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Interview mit Peter Egger, Mitglied des Bund der Kommunist:innen, über Folklore am Arbeiter*innenkampftag, den DGB auf der Revolutionären-1.-Mai-Demo und die Notwendigkeit, die Systemfrage zu stellen. Das Gespräch führte Casia Strachna
Der Bund der Kommunist*innen gehört als Teil des Bündnisses „Nicht auf unserem Rücken“ zu den Organisator*innen der Revolutionären 1. Mai Demo in Berlin. Ist das nicht mittlerweile eher überholte linke Folklore?
So leichtfertig sollte man die Bedeutung der Demonstration nicht abtun: Sie gehört immer noch zu den größten regelmäßig stattfindenden Demonstrationen in Deutschland. Sie ist zehnmal größer als die Demo des DGB, die vormittags stattfindet und hinter der ein ganzer Gewerkschaftsapparat steht. Und sonst wird man dem Tag, dessen Tradition eine wichtige, nicht nur symbolische Bedeutung für die Arbeiter:innenklasse hat, auch nicht gerecht. Es geht um die Rechte der Arbeiter:innen und Ausgebeuteten. Es geht darum, sich zu wehren, grade in Zeiten von Wirtschaftskrise und nationalistischem Kriegstaumel. Wie kann das überholt sein? Natürlich bleibt es wichtig, genau diese Demonstration weiter zu führen.
Aber ähnelt es mittlerweile nicht eher einem Schaulaufen für Touris und die Leute kommen eigentlich nur noch, weil sie alten Kreuzberger Glamour erwarten? Konkret frage ich mich: Ist es die Arbeiter:innenklasse, die am Arbeiter:innenkampftag um 18 Uhr mit der Revolutionären-1.-Mai-Demo durch Neukölln und Kreuzberg ziehen wird?
Auch, na klar. Vermutlich nehmen an der revolutionären Demo mehr Arbeiter:innen teil, als an den meisten anderen Demonstrationen. Klar sind die Leute durchschnittlich eher jünger als bei der DGB-Demo, viele gehen halt noch zur Schule oder studieren. Dennoch sind sie Teil der Klasse und werden spätestens nach ihrer Ausbildung ebenso in den kapitalistischen Verwertungsfleischwolf geworfen wie die von uns, die arbeiten. Und natürlich kommen sie auch, weil wir eben die Klassenwidersprüche aufzeigen und Lösungen dafür anbieten.
Und wie sind die Lösungen?
Brot, Frieden und Sozialismus: Die Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen dürfen nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht diejenigen, die eh schon wenig haben, nun auch noch am meisten unter der Inflation leiden. Konkret muss es also um höhere Löhne gehen, vor allem um bessere Tarifabschlüsse. Wir haben jetzt einen Verlust unserer Kaufkraft und brauchen auch jetzt mehr Geld, nicht erst in einem Jahr höhere Löhne. Es geht um Frieden in der Ukraine – aber auch im Jemen, Libyen, Afghanistan und überall. Das massenhafte Abschlachten der Armen für die Profitinteressen der Reichen muss ein Ende finden. Sofort. Wir müssen über Aufrüstung reden, wofür Geld im Überfluss vorhanden ist und das gegenüberstellen zu allem, wofür angeblich kein Geld da ist, wie Schulen, Kitas, bezahlbarer Wohnraum, faire Löhne, die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen.
Aber bekommt man das nicht besser hin im Schulterschluss mit den anderen Teilen der Arbeiter*innenklasse, konkret also dem DGB?
Der DGB kann natürlich gerne bei uns mitlaufen, wenn er sich hinter die Forderungen eines Revolutionären 1. Mai stellt. Wir werden ja auch vormittags auf der DGB-Demo mitgehen. Ob da jetzt alle 20.000 kommen werden, die abends zu uns kommen? Wahrscheinlich eher nicht, aber der organisierte Teil ist da.
Wie ist denn die Perspektive über den 1. Mai, über den hohen Feiertag hinaus? Wie geht es am 2. Mai weiter?
Unser Fokus liegt auf der Arbeit in und um unsere Kiezläden, der Roten Lilly in Neukölln, der Kommune65 im Wedding und dem Café Wostok in Lichtenberg, also konkret in der Stadtteilarbeit unserer Stadtteilkomitees. Da haben wir einen Einfluss auf den Kiez und bauen eine Linke von unten auf. Nachdem traditionelle Gruppen wie FelS, Avanti und ALB in der Interventionistischen Linken aufgegangen sind, haben deren Vertreter*innen leider faktisch überhaupt keine Vernetzung mehr in der Klasse, die meisten anderen postautonomen Gruppen sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Uns geht es um revolutionäre Stadtteilarbeit. Wir organisieren unsere Nachbarschaft. Bei uns gibt es Sozialberatung, Hilfe bei Problemen mit dem Vermieter, Sprachschulen, Veranstaltungen, Lebensmittelausgaben, Kiezkantinen und machmal sogar Kino. Natürlich ist die Resonanz jeweils unterschiedlich, aber es stößt in jedem Fall auf Interesse. Auffällig dabei ist, dass eine klare kommunistische Perspektive im Kiez ankommt.
Woran machst du das fest?
Naja, man merkt ja schon, dass etliche Leute einerseits nachfragen, und andererseits auch klare Positionen einfordern und wir verstecken unsere Gesinnung ja auch nicht. Die Leute lassen sich nicht mit hohlen Phrasen abspeisen und der Behauptung, dass man nur einzelne Stellschrauben oder einzelne Gesetze ändern müsste, und dann ginge es ihnen besser. Die Menschen werden im Wortsinne radikaler, gehen an die Wurzel der Probleme und wollen grundlegende Veränderungen. Ja, das ist natürlich die Systemfrage und es ergibt keinen Sinn so zu tun, als würde man diese Systemfrage nicht stellen, nur um gefälliger zu sein.
Revolutionäre 1. Mai Demonstration in Berlin 17:00 U-Boddinstraße „Brot, Frieden, Sozialismus – Ihre Krise nicht auf unserem Rücken!“
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Seit knapp zwei Monaten greift der faschistische türkische Staat wieder großflächig Gebiete in Rojava an. Diese erneute militärische Operation mit dem Namen „Klauenschwert“ zeichnet sich dabei vor allem durch wahllose Angriffe auf zivile Infrastruktur aus, der revolutionäre Geist Rojavas soll mit allen Mitteln des Spezialkrieges gebrochen werden. Drohnen-Attentate, Flugzeugangriffe und Großflächenbombardements sind in Rojava unlängst wieder zum Alltag geworden. Überdies hat Erdoğan mehrmals mit einer Bodenoffensive bis tief in die Gebiete der Autonomen Selbstverwaltung gedroht. Wir haben mit Kämpferinnen von YPJ-International über ihre Einschätzung der Lage, ihre Gründe vor Ort zu sein und ihren Appell an uns Linke in Deutschland gesprochen. YPJ-International ist eine Einheit aus Frauen und umfasst internationalistische Freiwillige aus verschiedenen Ländern der Welt und ist strukturell an die vielfältigen Verteidigungseinheiten Rojavas angebunden. Das Interview entstand im Dezember 2022.
Warum habt ihr euch entschieden, Teil von YPJ-International zu werden? Werdet ihr auch in Zukunft dort bleiben?
Zunächst wollen wir euch erst einmal für euer Interesse und eure Fragen danken. Es ist wichtig, insbesondere in Zeiten des intensivierten Angriffs miteinander im Austausch zu bleiben und internationalistische Perspektiven aufzubauen. Die Gründe, sich den Frauenverteidigungseinheiten YPJ anzuschließen, sind vielfältig und oft auch mit persönlichen Erfahrungen verknüpft. Dennoch lässt sich feststellen, dass viele von uns mit dem Leben innerhalb der durch Kapitalismus, Patriarchat und Staat zersetzten Gesellschaft nicht mehr einverstanden waren. In unserer Suche nach Alternativen schien uns die Revolution in Rojava Antworten zu bieten. Viele von uns haben bereits vorher die Analysen von Abdullah Öcalan gelesen und wollten an den Ort, wo nach seinen Ideen eine Revolution entsteht. Insbesondere als Frau liegt es oft nicht nahe sich einer bewaffneten Einheit anzuschließen. Zu groß die Zweifel am eigenen Können, zu fremd das Bild der kämpfenden Frau – auch wenn wir es mit Bewunderung auf Fotos wahrnehmen. Doch wir haben den Schritt gewagt und keine von uns hat ihn bisher bereut. Im Gegenteil, wir lernen uns selbst, die Revolution und den Befreiungskampf der Frauen täglich besser kennen und sind ein Teil davon geworden. Es ist wichtig zu verstehen, dass wir nicht in erster Linie hier sind, weil die Verteidigungseinheiten auf unsere Unterstützung angewiesen wären. Wir sind hier, weil wir ein Teil der Revolution, ein Teil der Antwort auf den faschistischen Angriff und ein Teil der Hoffnung auf eine freie Welt sein wollen. Einige von uns werden irgendwann in ihre Heimat zurückkehren und dort weiter für die Revolution kämpfen, doch aktuell sehen wir uns einer Offensive entgegen, die keine von uns ans Zurückkehren denken lässt. Wir haben dafür trainiert und uns vorbereitet, an der Seite der Freund*innen, Genoss*innen und der Menschen Nord- und Ostsyriens gegen den türkischen Faschismus Widerstand zu leisten.
