffnet, den europäischen Energiemarkt neu auszurichten. In den Worten des Think Tanks: „Der Krieg in der Ukraine bestärkt und beschleunigt die Neuausrichtung der Energie in Europa, aber auch die europäische Diversifikation weg von russischen Energiequellen. Europa ist verzweifelt auf der Suche nach alternativen Quellen für Energie und Flüssiggas aus den USA erweist sich als der offensichtliche Gewinner dieser Entwicklung.“

Die Konkurrenz um Europas Energiemärkte ist keine 2022 plötzlich aufgekommene Neuerung, die „Erpressbarkeit“ Europas, um es in den Worten der Führungsmacht des Westens auszudrücken, war den USA schon lange vorher ein Dorn im Auge. Der Krieg bot die Gelegenheit, diese insbesondere für Deutschland geltende Anomalie zu beseitigen. „Was den Energiesektor betrifft, hat Putins genozidale Invasion endlich ein zutiefst zurückhaltendes Europa gezwungen, seine schwächende Abhängigkeit von russischem Öl und Gas anzugehen. (…) Es sieht nun so aus, dass die Ära der korrupten Energiekooperation mit dem Kreml einem Ende zugeht, zumindest in Europa“, jubelt das Atlantic Council.

Für die USA ergeben sich hier drei strategisch bedeutende Effekte: Dem Teil der europäischen herrschenden Klassen, der auf ein zumindest teilweises Bündnis mit Russland setzte, um die Eigenständigkeit der eigenen Nationen gegenüber den USA stärker zu betonen, wurde ein Riegel vorgeschoben; die europäischen Energiemärkte sind nun offen für Importe aus den USA; und ganz nebenbei steigt die Wettbewerbsfähigkeit um Ansiedlung von Industrie durch die zu Europa vergleichsweise niedrigeren Energiepreise in den USA.

Investorenparadies Ukraine

Es ist aber keineswegs so, dass die führenden europäischen Nationen ihre Ukraine-Politik alleine nach dem Gusto des Big Brother aus Washington ausrichten. Auch in Brüssel, Berlin und Paris verspricht man sich einiges von einem Sieg in der Ukraine. Nach vollzogenem Triumph über die Invasoren soll sich das Leid der für europäische Werte in den Schützengräben Verschütteten auch für die Investoren lohnen.

Die Rede ist immer häufiger von einem „Marshall-Plan“ für die Ukraine, bei dem – stellvertretend für den Westen insgesamt – die europäischen Nationen die führende Rolle spielen sollen. „Die Europäische Union steht in der Verantwortung und sie hat auch ein strategisches Interesse daran, beim Wiederaufbau der Ukraine die Führungsrolle zu übernehmen“, ließ EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schon vergangenes Jahr verlauten.

Alles in allem geht es dabei um eine kapitalistische „Modernisierung“ der Ukraine, ihre Einbindung in die Europäische Union und die Ausrichtung ihrer Ökonomie entlang der „westlichen Wertevorstellungen“. Das betrifft alle Sektoren der ukrainischen Volkswirtschaft. Diese sei, so Patricia Cohen in der New York Times, in allen Bereichen zu post-sowjetisch – von der Infrastruktur bis zu den Lieferketten. „Der Mangel an Integration (in westliche Lieferketten, P.S.) besteht in allen Sektoren. Teile für alles mögliche, vom Nuklearreaktor bis zum Kühlschrank, die vorher aus Russland kamen, werden nun anderswoher geliefert werden müssen.“

Es ist aber nicht nur die Hardware. Mehr als das, mangle es an einer „modernen, demokratischen Marktökonomie“, erreichbar durch eine „radikale Deregulierung der Ökonomie“, wie Cohen aus einem Strategiepapier des Londoner Center for Economiv Policy Research entnimmt. Die Autoren dieses Papiers machen keinen Hehl aus ihren neoliberalen Ambitionen: Die Ukraine muss an die EU-Märkte angeschlossen werden; die Bedingungen für ausländisches Kapital müssen attraktiv für Investoren gestaltet werden; die Arbeitsmärkte sind für das Kapital so „flexibel“ wie möglich zu gestalten. Anknüpfend an das von der Selenksy-Regierung bereits in Kriegszeiten beschlossene arbeiterfeindliche Paket von Maßnahmen, soll den Arbeitern auch im Frieden Gegenwehr versagt bleiben: „Flexiblere Arbeitsverträge sollten erlaubt werden, um die schnelle Verlagerung von Arbeitskraft zu sichern, was eine Fortsetzung der in Kriegszeiten begonnenen Praxis wäre.“ Die ganze Volkswirtschaft soll ausgerichtet werden auf die Bedürfnisse von ausländischem Kapital, denn: „Das Fundament des Erfolgs der Ukraine in einer langen Perspektive liegt darin, ausländisches Kapital anzuziehen.“

In den Startlöchern

Diese Aussichten animieren private Investoren schon vor Ende des Kriegs. Die Financial Times versammelt in einem Artikel Stimmen aus dem Kapital-Milieu. „Wir müssen hoffen und uns vorbereiten“, wird die Investment-Direktorin des Equity-Funds Skagen zitiert. „Es kann schwierig sein, über Investitionen in einer so tragischen Situation nachzudenken, aber für Active Value Investoren wird ein positives Ergebnis des Krieges viele Möglichkeiten eröffnen. Wir müssen eher früher handeln als später.“

Die Bewegung des Geldes, so ein anderer Manager, folge dabei der Bewegung der Front: „Es wird ein Hin-und-Her geben. (…) Wir haben gesehen, wie Investoreninteressen Fahrt aufnahmen, als das ukrainische Militär Fortschritte machte, dann pausierten oder zurückgingen, als die Infrastrukturattacken der Russen signifikant zunahmen. (…) Ich vermute, Investoren werden mit dem Risiko so umgehen, dass sie zunächst in der Westukraine investieren und dann in die Mitte und nach Osten vorrücken.“

In etwa entspricht das auch den Vorstellungen der deutschen Kapitalverbände, die ihre Wünsche in einem Papier des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft unter dem Titel „Rebuild Ukraine“ dargelegt haben. Auch hier geht es um die Schaffung optimaler Bedingungen für Fremdkapital, denn: „Keine zentralisierte Kontrolle wird je zu wirklich komfortablen Bedingungen für private Investoren führen.“ Die „Hilfe“, man lässt da keine Zweifel, sei keine Einbahnstraße. Die ukrainische Regierung müsse „regulatorische und bürokratische Hürden für Investments eliminieren“ – der Fachjargon für die uneingeschränkte Übergabe des Landes an ausländisches Kapital. Eine „Blankovollmacht“ für die Ukraine werde es nicht geben, es sei an der ukrainischen Regierung, „wahrhaftig eine Privatwirtschaft zu bestärken“.

Zur „Beratung“ der Ukraine schlägt man einen „Koordinationsstab“ aus deutschen und europäischen Regierungsvertretern vor, der ein wenig an die „EU-Troika“ für Griechenland erinnert, und für die Entwicklung einer „förderlichen Umgebung für eine dynamische und starke Privatwirtschaft“ sorgen soll.

Das Hauptziel: Die Ukraine muss das „Vertrauen von deutschen und anderen westlichen Firmen (wieder-)gewinnen“, um Ausländische Direktinvestitionen (FDI) anzuziehen. Zur Erinnerung: Neben arms lenght contracts sind FDI das Hauptmittel zur Einbindung schwächerer Nationen in die globalen Warenketten mit dem Zweck des Transfers von im abhängigen Land produzierten Mehrwert in die Metropolen. Kurz: Es geht, kaum versteckt im technokratischen Jargon kapitalistischer Wirtschaftsstrategen, um eine Einbindung der Ukraine in das Weltmarktregime des Westens.

Kornkammer der Multinationalen

An einem konkreten Beispiel: Der Ostausschuss hebt den agroindustriellen Sektor hervor, der in der Ukraine aufgrund der fruchtbaren Böden besonders ausgeprägt ist und lobt die bereits begonnene Landreform als besonders „vielversprechend“ hervor. Worum geht es bei dieser Landreform? Mit der Niederlage der Sowjetunion zerfiel das System an kollektiver Landwirtschaft und Schritt für Schritt entwickelte sich in der Ukraine eine von Oligarchen und multinationalen Unternehmen dominierte Landwirtschaft. Ein 2001 beschlossenes Moratorium mit starken Einschränkungen zum Landverkauf sollte den Prozess der wilden Oligarchisierung aufhalten.

Dieses Gesetz setzte die Selensky-Regierung außer Kraft – übrigens gegen den Willen von zwei Drittel der ukrainischen Bevölkerung. „Das große Risiko ist doch, dass nicht nur große ukrainische Firmen das Land aufkaufen, sondern auch ausländische Konzerne. Und dann wiederholt sich hier das, was in Argentinien passiert ist: Die Argentinier haben kein Land mehr, und alles ist in der Hand von zwei oder drei US-Konzernen“, zitiert Deutsche Welle einen ukrainischen Winzer.

Das dürfte nicht unbegründet sein. Auch die Weltbank, die diese „Öffnung“ des Marktes der Ukraine unterstützt, erwartet, dass kleinere, weniger produktive Landwirte und Bauern aus dem Markt gedrängt werden zugunsten von Großproduzenten.

Lohnendes Investment

Sieht man sich die Gesamtkonstellation des Krieges in der Ukraine an, erweist sich die „Hilfe“ aus dem Westen als ein auf vielen Ebenen vielversprechendes Investment. Begann Russland seinen Krieg, um sich als durchaus konkurrenzfähige Großmacht zu den USA unter Beweis zu stellen, sieht es sich nach einem Jahr im Schützengraben des Abnutzungskriegs an seinen Platz verwiesen. Die USA können verbuchen, den Teil der europäischen Bourgeoisie, der sich zuvor von der westlichen Hegemonialmacht unabhängiger aufs Weltparkett begeben wollte, zurück in den Schoß der transatlantischen Sicherheitsarchitektur geholt zu haben. Russland ist – vorläufig zementiert durch die mysteriöse Sprengung seiner Pipelines – vom europäischen Energiemarkt zumindest teilweise verdrängt. Und die Ukraine wird, um ihre im Krieg entstandene Schuld begleichen zu können, sich als würdiger Gastgeber ausländischer Investoren erweisen müssen.

Die in diversen Krisen der europäischen Peripherie erprobten Mittel werden in einer Nachkriegsukraine, sollte der Krieg zugunsten des Westens ausgehen, ihre Anwendung finden und das Land zu einem ebenso würdigen „Partner“ Deutschlands machen, wie zuvor die Troika es bei Griechenland tat. Der schon in der Regierung Juschtschenko begonnene, am Maidan revolutionär durchgekämpfte und nun mit der Lieferung von HIMARS und Marder besiegelte Weg gen Westen wird seinen Abchluss im Kapitalfluss finden, der sich über die Einschlaglöcher und Ruinen ergießt. Ein emerging market wird geboren.

# Titelbild:

PS: Man muss es ja heute stets betonen: Dies mag ein antiwestlicher Text sein, ein „pro-russischer“ ist es nicht. Sein allgemeiner politischer Rahmen ist diese Position: https://lowerclassmag.com/2022/07/09/die-linke-und-die-ukraine-dem-krieg-den-krieg-erklaeren/

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Die Fenster beben, der Boden bebt, ich höre meinen Namen, gefolgt von einigen kurdischen Wörtern. Ein weiterer Knall. Ich kann das stechende Geräusch des Flugzeugs, das über unsere Köpfe hinweg fliegt, förmlich spüren. Wie eine Spinne wandert es über meinen Rücken.

Die Fenster beben, der Boden bebt, die dritte Rakete schlägt ein. Auf meinen Namen folgt der Befehl, mich schnell auf den Boden zu legen. Von unten kommen Kinderschreie. Das Nötigste passt in die Jackentasche und ich trage nur meine Kamera. Mich ärgert es, dass ich keinen zusätzlichen Akku habe. Ich fühle mich unbeholfen: Warum denke ich in diesem schrecklichen Moment ausgerechnet daran?

Die Großmutter der Familie kontrolliert die Stimmung, hält die kollektive Angst im Zaum. Wir sind im sichersten und heißesten Raum, etwa 14 Personen. Die meisten Kinder schlafen, außer Armanc, der mit verschränkten Händen und zitternd auf den Beinen seiner Mutter liegt. Die Großmutter betet. Dann blickt sie mit offenen Händen auf und sagt: „Erdogan, warum tust du uns das an? Was haben wir getan? Kurd*innen zu sein? Wir haben Kinder! Was haben wir getan? Wir haben doch nur jeden Tag unsere Mahlzeiten zubereitet und versucht zu leben?“

Muhamed, der Vater einiger Kinder, sucht auf seinem Handy nach Informationen. „Es scheint, dass nicht nur Kobanê, sondern auch andere Städte gleichzeitig angegriffen werden“, sagt er und liest ihre Namen vor: „Derik, Ain Digna, Ayn Al Arab, Tal Rifat, Malikiyah, Şehba, Zirgan“. Außerdem wurden auch weitere Gebiete, außerhalb von Nordostysyrien, die aber für die kurdische Bewegung seit 40 Jahren große Bedeutung haben, getroffen. Zum Beispiel das Qandil-Gebirge und weitere Orte im kurdischen Nordirak.

Der Morgen des 20. November begann mit einem Tweet des türkischen Verteidigungsministers Hulusi Akar, der bekannt gab, dass die Operation „Klaue und Schwert“ erfolgreich durchgeführt wurde. Es seien mehr als 80 Ziele im Nordirak und im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung von Nordostsyrien angegriffen worden. Die Angriffe in Nordsyrien breiteten sich von Derik, der irakisch-türkisch-syrischen Grenze, bis zum Bezirk Şehba aus, 40 Kilometer von der Stadt Aleppo entfernt. Der gesamte Luftraum in diesem Gebiet wird von den Vereinigten Staaten und Russland kontrolliert, was darauf hindeutet, dass beide Länder grünes Licht für den Angriff geben haben oder wegschauten.

In Kobanê war eines der Angriffsziele ein Corona-Krankenhaus. Am nächsten Morgen suchten Journalist*innen die Trümmer auf und die Türkei grifft wieder an. Ein Reporter wurde verletzt. In der nordsyrischen Stadt Derik wurden in der gleichen Nacht zwei Wachen eines Kraftwerks getötet. Als Menschen kamen, um zu helfen, darunter Krankenschwestern und Journalisten, griff die Türkei erneut mit Kampfflugzeugen und Drohnen an. Es starben zehn weitere Menschen. Ein halbes Dutzend wurde verletzt.

Dieses Doppelangriffe werden durch das Genfer Abkommen verboten: Wenn ein Ort bombardiert wird und Menschen zur Hilfe eilen dürfen diese nicht wieder bombardiert werden. Laut der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden innerhalb der ersten zwei Angriffstage allein in Nordsyrien mindestens 31 Menschen getötet.

In der Nacht werden von der Familie, bei der ich zu Besuch bin, viele Anrufe getätigt. Man versucht herauszufinden, wie es anderen Familienangehörigen geht und ob sie neue Informationen haben. Die Großmutter ist in einer WhatsApp-Gruppe von Verwandten von Gefallenen, die während dieses seit zu vielen Jahren andauernden Konflikts starben. Sie verlor selbst zwei ihrer Kinder: Eines davon starb, als es die vom Islamischen Staat hinterlassenen Minen entschärfte. „Ich hoffe, es gibt keine Toten“, murmelt die betagte Frau vor sich hin.

„Bisher gab es hier vor allem türkische Drohnen. Man hat sie erst bei der Explosion gehört oder am nächsten Tag davon erfahren. Jetzt sind die Flugzeuge zurück, da muss etwas passiert sein“, erklärt Muhamed. Die App „Syria live map“ zeigt an, dass die von Russland kontrollierte Flugzone freigegeben ist. Dazu gehört auch der Luftraum über Kobanê, wo wir uns aufhalten. Als die Luftangriffe begannen, twitterte Minister Akar, dass die „Stunde des jüngsten Gerichts“ gekommen sei, zusammen mit Bildern eines startenden Kampfjets und einer Explosion. „Zeit um Rechenschaft abzulegen! Diese Schurken bezahlen für ihre verräterischen Angriffe“, schrieb er in einem anderen Tweet.

13. November in Istanbul. Eine Frau sitzt um 15:40 Uhr auf einer Bank auf der Istiklal Caddesi. Sie bleibt 40 Minuten an Ort und Stelle, steht auf, geht hinaus und wenige Minuten später explodiert eine Bombe, bei der sechs getötet und 81 verletzt werden. Keine terroristische Gruppe übernimmt die Verantwortung für den Angriff. Am nächsten Tag behauptet Innenminister Süleyman Soylu, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) trage die Verantwortung für den Anschlag. Er gibt außerdem die Festnahme des mutmaßlichen Terroristen und 50 weiterer Personen bekannt. Soylu behauptet, der Angriff sei von der Stadt Kobanê koordiniert worden. Die aktuellen türkischen Angriffe auf Nordostsyrien werden so von Ankara als Reaktion auf den Angriff in Istanbul gerechtfertigt.

Aber die Invasion war schon lange vorher geplant. Seit Frühjahr 2022 versucht Erdogan, in das Gebiet einzudringen, das er heute angreift. Bisher hat ihm die Zustimmung der USA und Russlands gefehlt. Hinsichtlich des Anschlags in Istanbul gibt es noch keine eindeutigen Beweise, wer ihn ausgeführt hat, aber Ankara beschuldigt weiterhin die PKK und die nordsyrische YPG. Das Attentat dient der Türkei als Vorwand, um neue Angriffe zu starten.

Dass der Beginn der Invasion auf den Beginn der Weltmeisterschaft in Katar fällt, scheint keine Zufall zu sein. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Gräueltaten in Zeiten passieren, in denen sich die Aufmerksamkeit der Welt auf die Weltmeisterschaft konzentriert.

Knapp sieben Monate sind es noch bis zu den Präsidentschaftswahlen in der Türkei, die für Erdogan zur schwierigsten Wahl seiner gesamten politischen Laufbahn geworden ist: Sein Land befindet sich in den letzten Jahren in extrem schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen. Erdogan weiß, dass die türkische Wählerschaft mit Nationalismus und Kriegskampagnen liebäugelt und er ist sich darüber im Klaren, dass das das Einzige ist, was ihn an der Macht halten könnte.

Die Opposition, die sich aus sechs Parteien mit mehr oder weniger nationalistischem Charakter zusammensetzt, ist ebenfalls ein entschiedener Verteidiger einer „starken Hand“ gegen die Kurd*innen. Erdogan erklärte: „Wir beschränken uns nicht auf einen Luftangriff, wir werden uns mit dem Verteidigungsministerium und den Militärkommandeuren beratschlagen, inwiefern wir unsere Bodentruppen einsetzen. Dann werden wir sehen, wie es weitergeht.“

Seit 2016 ist die Türkei dreimal in Nordostsyrien einmarschiert und hat hunderte Kilometer Territorium von der autonomen Selbstverwaltung besetzt. Jetzt droht Erdogan wieder in ein Gebiet einzudringen, in dem sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland militärisch präsent sind. Dieser Modus Operandi ist der türkischen Regierung bestens bekannt: Angriff auf die Kurden, wenn die Popularitätswerte sinken, und das Versprechen, das Osmanische Reich wieder aufzubauen.

Ein paar Tage nach der Bombennacht in Kobanê nehmen die Angriffe im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung Flächendecken zu. Erdogan erklärte in einem Fernsehinterview: „Seit einigen Tagen sind wir mit unseren Flugzeugen, Bomben und Drohnen den Terroristen auf der Spur. So Gott will, werden wir sie bald alle mit unseren Panzern, Artillerie und Soldaten ausrotten.“ Zur gleichen Zeit bombardierte eine türkische Drohne nördlich der Stadt Haseke einen Stützpunkt der internationalen Koalition gegen den IS und der Anti-Terrorismus-Einheiten YAT.

Erdogans angeblicher „Kampf gegen den Terror“ bedroht erneut das Leben von fünf Millionen Menschen, die seit 10 Jahren autonom leben und inmitten des Krieges Tage des Friedens suchen, die ihnen immer verweigert wurden.

Autor*innen: Mauricio Centurión und Ariadna Masmitjà

Titelbild: Türkischer Luftangriff auf Zirgan vom 3.12.22

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Noch bevor die Fußball-WM der Herren in Katar losgegangen war, wurde die Vergabepraxis an das Emirat scharf kritisiert. Während der Spiele riefen die tausenden toten Arbeiter:innen und die Situation von FLINTA*s allerlei symbolischen Protest von Innenministerin Nancy Faeser, über die deutsche Nationalmannschaft, bis hin zum Einzelhändler REWE hervor; aber auch die Ultras in deutschen Stadien machten Boykottaufrufe. Was der Gegenstand der Kritik, also die WM, die Fifa und der DFB mit dem Kapitalismus zu tun haben, analysiert Raphael Molter hier. Teil 2 folgt.

Die Zeit der Zeichen

Das Turnier ist kaum gestartet, und das letzte bisschen moralische Stabilität wich im Rekordtempo. Bierausschank? Trotz Premiumsponsor Budweiser knickte die FIFA ein, der katarische Staat wollte es so. Und was war nochmal mit der peinlichen OneLove-Kapitänsbinde? Ah ja, für deren Abschaffung machte sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) im vorauseilenden Gehorsam gerade. Die Weltmeisterschaft in Katar sorgt für unangenehmes Kopfschütteln, Unverständnis und stetig steigende Ablehnung in der deutschen Gesellschaft. Die Voting-Plattform FanQ belegte, dass nur jeder zehnte Fußballfan alle oder die meisten Spiele anschauen möchte. Nicht mal durch Spiele der deutschen Nationalmannschaft lassen sich typische Party-Patriot:innen begeistern.

Stattdessen ist die Zeit der Zeichen gekommen. Während Robert Habeck und die gesamte Energiebranche lechzend nach Katar blickt und auf frisches Erdgas hofft, zeigen sich Journalist:innen und Kommentator:innen von RTL bis ZDF mit regenbogenfarbenen Binden und solidarisch gelesenen T-Shirts. Dabei verläuft die Kritik im Sande, denn die Zeichen sind zwar Protest, aber kein Ausweg. Auf der Suche nach moralisch vertretbaren Standpunkten bei einer WM, die von Menschen geschaffen wurde, die als Arbeitsmigrant:innen weder vor zwölf Jahren noch heute auf akzeptable Bedingungen bei der Lohnarbeit treffen. Doch die Suche verharrt im Protest, ohne Konsequenzen zu ziehen. Und weil alles so aussichtslos erscheint, wirkt dann selbst ein Lebensmittelkapitalist wie REWE stabil, weil man die Farce des DFB nicht mehr mittragen will.

Doof nur, dass die WM in Katar eine wunderbare Möglichkeit für europäische Unternehmen ist, um sich kurz mit ein bisschen moralischer Kritik an Katar reinzuwaschen. Erst das Fressen, dann die Moral: International agierende Unternehmen waren schon immer gut darin, erst zu verdienen und im Notfall danach zu verurteilen. Um aber aus dem „endlosen Prozess der Proteste ohne Revolte“ (Agnoli) zu entkommen, müssen kämpferische Perspektiven aufgedeckt werden. Ein Fußball, der den kapitalistischen Imperativ der Profitmaximierung so sehr auslebt, dass selbst all die Umstände rund um die WM nur wie der nächste Anlass für Gossip wirken: Ist das dieser Sport, dem wir natürliche Kräfte wie Toleranz, soziale Freude und Kommunikation über alle Grenzen hinweg zusprechen?

»Wer einschaltet, macht sich mitschuldig«

Überraschenderweise erhält sich das unparteiische, fast schon marienhafte Bild eines Sports, der von Schurkenstaaten wie Katar für böses Sportswashing missbraucht wird, bis in die Fanszenen. Viele der Boycott Qatar-Proteste in den Stadien der letzten Wochen griffen den konsumkritischen Ansatz auf und forderten von Fußballfans vor allem eines: Abschalten! Aber hier zeigt sich die genannte Kritik eines Protestes, der keinerlei Licht am Ende des Tunnels sieht und auch viele vermeintlich kritische Fußballexpert:innen schließen sich dem fast widerspruchlos an.

Das Produkt Profifußball wirkt so übermächtig, dass sich in der Boykott-Forderung ein angeblich günstiger und leicht zu vermittelnder Minimalkonsens findet, der die Leute noch mobilisieren kann. Doch Systemkritik, die am Individuum ansetzt, verkennt zwangsläufig Ursache und Symptom.

So sollten wir nicht zum fast schon stereotypen Fazit kommen, dass wir Linke es besser wissen und der Fußball tatsächlich aufgegeben werden sollte. Die Boykottbewegung hat nichtsdestotrotz tausende und abertausende Fußballfans mobilisiert, fast jede Fanszene im deutschen Profifußball hat sich durch Choreographien und Spruchbänder gegen die WM in Katar ausgesprochen. Die bisweilen sehr brüchigen Bündnisse in den Fußballstadien dieser Republik scheinen sich mit der Weltmeisterschaft und der FIFA als Feindbild gefestigt zu haben. Nur schafft der reine Boykott-Aufruf keine kämpferische Perspektive für die Zeit nach dem WM-Finale am 18. Dezember. Soll diese Bewegung absichtlich im Sande verlaufen, wenn doch die nächste Europameisterschaft in Deutschland stattfindet?

Der katarische Staat funktioniert nur durch die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen, doch die systemischen Ursachen dahinter kennen wir auch aus Deutschland. Allein der jährliche Aufruhr um rumänische Arbeitsmigrant:innen als Retter:innen unseres Spargels sollten uns lehren, dass die Probleme nicht nur am Persischen Golf existieren. Wenn wir die grundlegenden, systemischen Verhältnisse hinter der Arbeitsmigration nach Katar kritisieren und uns mit den lohnarbeitenden Menschen dort solidarisieren, sollten wir das auch in unsere Praxis hier vor Ort aufnehmen. Nach Katar fahren und sich dort ein Bild machen, kann und sollte nicht Ziel der moralischen Kritik sein: Guckt um euch herum, macht euch für die Arbeitsmigrant:innen stark, auf die sich das deutsche Kapital auch hier in Deutschland stützt. Solidarität mit den arbeitenden Menschen in Katar hieße dann auch Solidarität mit den »Wanderarbeiter*innen« in der EU-Zone.

Soll die Boykott-Bewegung auch auf der Fußballebene bestehen bleiben, gilt es aber allen voran in den Blick zu nehmen, wie der Fußball zu dem wurde, was heute unter Kommerz oder reiner Geldgier beschrieben wird. Fußball mobilisiert Massen, Fußball politisiert aktive Fans auch in Deutschland: Polizeigewalt und staatliche Repressionen sind immanenter Bestandteil des Lebens für Ultras. Verstehen wir den Fußball als eine Subsphäre der kapitalistischen Gesellschaft, als den vielbeschworenen »Spiegel der Gesellschaft«, dann lohnt sich auch im Spiel um das runde Leder der Kampf für ein besseres Leben für alle. Das bedeutet aber nach Gabriel Kuhn nicht: »den Sport mit einer politischen und moralischen Aufgabe zu belasten, die den Spaß am Sporterlebnis gefährdet. Es geht einzig darum, den Sport nicht vom Kampf um eine bessere Gesellschaft zu trennen. Tatsächlich macht dann alles doppelt so viel Spaß«. Lassen wir die aktuelle Moralkritik hinter uns und blicken auf die Möglichkeiten, kämpferische Perspektiven im Fußball zu entwickeln.

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Die Türkei führt seit Tagen erneut eine großangelegte Militäroperation gegen die befreiten Gebiete der Selbstverwaltung in Nord-Ost-Syrien und Rojava. Zur aktuellen Lage und den politischen Hintergründen sprach Hubert Maulhofer mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Internationalistischen Kommune in Rojava und der Kampagne Riseup4Rojava.

Vielleicht kannst du zu Beginn kurz erzählen, was seit dem begonnen Angriff der Türkei am vergangenen Sonntag in Rojava passiert ist?

In der Nacht vom 19. auf den 20. November hat die türkische Besatzungsarmee mit massiven Luftangriffen und Bombardements des gesamten Grenzgebiets, sowie Angriffen bis tief hinein ins Landesinnere, begonnen.

Diese Angriffe setzen sich bis zu diesem Moment fort. Es gibt ununterbrochene Angriffe mit Kampfjets, Drohnen und Hubschraubern. Getroffen wurden militärische Ziele der Genoss:innen der YPG, der YPJ und der SDF. Aber auch viele zivile Orte wurden angegriffen, beispielsweise das Stadtzentrum von Kobane und Qamislo.

Vor allem in den letzten zwei Tagen wurde begonnen fokussiert die zivile und ökonomische Infrastruktur anzugreifen. Also Ölfelder, Stromversorgung, Gasversorgung und Wasserversorgung. Krankenhäuser und Kliniken, sowie Schulen wurden bombardiert. So wie es aktuell aussieht ist nicht mit einer Entspannung der Lage zu rechnen.

Trotz dieser massiven Angriffe, der Schäden und der gefallenen Freunde und Freundinnen ist die Moral in der Bevölkerung hoch. Das Volk leistet Widerstand, ist auf der Straße und kämpft gegen diese Angriffe.

Als Kampagne „RiseUp4Rojava“ habt ihr regelmäßig daraufhin gewiesen das Rojava in einem permanenten Kriegszustand ist. Wurde die Strategie der Türkei, einer Kriegsführung niedriger Intensität, jetzt zu einer Kriegsführung hoher Intensität gewandelt?

Das was gerade passiert ist eine neue Eskalationsstufe. Aber wir müssen klar herausstellen, dass es sich nicht um einen neuen Beginn des Krieges handelt. In den letzten drei Jahren, nach der Besatzung von Serekaniyê und Gîrê Spî 2019, herrschte kein Frieden. Die Region befindet sich konstant im Krieg. Insbesondere an den Frontlinien gab es täglich Angriffe. Der Krieg gegen Rojava wird und wurde aber nicht nur militärisch sondern auch auf allen anderen Ebenen weiter geführt. Medial, ökonomisch, politisch wurde Druck auf die Bevölkerung ausgeübt, beispielsweise durch das Kappen der Wasserversorgung und das gezielte Ermorden von Schlüsselfiguren der Revolution.

Der Krieg des türkischen Staats gegen die kurdische Freiheitsbewegung erstreckt sich ja nicht lediglich auf die befreiten Gebiete Nord-Ost-Syriens. Auch in den Bergen Südkurdistans herrscht Krieg, innerhalb der Türkei kommt es zu massiver Repression. Wie hängt all das miteinander zusammen?

Der Krieg in Rojava darf nicht getrennt betrachtet werden von den Entwicklungen der gesamten Region. Der Krieg ist alltäglich in Nordkurdistan, in Südkurdistan, in Ostkurdistan, in Rojava. Die gesamte Region ist in Bewegung. Ein Krieg in Rojava, ein Krieg in Südkurdistan, ein Volksaufstand in Ostkurdistan und dem gesamten Iran. Das kurdische Volk, in allen vier Teilen Kurdistans unterdrückt und kolonisiert, mit brutalster Repression und Vernichtungspolitik konfrontiert, steht auf.

Innenpolitisch ist die Position des Erdogan-Regimes nicht gefestigt. Die ökonomische Krise in der Türkei ist enorm. Die sozial-politische Krise in der Türkei hat sich massiv verschärft. Im Zusammenhang mit den Wahlen im kommenden Jahr befindet sich Erdogan unter extremen Druck, er versucht das eigene Überleben durch den Krieg zu sichern. Der erwünschte Erfolg durch den Krieg gegen die Guerillakräfte der PKK in den Bergen Südkurdistans ist nicht eingetreten. Im Gegenteil, an bestimmten Stellen konnte die Türkei zwar einige Geländegewinne verzeichnen, aber nur unter extremen Verlusten in den Reihen der türkischen Armee und dem Nutzen von allem was sie zur Verfügung stehen haben, inklusive dem massiven Gebrauch von Giftgas.

In der Türkei konnte die Opposition der HDP trotz massiver Inhaftierungen, Repression und Verleumdungen nicht mundtot gemacht werden. Die Unterstützung der Bevölkerung gegenüber dem Freiheitskampf konnte nicht gebrochen werden.

Die aktuellen Angriffe auf Rojava jetzt sind ein weiterer verzweifelter Versuch des Erdogan-Regimes sich selbst am Leben zu erhalten.

Wachsende Verwerfungen auf internationaler Ebene, innenpolitischer Druck der Opposition, eine gigantische Inflation, ein Krieg der Millionen Dollar und das Leben türkischer Soldaten fordert. Es scheint manchmal so, dass sich Erdogan und sein Staatsapparat in ihren Großmachtsphantasien beginnen zu übernehmen…

Das kann man definitiv so sagen. Ich meinte ja schon, dass es sich mit der Kriegsführung um einen Versuch handelt, an der Macht zu bleiben und den eigenen Absturz zu verhindern. Nichtsdestotrotz darf man die Türkei nicht unterschätzen. Sie verfügt über die zweitgrößte NATO-Armee. Erdogan hat es in der Vergangenheit immer wieder geschafft in den Krisen zwischen verschiedenen Interessen zu manövrieren und sich die Unterstützung für seine Politik national wie international zu sichern.

Aber das was gerade passiert ist kein Zeichen der Stärke des Regimes, sondern ein Ausdruck der Schwäche und der innenpolitischen Krise.

Vor den Wahlen 2023 versucht Erdogan nun über das Mittel des Krieges auch die Opposition erneut mundtot zu machen und auf Linie zu bringen. Mann muss sagen, dass ihm dies, abseits der HDP, auch gelungen ist. Wie sich das jedoch in den kommenden Monaten weiterentwickelt bleibt abzuwarten. Denn in diesem Kontext wird der Widerstand und der Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung und der Bevölkerung, sowie der Verlauf des Krieges einen entscheidende Rolle spielen.

Was für ein Interesse haben die beiden in Syrien präsenten Weltmächte USA und Russland in der aktuellen Lage? Nach Außen positionieren sich beide Seiten ja vermeintlich gegen eine größere Militäroperation.

Der Krieg der Türkei gegen die kurdische Bewegung, in allen Teilen Kurdistans, könnten nicht ohne die Unterstützung der USA funktionieren. Im Fall von Rojava hat Russland teilweise eine ähnliche Rolle inne.

Die Besatzung von Êfrîn, Sêrêkaniyê und Gîrê Spî wäre ohne die Zustimmung Russlands und der USA nicht möglich gewesen.

Der Krieg in Südkurdistan wäre nicht möglich, jedenfalls nicht in dieser Intensität, ohne die Zustimmung der USA und der NATO.

Die AKP Erdogans, als ein Projekt des vermeintlich moderaten politischen Islams, welches die sunnitischen Kräfte in der Region bündeln soll für die Interessen der westlichen Staaten, ist für die USA ein strategischer Partner. Das schon seit dem Kalten Krieg und als zentraler Teil des sogenannten „Greater Middle East Projects“. In diesen strategischen

Planungen der NATO bezogen auf den mittleren Osten ist die kurdische Freiheitsbewegung ein großes Problem. Dementsprechend lies man stets der Türkei auch in ihrem Vernichtungswillen indirekt und direkt freie Hand und unterstützte sie. Das ist eine Realität seit dem Beginn des Freiheitskampfes in Kurdistan.

Das heißt es gibt Überschneidungen in den Interessen der Türkei und den USA. Es mag unterschiedliche Formen geben wie man gedenkt diese Politik umzusetzen. Vernichtungspolitik als Mittel der Türkei einerseits und Integration-Assimilation-Korruption als Mittel der USA andererseits, um in Rojava eine weitere KDP [Anm. d. Red.: Regierungspartei in Südkurdistan die mit der Türkei kollaboriert] wie in Südkurdistan aufzubauen. Der Inhalt, die Vernichtung der Freiheitsbewegung, bleibt jedoch der gleiche.

Auch für Russland ist die Türkei ein wichtiger Partner. Ökonomisch ist die Türkei ein wichtiger Handelspartner geworden. Russland hat stets über die Türkei versucht Einfluss auf die NATO zu nehmen, Widersprüche innerhalb der NATO zu verschärfen.

Durch die verstärkte Konfrontation der NATO mit Russland im Rahmen des Ukrainekriegs und die Restrukturierung der NATO, spielt die Türkei in der NATO eine wichtige Rolle.

Wenn wir als Internationalist:innen nicht an die Nationalstaaten appellieren, da wir wissen, dass von Ihnen nichts zu erwarten ist, was ist zu tun? Was ist euer Aufruf als Kampagne RiseUp4Rojava?

Vor einigen Tagen haben wir den sogenannten „Tag X“ ausgerufen.

Wir müssen sehen, dass, unabhängig davon ob es aktuell zu einer Bodenoffensive kommt oder nicht, Rojava sich im Krieg befindet. Die Revolution ist gefährdet.

Der Wille zum Sieg und Kampf gegen den türkischen Faschismus in der Bevölkerung ist groß, aber es braucht jetzt Internationale Solidarität.

Das was in Rojava in den vergangenen zehn Jahren aufgebaut wurde ist gefährdet. Die kurdische Freiheitsbewegung führt seit Jahrzehnten einen Kampf für Demokratie, Frauenbefreiung und ökologisches Wirtschaften.

Sie ist ein Beispiel dafür, wie konsequent gekämpft werden kann. Sie zeigt wie mit erhobenen Kopf den größten Schwierigkeiten getrotzt werden kann und bei allen Widersprüchen und Schwierigkeiten an der eigenen politischen Linie festgehalten werden kann. Für uns Internationalist:innen spielt diese Revolution auch gerade deshalb eine wichtige Rolle, weil sie zeigt, dass ein anderes Leben möglich ist, eine gesellschaftliche Alternative möglich ist. Die Front gegen den Faschismus muss international organisiert sein. Eine Niederlage Rojavas hätte massive Auswirkungen auf die revolutionären Kräfte weltweit, der Erfolg jedoch genauso.

Überall dort wo wir sind, wo wir leben und arbeiten, muss der türkische Faschismus angegriffen werden. Wir müssen unsere Solidarität mit dem Widerstand Kurdistans auf die Straße tragen. Wir sagen, jede Aktion und Beteiligung ist erwünscht. Von kleinen symbolischen Aktionen, über Massendemonstrationen und Blockaden. Einerseits haben diese Aktionen natürlich den Effekt Druck auf den deutschen Staat aufzubauen. Andererseits dürfen wir nicht die Wirkung unterschätzen, die diese Aktionen hier in Rojava haben. Sie gegeben Kraft und Mut weiterzukämpfen. Wenn du im Kampf bist und siehst, dass überall auf der Welt Menschen hinter dir stehen und sich auch als Teil dieses Kampfes sehen, das ist unbeschreiblich.

Unser Aufruf ist an alle: Geht auf die Straße, organisiert euch. Lasst diejenigen die dachten sie verdienen sich eine goldene Nase an diesem Vernichtungskrieg, es bereuen. Sorgt dafür, dass diejenigen die diese Vernichtungspolitik unterstützen, es bereuen werden.

#Titelbild: Trümmer der Pressestelle der YPG in Qerecox nach der Bombardierung durch die Türkei 2017

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Thailand als Land der Semiperipherie befindet sich irgendwo in der Schwebe zwischen Zentrum und Peripherie. Wir haben einen Text der thailändischen Genoss:innen von dindeng übersetzt, der sich die Frage stellt, wie Staat, Macht und Gewalt sich in ihrem Kontext auf ihre Kämpfe auswirken.

Autor: Yung Kay

Wir sind hier an der Schnittstelle zwischen Zentrum und Peripherie, und wenn es irgendwo möglich sein sollte, diese in Einklang zu bringen, dann sicherlich hier. Nicht nur Thailand, sondern auch andere Regionen, die in der gleichen globalen ökonomischen Gruppe des mittleren Einkommens gefangen sind. Kann es eine Interaktion zwischen der Peripherie und dem Zentrum geben?

Im Moment befinden wir uns in Nordthailand. Hier sind wir zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Wir haben Geflüchtete von jenseits der Grenze gesehen, die von den Eiswägen aus in die tadellos sauberen  Co-Working Spaces liefern und mühelos an den professionellen E-Mail-Schreibern in ihren klimatisierten Räumen vorbeigleiten.

Thailand selbst ist zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Noch heute ist es ein „wichtiger Nicht-Nato-Verbündeter“, der gegenüber unseren Genossen in Peking endlos Lippenbekenntnisse abgibt. In Wirklichkeit sind unsere Glanzzeiten als kolonialer Vorposten des Kalten Krieges längst vorbei. Thailand bröckelt langsam vor sich hin und ist ein Relikt der alten bipolaren Welt, erdrückt von autoimperialistischer Aufblähung und gefangen in längst überholten, vom Ausland aufgezwungenen Dogmen.

Wie kann man das unter einen Hut bringen?

Lokal

Um mit einer Versöhnung zu beginnen, müssen wir zunächst versuchen zu bestimmen, was die Peripherie und was das Zentrum ist. Eine einfache Möglichkeit, dies zu tun, ist ein Blick auf die Verteilung des BIP im gesamten Königreich zu werfen. Bangkok verzehrt alles. Ein schwarzes Loch, das Wohlstand und Arbeit aus dem ganzen Land ansaugt. Fast 50 Prozent des Reichtums des Landes liegen in Bangkok, während nur 22 Prozent der Bevölkerung dort leben, von denen ein Großteil inländische oder ausländische Wanderarbeiter*innen sind. Von diesem Reichtum befindet sich natürlich der größte Teil in den Händen der Bourgeoisie. 

Seit seiner Gründung in der Mitte des 18. Jahrhunderts hat Bangkok seine Außenposten im ganzen Königreich ausgebaut. Chiang Mai im Norden, Khon Kaen und Korat im Isaan, Had Yai und Nakorn Si Thammarat im Süden. Diese Außenposten dienen dem Zweck, die Peripherie ins Zentrum zu integrieren. Die Thaifizierungspolitik der explizit faschistischen Regierung in den 1930er Jahren war nicht nur ein kultureller Imperialismus, sondern auch ein wirtschaftliches Programm, mit dem sie die Peripherie und den Kern miteinander versöhnen wollte, indem sie die Peripherie in den ökonomischen Einflussbereich des Kerns aufnahm.

Der Norden ist pro Kopf die ärmste Region, was vor allem auf die Armut in Mae Hong Son zurückzuführen ist – zweifellos die Provinz, welche geografisch, wirtschaftlich, kulturell und in Bezug auf die Reichweite der Regierung am weitesten vom Kern entfernt ist – die Einheimischen sagen oft, dass Mae Hong Son nicht Thailand ist. Mae Hong Son ist der Ort, aus dem viele der oben erwähnten subalternen Arbeiter stammen oder durch den sie kommen. Sie sind alle auf die eine oder andere Weise Flüchtlinge, sowohl diejenigen, die im Inland geboren sind, als auch diejenigen, die von jenseits der Grenze kommen, denn die Grenze bedeutet sehr wenig, wenn sie so weit draußen in der Peripherie liegt. 

International

Bangkok ist zwar das imperiale Zentrum Thailands, wird aber selbst immer mehr Teil der globalen Peripherie des Kapitals. Einst war es das Bollwerk des amerikanischen Imperiums im Kampf gegen den Kommunismus in Südostasien – Milliarden von Dollar wurden in die Hauptstadt gepumpt, um sie vor den Bauern zu schützen, die sie erobern und ihren Reichtum umverteilen wollten.

Zu diesem Zeitpunkt wurde der „tiefe Staat“ im eigenen Land geschmiedet. Der republikanische Faschismus, der Thailand von den dreißiger Jahren bis in die frühe Nachkriegszeit hinein beherrschte, wurde von einer mehr auf die Dritte Welt ausgerichteten, bündnisfreien Stimmung bedroht. Die republikanischen Elemente des früheren offen faschistischen Regimes wurden verworfen, auch wenn viele ihrer Ideale erhalten blieben und der Republikanismus wurde durch ein Programm zur Aufwertung der Monarchie ersetzt, um sie zur wohlwollenden Fassade der Nation zu machen. Man machte sich ihre religiösen und feudalen Patronagenetze zunutze und kombinierte sie mit dem nationalistischen militaristischen Faschismus der vorangegangenen Generation von Führern. Das Militär, die Monarchie und das Kapital verbündeten sich gegen die Arbeiter und den Kommunismus, ein Bündnis, das vom globalen Kapital über die Fänge des US-Imperiums heftig unterstützt und ermöglicht wurde.