Wie bewältigt ihr euren Alltag, euer Leben in der Gemeinschaft in der aktuellen Situation? Hat sich etwas grundlegend verändert? Wie ist eure Stimmung?
Der türkische Staat greift insbesondere die Infrastruktur, also Gas-, Strom-, Wasser- und Kraftstoffanlagen an. Das wirkt sich auf alle, die hier in Nord- und Ostsyrien leben, aus. Als militärische Einheit sind wir auf eine mögliche Bodeninvasion vorbereitet. Es war seit langer Zeit davon auszugehen, dass wir uns eines Tages erneuten Invasionsbestrebungen gegenüber sehen werden und die Revolution verteidigen müssen. Wir müssen jedoch feststellen, dass Rojava auch vor dem 19. November im Kriegszustand war, wenn auch in einem Krieg niederer Intensität. Einige Freundinnen sind nun an die Front gegangen, andere konzentrieren sich auf medizinische Notversorgung oder Pressearbeiten. In einer Situation wie dieser steigt natürlich das Arbeitslevel nochmal an und es entsteht auch mal Stress. Aber durch unsere Prinzipien und eine gemeinsame Planung und Bewältigung des Alltags können wir uns immer gegenseitig unterstützen und aufeinander achten. Die Stimmung ist kämpferisch.
Was bereitet euch am meisten Sorge und was sind eure Ängste? Was gibt euch Hoffnung und Moral?
Niemand von uns will Krieg, denn Krieg bedeutet immer Leiden, insbesondere für die Bevölkerung. Doch im Falle eines Angriffes, wie diesem, sind wir bereit die Revolution und die befreiten Gebiete zu verteidigen – bis zum letzten Blutstropfen. Wir können auf unsere eigene Stärke und ebenso auf die Freundinnen neben uns vertrauen. Das gibt uns Mut. Hoffnung ist kein sich ohne dein Zutun einstellender Zustand. Hoffnung ist immer eine Entscheidung. Solange wir also hoffen, solange kämpfen wir und solange lassen wir nicht zu, dass das faschistische System Angst in unseren Herzen sät. Das System des Nationalstaats hat uns gelehrt, dass es keine Alternative gäbe und dass wir nichts an all dem Leid, der Gewalt und Unterdrückung ändern könnten. Also ist Hoffnung auch Widerstand gegen eine Lüge, die dir Fesseln anlegt und dich zum Stillstand bringt.
Wie schätzt ihr die aktuelle Lage vor Ort ein und die Androhung des türkisch-faschistischen Staates von einem erneuten Einsatz von Bodentruppen? Denkt ihr, dass es dieses Mal um den Fortbestand oder die Zerschlagung der Revolution geht?
Wir nehmen die Androhung einer erneuten Invasion durchaus ernst und bereiten uns darauf vor. Die Angriffe des türkischen Staates sind nicht als bloße Landbesetzungsversuche zu werten. Es geht um einen Genozid, um die Vernichtung des kurdischen Volkes sowie all der Menschen, die hier in Frieden und Freiheit nach dem Paradigma des demokratischen Konföderalismus leben wollen. Wir befinden uns in einer Phase des Kampfes um das Sein oder Nicht-Sein. Nachdem Erdoğan in den Bergen Kurdistans empfindliche Rückschläge erlitt, scheint er es nun erneut in Rojava probieren zu wollen. Es gibt für ihn nur die Möglichkeit des Krieges, eine andere Lösung käme ebenso seiner Vernichtung gleich wie eine militärische Niederlage. Der heldenhafte Widerstand der Freundinnen und Freunde in den Bergen Kurdistans hat ihn noch mehr in die Enge getrieben. Die vielfältigen grausamen und völkerrechtswidrigen Mittel, zu denen er vergeblich greift, um den Widerstand zu brechen, zeigen wozu er bereit ist. In Nord- und Ostsyrien greift der türkische Staat insbesondere auf islamistische Schläferzellen und Söldnertruppen zurück. Damit verfolgt er die Strategie, die Revolution an möglichst vielen Fronten anzugreifen und zu schwächen. Es wurden in den letzten Wochen sowohl gezielt Sicherheitskräfte, die für die Bewachung IS-Gefangener zuständig waren, bombardiert als auch sogenannte IS-Schläferzellen aktiviert.
Wie schätzt ihr die Drohnenangriffe auf Vertreter*innen der Internationalen Anti-IS Koalition und die ausbleibenden Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft ein?
Es ist nicht möglich für den türkischen Staat in den syrischen Luftraum einzudringen, ohne dass die Koalitionsmächte und Russland davon erfahren. Die Angriffe waren abgesprochen und zielten darauf, unsere Kräfte vor Ort zu treffen. Gerade hier zeigt sich das Gesicht unseres wahren Feindes – des Systems des kapitalistischen, imperialistischen Nationalstaats. Die Türkei ist ein wichtiger Teil dieses Systems, wohingegen die Revolution eine Bedrohung für dieses darstellt. Dementsprechend wollen wir nicht auf direkte Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft bauen. Doch sollte der Welt bewusst sein, dass mit den Angriffen des türkischen Staates auch der weltweit gefürchtete Islamische Staat, der durch unsere Verteidigungseinheiten besiegt wurde, wieder erstarkt. Immer noch sind zehntausende IS-Terroristen und Terroristinnen in unseren Händen, unter ihnen auch Tausende aus Europa und den USA. Eine unserer Missionen gegen Untergrundbewegungen des IS mussten wir bereits auf Grund der Angriffe stoppen. Sollte die Situation sich zuspitzen, wird es immer schwerer werden all die Gefangenen sicher zu verwahren.
Wie bewertet ihr die Aussage der deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD), fest an der Seite der Türkei im „Kampf gegen Terrorismus“ zu stehen und die Rolle Deutschlands im Krieg gegen die Revolution von Rojava generell?
Der deutsche Staat und der türkische Staat sind historisch eng miteinander verbunden. Die beiden Staaten verfügten immer über weitgehende diplomatische, wirtschaftliche, militärische aber auch ideelle Verbindungen. Das türkische Militär wurde maßgeblich durch deutsche Soldaten ausgebildet und die Waffenindustrie mit deutscher Unterstützung aufgebaut. Mustafa Kemal Atatürk galt Hitler als großes Vorbild. Der Aufstand von Dersim 1937 wurde durch deutsches Giftgas niedergeschlagen. Heute wird Cyanwasserstoff (Blausäure, Anmerk. d. R.) gegen die Guerilla eingesetzt. In Deutschland ist diese Chemikalie besser bekannt unter dem Namen Zyklon B. Auch in dem Kampf gegen das kurdische Volk und die Befreiungsphilosophie Öcalans stand die BRD immer an der Seite des türkischen Staates. Als Innenministerin erhält die Sozialdemokratin Nancy Faeser eine Politik der Verfolgung und Kriminalisierung kurdischer und internationalistischer Kämpfe aufrecht. Die Arbeiterpartei PKK und ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan werden als terroristisch eingestuft. Die Solidaritätsbewegung Rojavas als auch Gruppen, die das System des demokratischen Konföderalismus als ihre Grundlage betrachten, werden Repressalien ausgesetzt. Der erste Bericht der Tagesschau zu den türkischen Angriffen war mit Aufnahmen aus dem türkischen Verteidigungsministerium gespickt. Dabei wurde gezeigt, wie Drohnen 12 Zivilist*innen ermordeten. Kurzum: Machen wir uns nichts vor, der türkische und der deutsche Staat bilden eine Einheit und sind Feinde unserer Befreiungskämpfe. Doch umso mehr müssen wir uns bewusst werden, dass auch die revolutionären und widerständigen Kämpfe der kurdischen und türkischen Menschen mit denen in Deutschland verbunden sind. Nur wenn wir unsere Bewegung als eine gemeinsame internationalistische Revolution begreifen, können wir uns erfolgreich wehren.