Das Königreich wurde zu einer wichtigen Operationsbasis, von der aus Aggressionen gegen Nachbarstaaten gestartet wurden. Obwohl das Kapital in Vietnam, Laos und Kambodscha kleinere Rückschläge hinnehmen musste, war diese Aggression letztlich erfolgreich. In den 90er Jahren, als die Bedrohung durch die Arbeiter nachließ, wurde Bangkok weitgehend sich selbst überlassen, die Schmiergelder waren gestrichen worden und die imperiale Aufblähung begann. Heute ist der Verfall in ganz Bangkok offensichtlich: eine absurd überfüllte Stadt, deren Boulevards mit leeren Ladenfronten buchstäblich versinken, während sich das Meer langsam das Land zurückholt, auf dem immer noch glitzernde neue Einkaufszentren und Eigentumswohnungen errichtet werden.

Für das obere Ende der Bourgeoisie musste sich jedoch nichts ändern. In dem Unterbietungswettlauf des Kapitals, immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten für die Gewinnung von so viel Überschuss wie möglich, stagniert Thailand jedoch. Die brutale Gewinnausbeutung kann in nahe gelegenen Ländern wie Bangladesch und Birma billiger durchgeführt werden. Heute gleiten makellose Teslas mühelos über die rissigen Straßen und an den verfallenden Slums vorbei – ihre Fahrer sind sich der Fäulnis, die sie umgibt, überhaupt nicht bewusst und wissen nicht, dass sie nur noch mit Abgasen fahren, dass das Kapital sie im Stich lässt, obwohl der Gestank bleibt.

Diejenige, die die Fäulnis aus erster Hand kennen, ist natürlich die Arbeiterklasse. Die jüngsten Zahlen zeigen, dass die Verschuldung der thailändischen Haushalte inzwischen 90 % des BIP übersteigt und damit an elfter Stelle in der Welt steht, wobei der Großteil dieser Schulden auf Haushalte mit niedrigem Einkommen entfällt.

Die Wirtschaft braucht dringend massive Investitionen und eine Generalüberholung, aber die Säulen, die die Nation stützen, sind am Wanken. Das Militär, die Monarchie, die Bürokratie und das Parlament sind allesamt völlig unfähig, etwas anderes zu tun als den Status quo aufrechtzuerhalten. Diese Institutionen sind durch ihre aufgeblähten Klientelnetzwerke verankert und gebunden und werden durch den tiefen Staat eingeengt, der seinerseits durch das Dogma der thailändischen Vergangenheit aus der Mitte des 20. Jahrhunderts gebunden ist. Heute aber ist er kein wichtiger Außenposten des globalen Imperiums mehr, sondern nur noch ein Relikt.

Der einzige sinnvolle Reformversuch kam in Gestalt von Thaksin Shinawatra. Im Guten wie im Schlechten war Thaksin eine revolutionäre Kraft in der thailändischen Wirtschaft, politisch wollte er die Nation ins 21. Jahrhundert bringen. Obwohl seine Politik immer noch fest im Dienste der Bourgeoisie stand, wurde er als zu große Bedrohung für die bereits erwähnten aufgeblähten dogmatischen Institutionen des Staates und des Kapitals angesehen. Sie setzten ihn gewaltsam ab und arbeiteten unermüdlich daran, jegliche Überreste von Reformen zu vernichten, und bewiesen damit ihre Unfähigkeit, sich dem Tempo des globalen Kapitals anzupassen.

Wir sind nicht allein

Diese Gefahr ist weltweit keine Seltenheit. Haltet Ausschau nach Ländern mit einer großen Bevölkerung, die hauptsächlich vom Land kommt und die im letzten halben Jahrhundert eine massive Verstädterung erfahren und eine Produktionsbasis entwickelt haben. Achtet auf die verräterischen Anzeichen von sich ausbreitenden Städten, die sowohl eine wehrhafte einheimische Elite als auch eine massive Slumbevölkerung beherbergen. Beachtet die geografische Peripherie, d. h. die Teile des Landes, die vom Zentralstaat praktisch nicht regiert werden. Schaut auch die politische Gewalt an, auf der diese zeitgenössischen Versionen des Staates aufgebaut wurden, wobei US-Geheimdienstmitarbeiter im Hintergrund lauerten. Brasilien, Indonesien, Südafrika, Mexiko, usw.

Diese Länder dienen als eine Art Vermittler zwischen dem Kern und der Peripherie. Niedrige Unterleutnants des globalen Kapitals. Nur wenige erklimmen die Leiter in die oberen Ränge, wobei Südkorea eine der wenigen großen Nationen ist, die in die Bruderschaft des Zentrums eingetreten ist. Thailands Führer blicken neidisch dort hin und fragen: „Warum können wir das nicht haben?“

Die Antwort ist, dass Südkorea im Auftrag des Kapitals, genauer gesagt seiner Vollstrecker, des US-Imperiums, gezwungen wurde, jegliche Souveränität aufzugeben. Südkorea, ein Staat mit einer so absurden Geschichte, voller grotesker Gewalt und brutaler Unterwerfung, wurde weitgehend mit Gewalt und als Ergebnis eines außergewöhnlichen Ereignisses in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zum perfekten kapitalistischen Staat geformt. Ein paar andere Fälle in Ostasien, nämlich Taiwan und Singapur, basieren mehr auf Zufällen der Geschichte als auf geschickter innenpolitischer Führung oder klugem Wirtschaftsmanagement. Eine Gemeinsamkeit besteht jedoch darin, dass die Souveränität im eigenen Land fast völlig fehlt und in Wirklichkeit in den Händen des Westens und des globalen Kapitals liegt.

Die thailändischen Eliten waren nicht bereit, dieses Maß an Souveränität aufzugeben, wie wir 1973 gesehen haben, oder vielleicht wurde ihnen auch nie die Gelegenheit dazu gegeben. Wie auch immer, es scheint, dass sie am Ende an ihr eigenes Märchen von einem „besonderen“, tapferen kleinen Staat glaubten, der in der Lage war, sich gegen Kolonialreiche zu behaupten. In Wirklichkeit hat Thailand lediglich Platz gemacht für das britische Empire und dessen Nachfolger, das Kapital des 20. Jahrhunderts, unterstützt von seinem Vollstrecker, dem US-Imperium. Als Thailand nach dem Kalten Krieg nicht mehr von Nutzen war, verlor das Imperium das Interesse. Zum Glück für die koreanische und taiwanesische Bourgeoisie sorgten unsere Genossen weiter nördlich dafür, dass sie in den Augen des Imperiums relevant blieben, und so wurden sie in den Kern, die Bruderschaft der „fortgeschrittenen Volkswirtschaften“, aufgenommen.

„Warum können wir das nicht haben?“ – schreit der thailändische tiefe Staat dem Kapital zu.

„Weil ihr zu irrelevant seid“, antwortet das Kapital beiläufig und stößt auf taube Ohren.

Gewalt

Um die Politik in diesen Ländern mit mittlerem Einkommen im Vergleich zur wahren Peripherie und zum wahren Zentrum zu definieren, müssen wir die Gewalt verstehen. In den Ländern des Zentrums ist explizite politische Gewalt selten. Natürlich gibt es diese Art von permanenter unterschwelliger Gewalt und Unterwerfung, die man in fortgeschrittenen Volkswirtschaften findet, aber sie bricht selten in massenhafter politischer Brutalität aus. Die wahre Peripherie ist jedoch von Gewalt geprägt. Gleich jenseits unserer westlichen Grenze ist Gewalt im Alltag allgegenwärtig, sie ist der wichtigste Faktor bei fast allen Entscheidungen der Arbeiterklasse. In unserem Erleben gibt es jedoch ein unbehagliches Verständnis von Gewalt, ein Verständnis, das sie erlebt hat und nur äußerst ungern noch einmal erleben möchte.

Die thailändische Politik ist gespickt, aber nicht übersät mit politischen Massakern, einige sichtbar, andere nicht. Phumi Bhoon, Thammasat, Black May, Tak Bai, Krue Se und Ratchaprasong sind in den Köpfen des Proletariats fest verankert. Dies sind Fälle, in denen der Staat gezeigt hat, dass er bereit und in der Lage ist, öffentlich Massengewalt anzuwenden. Viele in der Arbeiterklasse erinnern sich auch an die Gewalt des Krieges gegen die Drogen Mitte der 2000er Jahre, an die Verhaftungen, die spontanen brutalen Verhöre und die massenhaften, fast unsichtbaren außergerichtlichen Morde – die so weit verbreitet und doch irgendwie so unauffällig waren. Im vorigen Jahrhundert sahen sich diejenigen, die den Revolutionären des Aufstands Unterschlupf gewähren wollten, mit Morden und staatlicher Brutalität konfrontiert, die öffentlich bis heute völlig ignoriert werden, an die sich aber diejenigen, die sie erlebt haben, noch erinnern.

Wenn man bereit ist, die Macht des Staates herauszufordern, ist Gewalt auf individueller Ebene nicht so sehr eine Bedrohung, sondern eine Unvermeidlichkeit. Wie viele Aktivist*innen wurden allein in den letzten zehn Jahren geschlagen, gefoltert oder in überfüllte sadistische Gefängnisse geworfen? Ihre Geschichten und Erfahrungen, ihr Blut, sind eine abschreckende Botschaft für alle anderen, die mutig genug sind, es ihnen gleichzutun. Sie sind die Überlebenden, viele andere wurden einfach ermordet, entsorgt, manchmal am Telefon mit ihren Angehörigen, ihre Leichen wurden in den Mekong geworfen.

Natürlich ist die Gewalt in Thailands innerer Peripherie eine weitaus allgegenwärtigere Facette des täglichen Lebens. Diejenigen, welche auf „Land leben, das ihnen nicht gehört“, sind der ständigen Gefahr einer gewaltsamen Vertreibung ausgesetzt. Für Migrant*innen, die in das Zentrum reisen um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, ist das Leben von Gewalt am Arbeitsplatz und in den städtischen Slums geprägt. Insbesondere Frauen sind in der Sexindustrie, einem historischen Hort frauenfeindlicher Barbarei, der übrigens im Dienste der aus den USA importierten Kolonialtruppen des letzten Jahrhunderts errichtet wurde, entsetzlicher Gewalt ausgesetzt – heute führen die Söhne und Enkel dieser Truppen das Erbe ihrer Vorfahren fort.

Diese Art von Gewalt, sowohl die gegenwärtige als auch die historische, sowohl die sichtbare als auch die unsichtbare, stellt eine ständige Bedrohung für diejenigen dar, die ihre gegenwärtigen Bedingungen ändern wollen. Im August, in den ersten Tagen der Protestbewegung 2020 Bangkok und fast 50 Jahre nach dem Massaker an der Thammasat-Universität, kämpften Student*innen auf der Straße gegen die Polizei. Für viele von ihnen war es die erste Erfahrung mit staatlicher Gewalt. Als sie in der Chulalongkorn-Universität Zuflucht vor dem Tränengas suchten, hallte im ängstlichen Flüstern die Erinnerung an die Thammasat-Universität wider: „Könnten sie es wieder tun? Ich glaube, sie könnten es wieder tun?“ Die Angst ist weit verbreitet und berechtigt – eine Angst, die im globalen Zentrum unbekannt ist, aber nur allzu bekannt in der wahren Peripherie.

In unserer Lebenswelt hat der Staat unter Beweis gestellt, dass er die Fähigkeit zu expliziter Massengewalt hat, diese jedoch im Kontext eines allgemeinen Friedens existiert. Diejenigen, die den Status quo in Frage stellen wollen, geraten in eine schwierige existenzielle Lage.

Wie lässt sich das unter einen Hut bringen?

Eine Chance

Vielleicht sind wir nicht zwischen einem Tiger und einem Alligator gefangen, sondern befinden uns vielmehr in der besten der beiden Welten.

Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, geht allmählich in den Todeskampf über. Vor allem aber wird das US-Imperium immer weniger in der Lage sein, die Rolle des Vollstreckers zu spielen. Aber was passiert mit der halben Peripherie, wenn der Kern zusammenbricht? Wenn die Westgoten Rom plündern? …eine Gelegenheit bietet sich. 

Wir kennen die brutale Unterdrückung gut genug um zu ahnen, womit wir es zu tun haben. Der Reichtum der Bourgeoisie präsentiert sich im gleichen Rahmen wie die Notlage der Arbeiterklasse, und zwar auf eine Weise, wie sie es weder im Zentrum, noch in der wahren Peripherie wagen würde. Die bröckelnde Wirtschaft ist eine Bedrohung für das Proletariat, aber auch für die Bourgeoisie – eine Bourgeoisie, die immer selbstgefälliger, langsamer und aufgeblähter wird, steht einem Proletariat gegenüber, das ungeduldig, unzufrieden und immer mutiger wird.

Die Arbeiteraristokratie des Kerns ist nicht in der Lage, das Kapital wirklich herauszufordern ohne ihre materiellen Annehmlichkeiten zu verlieren. Hier, im Norden, im Isaan, haben wir Bangkok im Visier. Wir haben das Potenzial, den Reichtum des Zentrums in die Hände der Peripherie zu bringen, ein Potenzial, das für einen Großteil des übrigen Planeten unerreichbar ist.

Gleichzeitig bedeutet diese mittlere Malaise aber auch, dass wir vorerst wenig Handlungsspielraum haben. Wir sind darauf angewiesen, dass der Zusammenbruch des globalen Zentrums uns die Gelegenheit bietet, mit dem Kapital, mit unserem heimischen Zentrum, in Konflikt zu geraten. Hier warten wir ab und bereiten uns still vor. Wenn es irgendwo passieren kann, dann sicherlich hier.

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Imperialismus – kaum ein Schlagwort wird so sinnentleert benutzt wie dieses. Während aktuell von westlichen Regierungen der „russische Imperialismus“, gemeint ist der Angriffskrieg in der Ukraine, gegeißelt wird, wird das eigene militärische Agieren und die Unterstützung antikommunistischer Putsch- und Regierungsprojekte auf allen Kontinenten selbstverständlich nicht unter diesem Begriff gefasst, genausowenig die ökonomischen Bedingungen, die zu weltweit krasser Ungleichheit führen. Aber auch für Teile der Linken, insbesondere in Deutschland, sind Imperialismus und auch Antiimperialismus begriffliche Leerstellen, bzw. Codewort für irgendwas, das man beides in der Vergangenheit verortet und irgendwie schlimm ist. Damit das nicht so bleibt haben wir das Buch „Die globale Perspektive“ von Torkil Lauesen herausgegeben, in der Hoffnung, diese Leerstelle aus linker, revolutionärer Perspektive zumindest etwas füllen zu können. Wir veröffentlichen hier unser Vorwort zum Buch, das Ihr in der Buchhandlung eures Vertrauens, oder direkt beim Unrast-Verlag bestellen könnt.

Am 24. Februar 2022 marschierten Streitkräfte Russlands in der Ukraine ein. Die „Spezialoperation“, wie der Kreml den Angriffskrieg nennt, belebte auch in den westlichen Konzern- und Staatsmedien die Debatte um einen Begriff, der zumindest in der bürgerlichen Öffentlichkeit zuvor als ein Ding des 20. Jahrhunderts erschien. „Imperialismus“, allerdings fast ausschließlich in Gestalt des „russischen Imperialismus“, war nun wieder in aller Munde. Die FDP-nahe „Friedrich Naumann Stiftung für Freiheit“ veranstaltete ein Online-Panel mit „Expert:innen“ zum Thema „Russian Imperialism for Dummies“, die US-Regierung versammelte Diskutant:innen zur Frage der „Dekolonialisierung Russlands“ und der als Jugendlicher im Stamokap-Flügel der SPD geschulte Bundeskanzler erklärte in einem Gastbeitrag für die FAZ: „Der Imperialismus ist zurück in Europa.“

Aber war er denn je weg? Das kommt darauf an, was man darunter versteht. Olaf Scholz lässt es uns wissen: Die EU sei die „gelebte Antithese zu Imperialismus und Autokratie“. Imperialismus betreiben in dieser Weltsicht also zufällig immer die geopolitischen Gegner des Westens. China und Russland agieren „imperialistisch“, die USA und ihre stets willigen Partner dagegen „verteidigen“ sich – und sei es tausende Kilometer entfernt am Hindukusch. Oder sie „helfen“ – wie im Jemen, in Mali oder in Libyen. Ob diese „Hilfe“ Millionen Tote mit sich bringt und die von ihr beglückten Nationen als Failed States zurücklässt, spielt dabei keine Rolle. Imperialisten sind immer die anderen.

Das war im Ersten Weltkrieg nicht anders. „Mitten im Frieden überfällt uns der Feind“, klagte Kaiser Wilhelm II. in seiner Thronrede am 6. August 1914. Und die SPD sprang ihm bei: „Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. (…) Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei“, schwor der Fraktionsvorsitzende der Partei, Hugo Haase, die „Volksgenossen“ auf den heiligen Verteidigungskrieg ein. Das Parteiblatt „Vorwärts“ legte nach: „Wenn die verhängnisvolle Stunde schlägt, werden die vaterlandslosen Gesellen ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen.“ Natürlich musste dieser Burgfrieden mit der eigenen Bourgeoisie gerechtfertigt werden und man fand die Beschönigung des eigenen „sozialistischen“ Bellizismus im selben moralisierenden Begriff des Gegners, den noch der heutige SPD-Kanzler nutzt: Der russische Despotismus und Imperialismus sei das wesentlich größere Übel als Deutschland und zudem sei man ja aus heiterem Himmel angegriffen worden.

Zwei Jahre und Hunderttausende Tote später verfasste W.I. Lenin in Zürich seine Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, die 1917 zum ersten Mal erschien. Der russische Revolutionär hatte für die durchaus theoretische Schrift klare praktische Interessen. Es ging darum, die Arbeiterbewegung aus der Krise zu befreien, in die sie geraten war, weil die sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale ein Klassenbündnis mit „ihren“ nationalen Herren geschlossen hatten und in den Krieg gezogen waren.

Lenin führte den Begriff „Imperialismus“ auf Veränderungen in der ökonomischen Basis des Kapitalismus zurück und entwickelte Kriterien für seine Verwendung. Imperialismus ist Kapitalismus in seinem „monopolistischen“ Stadium, also einer, in dem die Konzentrations- und Zentralisationstendenz des Kapitalismus zur Herausbildung marktbeherrschender Großkonzerne geführt hat. Er arbeitet die veränderte Rolle der Banken (Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital zu Finanzkapital) und die Rolle von Kapitalexporten bei der Aufteilung der Welt in Interessensphären heraus.

Die ökonomische Analyse ist ihm aber zugleich kein Selbstzweck. Der Imperialismus-Schrift voran gingen bereits mehrere kleinere Arbeiten zur Stellung der revolutionären Arbeiterbewegung zum Weltkrieg (z.B. „Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Kriege“ von 1914, „Sozialismus und Krieg“ von 1915, „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ von 1916). Lenin will auf eine Position hinaus, die er in der Imperialismus-Schrift so umreißt: „In der Schrift wird der Beweis erbracht, dass der Krieg von 1914 – 1918 auf beiden Seiten ein imperialistischer Krieg (d.h. ein Eroberungskrieg, ein Raub- und Plünderungskrieg) war, ein Krieg um die Aufteilung der Welt, um die Verteilung und Neuverteilung der Kolonien, der ‚Einflußsphären‘ des Finanzkapitals usw.“ Und er will die Frage klären, warum die vor Kriegsbeginn noch auf Solidarität des Proletariats gegen den Bellizismus der Herrschenden setzenden Parteien der II. Internationale nun das Bündnis mit ihrer nationalen Bourgeoisie einging, um die Arbeiter:innen der anderen Nationen abzuschlachten.

Im Zentrum seiner Erklärung steht der „Parasitismus“ der imperialistischen Nationen, die zu Vehikeln der Ausplünderung des Rests der Welt werden. Er zitiert eine erstaunlich prophetische Passage des englischen Ökonomen John Atkinson Hobson: „Der größte Teil Westeuropas könnte dann das Aussehen und den Charakter annehmen, die einige Gegenden in Süd-England, an der Riviera sowie in den von Touristen am meisten besuchten und von den reichen Leuten bewohnten Teilen Italiens und der Schweiz bereits haben: ein Häuflein reicher Aristokraten, die Dividenden und Pensionen aus dem Fernen Osten beziehen, mit einer etwas größeren Gruppe von Angestellten und Händlern und einer noch größeren Anzahl von Dienstboten und Arbeitern im Transportgewerbe und in den letzten Stadien der Produktion leicht verderblicher Waren; die wichtigsten Industrien wären verschwunden. Die Lebensmittel und Industriefabrikate für den Massenkonsum würden als Tribut aus Asien und Afrika kommen. (… ) Mögen diejenigen, die eine solche Theorie als nicht der Erwägung wert verächtlich abtun, die heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in jenen Bezirken Südenglands untersuchen, die schon jetzt in eine solche Lage versetzt sind, und mögen sie darüber nachdenken, welch gewaltiges Ausmaß ein derartiges System annehmen würde, wenn China der ökonomischen Herrschaft ähnlicher Gruppen von Finanziers, Investoren, von Beamten in Staat und Wirtschaft unterworfen würde, die das größte potentielle Profitreservoir, das die Welt je gekannt hat, ausschöpfen würden, um diesen Profit in Europa zu verzehren.“

Die in den imperialistischen Zentren beheimateten Monopolkonzerne eignen sich über – so würde man heute sagen – Global Value Chains den Mehrwert aus der ganzen Welt an. Und damit sind sie in der Lage, einen kleinen Teil der Beute an die privilegiertesten Arbeiterschichten der eigenen Nation weiterzugeben, um sich sozialen Frieden zu erkaufen. Diese „Arbeiteraristokratie“ bildet die Klassenbasis des sozialdemokratischen Opportunismus und Sozialchauvinismus.

Der politische Inhalt des Opportunismus und Sozialchauvinismus ist für Lenin stets das Klassenbündnis mit der „eignen Bourgeoisie“, auf deutsch: die „Sozialpartnerschaft“: „Das Bündnis einer kleinen bevorrechteten Arbeiterschicht mit ‚ihrer‘ nationalen Bourgeoisie gegen die Masse der Arbeiterklasse, das Bündnis der Lakaien der Bourgeoisie mit ihr gegen die von ihr ausgebeutete Klasse“, wie er in „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ formuliert.

Nun ist aber die Arbeiteraristokratie für Lenin noch eine selbst in den entwickelten kapitalistischen Ländern stets kleine Schicht des Proletariats. Mit dieser Einschränkung brach der dänische Kommunistische Arbeitskreis (KAK) in den 1960er-Jahren und entwickelte die „Schmarotzerstaat“-Theorie, die nachzuweisen suchte, dass ohne den Wegfall der globalen Abhängigkeiten die Arbeiterklasse im Westen zu keiner Revolution fähig sei. „Die Arbeiterklasse hat keine Chance, die Kapitalistenklasse zu stürzen und den Sozialismus aufzubauen, bevor das Fundament der Kapitalistenklasse durch den Kampf und zumindest teilweisen Sieg der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas erschüttert wurde“, schrieb der Gründer der Schmarotzerstaat-Theorie, Gotfred Appel 1966. Die Gruppe, aus der später die sogenannte Blekingegade-Bande hervorging, der auch der Autor des vorliegenden Bandes angehörte, setzte die Theorie konsequent in die Praxis um: Auf Agitation für den „heimischen“ Klassenkampf wurde zugunsten von Umverteilungsaktionen in den Globalen Süden verzichtet. Die der Theorie entsprechende Praxis war der Bankraub für Befreiungsbewegungen.

1989/1990 endete diese Praxis mit der Verhaftung mehrerer Genossen, darunter Lauesen, und mehrjährigen Haftstrafen. 2017 erschien „Die globale Perspektive“ zunächst auf dänisch, ein Jahr später auf englisch. Der Band liefert nicht nur historisch interessante Passagen zur kolonialen Frage in der Arbeiterbewegung sowie zur Geschichte der Imperialismus-Theorie und des Antiimperialismus. Er knüpft auch inhaltlich an die früheren Arbeiten der Schmarotzerstaat-Theorie an, wenngleich er deren Spitze, revolutionärer Klassenkampf sei in den Metropolen quasi unmöglich, abschwächt.

Wichtig ist aber: Er bleibt bei der „globalen Perspektive“, also einer Sicht auf die Klasse, die nicht beim jeweils „nationalen“ Proletariat stehen bleibt, sondern Imperialismus als weltumspannendes System begreift, in welchem auch die Klasse nur als Weltarbeiterklasse zu fassen ist. Wertschöpfung hat hier auch immer mit der Unterordnung der Mehrheit der Nationen unter die imperialistischen Big Player zu tun. Und die „nationalen“ Arbeiterklassen sind nicht mehr als Sektionen der einen Weltarbeiterklasse. Daraus ergeben sich weitreichende Fragen: Mit welchen Mechanismen vollzieht sich der Surplus-Transfer aus der Peripherie in die Metropolen? Welche Auswirkungen hat das auf die Lebensrealitäten der Klasse dort wie hier? Und auf welchen gemeinsamen Nenner sind die Interessen der in sich gespaltenen Weltarbeiterklasse zu bringen, um sie als kämpfendes politisches Subjekt zu konstituieren?

Die so aufgeworfenen Fragen sind keine bloß theoretischen Spielereien. Eine revolutionäre Linke, die sich in Deutschland neu aufstellt, wird das nur auf Grundlage einer ausgearbeiteten Imperialismustheorie können. Und dazu kann sie den Input aus internationalen Debatten ganz gut gebrauchen. Schriften wie „Die Globale Perspektive“ gibt es auf deutsch sicherlich zu wenige. Im englischsprachigen Raum sind mit Intan Suwandis Arbeiten zu Arbeitsarbitrage und Globalen Wertschöpfungsketten, John Smith‘s „Imperialism in the 21st Century“ oder Zak Copes „The wealth of (some) nations“ neben den Werken Lauesens zahlreiche Bücher vorhanden, die geeignet sind, eine Imperialismustheorie auf der Höhe der Zeit zu formulieren. In Deutschland sieht es da magerer aus. Wir hoffen, mit der in diesem Band vorliegenden Übersetzung anzufangen, diese Lücke zu schließen.

Torkil Lauesen // Die globale Perspektive – Imperialsmus und Widerstand // Unrast Verlag // 24 €

# Titelbild: NASA

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Es ist wahrlich keine provokante These, dass auch diejenigen politischen Kräfte, die sich als linksradikal verstehen, vom aktuellen Krieg kalt erwischt wurden. Weder in Russland, noch in der Ukraine, noch im Westen konnten sie sich auf eine Position zum Krieg einigen, oder relevanten Widerstand organisieren. So zu tun, als wäre das eine große Überraschung, wäre falsch, denn warum sollten alle, die sich „linksradikal“ nennen, auf einmal ihre theoretischen Differenzen und ihre organisatorische Schwäche überwinden können, nur weil jetzt ein Krieg von größeren Format losgeht? Als Reaktion darauf lässt sich nicht plötzlich theoretische Klarheit oder organisatorische Einheit und Stärke herstellen. Jedoch erfordert die Situation, die sich von Tag zu Tag verschlimmert und immer mehr Menschenleben kostet, zumindest den Versuch einer Koordination zwischen denjenigen, die den Krieg nicht als Unfall, sondern als ein Resultat der kapitalistischen Weltordnung sehen und willig sind, dagegen einzutreten.

An dieser Stelle sollte keine unnötige Häme gegenüber denjenigen verbreitet werden, die sich schnell mehr oder weniger offen auf eine der Seiten stellten. Versuchen wir sie ehrlich zu verstehen. 

Ein Teil der Linken in Russland und im Westen hatte den Fakt vor Augen, dass die NATO für die Interessen der führenden kapitalistischen Mächte steht. Ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, können die NATO-Führungsmächte der ganzen Welt ihre Bedingungen diktieren, Verstöße dagegen wirtschaftlich und militärisch sanktionieren, „harte aber notwendige“ Marktreformen in anderen Staaten mit Nachdruck nahelegen usw. Diese Linken hatten vor Augen, dass die Ukraine seit 2014 Antikommunismus zum Grundstein der neuen nationalen Identität macht und hatten keine Illusion, dass dies nur irgendwelche „falschen“, weil autoritäre Kommunisten betreffe (Lenindenkmale werden nicht gestürzt um für Machnos Ideen Platz zu machen). Das Verschweigen der zivilen Opfer des Kampfes der Ukraine für die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität im Donbass in den westlichen Medien sahen sie als Beweis für die Verlogenheit der Meldungen über das Leiden der ukrainischen Zivilist:innen in Folge der russischen Invasion ab Februar 2022.

Ein anderer Teil der Linken, viele in Deutschland, sehr viele in der Ukraine und etliche in Russland, haben vor allem im Blick, dass gerade die ukrainische Bevölkerung darunter leidet, dass der russische Staat ihre Lebensgrundlagen zerstört. Ukrainische Bürger:innen fallen den kriegerischen russischen Aktivitäten als „Kollateralschäden“ zum Opfer oder sind als potentielle Unterstützer:innen der ukrainischen Streitkräfte gezielt mit bisweilen tödlicher Gewalt bedroht. Russland möchte den Ukrainer:innen eine politische Ordnung aufdrängen, die sie offensichtlich mehrheitlich nicht wollen. Den genannten Linken entgeht weder jene chauvinistische Abwertung bzw. Negierung der (wie auch immer definierten) ukrainischen Identität, von der die (pro)russische Propaganda durchtränkt ist, noch die Verschwörungstheorien und auch nicht die Ideologie der „traditionellen Werte“, mit denen Putins Russland um die Zustimmung im In- und Ausland wirbt.

Dennoch meine ich, dass beide dieser linken Fraktionen fatale Fehler begehen und sich auf dem Weg zu einemBurgfrieden mit den kriegführenden bürgerlichen Staaten befinden. Um diese politischen Fehler soll es hier aber nicht gehen. Hier widmen wir uns den blinden Flecken des politisch sympathischen Restes, der sich prinzipiell gegen beide Kriegsparteien stellt, gegen Kriegsmobilisierung agitiert und auf keiner Seite ein „kleineres Übel“ erkennen will. Mit und zwischen diesen Kräften sollte eine Debatte auf einer ganz anderen Grundlage möglich sein, die die eine Perspektive für praktischen Antikriegswiderstand schafft. Doch häufig kommt die Diskussion gar nicht erst zustande, weil sich mit der Verkündung begnügt wird, alle Kriegsparteien seien „gleich schlimm“. Das mag sympathischer wirken als linksverbrämte Vaterlandsverteidigung, als Analyse genügt es jedoch nicht. Es ist im schlechtesten Sinne abstrakt und erklärt wenig. 

Fangen wir damit an, dass die Kriegskontrahenten offensichtlich sehr unterschiedliche Ausgangspositionen haben. Die Ukraine ist ein Land ohne gut funktionierende kapitalistische Wirtschaft, das fest entschlossen ist, Teil von zwei westlichen Bündnissen zu werden: EU und NATO. Zwar sind bei weite nicht alle beteiligten Länder dieser Bündnisse wirtschaftlich erfolgreich, aber immerhin werden sie von den wichtigsten kapitalistischen Mächten angeführt. Die Staaten an der Spitze von EU und (vor allem) NATO sind nicht nur militärisch klar überlegen, sie verfügen auch über Weltwährungen: die USA über den Dollar, die EU über den Euro. In diesen Währungen werden nicht nur die wesentlichen Geschäfte auf dem Weltmarkt abgewickelt, sondern auch viele Vermögen aufbewahrt. Gegenüber Russland, dessen Währung keine Weltwährung ist, haben sie exklusive Druckmittel. Um irgendwas auf dem Weltmarkt zu kaufen, brauchen der russische Staat sowie russische Unternehmen Dollar und Euro. Mehr noch: um diese Kaufaktionen durchzuführen, brauchen sie Konten bei westlichen Banken. Da Russland vor allem Rohstoffe verkauft und Fertigwaren einführt, brauchen russischer Staat und russische Unternehmen sehr viele dieser Devisen und sind sehr anfällig für ökonomische Sanktionen. Zudem muss Russland Staatsschulden in Weltwährungen bedienen. Die ukrainische Regierung samt weiteren Teilen des ganzen politischen Spektrums hingegen hat sich für eine Westorientierung entschieden. Diese Entscheidung ist auch eine in Richtung Euro, für westliche Kapitale als potenzielle Investoren, dafür dass die westlichen Firmen in der Ukraine produzieren, für westliche Länder als Märkte für die eigenen ukrainischen Waren, und nicht zuletzt dafür, die Ware Arbeitskraft der eigenen Staatsbürger in den Westen zu exportieren. 

Russland ist gemäß unzähliger Verlautbarungen der eigenen Führung eine Weltmacht. Seine wirtschaftliche Stärke lässt diesen Schluss allerdings nicht zu. Doch Russland verfügt über ein schlagkräftiges Militär und über Atomwaffen, die für die anderen Weltmächte die Kosten jeglicher militärischer Auseinandersetzung in die Höhe treiben. Russland will nicht mehr wie früher die Sowjetunion „Systemkonkurrenz“ zum „freien Westen“ aufbauen, sondern versucht seit 1991 eine kapitalistische Weltmacht zu werden. Das scheiterte regelmäßig daran, dass der Kapitalismus in Russland schlecht funktioniert. Es ist ein Scheitern im Kapitalismus am Kapitalismus. Die westliche Konkurrenz ist eindeutig stärker und hat nicht vor, ihren Vorsprung aufzugeben. Im Gegenteil: die westlichen Mächte bauen ihren Vorsprung immer weiter aus. Sie fluten den russischen Markt – mit China um die Wette – mit ihren Fertigwaren, sie nehmen Russland politische Verbündete und ökonomische Absatzmärkte weg und verweisen bei allen Protesten Russlands auf die Spielregeln, diebehaupteterweise – „neutral“ für alle gelten. Doch wann Ausnahmen davon möglich sind, entscheidet der Westen und nicht Russland. Was die Regel und was ein Verstoß dagegen sei, entscheiden diejenigen, die die Macht haben, die Regeln durchzusetzen, indem sie einen Verstoß sanktionieren können. 

Russlands Kampfprogramm dagegen ist ein Versuch, mit der verbliebenen militärischen Stärke die Vorteile des Westens im Idealfall auszuhebeln. Die Kampfansage an die führenden kapitalistischen Mächte ist weder eine Kampfansage an den Kapitalismus, noch ein Versuch, irgendwelche neuen Spielregeln für die Weltmarktkonkurrenz durchzusetzen. Es ist ein ziemlich durchschaubares „cosplayen“ des Benehmens der NATO und der USA mit der einfach gestrickten Argumentation: „Wir dürfen es auch, weil wir auch Atommacht von Rang sind“. 

Seinem Weltmachtanspruch möchte Russland auch dadurch Geltung verschaffen, dass es stets betont, nur mit den USA ernsthafte Verhandlungen zu führen und es die ukrainische Regierung ignoriert. Die komplette Absage des Status eines souveränen Subjekts Ukraine durch Russland ist auch eine Antwort auf die Be- und Abwertung Russlands als „Regionalmacht“ durch westliche Politiker. 

Wer über „(legitime) russische Sicherheitsinteressen“ spricht, sollte sich im Klaren sein, was ein souveräner Staat unter Sicherheit versteht. Macht sich ein Staat durch Aufrüstung weniger angreifbar, so fühlen sich andere Staaten in ihrer Sicherheit bedroht. Gehen schwächere Verhandlungspartner mit stärkeren Weltmächten ein Bündnis ein, stiftet dies bei anderen „global playern“ Unruhe. Die Atommächte mögen es schon gar nicht, wenn andere Staaten ihrem Klub beitreten. Das verringert nämliche relativ ihre Möglichkeiten, Druck auszuüben, was die stärkeren Staaten in der Regel gegenüber anderen tun.

Das „Sicherheitsbedürfnis“ eines Staates spielt aber nicht nur in der militärischen Sphäre eine Rolle. Denn wer Handel mit anderen treibt, will auch die Bedingungen für diesen Handel festlegen, am liebsten allein. Dagegen stehen die oft entgegengesetzten Interessen im anderen Staat, der sich eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ verbittet. Diese Formulierung wirkt ziemlich naiv – denn was wäre die Diplomatie sonst als ein Versuch, politische Entscheidungen in anderen Staaten zu beeinflussen? 

Die russische Regierung ließ nun 2022 zu den Waffen greifen und die Ukraine angreifen, aufgrund der Sorge, dass bei längerem Zögern das Drohpotential der Gegenseite nur wachsen und das eigene aufgrund ökonomischer Schwächung zumindest relativ schrumpfen würde. Anfang der 2000er, in der Zeit hohen Ölpreise, war Russland eine aufsteigende, heute ist es eine absteigende Macht. Die Antwort Putins ist: schwächere Verbündete des Westens so zu behandeln, wie der Westen „Schurkenstaaten“ behandelt.

Wenn von westlicher Seite vom „russischen Imperialismus“ die Rede ist, so ist damit jegliche Einmischung Russlands in die Politik anderen Staaten und vor allem gegenüber Anrainern gemeint. Dahinter steckt kein irgendwie theoretisch avancierter Begriff von „Imperialismus“. Das sieht man schon daran, dass die Einmischung des Westens, egal wo, prinzipiell nicht als Regelbruch, sondern als regelkonformes Wahrnehmen der eigenen legitimen Interessen wahrgenommen wird. Es gibt Linke, die den Begriff „Imperialismus“ ebenfalls so nutzen, dass ein militärischer Einmarsch von wem auch immer wohin auch immer so betitelt wird ohne weitere Analyse von Interessen und Machtpotenzial der Akteure. Nicht, dass die Gründe Nigerias bei den zahlreichen Interventionen in die benachbarten westafrikanischen Länder irgendwie sympathischer wären als die der USA in Irak, Afghanistan oder Libyen – aber es sind andere.

Der derzeit kursierende Plakatspruch „Es gibt nur einen Imperialismus – den gegen die Menschen“ bereichert die Analyse um keine richtige Erkenntnis. Die führenden kapitalistischen Mächte tragen heute selten Konflikte um Gebietsgewinne aus und versuchen nicht, verfeindete Staaten direkt ihrer Souveränität zu berauben. Sie diktieren vielmehr jene Verträge, die sie als Souverän mit anderem Souverän abschließen, aber zu ihren Bedingungen. So wollen sie die Souveränität anderer Staaten für die Interessen eigener Kapitale und für sich als Staat nützlich machen. Russlands Versuch die ukrainische Souveränität für die eigene Zwecke zu nutzen hat vorläufig nicht geklappt und nun kommt so eine „altmodische“ Methode, wie territoriale Zergliederung zum Einsatz. 

Russland bleibt ein in der Konkurrenz unterlegener Staat, dessen Ressourcen die Kapitale der erfolgreicheren Mächte gerne nutzen würden. Russische Kriegsziele sind deswegen nicht „antiimperialistisch“. Die Invasion der Ukraine istRusslands Versuch, die vorhandenen Gewaltmittel dafür einzusetzen, die Rahmenbedingungen zu eigenen Gunsten zu ändern.Es ist richtig, keine der beiden Kriegsparteien zu unterstützen, für eine echte Position gegen den Krieg können die Unterschiede der Positionen und Praktiken der Kriegsparteien aber nicht ignoriert werden.

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Während die Weltöffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit den Krieg in der Ukraine verfolgt, sieht der türkische Diktator Erdogan die Chance auf einen neuen Einmarsch in Syrien. Hier in den selbstverwalteten Gebieten Nordost-Syriens laufen die Verteidigungsvorbereitungen auf Hochtouren. Und die Linke in Deutschland?

Mit einem Lappen wische ich das letzte Körnchen Staub von meinem Maschinengewehr. Blitzblank ist es nun, bereit, um die Menschen hier gegen einen erneuten Angriffskrieg Erdogans und seiner jihadistischen Banden zu verteidigen. Später sitze ich bei kurdischen Revolutionsliedern mit meinen Genossen von unserer internationalistischen Einheit am Feuer. Wir alle denken an die nächsten Tage. Ich weiß, dass er kommen wird, der Angriff. Erdogan braucht den Krieg. Er hat die Türkei in den letzten Jahren in eine tiefe ökonomische Krise getrieben und versucht nun mit seinem Krieg gegen Rojava davon abzulenken. Im Anschluss will er vorgezogene Wahlen abhalten und hofft durch den militärischen Sieg doch noch, an der Macht zu bleiben.

Vor knapp zehn Jahren entfaltete sich in Rojava eine Revolution auf Basis von Frauenbefreiung, Ökologie und Demokratie. Eine Region, in der heute Kurd*innen und Araber*innen mit allen anderen Völkern friedlich zusammenleben. Mit ihrem Modell der Selbstverwaltung durch Räte stellt die Revolution eine enorme Hoffnung für die Völker der Region, aber auch weltweit dar. Das war der Grund, warum ich mich vor mehren Jahren auf den Weg gemacht habe, mit den Menschen hier diese Errungenschaften zu verteidigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass nur ein System, in dem die vielen verschiedenen Völker gleichberechtigt zusammenleben und in dem Frauenbefreiung eine zentrale Säule darstellt, in dieser Region eine positive Veränderung bringen kann. Während die Kriegsrhetorik Erdogans jeden Tag lauter wird, treffen wir (YPG-Kämpfer*innen) alle nötigen Vorbereitungen für einen neuen Angriffskrieg durch die Türkei. Erdogan betreibt eine Art Kuhhandel: Für den Beitritt Schwedens und Finnlands in die NATO, fordert er grünes Licht für seinen Angriffskrieg.

Ich weiß, was auf dem Spiel steht. Die letzten Angriffskriege der Türkei gegen Nordost-Syrien 2016, 2018 und 2019 haben nicht nur viel Tod und Vertreibung gebracht, in den besetzten Gebieten wird bis heute täglich von Gräueltaten, durch die von der Türkei unterstützen Jihadisten berichtet. Viele von ihnen sind ehemalige IS oder Al-Nusra Kämpfer. Deswegen ist es auch keine Überraschung, dass die letzten beiden Anführer des IS sich dort versteckt hatten. Ich fühle auch die Verantwortung. Ich schätze mich glücklich, Teil dieser Revolution sein zu dürfen. Das heißt aber auch, dass ich für geselschaftlichen Wandel bereit bin, Verantwortung zu übernehmen. Eigene Schwächen zu überwinden. Und mit fester Überzeugung für die Werte Rojavas zu kämpfen. Ein gesellschaftlicher Aufbruch, der Menschen weltweit Hoffnung gibt, dass ein anderes Leben möglich ist. Doch dieser Angriff, so die türkische Propaganda, soll über die gesamte Grenzlänge einen 30 km tiefe Zone besetzen. Das wäre das Ende Rojavas.

Ich frage mich, was die Linke in Deutschland machen wird? Während auf die letzten beiden Angriffskriege mit ein paar kleineren Demonstrationen und Aktionen reagiert wurde, konnte sie den Krieg nicht verhindern. Jetzt aber geht es um die Frage des Fortbestehens der Revolution. Um Sein oder Nicht-Sein. Eine internationalistische Revolution muss international verteidigt werden. Daher kann ich in diesem Moment, kurz vor dem Sturm, nur an alle appellieren, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden. Was werdet ihr im Falle einer Niederlage dieses einmaligen gesellschaftlichen Aufbruchs hier, der zukünftigen Generation erzählen?

Und wenn sich viele fragen, was sie eigentlich Rojava interessieren soll? Liegt doch in Syrien. Ist weit weg. Dann kann ich nur antworten: Rojava zeigt allen von uns, dass eine andere Welt möglich ist. Schon allein die Hoffnung, die von der Existenz dieser Revolution ausgeht, gibt Menschen weltweit enorme Kraft und Stärke.

Ich habe mir geschworen, dem Faschismus keinen Fußbreit kampflos zu überlassen. Weder dem deutschen, dem türkischen, noch dem des IS. Mir ist aber auch klar, dass wir ihn nur gemeinsam besiegen können. Ich schultere meine Waffe, um mich dann an den Ort zu begeben, an dem ich in den kommenden Tagen den Vormarsch des Feindes erwarten werde. Dabei frage ich mich, was wirst du machen, wenn der türkische Einmarsch gegen Rojava beginnt?