Wie beurteilt ihr die aktuelle Kriegssituation hinsichtlich der Angriffe und des Widerstands in Rojhlat (Ostkurdistan) und dem Iran?
Der Widerstand in Rojhilat und dem Iran zeigt uns, dass die Revolution der Frauen im 21. Jahrhundert nicht mehr aufzuhalten ist. Dass der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ dabei weltweit an Stärke gewann und Frauen dazu ermutigte gegen ihre Fesseln anzukämpfen, zeigt erneut, dass die Revolution in Kurdistan nicht nur für das kurdische Volk oder den Mittleren Osten eine entscheidende Rolle einnimmt. Diese Revolution ist eine Internationalistische, was bedeutet, dass ihre Philosophie auf der gesamten Welt Perspektiven auf eine Befreiung von Unterdrückung ermöglicht.
Nehmt ihr einen Unterschied in der Motivation/ Kraft/ Moral der Bewegung wahr im Vergleich zu 2015, 2018 oder 2019?
Nach dem Besatzungsangriff gegen Serêkaniyê und Gire Spî intensivierte der türkische Staat Drohnenangriffe, die gezielt führende Personen der Revolution töteten. Allein in diesem Jahr sind mindestens acht YPJ-Kämpferinnen, darunter erfahrende Kommandantinnen, im Kampf gegen den IS durch Drohnenangriffe getötet worden. Außerdem wurden wichtige Vertrauenspersonen, Politiker*innen und Menschen mit gesellschaftlichen Aufgaben aus den zivilen Gebieten gezielt exekutiert. Erdoğan will der Gesellschaft dadurch gezielt ihre Vorreiter*innen nehmen. Die Ausweitung der angewandten Kriegsmethoden macht sich bemerkbar. Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren mussten wir uns auf die neue Art der Angriffe einstellen und dementsprechend andere Vorkehrungen treffen. Was dem türkischen Staat jedoch bis heute nicht gelungen ist, ist mit diesen Methoden die Bevölkerung von der Revolution zu entfernen. Im Gegenteil, als die Angriffe seit dem 19. November intensiviert wurden, sind viele ehemalige YPG- und YPJ-Kämpferinnen, die aus unterschiedlichen Gründen die militärischen Einheiten verlassen hatten, wieder zurückgekommen. Das politische Verständnis innerhalb der Bevölkerung über das Ziel dieser Methoden, ist sehr hoch und noch höher ist die Entschlossenheit, sie ins Leere laufen zu lassen. Der Fortschritt in der Organisierung der Zivilgesellschaft, im Vergleich zu den Jahren zuvor, ist spürbar. Kommunen, Räte, Initiativen und Vereine geben täglich Erklärungen ab, die ihre Verbundenheit mit den YPJ/YPG und SDF (Syrian Democratic Forces, Anmerk. d. R.) ausdrücken. Gerade dadurch, dass die Angriffe so stark gegen die Bevölkerung gerichtet werden, entwickelt sich dort ein ungemeiner Kampfgeist und Wille. Über die Jahre haben wir an Erfahrung gewonnen, die wir teils schmerzlich bezahlen mussten, etwa mit dem Verlust Efrîns und Serêkaniyês. Insbesondere im Kampf innerhalb der Städte gegen eine gut ausgestattete NATO-Armee mit dschihadistischer Unterstützung am Boden haben wir uns weiterentwickelt. Es wurde aus Fehlern und Kritiken gelernt, so dass sich nun besser auf die aktuelle Lage angepasst werden kann.
Nehmt ihr die Proteste in Deutschland gegen die Angriffe auf Kurdistan wahr?
Auf jeden Fall. Die weltweiten Proteste werden in den Abendnachrichten im kurdischen Fernsehen gezeigt. Es gibt uns sehr viel Hoffnung und Stärke unsere Freund*innen und Genoss*innen Zuhause zu sehen. Manchmal erschreckt es uns aber auch, wenn z.B. in Berlin nur etwa 20 Personen an einer Kundgebung teilnehmen. Dennoch, jede Aktion ist ein Ausdruck der Solidarität und ebenso ein Teil des Kampfes, wie unsere Arbeiten hier vor Ort.
Was wollt ihr den linken, feministischen Kräften in Deutschland sagen? Was kann aus eurer Sicht hier in den Zentren der Rüstung gegen den Krieg getan werden?
Wie bereits oben erwähnt, freuen wir uns über jegliche Form von solidarischen Aktionen. Doch Internationalismus bedeutet nicht fremde Kämpfe zu unterstützen, sondern vielmehr sich als Teil des Kampfes, als Teil eines revolutionären Prozesses zu begreifen, unabhängig davon, wo man sich gerade befindet. Deswegen ist es wichtig, sich mit der Idee, der Philosophie dieser Revolution auseinander zu setzen, eine eigene militante Persönlichkeit aufzubauen und sich, insbesondere als Frauen gemeinsam zu organisieren. Statt uns zu spalten, Hoffnungslosigkeit zu verbreiten und im Individualismus zu versinken, müssen wir insbesondere in Deutschland wieder eine kämpferische Bewegung werden, die um ihre Geschichte weiß und Antworten auf die Probleme der Gesellschaft geben kann. Wie Şehîd Bager Nûjiyan sagte: „Den härtesten Kampf führst du immer gegen dich selbst.“
Auch wollen wir dazu aufrufen, nach Rojava zu kommen und sich uns hier anzuschließen, um zu lernen und gemeinsam zu wachsen. Neben den Verteidigungseinheiten könnt ihr euch auch an Arbeiten in der Jugend, Gesellschaft, Jineolojî sowie an Frauen-, Kultur-, Presse- und Gesundheitsarbeiten beteiligen. Gerade wegen der engen Verbundenheit zwischen dem deutschen und den türkischen Staat ist es notwendig, dass die Komplizenschaft mit dem faschistischen AKP-MHP Regime der Türkei aufgedeckt wird. Wir glauben, dass es viele verschiedene Formen gibt dies zu tun und appellieren an euch, jetzt den Druck von unten und auf der Straße zu verstärken. Wir wissen, dass der türkische Staat den Zeitpunkt für die aktuelle Operation gegen Rojava nicht zufällig gewählt hat. Fussball-WM und der Krieg in der Ukraine sind für Erdoğan gute Ablenkungsmöglichkeiten. Auch haben wir beobachtet, dass den Angriffen hier nicht die nötige Aufmerksamkeit in der BRD zukommt. Wir glauben, dass es die dringende Aufgabe einer sich als internationalistisch verstehenden Linken in Deutschland sein muss, der Bevölkerung ins Gedächtnis zu rufen, was hier gerade passiert und entsprechende Personen in Wirtschaft und Politik dafür zur Verantwortung zu ziehen. Genauso wie die Verteidigungseinheiten der YPJ/YPG alles geben, um das historisch einmalige revolutionäre Projekt staatenloser Radikaldemokratie als Wert der ganzen Menschheit zu verteidigen, müssen Linke in Deutschland ihrer Verantwortung nachkommen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Krieg zu stoppen. Wir glauben, dass die Möglichkeiten hierfür noch lange nicht ausgeschöpft sind. Zudem kommt es aktuell wieder zu einer verstärkten Reorganisierung des Islamischen Staats. Leider beobachten wir, dass in Europa islamistische Gruppen nach wie vor kaum als Gegner im antifaschistischen Kampf verstanden werden und es immense Schwachstellen in Bezug auf Recherche, Aufklärung und Aktionen gibt. Es muss uns bewusst sein, dass der IS in Europa sowohl massenhaft Ressourcen sammelt, als auch Kämpfer rekrutiert. Die Menschen hier vor Ort sind bereit, ihr Leben für die Verteidigung der Frauenrevolution aufs Spiel zu setzen. Wir erwarten daher, dass unsere Genoss*innen in der BRD die Wichtigkeit von Rojava verstehen und ihr Handeln als eine historische Verantwortung begreifen, vor allem all denjenigen gegenüber, die ihr Leben für den Traum einer freien Gesellschaft gegeben haben.
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Krieg ist ein Geschäft. Im Krieg in erster Linie für den Militärisch-Industriellen-Komplex, der ganz traditionell die Werkzeuge zum Töten und Sterben fabriziert und die Energiekonzerne, ohne deren Erzeugnisse diese Werkzeuge nicht ihrem Zweck zugeführt werden können. Sie wurden produziert, nun müssen sie „konsumiert“ werden, und mit ihnen die für fremde Interessen von beiden Seiten auf die Schlachtbank geführten Proletariermassen.