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Am 12.05 verbat die Berliner Polizei zahlreiche palästinensische oder palästinasolidarische Veranstaltungen, die den jährlichen Nakbatag (15.05.) begehen oder an die Ermordung der palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh (11.05.22) durch die israelische Armee erinnern wollten. Das OVG Berlin bestätigte diese Entscheidung am 13.05. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote hat sich ein Bündnis gegründet. Unser Autor Mohannad Lamees hat mit Aktivist:innen aus dem Bündnis über ihre Arbeit gesprochen.

Was bedeuten diese Demoverbote aus Eurer Sicht? Wie bewertet Ihr diese Entwicklung?

Wir begreifen die Verbote als Angriffe auf das palästinensische Leben in Deutschland, auf den palästinensischen Widerstand und auf das palästinensische Gedenken. Die Verbote stehen in einer langen Tradition von Repression gegen pro-palästinensische Bewegungen in Deutschland und sind, auch wenn sie sicherlich eine neue Stufe des schamlosen Gebarens der BRD darstellen, an sich nichts neues. Bereits vor einigen Wochen hatten die Berliner Behörden palästinensische Demos pauschal und präventiv verboten. Letztes Jahr gab es massive Polizeigewalt gegen palästinensische und palästinasolidarische Demonstrierende. Trotzdem wächst die Unterstützung für die palästinensischen Bewegungen in der Bevölkerung. Und nicht nur das, die Unterstützung wächst ganz konkret für junge revolutionäre pro-palästinensische Bewegungen, die die Rolle des deutschen Staates als Mittäter begreifen. Es ist deswegen nicht überraschend, dass die Behörden mit solcher Härte gegen die Demos vorgehen und verhindern wollen, dass sich die Solidarität mit Palästina auf den Straßen Bahn bricht. Ganz nüchtern müssen wir feststellen: Der deutsche imperialistische Staat reagiert auf die palästinensische Bewegung so, wie auf alle anderen revolutionären Bewegungen auch – also mit offener Gewalt.

Ihr habt unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote ein Bündnis gegründet. Warum?

Die Antwort ist recht einfach: Wir haben aus unseren Fehlern gelernt. Nach den Angriffen letztes Jahr auf die Nakba-Demos in Berlin haben wir organisierte Gruppen es weder geschafft, die Repressionen ausreichend zu thematisieren noch die direkt Betroffenen in irgendeiner Weise zu begleiten oder zu unterstützen. Auch bei dem Demoverbot Ende April gab es zwar kämpferische Statements – eine Reaktion auf der Straße konnten wir aber nicht zeigen. Dieses Mal konnten wir diese Fehler korrigieren, indem sich sofort nach Bekanntwerden der Verbote einige palästinensische und palästinasolidarischen Gruppen getroffen haben und ein gemeinsames Ziel festgelegt haben. Dieses Ziel war, organisiert und geschlossen eine Reaktion gegen die Repression auf die Straßen Berlins zu tragen. In der kurzen verbliebenen Zeit – das Bündnis hatte nur 4 Tage, um sich zu formieren und zu organisieren – konnten wir durch die gebündelten Kräfte trotzdem einiges an Energie freisetzen.

Was ist dann am Nakbatag in Berlin passiert? Wie bewertet ihr die Ereignisse?

Wir haben die Ereignisse in Berlin im Bündnis als Erfolg ausgewertet. Es ist gelungen, den Verboten zu trotzen und ganz eindeutig ein Zeichen von den Straßen Neuköllns in die ganze Welt zu senden, nämlich dass die Verbote nicht hingenommen werden, dass die Angriffe den palästinensischen Widerstand nicht aufhalten können, dass die gemeinsamen Rufe revolutionärer Gruppen für die Freiheit des palästinensischen Volkes nicht verstummen.

Es gab an dem Tag eine Demonstration durch den Berliner Stadtteil Neukölln gegen Umweltzerstörung im Globalen Süden. Dort wurde nicht nur Klimagerechtigkeit und das Ende der imperialistischen Ambitionen des deutschen Staates auf der ganzen Welt gefordert, sondern natürlich wurden immer wieder lautstark und gemeinsam Rufe für die Freiheit des palästinensischen Volkes angestimmt. Auf der Sonnenallee, also auf der Straße, die immer wieder im Visier rassistischer staatlicher Repression steht, wurde die Demonstration dann von aggressiven Polizeitrupps ausgebremst, in eine Seitenstraße gelenkt und dort zum Stehen gebracht. Zahlreiche Anwohner:innen und Passant:innen zeigten sich spontan solidarisch mit der Demonstration und stimmten in die Rufe ein. Die Polizei drang schließlich gewaltsam in die Demonstration ein und nahm einige Personen fest. Von ausnahmslos allen Demonstrierenden wurden die Personalien festgestellt, es wurden Bußgelder und Gewahrsam angedroht sowie weiträumige Platzverweise ausgesprochen.

Nur wenige Hundert Meter entfernt kam es dann fast zeitgleich bei einem pro-palästinensischen Flashmob ebenfalls zu massiver Repression.

Das Vorgehen der Bullen war dabei brutal. Teilweise wurden willkürlich am Straßenrand stehende Personen festgenommen, nur weil sie arabisch aussahen oder Dinge trugen, die als pro-palästinensisch identifiziert wurden. Es wurde mehr als deutlich, dass die Polizei racial profiling, Einschüchterung und Gewalt bereitwillig eingesetzt hat, um ihre Ordnung durchzusetzen.

Überall auf den Straßen Neuköllns zeigten die Menschen deutlich, auf welcher Seite sie stehen, überall gab es Solidarität und Freude über die Aktionen für Palästina. Den ganzen Tag wurde auf der Sonnenallee darüber gesprochen, wie es gelungen war, eine pro-palästinensische Demo abzuhalten, obwohl die Bullen pausenlos im Vorfeld mit Wannen Streife fuhren und die Kreuzungen belagert hatten. Für uns steht deshalb fest: Der Nakbatag war ein Kampftag gegen die Repression und gegen die ganze Mittäterschaft des deutschen Staates in der Unterdrückung der Palästinenser:innen.

Die brutale Repression gegen Palästinenser:innen und Palästinasolidarische in Deutschland hat Tradition. Man denke an die Abschiebungswellen gegen dutzende Palästinenser:innen in Folge des Verbots der Generalunion Palästinensischer Studenten (GUPS) und Generalunion Palästinensischer Arbeiter (GUPA) 1972/73. Bei der Deutschen Welle gab es Anfang 2022 eine Säuberung, bei der mehrere Mitarbeiter:innen ihren Job nach inquisitionsartigen Befragungen zum Thema Israel-Palästina verloren. Letztes Jahr haben in ganz Deutschland, auch in Berlin, Demonstrationen und Kundgebungen zum Nakbatag stattgefunden, die Polizei ist hart in die Veranstaltungen reingegangen. Dieses Jahr wurden alle Veranstaltungen in Berlin verboten; wer eine Kufyie anhatte oder „Free Palestine“ rief, wurde verhaftet. Wieso sind Palästinenser:innen und Palästinasolidarische so gefährlich für den deutschen Herrschaftsapparat?

Hier müssen wir ein wenig ausholen. Zuallererst lässt sich feststellen, dass die Bundesrepublik quasi seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg in einem besonderen Verhältnis zum zionistischen Staat Israel steht. Das auch heute allgegenwärtige moralische Argument, wonach die BRD die deutsche Schuld über die industrielle Vernichtung der jüdischen europäischen Bevölkerung schultert und deswegen fest an der Seite des zionistischen Staates Israels stehen müsse, hat seinen Ursprung in den 1950er Jahren. Der im September 1952 zwischen der BRD und Israel unterzeichnete Vertrag über Reparationszahlungen an den Staat Israel wurde damals von der deutschen Regierung, allen voran Konrad Adenauer, als moralische Pflicht inszeniert. Wir wissen aber, dass diese Moral nur vorgeschoben war, und der Vertrag viel eher zustande kam, weil sich den imperialistischen Interessen der Westmächte, vor allem der USA, gebeugt wurde. Durch den Vertrag mit den Zionist:innen wurde außerdem die Tür für Verhandlungen mit den Westmächten über wirtschaftliche Vorteile für die junge BRD aufgemacht. Ganz nebenbei erfüllte dieses moralische Argument auch die Funktion, von der Nazi-Vergangenheit zahlreicher BRD-Staatsapparate und BRD-Staatsmänner abzulenken. 

Warum ist das so wichtig? Zum einen verhalf die BRD mit diesem Vertrag und den vereinbarten Zahlungen, sowie den sich in den 60er Jahren anschließenden und bis heute laufenden militärischen Unterstützungen, dem damals wirtschaftlich schwachen Israel zu großer Stärke. Westdeutschland ermöglichte so unter anderem die israelische Kriegsführung in den 50er und 60ern gegen die Palästinenser:innen und gegen die arabischen Nachbarstaaten. Zum anderen war die Unterstützung Israels damals  – und ist es auch noch heute  – das goldenene Ticket für den wiedererstarkten deutschen Imperialismus. Wenn wir also danach fragen, wieso seit den 60er Jahren so vehement gegen Palästinenser:innen in Deutschland vorgegangen wird, dann muss die Antwort lauten: Weil der deutsche Imperialismus die bedingungslose Solidarität mit dem Zionismus nicht nur mit Verträgen mit und Waffenlieferungen an Israel zur Schau stellt, sondern eben auch durch hartes Durchgreifen im eigenen Land.

Dass diese Politik nichts Moralisches an sich hat, verstehen mittlerweile immer mehr Menschen in Deutschland. Es ist absurd, dass Bundespräsident Steinmeier letztes Jahr im Juli, nur einige Wochen nach den massiven israelischen Angriffen auf die palästinensische Zivilbevölkerung, einen Staatsbesuch in Israel machte und dem Rassisten Naftali Bennet die Hand schüttelte. Absurd ist auch, mit welcher Wucht der deutsche Staat und die bürgerliche Öffentlichkeit gegen jedwede Solidarität mit dem palästinensischen Volk vorgehen – es hagelt Verbote, Entlassungen, Strafen und Abschiebungen. Deutschland ist mittlerweile das reaktionäre Zentrum des Anti-Antisemitismus, mit dem jedweder Antizionismus, eigentlich sogar jeder Anti-Imperialismus, pauschal als antisemitisch bezeichnet und verfolgt wird. 

Zwar wird das noch immer mit der deutschen Schuld und der angeblich vorbildhaften Aufarbeitung der Nazi-Herrschaft begründet. Den eigentlichen Grund dafür können wir aber nur verstehen, wenn wir erkennen, dass der deutsche Imperialismus, gerade in einer Zeit der Krise und Schwäche, sich mit aller Macht gegen laut werdenden Widerstand und Protest zur Wehr setzt. Die Palästina-Frage offenbart wie kaum ein anderes Thema, mit Ausnahme vielleicht der Kurdistan-Frage, den imperialistischen Charakter dieses deutschen Staates. Und dieser Staat bekämpft die pro-palästinensische Bewegung genau deshalb, weil die Angst groß ist, dass aus der Palästina-Bewegung eine breitere anti-imperialistische Bewegung wachsen kann, die den deutschen Imperialismus selbst ins Visier nimmt.

Nach der Repression am Tag der andauernden Nakba forderte die CDU, Palästinenser:innen und solche, die sich mit ihnen solidarisieren, im Vorfeld von Demos in Gewahrsam zu nehmen. Was würde das bedeuten?

Eine Sache ist uns wichtig, bevor wir genauer auf die Frage eingehen: Die Repressionen am Tag der Nakba und im Vorfeld haben uns in Berlin nicht die CDU oder andere als „rechts“ geltende Parteien eingebrockt, sondern die Rot-Grün-Rote Koalition. Die Repression gegen pro-palästinensische Gruppen, aber auch gegen viele andere revolutionäre Organisationen ist keine Sache, die von einzelnen Parteipolitiken abhängig ist – gerade, weil sie aus dem deutschen Imperialismus an sich erwächst, der von allen bürgerlichen Parteien mitgetragen wird. Dass die Berliner CDU nun noch einen draufsetzt, sollten wir erstmal als Oppositionspolitik verstehen – ähnlich hatte beispielsweise auch letztes Jahr nach den Nakbatag-Demos auf Bundesebene die Linkspartei reagiert, als Dietmar Bartsch Horst Seehofer aufforderte, noch härter gegen Antisemitismus auf deutschen Straßen vorzugehen.

Trotzdem zeigen die aktuellen Forderungen, dass sich der deutsche Staat immer weiter die Maske vom Gesicht zieht und seinen wahren, repressiven Charakter zeigt. Dass bereits heute als „antisemitisch“ kategorisierte Geflüchtete abgeschoben werden können und Hunderttausende de facto so eingeschüchtert werden, um sie von politischer Aktivität abzuhalten, ist bekannt. Wenn nun auch mehr und mehr Befugnisse im Vorfeld von eigentlichen Straftaten erteilt werden könnten, so ist das eine Entwicklung, die uns zeigt, dass der imperialistische Staat die Zügel anzieht – und wir noch lange nicht am Ende der Repression sind. Darauf sollten wir aber nicht mit Empörung

reagieren oder überrascht sein – als revolutionäre Kräfte müssen wir darauf gefasst sein und Wege finden, diesem Staat trotzdem Paroli zu bieten.

Ihr hab Euch wegen der staatlichen Repression am Nakbatag verbündet. Mit der Roten Hilfe gibt es bereits eine breite Solidaritätsstruktur gegen staatliche Repression, warum habt Ihr ein eigene Organisierung für notwendig erachtet?

Unser Bündnis versteht sich nicht als Alternativangebot zur Roten Hilfe. Ganz im Gegenteil. Genoss:innen von der Roten Hilfe waren und sind während der Bündnisarbeit extrem wichtig für uns gewesen, indem sie uns beraten haben und mit uns zusammen geplant haben, wie wir eine Reaktion auf der Straße zeigen können. Die Rote Hilfe wird auch direkt Betroffene der Repressionen gegen die Nakbatag-Aktionen unterstützen. Das ist ein wichtiger Schritt für uns alle. Wir können so deutlich zeigen: Die palästinensische Sache muss Sache der Linken sein!

Wird das Bündnis über die Repression im Zusammenhang mit dem Nakbatag 2022 heraus bestehen bleiben? Was sind Eure Ziele?

Ja, das Bündnis bleibt bestehen und soll demnächst auch einen Namen bekommen. Momentan arbeiten wir daran, die weitere politische Arbeit auszugestalten. Unser Ziel ist,die gemeinsame Arbeit revolutionärer Kräfte gegen die staatlichen Repressionen weiter voranzutreiben. Bereits vor dem Wochenende des Nakbatags hatten wir im Bündnis festgehalten, dass es nicht nur um die Demos an diesem Tag und auch nicht nur um die Palästina-Frage geht. Der Staat führt einen Kampf gegen alle revolutionären Bewegungen. Allein im Mai 2022 hat sich bei den Repressionen gegen die revolutionäre Abenddemo am Arbeiter:innenkampftag, am Tag der Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee und bei den Angriffen auf kurdische und türkische Genoss:innen gezeigt, dass wir alle gleichermaßen angegriffen werden. Das Bündnis hat sich zum Ziel gesetzt, die Verbindungen dieser Repressionen zu betonen und gemeinsam Antworten darauf zu geben.

Darüber hinaus wollen wir als Bündnis fest an der Seite derjenigen stehen, die von den Repressionen am Nakbatag unmittelbar betroffen sind. Dazu haben wir bereits in den ersten Tagen nach den Ereignissen ein Offenes Treffen veranstaltet, damit sich niemand mit den Repressionen und Angriffen alleine gelassen fühlen muss. Wir planen, die Rechtsfälle zu begleiten und Unterstützung zu leisten – in Form von Austausch, Beratung, und wenn wir es stemmen können, auch finanzieller Hilfe. Am wichtigsten ist für uns aber die politische, die revolutionäre Antwort auf die Repressionen – wir wollen weiterhin zeigen, dass gemeinsame Organisierung der Weg ist, um trotz Verboten und Anklagen die Straßen freizukämpfen.

Wie kann diese revolutionäre Antwort genau aussehen? Was bedeutet es, „revolutionär“ zu sein in Bezug auf staatliche Repression?

Auch wenn wir jetzt viel über die Demoverbote gesprochen haben: Repression, das ist nicht nur Demoverbot, Platzverweis und Polizeiknüppel. Dieser Staat dient der herrschenden kapitalistischen Klasse und wird mit allen erdenklichen Mitteln immer wieder gegen diejenigen vorgehen, die gegen diese Vorherrschaft kämpfen. Nicht nur auf Demos, sondern jeden Tag im Beruf, in der Schule, auf Ämtern, ideologisch, organisatorisch, politisch – alles was dieser Staat tut, um das Ausbeutungsverhältnis aufrecht zu erhalten, ist Repression. Wenn wir das verstehen, dann wissen wir auch, was die revolutionäre Antwort auf Repression ist. Nämlich nicht der Appell an mehr Menschlichkeit und Zugeständnisse, sondern der konsequente Kampf gegen das kapitalistische System und für den Sozialismus.

Dazu kommt: Dieses kapitalistische System, in dem wir alle leben, erzieht uns zur Passivität und zum Einzelgängertum. Viel zu oft nehmen wir Beschränkungen und Verbote einfach hin. Dass es am Nakbatag geklappt hat, sich trotz eines von den Behörden ausgesprochenen Verbotes und in vollem Bewusstsein über den Aufmarsch von Tausenden Bullen in Berlin-Neukölln trotzdem gemeinsam diesem zu widersetzen, das ist ein wichtiger Schritt, um aus dieser Passivität und Hörigkeit rauszukommen. Deswegen haben wir auch vor und nach den Aktionen Statements und Aufrufe in ganz Berlin verteilt, um allen deutlich zu machen: Wir werden die Verbote nicht hinnehmen! Und wir widersetzen uns, weil wir in die Stärke unserer gemeinsamen Organisierung vertrauen können. Das ist in unserer momentanen Lage das allerwichtigste und das müssen wir immer wieder betonen, dafür müssen wir ein breites Bewusstsein schaffen: Wenn wir uns zusammentun, sind wir stark. Der Erfolg am Nakbatag war ein Beispiel dafür. Wir müssen nun noch viel mehr solcher Beispiele schaffen!

#Titelbild: Bündnisarchiv

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In Armenien gehen seit mehreren Wochen tausende Menschen auf die Straßen, und fordern den Rücktritt des Premierministers Nikol Paschinyan. Hintergrund der Proteste, die von der parlamentarischen Opposition angeführt werden, sind Äußerungen des seit 2018 regierenden Premiers, wonach Arzach (Berg-Karabach) unter die Jurisdiktion Aserbaidschans fallen könnte, sofern die Rechte der dort lebenden Armenier:innen garantiert und bewahrt werden. Die wichtigste Stelle aus der Parlamentsrede vom 13. April sei hier zitiert: „Wir haben erklärt, dass Armenien nie territoriale Ansprüche gegenüber Aserbaidschan erhoben hat und dass die Karabach-Frage keine Frage des Territoriums, sondern der Rechte ist. Daher haben wir erklärt, dass die Sicherheitsgarantien für die Armenier von Karabach, die Gewährleistung ihrer Rechte und Freiheiten und die Klärung des endgültigen Status von Berg-Karabach für Armenien von grundlegender Bedeutung sind.“

Diese Erklärung bedeutet einen krassen Bruch mit bisher als selbstverständlich geltenden politischen Leitlinien armenischer Politk. Bisher war in Bezug auf Arzach die Selbstbestimmung der Bewohner:innen von Arzach das Ziel, das nun zu einer Frage von „Rechten“ und „Sicherheitsgarantien“ zusammengestückelt wird. Dies deutet darauf hin, dass Jerewan im Rahmen eines wie auch immer ausgearbeiteten Friedensvertrages mit Aserbaidschan bereit wäre, Arzach als Teil der territorialen Integrität Aserbaidschans anzusehen. Zur Erinnerung: In einem Referendum vom 10. Dezember 1991 erklärte sich die mehrheitlich von Armenier:innen bewohnte Region für unabhängig, verteidigte diese Unabhängigkeit in dem Krieg bis 1994 und nochmals unter enormen menschlichen und territorialen Verlusten im 44-Tage-Krieg 2020, in Folge dessen russische Friedenstruppen einrückten.

Die derzeitigen Proteste entzündeten sich an dieser Rede, die von weiteren Aussagen von verschiedenen Regierungsmitgliedern flankiert wurden. Unter dem Slogan „Zartnir Lao“ ( Wach auf, Junge), was an ein altes revolutionäres Lied aus der Zeit des Osmanischen Reiches anknüpft und zur Erhebung gegen Unterdrückung des osmanischen Jochs aufruft, versammeln sich jeden Tag tausende Protestierende und wollen notfalls auch den Sturz der Regierung. Dafür nehmen sie hunderte Verhaftungen in Kauf, da die Regierung die Demonstrationen zwar toleriert, gleichzeitig aber vor massenhafter Repression nicht zurückschreckt.

Die Sackgasse der Opposition

Zweifellos lehnt eine Mehrheit der armenischen Gesellschaft und wahrscheinlich ein noch viel größerer Teil der Diaspora diese Sichtweise ab, da außer Frage steht, dass jegliches armenisches Leben unter dem panturkistischen Diktator Ilham Aliyev unmöglich ist. Arzach als Teil Aserbaidschans und damit auch unter Kontrolle der Türkei zu begreifen, heißt, Massenmord und ethnische Vertreibung anzunehmen. Die zahllosen Kriegsverbrechen während des Krieges, als azerische und türkische Soldaten vor laufender Kamera sogar ältere Zivilist:innen in IS-Manier enthaupteten; die anhaltende Besatzung von Teilen des Territoriums der Republik Armenien, die illegale Geiselnahme und Folter von immer noch dutzenden armenischen Kriegsgefangenen und nicht zuletzt die Kriegsrhetorik Aliyevs, wo er Ansprüche auf die armenische Hauptstadt erhebt, zeigen, dass in Baku und Ankara genozidale Regime an der Herrschaft sind, deren strategisches Ziel die Auslöschung des armenisches Volkes ist.