Und was ist nach dem Krieg? Wenn die schöpferische Zerstörung der Artilleriegranaten ihr vorläufiges Ende gefunden hat, kommen andere Kapitalfraktionen zum Zug, je nachdem, wer gewonnen hat. Die Planungen für den großen Wiederaufbau beginnen natürlich lange vor dem Schweigen des Mündungsfeuers – man möchte ja wissen, ob sich die Investitionen lohnen.
Dass Krieg und Wiederaufbau keine Taten selbstloser Helfer sind, die aus Mitleid mit der im Krieg versehrten Nation handeln, wer würde es leugnen, wenn es um Russland geht? Kaum jemand hierzulande frisst die Propaganda, es ginge etwa bei der Annexion des Donbass um eine Schutzmaßnahme für das geschundene ukrainische Brudervolk. Und jeder würde unterschreiben, dass sich die Privatarmee Prigozhins nicht aus Altruismus die ostukrainischen Minen unter den Nagel reißen wird, wie sie es mit denen im Sudan oder der Zentralafrikanischen Republik getan haben.
Aber der Westen? Da neigt man, zumindest in der veröffentlichten Meinung, zu einem gütigeren Blick. Doch warum eigentlich?
„Kalte, harte Interessen“
Zumindest in den USA, wo die Bevölkerung es mehr gewohnt ist, spricht man ganz offen aus, dass Kriege nicht aus Nächstenliebe geführt werden: „Unsere Unterstützung“, gemeint war für die Ukraine, „ist moralisch gerechtfertigt. Aber sie dient auch kalten, harten amerikanischen Interessen“, erklärte Mitch McConell anlässlich des Besuches des ukrainischen Präsidenten in den USA. Die Waffenhilfe, so der prominente Republikaner, sei nicht nur ein politisches, sondern auch ein „ökonomisches Investment“ – schließlich helfe sie „die Kapazitäten unserer Verteidigungsindustrie zu erhöhen und trägt so zu einer Industrie bei, die gutbezahlte amerikanische Jobs zur Verfügung stellt.“
Mit Blick auf die Kritiker der US-Hilfe listet auch das einflussreiche „Center for Strategic & International Studies“ unter dem Titel „US-Hilfe für die Ukraine: Ein Investment, dessen Ertrag die Kosten bei weitem übersteigt“ auf, welchen Nutzen man sich in Washington vom Eingreifen im Osten versprechen darf: „Sich auf das Preisschild der Hilfe zu fokussieren, anstatt auf den Wert dessen, was mit ihr erkauft wird, vernachlässigt den Fakt, dass der Krieg in der Ukraine das Äquivalent eines Stellvertreterkrieges gegen Russland geworden ist, und zwar ein solcher, der ohne tote US-Soldaten geführt werden kann und zugleich die meisten Demokratien der Welt hinter einem gemeinsamen Ziel vereinigt (…)“.
Die geopolitische Schwächung Russlands sowie die Stärkung der Dominanz der USA über die eigenen westlichen „Partner“ sind ein erklärtes Ziel US-amerikanischer Ukraine-Politik. Dieselben Thesen, werden sie hierzulande von Kritikern der NATO formuliert, gelten als Ketzerei und Grund für den Ausschluss aus dem massenmedialen „Diskurs“. In Washington sind sie common sense – und zwar bei den Befürwortern des Krieges.
Proxy War
Den „kalten, harten Interessen“ entsprechend ist auch die Form der Ukraine-“Hilfe“ gestaltet. Es handelt sich ja keineswegs um Geschenke, wie eine vom Hurrapatriotismus berauschte links- bis rechtsliberale Mittelschicht zu glauben scheint. Nehmen wir den „Ukraine Democracy Defense Lend-Lease Act“, der die Grundlage für einen großen Teil der militärischen „Hilfen“ der USA bildet. Wie schon der Titel des Gesetzes besagt, handelt es sich nicht um Schenkungen, sondern um Leih- und Pachtgaben. Insofern heißt es auch im Gesetzestext: „Bedingung: Jedes Darlehen oder Leasing von Verteidigungsartikeln an die Regierung der Ukraine gemäß Absatz (1) unterliegt allen anwendbaren Gesetzen zur Rückgabe und Erstattung und Rückzahlung für Verteidigungsartikel, die an ausländische Regierungen verliehen oder verpachtet wurden.“ Auch die EU-Finanzhilfen sind Kredite. Die Konditionen sehen, wie könnte es anderes sein, ihre Rückzahlung vor. Im Falle der Milliardengelder aus Brüssel ab dem Jahr 2033. Dazu kommen Anleihen aus dem US-dominierten Internationalen Währungsfonds – berüchtigt für ihre Konditionen. Und auch die Weltbank darf nicht fehlen. Zusätzlich hat sich die Ukraine bei privaten und institutionellen Anlegern per Kriegsanleihe Liquidität besorgt – hier mit ganz uneigennützigen Zinssätzen von 11 Prozent.
Kapitalistische Staaten und Finanzkonzerne sind nicht Mutter Theresa. Ihre „Hilfe“ hat einen Preis und sie haben Interessen, die sie per „Hilfe“ durchsetzen wollen. Im Falle der Ukraine werden die angesichts der zunehmenden Gleichgültigkeit bis Kriegsbegeisterung der „kritischen“ liberalen Öffentlichkeit gar nicht mehr groß verschleiert. Unter dem Titel „Russland liegt richtig: Die USA führen einen Stellvertreter-Krieg in der Ukraine“ schreibt der US-amerikanische Außenpolitik-Experte Hal Brands in der Washington Post: „Der Schlüssel für diese Strategie ist es, einen entschlossenen lokalen Partner zu finden – einen Stellvertreter, der willens ist, das Sterben und Töten zu übernehmen – und ihn dann mit Waffen, Geld und Geheimdienstinformationen zu beladen, die er braucht, um einem verletzbaren Feind schwere Schläge zuzufügen. Genau das tun Washington und seine Verbündeten heute mit Russland.“
In einer Kostenanalyse der „Investitionen“ in der Ukraine schreibt das Washingtoner Center for European Policy Analysis: „Die Unterstützung (für die Ukraine, P.S.) beträgt 5,6 % des US Verteidigungsbudgets. Aber Russland ist ein Hauptgegner der USA, ein Top-Level-Rivale nicht weit hinter China und die Nummer eins als strategischer Herausforderer. In kalten, geopolitischen Worten: Dieser Krieg ermöglicht eine erstklassige Gelegenheit für die USA, Russlands konventionelle Verteidigungskraft zu schwächen und abzutragen – ohne Soldaten am Boden und mit geringem Risiko für US-amerikanische Leben.“ Die Schlussfolgerung ist logisch: „Das US-Militär kann vernünftigerweise wollen, dass Russland fortfährt, Truppen in die Ukraine zu schicken, damit sie dort vernichtet werden.“
Schlacht um den Energiemarkt
CEPA schneidet in seiner Rechnung eine weiteres wichtiges Schlachtfeld an – und das liegt nicht nur in der Ukraine. Der russische Einmarsch hat die Gelegenheit eröffnet, den europäischen Energiemarkt neu auszurichten. In den Worten des Think Tanks: „Der Krieg in der Ukraine bestärkt und beschleunigt die Neuausrichtung der Energie in Europa, aber auch die europäische Diversifikation weg von russischen Energiequellen. Europa ist verzweifelt auf der Suche nach alternativen Quellen für Energie und Flüssiggas aus den USA erweist sich als der offensichtliche Gewinner dieser Entwicklung.“
Die Konkurrenz um Europas Energiemärkte ist keine 2022 plötzlich aufgekommene Neuerung, die „Erpressbarkeit“ Europas, um es in den Worten der Führungsmacht des Westens auszudrücken, war den USA schon lange vorher ein Dorn im Auge. Der Krieg bot die Gelegenheit, diese insbesondere für Deutschland geltende Anomalie zu beseitigen. „Was den Energiesektor betrifft, hat Putins genozidale Invasion endlich ein zutiefst zurückhaltendes Europa gezwungen, seine schwächende Abhängigkeit von russischem Öl und Gas anzugehen. (…) Es sieht nun so aus, dass die Ära der korrupten Energiekooperation mit dem Kreml einem Ende zugeht, zumindest in Europa“, jubelt das Atlantic Council.
Für die USA ergeben sich hier drei strategisch bedeutende Effekte: Dem Teil der europäischen herrschenden Klassen, der auf ein zumindest teilweises Bündnis mit Russland setzte, um die Eigenständigkeit der eigenen Nationen gegenüber den USA stärker zu betonen, wurde ein Riegel vorgeschoben; die europäischen Energiemärkte sind nun offen für Importe aus den USA; und ganz nebenbei steigt die Wettbewerbsfähigkeit um Ansiedlung von Industrie durch die zu Europa vergleichsweise niedrigeren Energiepreise in den USA.