Trotz all dieser alarmierenden Zustände gehen wohl nicht mehr als einige tausend regelmäßig zu den Protesten, die sich auch zumeist auf die Hauptstadt beschränken. Das hängt unzweideutig damit zusammen, dass die Proteste von den Mitgliedern des alten Regimes angeführt werden, die 2018 infolge von Massenprotesten gestürzt und durch die (neo-)liberale, eher dem Westen zugewandte Regierung von Paschinjan ersetzt wurden. Die führenden Oppositionellen wie Sersch Sargsyan (ehem. Präsident von 2008-2018), Robert Kocharyan (ehem. Präsident von 1998-2008), Artur Vanetzyan (ehem. Leiter des Geheimdienstes von 2018-19) oder auch Sevran Ohanyan (ehem. Verteidigungsminister 2008-16) sind weiterhin dermaßen unbeliebt, dass ein weitaus größerer Teil der armenischen Gesellschaft mit den Zielen der Bewegung sympathisiert, allerdings nicht teilnimmt, weil das alte Regime samt der Führungsfiguren für Korruption, Nepotismus, wirtschaftlichen und sozialen Rückschritt steht.

Viele haben nicht vergessen, dass die katastrophale Niederlage im Krieg 2020 nicht nur auf die Unfähigkeit und mangelnde Vorbereitung seitens der Regierung zurückzuführen war, sondern auch auf die Zeit der Herrschaft der heutigen Opposition. Der Paschinjan-Regierung gelang es im Juni 2021 sogar, die vorgezogenen Neuwahlen zum Parlament wiederum eindeutig für sich zu entscheiden und mit ihren verbündeten Listen 71 von 107 Sitzen einzunehmen. Schon damals war zwar die Unzufriedenheit mit Paschinyan zwar groß, allerdings stimmten bei einer Wahlbeteiligung von knapp unter 50 Prozent immer noch viele für ihn, da er im Vergleich zum alten Regime als „kleineres Übel“ gilt.

Es gibt seitens der Opposition weder ein soziales Programm, um den Lebensalltag der Massen zu verbessern, noch adäquate Vorschläge wie die Selbstbestimmung Arzachs garantiert werden könnte. Auch unter ihrer Herrschaft wurde schließlich die Republik Arzach nicht anerkannt und selbst heute gibt es keine klare Antwort darauf, ob sie an der Macht die Republik Arzach anerkennen würden oder wie sie überhaupt mit dem Aliyev-Regime umgehen würden.

Blind auf dem Pulverfass

Nicht erst seit dem Ukraine-Krieg ist die Region um den Kaukasus angespannt und Spielfeld verschiedener Interessen. Die rund 3.000 russischen Friedenstruppen, die den Waffenstillstand in Arzach überwachen sollen, sind entweder nicht in der Lage oder nicht willens, die beinahe täglichen Aggressionen und Provokationen des Aliyev-Regimes einzudämmen oder zu verhindern. Ein besonders markantes Beispiel ist der Mord an Aram Tepnunts, einem 55-jährigen Bauern, der bei der Granatapfelernte in der Grenzregion Martakert von einem Scharfschützen erschossen wurde. Pikantes Detail: Da die Feldarbeit an der Frontlinie besonders gefährlich ist, überwachen russische Soldaten ab und zu die Arbeit; so auch hier: ein russischer Soldat saß genau neben Tepnunts im Traktor, als dieser von der tödlichen Kugel getroffen wurde.

Beispiele wie diese, die den Terror gegen die Armenier:innen in Arzach verdeutlichen, gibt es viele. Alle dienen dem Zweck, dass den Menschen dort das Leben zur Hölle gemacht wird, damit sie diese Region verlassen. Derzeit leben etwa 130.000 Armenier:innen in den nicht besetzten Gebieten von Arzach, wobei das Mandat der russischen Truppen 2025 ausläuft und dann für weitere fünf Jahre sowohl von Baku als auch Jerewan verlängert werden muss. Aus Sicht der Panturanisten in Ankara und Baku ist die Präsenz der russischen Truppen nicht wünschenswert, aber klar ist auch, dass Moskau seine Truppen so lange wie möglich dort behalten wird.

Der Kreml schickte seine Truppen allerdings nicht in die gebirgige Region, um die Armenier:innen zu schützen, sondern um seine geopolitischen Interessen durchzusetzen. Wladimir Putin balanciert dabei zwischen Armenien und Aserbaidschan und gab Baku auch für den Angriffskrieg im Herbst 2020 grünes Licht, obwohl sie in dem Waffenstillstandsabkommen von Bishkek, das den ersten Arzach-Krieg beendete, als Garant des Waffenstillstandes aufgezählt sind und dieses auch unterschrieben.

Von westlichen Medien nahezu unbemerkt und unerwähnt, unterzeichnete Aliyev nur zwei Tage vor der russischen Invasion in die Ukraine ein Bündnisabkommen, das im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass der Kreml künftig Sanktionen auch dadurch umgeht, indem er seine Rohstoffe nach Baku weiterleitet und unter azerischer Marke verkauft, zumal Aserbaidschan selbst enorm viel Öl und Gas in den Westen exportiert. Der azerische Diktator verkauft damit die russischen Rohstoffe an den Westen, der mit diesem Diktator keine Probleme hat — wahrscheinlich ist das Grund für das mediale Stillschweigen zu diesem kriminellen Abkommen unter Diktatoren.

Angesichts dieser Lage, wo Baku die dadurch eingenommenen Devisen zur Modernisierung und Verstärkung seiner Armee einsetzen wird, zeigt sich die armenische Regierung wie auf einem Blindflug und möchte sowohl mit Aserbaidschan als auch mit der Türkei Friedensabkommen schließen. Der blamable Auftritt des armenischen Außenminister Ararat Mirzoyan auf dem „Antalya Diplomatic Forum“ wurde da zum Symbol, da nicht nur der türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu ihn auflaufen ließ, sondern auch türkische Medien offen ihren Rassismus zur Schau stellten und ihn bewusst wahlweise als „Arabat“ oder „Azarat“ bezeichneten, um ja nicht seinen Namen zu nennen. Ararat ist auch der Name des Bergs und Nationalsymbols der Armenier:innen, das gegenwärtig unter türkischer Besatzung steht und in der Türkei nur unter seinem türkischen Namen genannt wird.

Die Annäherung der beiden Diktaturen wird auch von der EU unterstützt, die gegenüber Paschinyan in einem trilateralen Treffen mit EU-Vertreter Charles Michel und Ilham Aliyev 2,6 Milliarden US-Dollar in Aussicht stellte für die „demokratische und wirtschaftliche Modernisierung“ des Landes — wenn Jerewan im Gegenzug in der Arzach-Frage nachgibt — oder besser gesagt schlichtweg kapituliert, da die EU genau weiß, mit welchen Folgen das für die Armenier:innen in Arzach verbunden wäre.

Gefährliche Zukunft

Aber es gibt keine Arzach-Frage. Es gibt auch keine Syunik-Frage, jene bedrohte südarmenische Region, die der panturanistischen Verbindung zwischen der Türkei und Aserbaidschan im Wege steht. Es gibt überhaupt keine Frage irgendeiner Region, die wie Vayotz Dzor oder Gegharkunik teilweise besetzt sind. Es gibt eine armenische Frage und diese Frage umfasst alle Regionen, die Teil der Republik Armenien, der Republik Arzach oder unter Besatzung stehen. Auf der Tagesordnung dieser brennenden Frage steht die Selbstverteidigung gegenüber der panturanistischen Gefahr im Mittelpunkt, aber auch die soziale, demokratische und wirtschaftliche Entwicklung.

Die Proteste der Opposition sind zum Scheitern verurteilt, da sie diese Punkte nicht zusammen denkt und das Programm dementsprechend ausrichtet, um ein politisches Angebot für die Massen zu haben. Denn sowohl Regierung als auch Opposition Teil des gleichen Problems. Beiden geht es um die Sicherung der Profite der Bourgeoisie, sei sie nun westlich orientiert oder kremlnah.

# Titelbild: Zhirayr Nersessian, Yerevan mit dem Ararat im Hintergrund

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Unter der Schlagzeile „Evakuierungen aus Mariupol – ‚Ich dachte, dass ich nicht überleben würde‘“ findet sich auf der Seite des Nachrichtenmagazins Spiegel nunmehr kein Video mehr. Lapidar steht dort: „Wir haben das Video, das sich an dieser Stelle befand, wegen nachträglich festgestellter inhaltlicher Unstimmigkeiten vorübergehend von der Seite genommen. Der SPIEGEL hatte das Videomaterial von der Nachrichtenagentur Reuters bezogen und klärt nun zunächst auch mit Reuters den betreffenden Sachverhalt. Neue Erkenntnisse werden wir dann an dieser Stelle veröffentlichen.“ Veröffentlicht wurde das Video am 2. Mai, bislang haben sich offenbar keine „neuen Erkenntnisse“ ergeben.

Was war passiert? Der Spiegel hatte eine zurechtgebastelte Version eines Videos, das eine evakuierte Überlebende aus dem Azovstal-Werk in Mariupol zeigt, veröffentlicht, in der eigentlich alles Wesentliche ihrer Aussage weggeschnitten war. In der Langfassung des Interviews ist zu sehen, dass sie behauptet, ukrainische Faschisten hätten die Zivilist:innen an der Evakuierung gehindert und sie schließt mit den Worten: „Die Ukraine als Staat – und ich bin Bürgerin der Ukraine – ist für mich gestorben.“

Ist das gelogen? Ist es wahr? Spricht sie unter Druck? Man kann es unmöglich mit Sicherheit sagen. Was man sagen kann, ist: Aus dem dreiminütigen Video einen Zusammenschnitt zu veröffentlichen, der das Gegenteil von dem impliziert, was sie sagt, ist eine Lüge. Aber warum soll man über so etwas eigentlich lügen? Würde es einer pro-ukrainischen Berichterstattung einen Zacken aus der Krone brechen, auch nur die Möglichkeit zuzugestehen, „unsere“ Nazis hätten sich daneben benommen?

Importierte Helden

Zu diesem Krieg gehört ein umfassender Geschichtsrevisionismus im Bezug auf den ukrainischen Faschismus und Nationalismus. Der Spiegel hätte das ganze Video zeigen können. Er hätte auch über die dutzenden auf pro-russischen Kanälen zirkulierenden Videos berichten können, die Bewohner:innen Mariupols zeigen, die von Gräueltaten der Azov-Miliz in der Stadt berichten. Dennoch würde niemand, der nicht vollends verblödet ist, der Redaktion eine Nähe zu Moskau unterstellen. Hat der Spiegel dennoch nicht. Aber warum?

Azov und die weniger bekannten anderen faschistischen Milizen wie Aidar oder der Rechte Sektor sind keine Anomalie des ukrainischen Nationalismus, sie sind seine Speerspitze. Als im Jahr 1997 Andrew Wilsons Monographie zu ukrainischem Nationalismus erschien, nannte dieser den Nationalismus in der Ukraine einen „Glauben einer Minderheit“. Das unbestreitbar geostrategisch wichtigste post-sowjetische Land außerhalb Russlands sei quasi ungeeignet für die Entwicklung einer starken nationalistischen Bewegung, denn: „Die moderne Ukraine ist eine zutiefst gespaltene Gesellschaft mit einem ausgeprägten Muster regionaler Unterschiedlichkeit“.

Davon allerdings ließ sich der Westen nicht beeindrucken. Man brauchte einen Nationalismus, der einerseits in die eigene Wertegemeinschaft eingliederbar und andererseits stark antirussisch sein musste. Die Anknüpfung an die faschistische OUN-Tradition lag da nahe und es ist nur konsequent, dass es stets die „prowestlichen“ Präsidenten wie Juschtschenko oder Poroschenko waren, die diesen beförderten. Sie ließen Lenin-Statuen entfernen und stellten solche der Faschisten Roman Schuchewytsch und Stepan Bandera auf. Sie benannten Straßen nach den einstigen Kollaborateuren der Wehrmacht und erklärten sie zu „Helden der Ukraine“. Sie gründeten Institute und Akademien zur Verbreitung dieses Glaubens.

Diese Wiederbelebung der OUN-Tradition – zu deren exilierten Vertretern westliche Geheimdienste ohnehin stets Kontakt hielten – bezeichnet der Historiker Per Anders Rudling als „importierten Heroismus“, der zudem durch die in ihm enthaltene Geschichtskitterung voller innerer Widersprüche ist: „Das Diaspora-Narrativ war widersprüchlich und kombinierte das Zelebrieren angeblicher Anti-Nazi-Widerstandsleistungen der OUN-UPA mit Feiern der Waffen-SS Galizien, einer ukrainischen Formation von Kollaborateuren, die von Heinrich Himmler 1943 gegründet worden war.“ Das führte zu Absurditäten wie der, dass Veteranen der Waffen-SS die UPA als „anti-Nazi Widerstandskämpfer“ würdigten und zugleich zum selben Verband von Kriegsveteranen gehörten. Sounds familiar? Es ist die gleiche Geschichte, die heute erzählt wird.

Die echten Ukrainer

Die ausgeprägte regionale Unterschiedlichkeit der Traditionslinien ist allerdings auch mit dem sogenannten Euromaidan – der Ersetzung des tendenziell pro-russischen korrupten Autokraten Janukowitsch durch eine Reihe pro-westlicher korrupter Autokraten – nicht verschwunden. Insbesondere im Osten der Ukraine kam es zu Aufständen, es bildeten sich die sogenannten „Volksrepubliken“ in Donezk und Lugansk – in Mariupol rückten zur Niederschlagung Panzer ein, in Odessa verbrannte man Oppositionelle bei lebendigem Leib. Noch bei den Wahlen 2019 kam der „pro-russische“ Oppositionsblock auf 13 Prozent, obwohl in zwei großen Regionen – den „Volksrepubliken“ nicht abgestimmt wurde. Auch Selenskys Erfolg dürfte, neben dem für „neue“ Kandidaten üblichen Anti-Korruptionsimage nicht unmaßgeblich an dem Versprechen, den Krieg im Osten zu beenden, gelegen haben. Vor und während der Kriegshandlungen kam es zu Massenverhaftungen von „pro-russischen“ Personen durch den Geheimdienst SBU und diversen rechten Milizen.

Das alles spielt im Westen keine Rolle und allein die Erwähnung dieser unbestreitbaren Fakten gilt als Verrat an Humanismus und Moral. Die im Rahmen der imperialistischen Debattenkultur einzig geduldete Position ist die des prowestlichen Nationalismus – und das ist eben der in der Tradition Banderas. Das wird zwar bestritten mit dem Hinweis darauf, dass Azov nur ein paar tausend Militante habe und der ihnen nahestehende politische Wahlblock bei den letzten Wahlen auf nur 2,4 Prozent kam. Doch das ist ein Scheinargument.

Die Bandera-Linie ist weit über das offen faschistische Spektrum hinaus die anerkannte Traditionslinie des prowestlichen ukrainischen Nationalismus, sie zu ehren war und ist auch für die ganz bürgerlichen Gestalten wie Timoschenko, Klitschko, Melnyk oder eben Selensky eine Selbstverständlichkeit. Das Grüßen mit „slava ukraini“, die schwarz-roten Fahnen, die Verklärung der OUN und die Leugnung ihrer Pogrome und Massenmorde ist kein Monopol der offen nazistischen Kräfte. Sie ist im prowestlichen Teil der Ukraine hegemonial und wo sie es vor dem Krieg nicht war, hat ihr Putin mit seinem als „Entnazifizierung“ verbrämten Angriffskrieg zum endgültigen Durchbruch verholfen.

Für die westliche Berichterstattung jedenfalls gilt: „Echte Ukrainer“ können nicht die sein, die den Dienst an der Waffe für Europa verweigern oder gar mit dem geopolitischen Feind fraternisieren. Echte Ukrainer sind nur die prowestlichen Nationalisten und weil dem so ist, muss die Geschichte eben so umgeschrieben werden, dass keinerlei Zweifel an deren Image bleibt.

Whitewashing Nazis

Da sich die Schlagseite des ukrainischen Nationalismus zum Faschismus aber nicht komplett verbergen lässt, weil die Wolfsangeln, Schwarzen Sonnen und Bandera-Bildnisse nunmal nicht alle aus dem Spiegel-Archiv löschen lassen, ist die Umdeutung ukrainischer Faschisten auch in deutschen Medien und Politikerreden gängiges Tagesgeschäft. Und die schreitet rasch voran. War noch zu Kriegsbeginn eine Homestory mit zwei der bekanntesten Neonazis der Ukraine ebenfalls im Spiegel kurz nach Veröffentlichung wieder gelöscht worden, ist es mittlerweile von Springer bis FAZ Usus, von in Mariupol eingeschlossenen Faschisten nur noch als „Widerstandskämpfern“ zu sprechen. Völlig ohne jede Einordnung werden Videos vom Twitter-Kanal der Faschisten wiedergegeben. Wahlweise wird die These vertreten, die Ideologie der Bandera-Anhänger sei völlig marginal oder aber sie seien so wichtig für den Kampf um die Freiheit Europas, das man sie nicht zu kritisieren habe. Im Trend ist auch die These, dass die mit Schwarzer Sonne und Wolfsangel in den Kampf ziehenden Kombattanten nur „früher mal“ Nazis waren, aber einen wundersamen Entradikalisierungsprozess durchgemacht hätten und jetzt keine mehr sind. Was den Sinneswandel begründet haben könnte, man kann nur rätseln. Sehr überzeugend ist das alles nicht, wie das Jacobin Magazin nachwies.

Deutsche Zeitenwende

Ein erwünschtes Nebenprodukt des ukraine-bezogenen Geschichtsrevisionismus ist, dass Deutschland – wie einst im Jugoslawienkrieg wieder unter Vorherrschaft der „Grünen“ – den Schlussstrich unter die eigene Geschichte wieder ein kleines bisschen dicker ziehen kann. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges der Sowjetunion über den Hitler-Faschismus veröffentlichte die Haus- und Hofzeitung der Joschka Fischers dieser Republik einen Text der russischen Rechten Julija Leonidowna Latynina, in dem nicht nur affirmativ ein Diplomat des rumänischen Holocaust-Kollabaroteurs und Faschisten-Diktators Ion Antonescu zitiert wird, sondern die vor nicht allzu langer Zeit außerhalb von nationalkonservativen Stammtischen sehr seltene These vertreten wird, die Sowjetunion habe den Zweiten Weltkrieg begonnen: „Die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein würde. Er hatte diesen Krieg geplant – lange bevor Hitler an die Macht kam.“ Verteidiger:innen dieses Textes auf Twitter führten an, es sei ja schließlich ein Reprint aus einer russischen Zeitung und da müsse man kulturelle Unterschiede einrechnen. Als solidarischer Deutscher darf man ihn dann durchaus teilen und wenn man schon nicht selbst gleich wieder die Hand heben darf, dann streitet man wenigstens für das Recht anderer, es zu tun.

Wer nicht gleich so weit gehen will, die Geschichte komplett umzuschreiben, widmet sich lieber der Verdrehung der Lehren, die man einst aus ihr zog. War es nach 1945 schlüssig, militärische Zurückhaltung von jenem Deutschland zu fordern, das die ganze Welt mit Leid überzogen hatte, arbeiten die hiesigen Eliten seit Jahrzehnten daran, die Sache umzudrehen: Gefordert sei vielmehr ein Mehr an militärischer Aktivität im Ausland, natürlich stets zum guten Zweck. Lag der beim ersten Waffengang von Rot-Grün noch in der Zähmung des „Balkan-Hitlers“ Milosevic, hat man den neuen Hitler jetzt in Moskau ausgemacht. Der „Prüfstein, wie ernst es uns mit dem deutschen ‚Nie wieder‘ ist“, erläutert eine vom Ex-Böll-Stiftungs-Scharfmacher Ralf Fücks angeführte Querfront aus Springer-Journalisten, Grünen und Neues-Deutschland-Kolumnisten, sei die Verteidigung der Freiheit der Ukraine mit Waffengewalt. „Die deutsche Geschichte gebietet alle Anstrengungen, erneute Vertreibungs- und Vernichtungskriege zu verhindern. Das gilt erst recht gegenüber einem Land, in dem Wehrmacht und SS mit aller Brutalität gewütet haben.“ Dass ukrainische Nationalisten an der Seite von Wehrmacht und SS gegen Rote Armee, Juden und Polen wüteten, interessiert hier schon nicht mehr. Dafür wird aber en passant der „Vernichtungskrieg“ entgermanisiert – so besonders war der Hitler-Faschismus dann auch wieder nicht.

Das Whitewashing des ukrainischen Nationalismus hat die Wiederbelebung des deutschen Nationalismus im Schlepptau. Und welch Überraschung, der betritt dieses Mal nicht in seiner hässlichen pockennarbigen AfD-Form die Weltbühne, sondern ganz humanistisch, transatlantisch, pro-europäisch, samt feminist foreign policy. Die Freund:innen des CO2-neutralen Panzers jubeln, die Wolfsangel weht neben NATO- und Regenbogenfahne auf den „Friedenskundgebungen“. Und ein weiteres Mal darf am deutschen Wesen die Welt genesen.

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Zu dem aktuellen Krieg Russlands gegen den NATO-Verbündeten Ukraine liest und hört man überall, dass die „diplomatischen Bemühungen“ gescheitert seien, wobei die Kriegsparteien – und machen wir uns nichts vor, Deutschland ist in diesem Konflikt faktisch eine Kriegspartei – sich gegenseitig die Schuld dafür geben. Viele Menschen, die prinzipiell gegen Krieg sind, hoffen und appellieren an die Geschicke der Diplomat:innen. Sie wollen nicht glauben, dass es für die zwischenstaatlichen Probleme keine „diplomatische Lösung“ gab. Warum wurde nicht weiter verhandelt? Hätte man nicht irgendwelche Zugeständnisse machen können?

Auf dem diplomatischen Parkett treffen sich Vertreter:innen von Staaten, deren ökonomisches und militärisches Potential sehr unterschiedlich ist. Sie behandeln sich trotz dieser Machtunterschiede formell als gleichberechtigt, tauschen Höflichkeiten aus und versichern sich gegenseitig zu, ihre Souveränität anzuerkennen. Es sind trotzdem die stärkeren Verhandlungspartner, die am Ende ihren Willen durchsetzen– das können sie, weil sie über Druckmittel ökonomischer und militärischer Art verfügen.

Der Gegenstand des diplomatischen Konflikts zwischen Russland und der NATO, beziehungsweise der EU, war aber eben genau die Frage, wie weit die westlichen Mächte ihren Druck auf Russlands Nachbarn erhöhen und dadurch Russlands Position schwächen dürfen, sprich wer seinen Willen durchsetzen kann. Dadurch, dass die Regierungen vieler Länder östlich der NATO Russland als Gefahr und den Westen als Verbündeten sehen, stieg in der jüngeren Vergangenheit ihre Bereitschaft Reformen – mögen sie noch so schmerzhaft für die Bevölkerung sein – durchzuführen. Russland hingegen spekulierte auf die dadurch wachsende Unzufriedenheit und setzte auf eine zunehmende Destabilisierung. Damit gleicht die Strategie derjenigen des Westens, der das selbe mit jeder ihm nicht genehmen Regierung in der Region macht. Als unzulässige Einmischung angeprangert werden üblicherweise allerdings nur russische Einmischungen.

Russland wiederum eskaliert aktuell in der Ukraine die Situation auf militärischer Ebene, darauf spekulierend, dass sich niemand mit seinem Atompotential anlegen wird. Zumindest was einen direkten, zwischenstaatlichen Krieg angeht, trifft dies auch auf die NATO zu. Es zum einen genug ökonomische Hebel zur Schädigung der russischen Ökonomie und zum anderen die kampfbereiten ukrainischen Kräfte, die beide zusammen ein Eingreifen der NATO nicht nötig machen.

Währen der dem Krieg vorangegangenen Verhandlungen zielte Russland darauf ab, den von der NATO angestoßenen Prozess der Neutralisierung des russischen militärischen Potenzials nicht nur zu stoppen, sondern am besten rückgängig zu machen. Mit der schwächeren Ukraine direkt wollte Russland gar nicht erst verhandeln und verwies wiederum Kiew auf die Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen, mit den Vertreter:innen der „Volksrepubliken“ zu verhandeln. Die abtrünnigen Republiken als gleichberechtigten Verhandlungspartner auf dem diplomatischen Parkett anzuerkennen war wiederum für die Ukraine unmöglich, ohne damit den Souveränitätsanspruch auf das eigene Staatsgebiet aufzugeben.

In den vergangenen acht Jahren, war die Ukraine nach Russland der Staat mit den zweithöchsten Militärausgaben im ganzen postsowjetischen Raum. Die westliche Unterstützung für den Aufbau der ukrainische Streitkräfte führte dazu, dass die russische Verhandlungsposition mit der Zeit zunehmend schwächer wurde. Gleichzeitig sah der Westen natürlich auch keinen Grund, die eigenen Fortschritte beim Einhegen der russischen Ansprüche rückgängig zu machen – denn dies hätte ja gerade die eigene Verhandlungsposition geschwächt. Der Westen hat ja nicht jahrzehntelang an der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entmachtung Russlands gearbeitet, um dann nachzugeben.

Die Ansage westlicher Politiker, Russland sei eine „Regionalmacht“ hält die russische Führung für eine Fehleinschätzung und will qua Gebrauch des eigenen Militärpotenzials, sowie Drucks via Rohstofflieferungen zeigen, dass die Verhandlungspartner es mit einer Weltmacht zu tun haben. Diese grundlegenden gegensätzlichen Interessen trägt Russland nun in der Ukraine aus. Der Westen ist scheinbar bereit, die Kosten der ukrainischen Kriegsführung zu tragen, die Zerstörung von Streitkräften und Infrastruktur der Ukraine durch die russische Invasion treibt diese Kosten in der Höhe. Da aber die ukrainische Staatlichkeit scheinbar doch nicht so fragil ist, wie von Putin erhofft, geht der Westen das Risiko ein, finanziert und rüstet die Ukraine weiter auf, ohne direkt in die Kämpfe einzugreifen. Die Sanktionen, die die russische Wirtschaft ruinieren und das Land in die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit bringen und die Bevölkerung auf Dauer vor eine Versorgungskrise stellen, sind ja auch dazu da, Russland zu Nachgiebigkeit bei Verhandlungen zu bewegen. Hingegen kämen schon direkte Verhandlungen mit Selenskyj für Putin einem Nachgeben gleich und um ihn dazu zu zwingen scheuen westliche Politiker keine Zumutungen für die eigene Bevölkerung, die durch Sanktionen mit hohen Preisen konfrontiert wird.

Kriegerische Handlungen bilden also keinen Gegensatz zu diplomatischen Verhandlung. Die Diplomatie verhindert keineswegs, dass das Gebiet und die Bevölkerung der Ukraine als Material dient, im Konflikt zwischen den führenden kapitalistischen Staaten und den russischen Ambitionen einer dieser führenden Staaten zu werden. Illusionen über den friedlichen Charakter der Austausch von Drohungen sollte sich die Antikriegsbewegung nicht machen.

# Titelbild: Sowjetisches Antikriegsplakat

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Die Corona-Pandemie hat auch Gewinner. Biontech zum Beispiel, das Unternehmen, das einen der Impfstoffe gegen das Corona-Virus entwickelt hat. Die Eigentümer:innen sind so zu Milliardär:innen geworden. Neben der Formel für den Impfstoff greift Biontech für‘s Kohle scheffeln auf bekannte Rezepte zurück: Lobbyismus und untertarifliche Bezahlung.

Bekanntlich hat die Coronapandemie die Umverteilung von unten nach oben noch einmal erheblich beschleunigt. Superreiche wie Amazon-Gründer Jeff Bezos oder der Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz haben heute ein paar Milliarden mehr auf dem Konto als vor der Seuche. Natürlich gehört auch die Pharmaindustrie zu den Branchen, die mächtig absahnen. Ganz vorn dabei die Firma Biontech SE aus Mainz. Für das 2008 gegründete und eigentlich in der Krebsforschung tätige Unternehmen war Corona der Jackpot. Uğur Şahin und Özlem Türeci, Gründer:innen und Inhaber:innen von Biontech, setzten bereits im Frühjahr 2020 – also kurz nach Ausbruch der Pandemie – auf die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Covid-19 und hatte nicht nur pharmazetischen Erfolg. Über Nacht wurde das Paar traumhaft reich.

Die Firma präsentierte im Herbst 2020 einen Corona-Impfstoff, den es in Kooperation mit dem US-amerikanischen Pharmariesen Pfizer und dem chinesischen Pharmakonzern Fosun – unterstützt mit einigen Millionen aus der Staatskasse – entwickelt hatte. Dass es ein deutsches Unternehmen das erste war, das einen Impfstoff präsentieren konnte, führte zu Extase in der bürgerlichen Öffentlichkeit. „Es ist die deutsche Mondlandung“, harfte die Bild-Zeitung. Für den liberalen, nach Aufstiegsstorys lechzenden Teil der Öffentlichkeit kam noch hinzu, dass Şahin und Türeci türkischstämmig sind und der Vater von Şahin als „Gastarbeiter“ bei Ford am Band stand. Die Begeisterung kannte und kennt keine Grenzen. Im Frühjahr 2021 heftete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) den Mediziner:innen das Bundesverdienstkreuz ans Revers.

Wichtiger als der Ruhm dürfte dem Paar aber wohl die finanzielle Entwicklung ihres Startups Biontech gewesen sein. Bereits im ersten Halbjahr machte Biontech rund 3,9 Milliarden Euro Gewinn – Gewinn, nicht Umsatz wohlgemerkt. Im Januar 2022 verkündete Şahin, das Unternehmen habe mit dem Impfstoff im Vorjahr einen Umsatz von 16 bis 17 Milliarden gemacht, für das laufende Jahr gehe er von einem ähnlichen Volumen aus. Das Vermögen von Şahin und Türeci erhöhte sich im Handumdrehen auf knapp zwölf Milliarden Euro, wie Medien berichteten. Damit gehören die beiden, gemessen am Forbes-Ranking für 2021, zu den zehn reichsten Menschen in Deutschland.

Dieser Reichtum kommt nicht von ungefähr. Im kapitalistischen Hauen und Stechen ist auch die lebensnotwenige Versorgung mit Medikamenten nur eine Ware, die es gilt möglichst profitabel unter die Leute zu bringen. Und damit die Profite sicher bleiben, wird entsprechend lobbyiert. Vizekanzler Robert Habeck etwa, machte in Bezug auf die Freigabe von Patenten, die Biontech und anderen Pharmakonzerne die Milliarden sichern, eine 180 Grad-Wende. In der Opposition hatte er noch die Freigabe der Impfstoffpatente gefordert, in Regierungsverantwortung, nachdem er mit „Unternehmen noch mal intensiv gesprochen“ habe, diese Position komplett aufgegeben. Das einzige Unternehmen mit dem er gesprochen hatte: Biontech.

Biontech ging in seinem Lobbyismus aber noch einen Schritt weiter. Um der gobal betrachtet krassen Unterversorgung armer Staaten mit Impfstoffen Herr zu werden, hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO in Südafrika ein Konsortium damit beauftragt, einen eigenen Impfstoff herzustellen. Nach Recherchen des British Medicinal Journal versuchte Biontech über die vom Unternehmen finanzierte Stiftung Kenup, diese Initiative zu verhindern, unter Verweis auf das Patentrecht. Stattdessen solle in Ruanda und im Senegal in Containern von Biontech hergestellt werden. Profite für die Mainzer natürlich inklusive.

Und während nach außen die Absatzmärkte gesichert werden, werden nach innen die Beschäftigten gekonnt ausgepresst. Bereits in der Debatte um einen möglichen Staatseinstieg bei Biontech im Februar 2021 hatte die auch für die Pharmaindustrie zuständige Gewerkschaft IG BCE (Bergbau, Chemie, Energie) gemahnt, die Politik müsse Biontech daran erinnern, „dass die Sozialpartnerschaft auch für Start-ups gilt“. Biontech warb damals um weitere Staatsgelder, um die Impfstoff-Produktionskapazitäten rasch auszubauen. Man befürworte diese Förderung, erklärte aus diesem Anlass Roland Strasser, Landesbezirksleiter der IG BCE, plädiere aber zugleich dafür, dass sich auch Biontech zur etablierten Sozialpartnerschaft bekennen. Stattdessen aber würden Gesprächsangebote abgeblockt.

Dass sich bis heute – also nach einem Jahr – an der Misere offenbar nicht wirklich etwas geändert hat, zeigte ein Beitrag, der jüngst in der Tageszeitung junge Welt erschien. Dort hieß es, die IG BCE bemühe sich weiterhin um Zugang zur Biontech-Belegschaft. Gefordert würden Mitbestimmung, Tarifverträge und transparente Gehaltsstrukturen. Biontech habe sich für einen in der Startup-Szene üblichen Weg entschieden: Durch die EU-Rechtsform der SE würden nationalstaatlich verankerte Arbeitsrechte ausgehebelt. Betriebsräte und Tarifverträge versuche man zu verhindern, die Vergütungsstrukturen würden verschleiert. Laut Angaben der Gewerkschaft klagten viele Beschäftigte des Konzerns zudem über eine „Arbeitsbelastung am Anschlag“ und eine „mangelnde Führungskultur“.

Die Forderung der Gewerkschaft: Um die Situation zu verbessern, müsse Biontech als Gegenleistung für die Millionen vom Staat endlich akzeptieren, dass „Sozialpartnerschaft und Tarifverträge im gesamten Unternehmen Standard werden“. Die Kritik bezieht sich vor allem auf die rheinland-pfälzischen Standorte Mainz und Idar-Oberstein. Denn im zur Erweiterung der Produktionskapazitäten zugekauften Werk im hessischen Marburg gelten alle Mitbestimmungsrechte und der Flächentarifvertrag der Chemieindustrie. Biontech hatte die Anlage im Herbst 2020 von der schweizerischen Novartis AG übernommen – einschließlich der bestehenden Arbeits- und Tarifverträge. Allerdings gibt es auch in Marburg für die rund 100 nach der Übernahme eingestellten Mitarbeiter nur befristete Verträge.

Die IG BCE will, wie junge Welt berichtete, Tarifverträge für alle Beschäftigten an allen Standorten erreichen. Denn vor allem dort, wo diese fehlten, seien die Bedingungen miserabel. Die Gewerkschaft verweist immer wieder darauf, dass Mitbestimmungsrechte und Tarifverträge in der Pharmaindustrie durchaus üblich sind. Kooperationspartner von Biontech wie Pfizer, Sanofi und Bayer seien „alle tarifgebunden und schätzen die Sozialpartnerschaft zur IG BCE“. Es wird sich noch zeigen, ob die Goldgrube Biontech auch ihre Mitarbeiter flächendeckend am Erfolg des Unternehmens zu beteiligen gewillt ist. Sicher ist aber, dass Biontech den Eigentümer:innen weitere Milliarden in die Taschen spülen wird. Dafür wird auf allen Ebenen gesorgt.

# Titelbild: Neben Milliarden gibt’s auch eine Ehrendoktorwürde. Empfang für Özlem Türeci und Uğur Şahin, im Rathaus Köln und Verleihung der Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

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Einfach gegen Krieg zu sein, ist noch keine politische Position. Die Friedensbewegung in Deutschland aber muss eine klare Haltung einnehmen – sonst droht ihr, dass sie für die Interessen des Kapitals instrumentalisiert wird.

Krieg, bis Putin aufgibt!

Berlin erlebte am Sonntag nach Beginn der Invasion der Ukraine durch den russischen Staat die größte „Friedensdemonstration“ seit dem Irakkrieg. Über 100.000 Menschen seien auf die Straße gegangen. Die Teilnehmer:innen gehörten unterschiedlichen politischen Richtungen an – von linksorientierten Menschen bis hin zu Vertreter:innen von FDP/CDU/SPD/Grüne. Der Tenor allerdings war, dass „Putins Krieg“ gestoppt werden müsse. Und zwar in dem Sinne, dass Putin als alleiniger Verantwortlicher für den Krieg in der Ukraine kritisiert wurde.

So eine Sicht auf den Krieg verschleiert aber seine Ursache: den Konflikt zweier imperialistischer Blöcke, nämlich einerseits dem Block NATO/EU und andererseits dem russischen Imperialismus mit seiner Eurasischen Wirtschaftsunion und seinem Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit). Der Angriff des russischen Staates ist ein katastrophaler Eskalationsschritt – aber eben ein Schritt, dem viele weitere vorausgingen. Seit dem Ende der Sowjetunion waren es NATO und EU, die ihren Machtbereich nach Osten ausdehnten und Russland dabei zunehmend einkreisten. Die Ukraine wurde besonders seit den Maidan-Protesten 2013/14 Schauplatz des Konfliktes der beiden imperialistischen Blöcke, wobei auch hier NATO und EU ihren Einfluss aggressiv ausweiteten.

Bei der Mehrheit der ersten „Friedensdemonstrationen“ ging es nicht um diesen imperialistischen Konflikt. Sie positionierten sich nicht gegen den imperialistischen Krieg, sondern allein gegen den russischen Staat. Auf den wenigsten Demonstrationen wurde Kritik an NATO/EU geübt, die mit ihrer seit 30 Jahre anhaltenden Offensive zur Eskalation beitrugen und beitragen. Unterm Strich deckt sich die Stoßrichtung von „Friedensdemonstrationen“ wie der genannten in Berlin also in wesentlichen Punkten mit dem Interesse des Blocks NATO/EU.

So eine „Friedensbewegung“ ist nicht nur bequem für den deutschen Imperialismus, sondern spielt ihm sogar in die Karten: Bundeskanzler Scholz zog die „Friedensdemonstrationen“ in seiner Regierungserklärung heran, um weitere Eskalationsschritte und die zusätzlichen 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr zu legitimieren. Und auch in der Springer-Presse gab es Lob für die Demonstrationen. Obwohl die meisten Demo-Teilnehmer:innen sich sicher aufrichtig Frieden wünschen, kann die Botschaft solcher Veranstaltungen von den Herrschenden leicht als „Krieg, bis Putin aufgibt!“ ausgelegt werden.

Wo steht der Hauptfeind?

Weil die aktuelle militärische Offensive vom russischen Staat ausgeht, kommt der Bevölkerung Russlands im Kampf gegen den Krieg zentrale Bedeutung zu. Sie befindet sich in der Position, dem russischen Imperialismus von innen empfindlichen Schaden zufügen und ihm die Kriegsführung erschweren zu können.

Es gibt in Russland bereits zahlreiche Proteste gegen den Krieg, woran sich auch Linke beteiligen. Sie müssen propagieren, den Krieg zwischen Nationen in Klassenkampf umzuwandeln – gegen Putin und die hinter ihm stehenden Großkapitalisten. Die Masse der Bevölkerung Russlands hat in diesem Ukraine-Krieg nichts zu gewinnen. Sie muss dessen immense Kosten tragen, unter Sanktionen leiden und ihre Söhne als Kanonenfutter hergeben.

Auch in Deutschland müssen Linke die Invasion der Ukraine durch den russischen Staat verurteilen und sich mit der Anti-Kriegs-Bewegung in Russland solidarisieren. Dabei sollte aber auch klargemacht werden, dass es sich um einen imperialistischen Krieg handelt und dass solche Kriege eine notwendige Folge des Konkurrenzkampfes im imperialistischen Weltsystem sind.

Die Hauptaufgabe von Linken in Deutschland ergibt sich allerdings aus der Position, in der sich die Arbeiter:innenklasse Deutschlands befindet. Denn sie lebt unter der Herrschaft eines der wichtigsten Staaten des NATO/EU-Blocks und der deutsche Imperialismus bemüht sich seit Jahren, seine Machtposition in Europa und darüber hinaus auszubauen. Dabei soll auch militärische Stärke eine wichtige Rolle spielen, weshalb Politiker:innen fast aller bürgerlicher Parteien sich seit Jahren für eine Aufrüstung der Bundeswehr aussprechen.

Für die Interessen des hinter ihm stehenden Kapitals hat auch der deutsche Staat zur aktuellen Eskalation des Konflikts mit dem russischen Imperialismus beigetragen. Deutlich wird das unter anderem daran, dass ernsthafte Verhandlungen mit der russischen Regierung verweigert wurden. Diese hatte im Dezember 2021 Forderungen gegenüber USA und NATO aufgestellt. Darunter: keine weitere NATO-Osterweiterung und der Abzug von NATO-Waffen, die sich in Nähe der Grenze Russlands befinden. Doch für die NATO kam es nicht in Frage, ernsthaft über diese Forderungen zu sprechen und Kompromisse einzugehen – nicht einmal, als die NATO-Geheimdienste wussten, dass es bei weiterer Verhandlungsverweigerung zu Krieg kommen werde. Die Regierungen der NATO- und EU-Staaten nahmen und nehmen die tausenden Kriegstoten wohl wissend in Kauf.

Seit Beginn der Invasion verfolgt der deutsche Imperialismus diese Linie weiter: mit Waffenlieferungen an das ukrainische Militär, Sanktionen gegen den russischen Staat, der Forderung, die Ukraine solle EU-Mitglied werden – und vor allem mit der Ankündigung massiver militärischer Aufrüstung. Deeskalationsversuche gab es keine. Die Interessen des Kapitals sollen ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt werden.

Das ist die Politik des deutschen Staates. Dieser sollte im Fokus der Friedensbewegung in Deutschland stehen. Er ist ihr direkter Gegner und auf ihn kann sie am besten Druck ausüben – nicht auf die russische Regierung 1.800 Kilometer entfernt. Zudem ist der Kampf für das Ende des Krieges in der Ukraine unmittelbar verknüpft mit dem Kampf gegen die Wurzel der ständigen Kriegsgefahr, also dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus bzw. Imperialismus. Und den kann man nur Zuhause führen.

So wie die Anti-Kriegs-Bewegung in Russland Druck auf den russischen Staat macht, den Krieg zu beenden, muss auch die Friedensbewegung in Deutschland Druck auf den deutschen Staat machen. Statt dass dieser den Konflikt weiter mit eskaliert, muss seiner Aggression Einhalt geboten werden. Er muss dazu gedrängt werden, Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen, damit das Blutvergießen ein Ende haben kann und es Aussicht auf einen Abzug der russischen Truppen gibt. Ein Ende der Kämpfe zwischen den kapitalistischen Staaten löst zwar den imperialistischen Konflikt nicht auf, aber je länger der Krieg dauert desto mehr Verluste müssen die Bevölkerungen hinnehmen, desto größere wirtschaftliche Kosten müssen sie tragen und desto gefährlicher kann sich die internationale Lage zuspitzen.

Die Heuchler entlarven

Die kapitalistischen Parteien und die großen Medien in Deutschland sind sich aktuell weitgehend einig. Kritik an weiterer Eskalation und Aufrüstung gibt es kaum. Man steht zusammen im „Konflikt zwischen Putin und der freien Welt“ (Scholz). Oder wie ein Vorgänger von Scholz es zu Beginn des Ersten Weltkriegs ausdrückte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Die Einheit von herrschender Politik und großen Medien ermöglicht ihnen, die Bevölkerung Deutschlands von allen Seiten mit ihrer imperialistischen Propaganda einzudecken und NATO/EU als die „richtige Seite“ in einem Kampf von Gut und Böse darzustellen.