Investorenparadies Ukraine
Es ist aber keineswegs so, dass die führenden europäischen Nationen ihre Ukraine-Politik alleine nach dem Gusto des Big Brother aus Washington ausrichten. Auch in Brüssel, Berlin und Paris verspricht man sich einiges von einem Sieg in der Ukraine. Nach vollzogenem Triumph über die Invasoren soll sich das Leid der für europäische Werte in den Schützengräben Verschütteten auch für die Investoren lohnen.
Die Rede ist immer häufiger von einem „Marshall-Plan“ für die Ukraine, bei dem – stellvertretend für den Westen insgesamt – die europäischen Nationen die führende Rolle spielen sollen. „Die Europäische Union steht in der Verantwortung und sie hat auch ein strategisches Interesse daran, beim Wiederaufbau der Ukraine die Führungsrolle zu übernehmen“, ließ EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schon vergangenes Jahr verlauten.
Alles in allem geht es dabei um eine kapitalistische „Modernisierung“ der Ukraine, ihre Einbindung in die Europäische Union und die Ausrichtung ihrer Ökonomie entlang der „westlichen Wertevorstellungen“. Das betrifft alle Sektoren der ukrainischen Volkswirtschaft. Diese sei, so Patricia Cohen in der New York Times, in allen Bereichen zu post-sowjetisch – von der Infrastruktur bis zu den Lieferketten. „Der Mangel an Integration (in westliche Lieferketten, P.S.) besteht in allen Sektoren. Teile für alles mögliche, vom Nuklearreaktor bis zum Kühlschrank, die vorher aus Russland kamen, werden nun anderswoher geliefert werden müssen.“
Es ist aber nicht nur die Hardware. Mehr als das, mangle es an einer „modernen, demokratischen Marktökonomie“, erreichbar durch eine „radikale Deregulierung der Ökonomie“, wie Cohen aus einem Strategiepapier des Londoner Center for Economiv Policy Research entnimmt. Die Autoren dieses Papiers machen keinen Hehl aus ihren neoliberalen Ambitionen: Die Ukraine muss an die EU-Märkte angeschlossen werden; die Bedingungen für ausländisches Kapital müssen attraktiv für Investoren gestaltet werden; die Arbeitsmärkte sind für das Kapital so „flexibel“ wie möglich zu gestalten. Anknüpfend an das von der Selenksy-Regierung bereits in Kriegszeiten beschlossene arbeiterfeindliche Paket von Maßnahmen, soll den Arbeitern auch im Frieden Gegenwehr versagt bleiben: „Flexiblere Arbeitsverträge sollten erlaubt werden, um die schnelle Verlagerung von Arbeitskraft zu sichern, was eine Fortsetzung der in Kriegszeiten begonnenen Praxis wäre.“ Die ganze Volkswirtschaft soll ausgerichtet werden auf die Bedürfnisse von ausländischem Kapital, denn: „Das Fundament des Erfolgs der Ukraine in einer langen Perspektive liegt darin, ausländisches Kapital anzuziehen.“
In den Startlöchern
Diese Aussichten animieren private Investoren schon vor Ende des Kriegs. Die Financial Times versammelt in einem Artikel Stimmen aus dem Kapital-Milieu. „Wir müssen hoffen und uns vorbereiten“, wird die Investment-Direktorin des Equity-Funds Skagen zitiert. „Es kann schwierig sein, über Investitionen in einer so tragischen Situation nachzudenken, aber für Active Value Investoren wird ein positives Ergebnis des Krieges viele Möglichkeiten eröffnen. Wir müssen eher früher handeln als später.“
Die Bewegung des Geldes, so ein anderer Manager, folge dabei der Bewegung der Front: „Es wird ein Hin-und-Her geben. (…) Wir haben gesehen, wie Investoreninteressen Fahrt aufnahmen, als das ukrainische Militär Fortschritte machte, dann pausierten oder zurückgingen, als die Infrastrukturattacken der Russen signifikant zunahmen. (…) Ich vermute, Investoren werden mit dem Risiko so umgehen, dass sie zunächst in der Westukraine investieren und dann in die Mitte und nach Osten vorrücken.“
In etwa entspricht das auch den Vorstellungen der deutschen Kapitalverbände, die ihre Wünsche in einem Papier des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft unter dem Titel „Rebuild Ukraine“ dargelegt haben. Auch hier geht es um die Schaffung optimaler Bedingungen für Fremdkapital, denn: „Keine zentralisierte Kontrolle wird je zu wirklich komfortablen Bedingungen für private Investoren führen.“ Die „Hilfe“, man lässt da keine Zweifel, sei keine Einbahnstraße. Die ukrainische Regierung müsse „regulatorische und bürokratische Hürden für Investments eliminieren“ – der Fachjargon für die uneingeschränkte Übergabe des Landes an ausländisches Kapital. Eine „Blankovollmacht“ für die Ukraine werde es nicht geben, es sei an der ukrainischen Regierung, „wahrhaftig eine Privatwirtschaft zu bestärken“.
Zur „Beratung“ der Ukraine schlägt man einen „Koordinationsstab“ aus deutschen und europäischen Regierungsvertretern vor, der ein wenig an die „EU-Troika“ für Griechenland erinnert, und für die Entwicklung einer „förderlichen Umgebung für eine dynamische und starke Privatwirtschaft“ sorgen soll.
Das Hauptziel: Die Ukraine muss das „Vertrauen von deutschen und anderen westlichen Firmen (wieder-)gewinnen“, um Ausländische Direktinvestitionen (FDI) anzuziehen. Zur Erinnerung: Neben arms lenght contracts sind FDI das Hauptmittel zur Einbindung schwächerer Nationen in die globalen Warenketten mit dem Zweck des Transfers von im abhängigen Land produzierten Mehrwert in die Metropolen. Kurz: Es geht, kaum versteckt im technokratischen Jargon kapitalistischer Wirtschaftsstrategen, um eine Einbindung der Ukraine in das Weltmarktregime des Westens.
Kornkammer der Multinationalen
An einem konkreten Beispiel: Der Ostausschuss hebt den agroindustriellen Sektor hervor, der in der Ukraine aufgrund der fruchtbaren Böden besonders ausgeprägt ist und lobt die bereits begonnene Landreform als besonders „vielversprechend“ hervor. Worum geht es bei dieser Landreform? Mit der Niederlage der Sowjetunion zerfiel das System an kollektiver Landwirtschaft und Schritt für Schritt entwickelte sich in der Ukraine eine von Oligarchen und multinationalen Unternehmen dominierte Landwirtschaft. Ein 2001 beschlossenes Moratorium mit starken Einschränkungen zum Landverkauf sollte den Prozess der wilden Oligarchisierung aufhalten.
Dieses Gesetz setzte die Selensky-Regierung außer Kraft – übrigens gegen den Willen von zwei Drittel der ukrainischen Bevölkerung. „Das große Risiko ist doch, dass nicht nur große ukrainische Firmen das Land aufkaufen, sondern auch ausländische Konzerne. Und dann wiederholt sich hier das, was in Argentinien passiert ist: Die Argentinier haben kein Land mehr, und alles ist in der Hand von zwei oder drei US-Konzernen“, zitiert Deutsche Welle einen ukrainischen Winzer.
Sieht man sich die Gesamtkonstellation des Krieges in der Ukraine an, erweist sich die „Hilfe“ aus dem Westen als ein auf vielen Ebenen vielversprechendes Investment. Begann Russland seinen Krieg, um sich als durchaus konkurrenzfähige Großmacht zu den USA unter Beweis zu stellen, sieht es sich nach einem Jahr im Schützengraben des Abnutzungskriegs an seinen Platz verwiesen. Die USA können verbuchen, den Teil der europäischen Bourgeoisie, der sich zuvor von der westlichen Hegemonialmacht unabhängiger aufs Weltparkett begeben wollte, zurück in den Schoß der transatlantischen Sicherheitsarchitektur geholt zu haben. Russland ist – vorläufig zementiert durch die mysteriöse Sprengung seiner Pipelines – vom europäischen Energiemarkt zumindest teilweise verdrängt. Und die Ukraine wird, um ihre im Krieg entstandene Schuld begleichen zu können, sich als würdiger Gastgeber ausländischer Investoren erweisen müssen.