Aber dennoch besteht aktuell großes Potential, die in der Bevölkerung weit verbreitete Erzählung der Herrschenden ins Wanken zu bringen. Denn an zahlreichen Beispielen können Linke zeigen, dass es den Herrschenden nicht um das Wohl von Menschen geht, wie sie selbst ständig behaupten, sondern dass sie die Interessen des Kapitals vertreten und dafür buchstäblich über Leichen gehen. Hier sind einige eindrückliche Beispiele entlarvender Widersprüche:

  • Politiker:innen und Journalist:innen zeigen sich jetzt tief betroffen angesichts des Leids der Kriegsopfer in der Ukraine. Doch wie war das bei den Kriegen von NATO-Staaten wie in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak? Da haben die gleichen Parteien und Medien Kriegspropaganda betrieben und das Leid ihrer Opfer runtergespielt.
  • Plötzlich müsse man sofort hart gegen den russischen Staat vorgehen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Aber kein Wort und keine Kritik bezüglich der Bomben, die der türkische Staat als NATO-Mitglied in den gleichen Tagen auf mehrheitlich kurdisch-besiedelte Gebiete in Rojava/Nordsyrien und Kurdistan-Nordirak wirft – stattdessen gibt es sogar freundschaftliche Social-Media-Posts. Und genauso wenig Kritik gibt es auch am saudischen Staat, der seit Jahren mit Waffen aus USA und Deutschland ausgerüstet die Bevölkerung des Jemens massakriert.
  • Als Azerbaidschan mit Hilfe des NATO-Mitglieds Türkei 2020 Armenien überfiel wurde das nicht nur nicht verurteilt, Politiker:innen aus CDU/CSU ließen sich für Kriegslobbyismus sogar von Azerbaidschan bezahlen.
  • Menschen, die jetzt vor dem Krieg aus der Ukraine flüchten, wird aktuell von Politik und großen Medien viel Aufmerksamkeit gegeben und Verständnis entgegengebracht – aber eben nur den passenden Flüchtenden. Diejenigen Menschen, die von Afrika über das Mittelmeer flüchten, sollen dort weiter ertrinken. Selbst an der Grenze Ukraine-EU müssen unzählige in der Kälte zu überleben versuchen, weil sie nicht dem Bild der Herrschenden der EU-Staaten entsprechen. Und auch Ukrainer:innen in Deutschland waren und sind der kapitalistischen Politik egal, solange sie nur überausgebeutete Arbeiter:innen sind, durch deren Arbeit deutsche Unternehmen Extraprofite erzielen können; als LKW-Fahrer, Pflegerinnen oder Reinigungskräfte. Es geht eben nicht um Schutz für Geflüchtete oder das Wohl von Ukrainer:innen – es geht darum, Notlagen von Menschen für imperialistische Propaganda auszunutzen.
  • Häufig hört man auch, dass man einem Diktator wie Putin härter hätte entgegentreten sollen und dass man mit Diktatoren eben nicht zusammenarbeiten dürfe. Aber das gilt natürlich nur, wenn der entsprechende Diktator ein Bösewicht ist, also nicht den NATO/EU-Block unterstützt. Im Februar noch war Außenministerin Baerbock in Ägypten. Dort herrscht eine brutale Militärdiktatur, unter der faktisch jede Opposition verboten ist und zehntausende politische Gefangene in den Knästen sitzen, in denen auch gefoltert wird. Aber mit Militärdiktator Sisi arbeitet der deutsche Staat gerne zusammen, weil der ägyptische Staat als Partner im internationalen Konkurrenzkampf des Imperialismus nützlich ist und den EU-Staaten außerdem lästige Geflüchtete vom Hals hält. Allein 2021 gab es aus Deutschland Waffen im Wert von 4,34 Mrd. Euro für die Diktatur.
  • Schließlich die 100-Mrd.-Euro-Aufrüstung: Sie macht eindeutig klar, dass die kapitalistischen Parteien die Bevölkerung all die Jahre angelogen haben, als sie sagten, menschenwürdige Pflege, mehr Rente oder bessere Bildung oder nur Luftfilter in Schulen während der Corona Pandemie könnten nicht finanziert werden.

Was soll man diesen Leuten noch glauben? Es ist offensichtlich, dass es ihnen nicht um das Wohl der Bevölkerung geht, sondern um die Interessen des Kapitals.

Die tatsächliche Friedensbewegung

Erfreulicherweise werden aktuell zunehmend linksorientierte Kundgebungen und Demonstrationen in Abgrenzung zu FDP/CDU/SPD/Grüne organisiert. Sie verurteilen den Angriffskrieg des russischen Staates, stellen sich aber auch gegen die massiven militärischen Aufrüstungspläne der Bundesregierung. Es beteiligen sich dort Gruppen mit durchaus unterschiedlichen Positionen und nicht alle sind antikapitalistisch. Aber hier kann sich eine Massenbewegung für den Frieden herausbilden, die vom deutschen Imperialismus unabhängig ist und den Eskalationskurs der Bundesregierung nicht mitgeht.

Es ist unsere Aufgabe als Linke, uns an dieser Bewegung zu beteiligen und deutlich zu machen, dass die Bevölkerung Deutschlands nicht zwischen russischem und NATO/EU-Imperialismus wählen muss. Denn diese Alternative ist falsch. Es gibt keinen friedlichen Imperialismus. Kein Imperialismus nutzt der Masse der Bevölkerung – weder in der Ukraine oder in Deutschland noch sonst wo. Stattdessen braucht es einen Kampf gegen die Herrschenden im eigenen Land und eine Befreiung vom Kapitalismus, um eine dauerhaft friedliche Welt zu ermöglichen.

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Man wolle die Rechte von Frauen, Mädchen und queeren Menschen weltweit und den Frieden u.a. im Nahen und Mittleren Osten stärken, so zumindest steht es in dem 177 Seiten langen Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition im Bundestag. Dieses Statement ist die Fortsetzung eines Trends, denn seit einigen Jahren schreiben sich Staaten vermehrt Feminismus auf die Fahne. Spätestens 2014 hat ein neues Schlagwort den Weg in den Wortschatz der Herrschenden gefunden: Feministische Außenpolitik. Die damalige schwedische Außenministerin Margot Wallström stellte dieses Konzept vor, das vorgibt, Frauen und Mädchen zu stärken, sie besser in Politik und Friedensverhandlungen einzubinden, und patriarchale und sexualisierte Gewalt zu bekämpfen.

Diese Idee von „Feminist Foreign Policy“, die über die Jahre von immer mehr Staaten aufgegriffen wurde, ist nun auch Teil des Koalitionsvertrags der neuen Bundesregierung aus FDP, Grünen und SPD, in der mit Annalena Baerbock erstmals eine Frau die Außenministerin stellt. Im selben Dokument steht neben der Ankündigung einer „Rückführungsoffensive“ von Asylbewerber*innen und der Zusicherung bewaffneter Drohnen an die Bundeswehr auch, was für ein wichtiger NATO-Partner die Türkei sei – trotz „besorgniserregender innenpolitischer Entwicklungen und außenpolitischer Spannungen“. Eine interessante Wortwahl, um die zahlreichen Angriffe des türkischen Staates etwa gegen die Frauenrevolution in Rojava, gegen feministische Demos, gegen Zivilist*innen und Genozid-Überlebende in den letzten Jahren zu beschreiben. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass die Türkei seit Jahren den IS unterstützt, der 2014 in Shingal einen Genozid an Êzîd*innen begangen hat, der vor allem auch ein Feminizid war.

Warum wir das alles erwähnen? Weil Deutschland jährlich Waffen im Wert von hunderten Millionen Euro an die Türkei liefert. Und weil an diesem Beispiel klar werden sollte, dass Abschiebungen, Aufrüstung, Rüstungsexporte – oder aktuell die Bereitstellung von 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr – im Widerspruch zu Frieden und Befreiung stehen.

Wolf im Schafspelz

Eine „feministische“ Außenpolitik scheint dabei an der Oberfläche besser zu sein als eine Außenpolitik, die sich überhaupt nicht mit Themen wie Feminismus auseinandersetzt. Allerdings ist diese subtile Vereinnahmung einer der radikalsten Bewegungen der Welt durch den Staat irreführend und demobilisierend.

Kapitalismus, Ausbeutung, Rassismus, staatliche Gewalt, Repression, koloniale Kontinuitäten – das sind Begriffe, die in den „Feminist Foreign Policy“-Kontexten kaum oder gar nicht vorkommen. Denn der Ansatz ist nicht an der Überwindung dieses Systems interessiert, das auf Ausbeutung, Unterdrückung und patriarchaler Gewalt basiert. Solche staatlichen Ansätze tragen vielmehr dazu bei, notwendige revolutionäre Forderungen zu verwässern und Kämpfe zu schwächen.

Gleichberechtigung wird in dieser Spielart des liberalen Feminismus im Rahmen von „Repräsentation“ gedacht; dass eine Frau die Außenministerin stellt, wird an sich als Gewinn betrachtet, während die tiefsitzende patriarchale Mentalität in der Gesellschaft und das System selbst kaum in Frage gestellt werden.

Diese oberflächliche Nutzung feministischer Begriffe findet sich auch in den vielen NGO-Strukturen, mit denen westliche Staaten für strategische Zwecke seit Jahrzehnten à la social engineering Zivilgesellschaften im globalen Süden aufbauen wollen. Feministische Aktivist*innen in Ländern wie Afghanistan, Kurdistan und im Irak kritisieren zurecht, dass die unzähligen vom Westen gesponserten „Women’s Empowerment“-Projekte schwach und unkritisch sind. Wegen ihrer Zusammenarbeit mit Regierungen und staatlich unterstützten Institutionen sind sie nicht nur keine Gefahr für patriarchale Strukturen, sondern eine der vielen Methoden, mit denen radikalere feministische Bewegungen gegen Kolonialismus, Besatzung und Krieg marginalisiert werden.

Diese Entwicklungen hängen mit einem globalen Trend zusammen, nämlich der sogenannten „Feminisierung“ des Sicherheitssektors: Es werden reihenweise staatsnahe und oft von Geheimdiensten informierte wissenschaftliche Arbeiten unter dem Dach „Gender, Peace, Security“ veröffentlicht. Gleichzeitig setzen Staaten, Militärbündnisse wie die NATO und ausbeuterische Konzerne das Thema Gender auf ihre Agenda, ohne dass daraus irgendetwas anderes folgt, als dass Frauen dieselbe patriarchale Politik von eh und je umsetzen sollen. Während in der Geschichte eine Antikriegshaltung eine der wichtigsten Strategien feministischer Bewegungen war, wird es nun als feministisch betrachtet, mehr Frauen in Staatsarmeen zu rekrutieren und mehr Frauen in Positionen zu bringen, in denen sie über die Bomben entscheiden können, die auf Menschen in verschiedenen Teilen der Welt herabregnen.

Feministische Außenpolitik ist somit eine vom patriarchalen Staatensystem abhängende und im Grunde konservative Methode, mit der die Entpolitisierung Widerstand leistender Bewegungen (z.B. revolutionärer Frauenbewegungen) durch neue Formen der westlichen Hegemonie durch scheinbar progressive Ideale verwirklicht wird.

Diese Entpolitisierung zeigt sich auch in Debatten um die aktuelle Kriegssituation in der Ukraine. Liberaler Feminismus spricht performativ von Putins „toxischer Männlichkeit“ und „phallisch“ anmutenden Kanonenrohren. Dabei sollte sich Feminist*innen eher die Frage aufdrängen, wie jetzt revolutionäre Bündnisse gegen Krieg, Vertreibung, Militarismus, Imperialismus, sowie sexualisierte und staatliche Gewalt geknüpft werden können. Und das geschieht nicht durch staatliche top-down-Ansätze innerhalb nationaler Grenzen, sondern internationalistisch und durch selbstorganisierte Massen.

Feminismus gegen den Staat

In den vergangenen Jahren haben sich viele feministische Kämpfe ausdrücklich gegen den Staat gerichtet, mit der Begründung, dass der Staat eine Institution ist, die patriarchale Gewalt reproduziert. Staaten behindern aktiv den Kampf gegen Gewalt und Unterdrückung, indem sie revolutionäre Bewegungen und Aktivist*innen kriminalisieren. In vielen Ländern ist der Staat dabei, existierende Rechte zur körperlichen Selbstbestimmung abzubauen. Und in Lateinamerika und der Karibik etwa wird seitens feministischer Gruppen der Begriff „Feminizid“ als eine Form der patriarchalen Gewalt betrachtet, die explizit durch den Staat ermöglicht und normalisiert wird.

Immer mehr feministische Bewegungen wenden sich aus diesen Gründen von den legalistischen, bürokratischen, reformorientierten Staatsfeminismen ab und wenden sich radikalen, revolutionären, auf Selbstorganisierung basierenden Formen der Politik zu. Diese sind oft lokal und gleichzeitig internationalistisch. In einem kapitalistischen System stehen Profite über Menschenleben. Dabei ist es weitgehend egal, wie ökologisch, wohlwollend oder sogar feministisch sich Regierungen geben. Vergessen werden Frauen und Queers in Knästen und in Kriegsgebieten. Vergessen werden Flüchtende an den EU-Außengrenzen, die voller Gewalt zurückgedrängt und dem Tod überlassen werden. Vergessen werden ausgebeutete Frauen auf der ganzen Welt und insbesondere im globalen Süden. Und – Stichwort „Rückführungsoffensive“ – all jene, die in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Verfolgung und Folter drohen, so wie es bereits die rot-grünen Landesregierungen in den letzten Jahren fleißig gemacht haben.

Feministische Außenpolitik kann sich nicht vom Staat, dem Bruder des Patriarchats, scheiden. Ihre Loyalität gilt der Macht, nicht der Freiheit. Sie hat herzlich wenig mit den vielen feministischen Bewegungen auf den Straßen der Welt zu tun, in denen Menschen tagtäglich ihre Leben riskieren, um sich Patriarchat, Kapitalismus, Polizeigewalt und militärischen Angriffen zu widersetzen. Dies sind zwei unterschiedliche Welten. Feminist*innen sollten sich aktiv dagegen wehren, dass ihre Geschichte, ihre Methoden und ihre Kämpfe durch Begriffe wie feministische Außenpolitik ihrer Bedeutung beraubt und mit Systemen der Gewalt und Ausbeutung vereinbar gemacht werden. Wir verdienen mehr als die rückständigen Ideologien und Methoden, die uns nun durch Staaten als Feminismus angedreht werden.

# Titelbild: Soldatinnen beim feierlichen Gelöbnis 2021, ©Bundeswehr/Sebastian Wilke

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Der bekannteste russische Oppositioneller, Alexei Nawalny meldet sich aus der Gefängnis zum Einmarsch in die Ukraine und wärmt dafür eine Theorie auf, die auch unter Linken beliebt ist. Der Krieg sei doch nur eine Ablenkung von den anderen, „wirklichen“ Problemen:

…Putin geht es um eine Sache: Die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen der Russen abzulenken: die Entwicklung der Wirtschaft, höhere Preise, regierende Rechtlosigkeit. Die Aufmerksamkeit wird stattdessen auf imperialistische Hysterie gelenkt.

Wann haben Sie das letzte Mal Nachrichten im staatlichen Fernsehen geschaut? Ich schaue derzeit nur das, und ich kann Ihnen versichern: Es gibt da keine Nachrichten aus Russland. Es geht nur um die Ukraine, die USA, Europa. Reine Propaganda reicht den senilen Gaunern nicht mehr. Sie wollen Blut. Sie wollen ihre Panzerfiguren über eine Landkarte der Feindseligkeiten fahren lassen.

Dass die russische Propaganda ständig das Bild des krisengeplagten Auslands als Kontrast zum von Erfolg zu Erfolg eilenden eigenen Land bemüht, mag zwar eine richtige Beobachtung sein, aber als Erklärung, warum Russland trotz aller bisherigen Bekundungen doch die Ukraine attackiert taugt es nicht. Dass der Krieg nicht nur Verluste, sondern auch eine ganze Reihe von neuen ökonomischen Problemen mit sich bringt, ist nicht nur der Regierung bewusst, sondern entgeht auch der Bevölkerung nicht. Es ist aber auch nicht so, dass Russland kurz vor Massenprotesten steht und nur noch ein „splendid little war“ den Kreml retten könnte.

Die stetige Osterweiterung der NATO und der EU, die die russische Führung immer wieder vorbringt, sind durchaus real. Russland ist seit über 30 Jahren ein kapitalistisches Land das in der ökonomischen Konkurrenz mit den Siegern des „Kalten Krieges“ nicht gut da steht. Die Teilnahme Russlands am Weltmarkt ist von den führenden westlichen Mächten erwünscht, russischer Erfolg dort jedoch nicht. Im ökonomischen Wettbewerb unterlegen, hat Russland aber noch ein gewaltiges Militärpotenzial, das es gerade dafür einsetzt, denjenigen Staaten, die die Rahmenbedingungen diktieren wollen, Grenzen zu setzen.

Putin teilte in seiner Rede auch unverhohlen mit, dass er nicht warten möchte, bis der Westen die Ukraine weiter als Frontstaat aufrüstet. Später wären die Kosten noch höher, so sein keineswegs geheimes Kalkül. Seine westliche Amtskollegen sagen der Bevölkerung der Ukraine auch klipp und klar, dass es so einiges kosten wird, der russischen Staatsraison Grenzen aufzuzeigen. Den Aufstieg einer Weltmacht zu verhindern, die ökonomisch gar keine ist, aber sich militärisch den Status nimmt , ist innerhalb imperialistischer Konkurrenz der einzig logische Schritt für die USA und ihre europäischen Noch-Verbündeten und zugleich Konkurrenten.

Die „imperialistische Hysterie“ die Nawalny anprangert ist nur eine Folge von dieser imperialistische Konkurrenz, gegen die er als Liberaler eigentlich nichts einzuwenden hat und die er meint mit rein ökonomischen Mitteln gewinnen zu können – so zumindest sein Programm aus der Zeit als er sich noch für‘s Präsidentenamt bewerben wollte, um selber das gleiche Spiel zu spielen.

# Titelbild: Sowjetisches Antikriegsplakat

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„Putin ist verrückt“ oder „machthungrig“ sind gängige Erklärungen für den Überfall Russlands auf die Ukraine. Alexander Amethystow darüber, warum der Krieg kein Betriebsunfall einer ansonsten normal funktionierenden Weltpolitik ist, sondern die Konsequenz imperialistischer Konkurrenz.

Unfassbar: kapitalistische Staatsinteressen führen tatsächlich zum Krieg, wer hätte es gedacht!

Die Welt ist entsetzt: Das größte Land der Welt zieht gegen das zweitgrößte Land Europas in den Krieg! Die Ukraine, die in den letzten Jahren stets beteuert hatte, williger Verbündeter des Westens zu sein, wird von Russland überfallen und erhält vom Westen keine Unterstützung mit Truppen. Einen vollwertiger Krieg mit der Atommacht Russland ist die Ukraine denjenigen, die sie zu einem Frontstaat aufbauten doch nicht wert.

Seit das postsowjetische Russland beschloss als kapitalistischer Staat in der weltweiten Konkurrenz seinen Erfolg zu suchen, pocht es darauf, als eine Weltmacht ernstgenommen zu werden. Doch die wirtschaftlichen „Erfolge“ reichen dafür offensichtlich nicht. Russland fungiert vor allem als Rohstofflieferant für den Westen. Konkurrenten und Geschäftspartner werden vor allem mit militärischem Potenzial zur Rücksichtnahme auf die eigenen Interessen gezwungen und genau dieses Potenzial versucht die NATO systematisch auszuhebeln. Angesichts der dauerhaften Bemühungen der EU von den russischen Energielieferungen unabhängig zu werden, wird es verständlich, warum die Führung Russlands um den Status ihres Staates in der imperialistischen Konkurrenz so besorgt ist.

Es liegt also nicht daran, dass Putin „verrückt“, „machtbesessen“ oder „Macker“ oder „Gladiator“ ist. Nein, es ist kein Betriebsunfall der Weltpolitik. Und auch die Debatte, welche Interessen Russlands „legitim“ seien, führt nirgendwo hin. Russland möchte Weltmacht sein, die anderen Weltmächte sind der Meinung es braucht keine weitere. Die westlichen Weltmächte stellen Spielregeln auf, Russland möchte Souveränität beweisen, indem es sich nicht einhegen lässt. Einen „Regime change“ in eigenem Interesse durchzusetzen, ist für Moskau der ultimative Beweis dafür, eine souveräne Weltmacht zu sein. Souverän ist, wer über die Souveränität der anderen entscheidet. Dass ist die Lehre, die Putin und Co. aus Jugoslawien, dem Irak, Libyen usw. gezogen haben.

Wer eine Großmacht sein will, darf die Verletzung seiner Interessen nicht hinnehmen. Das wiederholt Putin ständig und verweist auf die Schicksale der Länder, die keine Großmächte sind. Die Russische Führung sieht sämtliche ihrer Ansprüche in Osteuropa übergangen und betrachtet die vollendeten Tatsachen, vor die sie von der EU und der NATO gestellt werden, als die Aberkennung der Bedeutung Russlands in der Staatenkonkurrenz. Daher nimmt Russland sich das Recht, seinerseits Fakten zu schaffen.

Der Kreml inszeniert den Einmarsch ganz im Stil seiner westlichen Kontrahenten als eine humanitäre Aktion. Schon im Vorfeld wurde seitens Russland angekündigt: Wenn die ukrainische Regierung ihr Gewaltmonopol über die abtrünnigen Regionen wiederherstellen möchte, sei das ein Kriegsgrund! Entweder muss der ukrainische Staat faktisch zugeben, kein Souverän über sein eigenes Gebiet mehr zu sein, oder seitens Russlands das erleben, was Jugoslawien und Libyen seitens des freien Westens erlebt haben. Denn ein Kampf gegen bewaffnete Insurgenten auf eigenem Gebiet galt im Fall von Gaddafi als „ein Krieg gegen das eigene Volk“. Da kein Staat die Infragestellung des eigenen Gewaltmonopols in Kauf nehmen kann, käme es für die Ukraine dem Verlust der eigenen Souveränität gleich ein solches Diktat anzunehmen.

Russland weiß aus der Erfahrung zweier Tschetschenienkriege, dass in der nationalstaatlichen Logik abtrünnige Gebiete dann als feindliches Gebiet behandelt werden müssen, mit entsprechender Behandlung der Zivilbevölkerung. Bei den ukrainischen Versuchen, die eigenen Souveränität qua Ausnahmezustand durchzusetzen, werden – wie es in NATO-Jargon heißt – „Kollateralschäden“ entstehen, sprich Häuser und Infrastruktur zerstört, Zivilisten verletzt und getötet werden, was Russland „Genozid“ nennt. Das ist ein nicht zu überbietender Vorwurf und seit dem Jugoslawienkrieg ultimative Rechtfertigung für sofortiges Ein – und Angreifen.

Russland hat bereits angekündigt, die „Schuldigen“, sprich ukrainische Politiker und (Para)Militärs zur „Verantwortung zu ziehen“. Natürlich im Namen der Menschenrechte, die Russland einfach durchzusetzen hilft. Mit dieser Argumentation ist Putin nicht etwa bei Stalin oder Iwan dem Schrecklichen – wie man gerade allerorten lesen kann – sondern bei den westlichen Führungsmächten in die Lehre gegangen.

# Titelbild: Nein zum Krieg, sowjetisches Antikriegsposter

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