Die in diversen Krisen der europäischen Peripherie erprobten Mittel werden in einer Nachkriegsukraine, sollte der Krieg zugunsten des Westens ausgehen, ihre Anwendung finden und das Land zu einem ebenso würdigen „Partner“ Deutschlands machen, wie zuvor die Troika es bei Griechenland tat. Der schon in der Regierung Juschtschenko begonnene, am Maidan revolutionär durchgekämpfte und nun mit der Lieferung von HIMARS und Marder besiegelte Weg gen Westen wird seinen Abchluss im Kapitalfluss finden, der sich über die Einschlaglöcher und Ruinen ergießt. Ein emerging market wird geboren.
# Titelbild:
PS: Man muss es ja heute stets betonen: Dies mag ein antiwestlicher Text sein, ein „pro-russischer“ ist es nicht. Sein allgemeiner politischer Rahmen ist diese Position: https://lowerclassmag.com/2022/07/09/die-linke-und-die-ukraine-dem-krieg-den-krieg-erklaeren/
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Die Fenster beben, der Boden bebt, ich höre meinen Namen, gefolgt von einigen kurdischen Wörtern. Ein weiterer Knall. Ich kann das stechende Geräusch des Flugzeugs, das über unsere Köpfe hinweg fliegt, förmlich spüren. Wie eine Spinne wandert es über meinen Rücken.
Die Fenster beben, der Boden bebt, die dritte Rakete schlägt ein. Auf meinen Namen folgt der Befehl, mich schnell auf den Boden zu legen. Von unten kommen Kinderschreie. Das Nötigste passt in die Jackentasche und ich trage nur meine Kamera. Mich ärgert es, dass ich keinen zusätzlichen Akku habe. Ich fühle mich unbeholfen: Warum denke ich in diesem schrecklichen Moment ausgerechnet daran?
Die Großmutter der Familie kontrolliert die Stimmung, hält die kollektive Angst im Zaum. Wir sind im sichersten und heißesten Raum, etwa 14 Personen. Die meisten Kinder schlafen, außer Armanc, der mit verschränkten Händen und zitternd auf den Beinen seiner Mutter liegt. Die Großmutter betet. Dann blickt sie mit offenen Händen auf und sagt: „Erdogan, warum tust du uns das an? Was haben wir getan? Kurd*innen zu sein? Wir haben Kinder! Was haben wir getan? Wir haben doch nur jeden Tag unsere Mahlzeiten zubereitet und versucht zu leben?“
Muhamed, der Vater einiger Kinder, sucht auf seinem Handy nach Informationen. „Es scheint, dass nicht nur Kobanê, sondern auch andere Städte gleichzeitig angegriffen werden“, sagt er und liest ihre Namen vor: „Derik, Ain Digna, Ayn Al Arab, Tal Rifat, Malikiyah, Şehba, Zirgan“. Außerdem wurden auch weitere Gebiete, außerhalb von Nordostysyrien, die aber für die kurdische Bewegung seit 40 Jahren große Bedeutung haben, getroffen. Zum Beispiel das Qandil-Gebirge und weitere Orte im kurdischen Nordirak.
Der Morgen des 20. November begann mit einem Tweet des türkischen Verteidigungsministers Hulusi Akar, der bekannt gab, dass die Operation „Klaue und Schwert“ erfolgreich durchgeführt wurde. Es seien mehr als 80 Ziele im Nordirak und im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung von Nordostsyrien angegriffen worden. Die Angriffe in Nordsyrien breiteten sich von Derik, der irakisch-türkisch-syrischen Grenze, bis zum Bezirk Şehba aus, 40 Kilometer von der Stadt Aleppo entfernt. Der gesamte Luftraum in diesem Gebiet wird von den Vereinigten Staaten und Russland kontrolliert, was darauf hindeutet, dass beide Länder grünes Licht für den Angriff geben haben oder wegschauten.
In Kobanê war eines der Angriffsziele ein Corona-Krankenhaus. Am nächsten Morgen suchten Journalist*innen die Trümmer auf und die Türkei grifft wieder an. Ein Reporter wurde verletzt. In der nordsyrischen Stadt Derik wurden in der gleichen Nacht zwei Wachen eines Kraftwerks getötet. Als Menschen kamen, um zu helfen, darunter Krankenschwestern und Journalisten, griff die Türkei erneut mit Kampfflugzeugen und Drohnen an. Es starben zehn weitere Menschen. Ein halbes Dutzend wurde verletzt.
Dieses Doppelangriffe werden durch das Genfer Abkommen verboten: Wenn ein Ort bombardiert wird und Menschen zur Hilfe eilen dürfen diese nicht wieder bombardiert werden. Laut der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden innerhalb der ersten zwei Angriffstage allein in Nordsyrien mindestens 31 Menschen getötet.
In der Nacht werden von der Familie, bei der ich zu Besuch bin, viele Anrufe getätigt. Man versucht herauszufinden, wie es anderen Familienangehörigen geht und ob sie neue Informationen haben. Die Großmutter ist in einer WhatsApp-Gruppe von Verwandten von Gefallenen, die während dieses seit zu vielen Jahren andauernden Konflikts starben. Sie verlor selbst zwei ihrer Kinder: Eines davon starb, als es die vom Islamischen Staat hinterlassenen Minen entschärfte. „Ich hoffe, es gibt keine Toten“, murmelt die betagte Frau vor sich hin.
„Bisher gab es hier vor allem türkische Drohnen. Man hat sie erst bei der Explosion gehört oder am nächsten Tag davon erfahren. Jetzt sind die Flugzeuge zurück, da muss etwas passiert sein“, erklärt Muhamed. Die App „Syria live map“ zeigt an, dass die von Russland kontrollierte Flugzone freigegeben ist. Dazu gehört auch der Luftraum über Kobanê, wo wir uns aufhalten. Als die Luftangriffe begannen, twitterte Minister Akar, dass die „Stunde des jüngsten Gerichts“ gekommen sei, zusammen mit Bildern eines startenden Kampfjets und einer Explosion. „Zeit um Rechenschaft abzulegen! Diese Schurken bezahlen für ihre verräterischen Angriffe“, schrieb er in einem anderen Tweet.
13. November in Istanbul. Eine Frau sitzt um 15:40 Uhr auf einer Bank auf der Istiklal Caddesi. Sie bleibt 40 Minuten an Ort und Stelle, steht auf, geht hinaus und wenige Minuten später explodiert eine Bombe, bei der sechs getötet und 81 verletzt werden. Keine terroristische Gruppe übernimmt die Verantwortung für den Angriff. Am nächsten Tag behauptet Innenminister Süleyman Soylu, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) trage die Verantwortung für den Anschlag. Er gibt außerdem die Festnahme des mutmaßlichen Terroristen und 50 weiterer Personen bekannt. Soylu behauptet, der Angriff sei von der Stadt Kobanê koordiniert worden. Die aktuellen türkischen Angriffe auf Nordostsyrien werden so von Ankara als Reaktion auf den Angriff in Istanbul gerechtfertigt.
Aber die Invasion war schon lange vorher geplant. Seit Frühjahr 2022 versucht Erdogan, in das Gebiet einzudringen, das er heute angreift. Bisher hat ihm die Zustimmung der USA und Russlands gefehlt. Hinsichtlich des Anschlags in Istanbul gibt es noch keine eindeutigen Beweise, wer ihn ausgeführt hat, aber Ankara beschuldigt weiterhin die PKK und die nordsyrische YPG. Das Attentat dient der Türkei als Vorwand, um neue Angriffe zu starten.
Dass der Beginn der Invasion auf den Beginn der Weltmeisterschaft in Katar fällt, scheint keine Zufall zu sein. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Gräueltaten in Zeiten passieren, in denen sich die Aufmerksamkeit der Welt auf die Weltmeisterschaft konzentriert.
Knapp sieben Monate sind es noch bis zu den Präsidentschaftswahlen in der Türkei, die für Erdogan zur schwierigsten Wahl seiner gesamten politischen Laufbahn geworden ist: Sein Land befindet sich in den letzten Jahren in extrem schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen. Erdogan weiß, dass die türkische Wählerschaft mit Nationalismus und Kriegskampagnen liebäugelt und er ist sich darüber im Klaren, dass das das Einzige ist, was ihn an der Macht halten könnte.
Die Opposition, die sich aus sechs Parteien mit mehr oder weniger nationalistischem Charakter zusammensetzt, ist ebenfalls ein entschiedener Verteidiger einer „starken Hand“ gegen die Kurd*innen. Erdogan erklärte: „Wir beschränken uns nicht auf einen Luftangriff, wir werden uns mit dem Verteidigungsministerium und den Militärkommandeuren beratschlagen, inwiefern wir unsere Bodentruppen einsetzen. Dann werden wir sehen, wie es weitergeht.“
Seit 2016 ist die Türkei dreimal in Nordostsyrien einmarschiert und hat hunderte Kilometer Territorium von der autonomen Selbstverwaltung besetzt. Jetzt droht Erdogan wieder in ein Gebiet einzudringen, in dem sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland militärisch präsent sind. Dieser Modus Operandi ist der türkischen Regierung bestens bekannt: Angriff auf die Kurden, wenn die Popularitätswerte sinken, und das Versprechen, das Osmanische Reich wieder aufzubauen.
Ein paar Tage nach der Bombennacht in Kobanê nehmen die Angriffe im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung Flächendecken zu. Erdogan erklärte in einem Fernsehinterview: „Seit einigen Tagen sind wir mit unseren Flugzeugen, Bomben und Drohnen den Terroristen auf der Spur. So Gott will, werden wir sie bald alle mit unseren Panzern, Artillerie und Soldaten ausrotten.“ Zur gleichen Zeit bombardierte eine türkische Drohne nördlich der Stadt Haseke einen Stützpunkt der internationalen Koalition gegen den IS und der Anti-Terrorismus-Einheiten YAT.
Erdogans angeblicher „Kampf gegen den Terror“ bedroht erneut das Leben von fünf Millionen Menschen, die seit 10 Jahren autonom leben und inmitten des Krieges Tage des Friedens suchen, die ihnen immer verweigert wurden.
Autor*innen: Mauricio Centurión und Ariadna Masmitjà
Titelbild: Türkischer Luftangriff auf Zirgan vom 3.12.22
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Noch bevor die Fußball-WM der Herren in Katar losgegangen war, wurde die Vergabepraxis an das Emirat scharf kritisiert. Während der Spiele riefen die tausenden toten Arbeiter:innen und die Situation von FLINTA*s allerlei symbolischen Protest von Innenministerin Nancy Faeser, über die deutsche Nationalmannschaft, bis hin zum Einzelhändler REWE hervor; aber auch die Ultras in deutschen Stadien machten Boykottaufrufe. Was der Gegenstand der Kritik, also die WM, die Fifa und der DFB mit dem Kapitalismus zu tun haben, analysiert Raphael Molter hier. Teil 2 folgt.
Die Zeit der Zeichen
Das Turnier ist kaum gestartet, und das letzte bisschen moralische Stabilität wich im Rekordtempo. Bierausschank? Trotz Premiumsponsor Budweiser knickte die FIFA ein, der katarische Staat wollte es so. Und was war nochmal mit der peinlichen OneLove-Kapitänsbinde? Ah ja, für deren Abschaffung machte sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) im vorauseilenden Gehorsam gerade. Die Weltmeisterschaft in Katar sorgt für unangenehmes Kopfschütteln, Unverständnis und stetig steigende Ablehnung in der deutschen Gesellschaft. Die Voting-Plattform FanQ belegte, dass nur jeder zehnte Fußballfan alle oder die meisten Spiele anschauen möchte. Nicht mal durch Spiele der deutschen Nationalmannschaft lassen sich typische Party-Patriot:innen begeistern.
Stattdessen ist die Zeit der Zeichen gekommen. Während Robert Habeck und die gesamte Energiebranche lechzend nach Katar blickt und auf frisches Erdgas hofft, zeigen sich Journalist:innen und Kommentator:innen von RTL bis ZDF mit regenbogenfarbenen Binden und solidarisch gelesenen T-Shirts. Dabei verläuft die Kritik im Sande, denn die Zeichen sind zwar Protest, aber kein Ausweg. Auf der Suche nach moralisch vertretbaren Standpunkten bei einer WM, die von Menschen geschaffen wurde, die als Arbeitsmigrant:innen weder vor zwölf Jahren noch heute auf akzeptable Bedingungen bei der Lohnarbeit treffen. Doch die Suche verharrt im Protest, ohne Konsequenzen zu ziehen. Und weil alles so aussichtslos erscheint, wirkt dann selbst ein Lebensmittelkapitalist wie REWE stabil, weil man die Farce des DFB nicht mehr mittragen will.
Doof nur, dass die WM in Katar eine wunderbare Möglichkeit für europäische Unternehmen ist, um sich kurz mit ein bisschen moralischer Kritik an Katar reinzuwaschen. Erst das Fressen, dann die Moral: International agierende Unternehmen waren schon immer gut darin, erst zu verdienen und im Notfall danach zu verurteilen. Um aber aus dem „endlosen Prozess der Proteste ohne Revolte“ (Agnoli) zu entkommen, müssen kämpferische Perspektiven aufgedeckt werden. Ein Fußball, der den kapitalistischen Imperativ der Profitmaximierung so sehr auslebt, dass selbst all die Umstände rund um die WM nur wie der nächste Anlass für Gossip wirken: Ist das dieser Sport, dem wir natürliche Kräfte wie Toleranz, soziale Freude und Kommunikation über alle Grenzen hinweg zusprechen?
»Wer einschaltet, macht sich mitschuldig«
Überraschenderweise erhält sich das unparteiische, fast schon marienhafte Bild eines Sports, der von Schurkenstaaten wie Katar für böses Sportswashing missbraucht wird, bis in die Fanszenen. Viele der Boycott Qatar-Proteste in den Stadien der letzten Wochen griffen den konsumkritischen Ansatz auf und forderten von Fußballfans vor allem eines: Abschalten! Aber hier zeigt sich die genannte Kritik eines Protestes, der keinerlei Licht am Ende des Tunnels sieht und auch viele vermeintlich kritische Fußballexpert:innen schließen sich dem fast widerspruchlos an.
Das Produkt Profifußball wirkt so übermächtig, dass sich in der Boykott-Forderung ein angeblich günstiger und leicht zu vermittelnder Minimalkonsens findet, der die Leute noch mobilisieren kann. Doch Systemkritik, die am Individuum ansetzt, verkennt zwangsläufig Ursache und Symptom.
So sollten wir nicht zum fast schon stereotypen Fazit kommen, dass wir Linke es besser wissen und der Fußball tatsächlich aufgegeben werden sollte. Die Boykottbewegung hat nichtsdestotrotz tausende und abertausende Fußballfans mobilisiert, fast jede Fanszene im deutschen Profifußball hat sich durch Choreographien und Spruchbänder gegen die WM in Katar ausgesprochen. Die bisweilen sehr brüchigen Bündnisse in den Fußballstadien dieser Republik scheinen sich mit der Weltmeisterschaft und der FIFA als Feindbild gefestigt zu haben. Nur schafft der reine Boykott-Aufruf keine kämpferische Perspektive für die Zeit nach dem WM-Finale am 18. Dezember. Soll diese Bewegung absichtlich im Sande verlaufen, wenn doch die nächste Europameisterschaft in Deutschland stattfindet?
Der katarische Staat funktioniert nur durch die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen, doch die systemischen Ursachen dahinter kennen wir auch aus Deutschland. Allein der jährliche Aufruhr um rumänische Arbeitsmigrant:innen als Retter:innen unseres Spargels sollten uns lehren, dass die Probleme nicht nur am Persischen Golf existieren. Wenn wir die grundlegenden, systemischen Verhältnisse hinter der Arbeitsmigration nach Katar kritisieren und uns mit den lohnarbeitenden Menschen dort solidarisieren, sollten wir das auch in unsere Praxis hier vor Ort aufnehmen. Nach Katar fahren und sich dort ein Bild machen, kann und sollte nicht Ziel der moralischen Kritik sein: Guckt um euch herum, macht euch für die Arbeitsmigrant:innen stark, auf die sich das deutsche Kapital auch hier in Deutschland stützt. Solidarität mit den arbeitenden Menschen in Katar hieße dann auch Solidarität mit den »Wanderarbeiter*innen« in der EU-Zone.
Soll die Boykott-Bewegung auch auf der Fußballebene bestehen bleiben, gilt es aber allen voran in den Blick zu nehmen, wie der Fußball zu dem wurde, was heute unter Kommerz oder reiner Geldgier beschrieben wird. Fußball mobilisiert Massen, Fußball politisiert aktive Fans auch in Deutschland: Polizeigewalt und staatliche Repressionen sind immanenter Bestandteil des Lebens für Ultras. Verstehen wir den Fußball als eine Subsphäre der kapitalistischen Gesellschaft, als den vielbeschworenen »Spiegel der Gesellschaft«, dann lohnt sich auch im Spiel um das runde Leder der Kampf für ein besseres Leben für alle. Das bedeutet aber nach Gabriel Kuhn nicht: »den Sport mit einer politischen und moralischen Aufgabe zu belasten, die den Spaß am Sporterlebnis gefährdet. Es geht einzig darum, den Sport nicht vom Kampf um eine bessere Gesellschaft zu trennen. Tatsächlich macht dann alles doppelt so viel Spaß«. Lassen wir die aktuelle Moralkritik hinter uns und blicken auf die Möglichkeiten, kämpferische Perspektiven im Fußball zu entwickeln.
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Die Türkei führt seit Tagen erneut eine großangelegte Militäroperation gegen die befreiten Gebiete der Selbstverwaltung in Nord-Ost-Syrien und Rojava. Zur aktuellen Lage und den politischen Hintergründen sprach Hubert Maulhofer mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Internationalistischen Kommune in Rojava und der Kampagne Riseup4Rojava.
Vielleicht kannst du zu Beginn kurz erzählen, was seit dem begonnen Angriff der Türkei am vergangenen Sonntag in Rojava passiert ist?
In der Nacht vom 19. auf den 20. November hat die türkische Besatzungsarmee mit massiven Luftangriffen und Bombardements des gesamten Grenzgebiets, sowie Angriffen bis tief hinein ins Landesinnere, begonnen.
Diese Angriffe setzen sich bis zu diesem Moment fort. Es gibt ununterbrochene Angriffe mit Kampfjets, Drohnen und Hubschraubern. Getroffen wurden militärische Ziele der Genoss:innen der YPG, der YPJ und der SDF. Aber auch viele zivile Orte wurden angegriffen, beispielsweise das Stadtzentrum von Kobane und Qamislo.
Vor allem in den letzten zwei Tagen wurde begonnen fokussiert die zivile und ökonomische Infrastruktur anzugreifen. Also Ölfelder, Stromversorgung, Gasversorgung und Wasserversorgung. Krankenhäuser und Kliniken, sowie Schulen wurden bombardiert. So wie es aktuell aussieht ist nicht mit einer Entspannung der Lage zu rechnen.
Trotz dieser massiven Angriffe, der Schäden und der gefallenen Freunde und Freundinnen ist die Moral in der Bevölkerung hoch. Das Volk leistet Widerstand, ist auf der Straße und kämpft gegen diese Angriffe.
Als Kampagne „RiseUp4Rojava“ habt ihr regelmäßig daraufhin gewiesen das Rojava in einem permanenten Kriegszustand ist. Wurde die Strategie der Türkei, einer Kriegsführung niedriger Intensität, jetzt zu einer Kriegsführung hoher Intensität gewandelt?
Das was gerade passiert ist eine neue Eskalationsstufe. Aber wir müssen klar herausstellen, dass es sich nicht um einen neuen Beginn des Krieges handelt. In den letzten drei Jahren, nach der Besatzung von Serekaniyê und Gîrê Spî 2019, herrschte kein Frieden. Die Region befindet sich konstant im Krieg. Insbesondere an den Frontlinien gab es täglich Angriffe. Der Krieg gegen Rojava wird und wurde aber nicht nur militärisch sondern auch auf allen anderen Ebenen weiter geführt. Medial, ökonomisch, politisch wurde Druck auf die Bevölkerung ausgeübt, beispielsweise durch das Kappen der Wasserversorgung und das gezielte Ermorden von Schlüsselfiguren der Revolution.
Der Krieg des türkischen Staats gegen die kurdische Freiheitsbewegung erstreckt sich ja nicht lediglich auf die befreiten Gebiete Nord-Ost-Syriens. Auch in den Bergen Südkurdistans herrscht Krieg, innerhalb der Türkei kommt es zu massiver Repression. Wie hängt all das miteinander zusammen?
Der Krieg in Rojava darf nicht getrennt betrachtet werden von den Entwicklungen der gesamten Region. Der Krieg ist alltäglich in Nordkurdistan, in Südkurdistan, in Ostkurdistan, in Rojava. Die gesamte Region ist in Bewegung. Ein Krieg in Rojava, ein Krieg in Südkurdistan, ein Volksaufstand in Ostkurdistan und dem gesamten Iran. Das kurdische Volk, in allen vier Teilen Kurdistans unterdrückt und kolonisiert, mit brutalster Repression und Vernichtungspolitik konfrontiert, steht auf.
Innenpolitisch ist die Position des Erdogan-Regimes nicht gefestigt. Die ökonomische Krise in der Türkei ist enorm. Die sozial-politische Krise in der Türkei hat sich massiv verschärft. Im Zusammenhang mit den Wahlen im kommenden Jahr befindet sich Erdogan unter extremen Druck, er versucht das eigene Überleben durch den Krieg zu sichern. Der erwünschte Erfolg durch den Krieg gegen die Guerillakräfte der PKK in den Bergen Südkurdistans ist nicht eingetreten. Im Gegenteil, an bestimmten Stellen konnte die Türkei zwar einige Geländegewinne verzeichnen, aber nur unter extremen Verlusten in den Reihen der türkischen Armee und dem Nutzen von allem was sie zur Verfügung stehen haben, inklusive dem massiven Gebrauch von Giftgas.
In der Türkei konnte die Opposition der HDP trotz massiver Inhaftierungen, Repression und Verleumdungen nicht mundtot gemacht werden. Die Unterstützung der Bevölkerung gegenüber dem Freiheitskampf konnte nicht gebrochen werden.
Die aktuellen Angriffe auf Rojava jetzt sind ein weiterer verzweifelter Versuch des Erdogan-Regimes sich selbst am Leben zu erhalten.
Wachsende Verwerfungen auf internationaler Ebene, innenpolitischer Druck der Opposition, eine gigantische Inflation, ein Krieg der Millionen Dollar und das Leben türkischer Soldaten fordert. Es scheint manchmal so, dass sich Erdogan und sein Staatsapparat in ihren Großmachtsphantasien beginnen zu übernehmen…
Das kann man definitiv so sagen. Ich meinte ja schon, dass es sich mit der Kriegsführung um einen Versuch handelt, an der Macht zu bleiben und den eigenen Absturz zu verhindern. Nichtsdestotrotz darf man die Türkei nicht unterschätzen. Sie verfügt über die zweitgrößte NATO-Armee. Erdogan hat es in der Vergangenheit immer wieder geschafft in den Krisen zwischen verschiedenen Interessen zu manövrieren und sich die Unterstützung für seine Politik national wie international zu sichern.
Aber das was gerade passiert ist kein Zeichen der Stärke des Regimes, sondern ein Ausdruck der Schwäche und der innenpolitischen Krise.
Vor den Wahlen 2023 versucht Erdogan nun über das Mittel des Krieges auch die Opposition erneut mundtot zu machen und auf Linie zu bringen. Mann muss sagen, dass ihm dies, abseits der HDP, auch gelungen ist. Wie sich das jedoch in den kommenden Monaten weiterentwickelt bleibt abzuwarten. Denn in diesem Kontext wird der Widerstand und der Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung und der Bevölkerung, sowie der Verlauf des Krieges einen entscheidende Rolle spielen.
Was für ein Interesse haben die beiden in Syrien präsenten Weltmächte USA und Russland in der aktuellen Lage? Nach Außen positionieren sich beide Seiten ja vermeintlich gegen eine größere Militäroperation.
Der Krieg der Türkei gegen die kurdische Bewegung, in allen Teilen Kurdistans, könnten nicht ohne die Unterstützung der USA funktionieren. Im Fall von Rojava hat Russland teilweise eine ähnliche Rolle inne.
Die Besatzung von Êfrîn, Sêrêkaniyê und Gîrê Spî wäre ohne die Zustimmung Russlands und der USA nicht möglich gewesen.
Der Krieg in Südkurdistan wäre nicht möglich, jedenfalls nicht in dieser Intensität, ohne die Zustimmung der USA und der NATO.
Die AKP Erdogans, als ein Projekt des vermeintlich moderaten politischen Islams, welches die sunnitischen Kräfte in der Region bündeln soll für die Interessen der westlichen Staaten, ist für die USA ein strategischer Partner. Das schon seit dem Kalten Krieg und als zentraler Teil des sogenannten „Greater Middle East Projects“. In diesen strategischen
Planungen der NATO bezogen auf den mittleren Osten ist die kurdische Freiheitsbewegung ein großes Problem. Dementsprechend lies man stets der Türkei auch in ihrem Vernichtungswillen indirekt und direkt freie Hand und unterstützte sie. Das ist eine Realität seit dem Beginn des Freiheitskampfes in Kurdistan.
Das heißt es gibt Überschneidungen in den Interessen der Türkei und den USA. Es mag unterschiedliche Formen geben wie man gedenkt diese Politik umzusetzen. Vernichtungspolitik als Mittel der Türkei einerseits und Integration-Assimilation-Korruption als Mittel der USA andererseits, um in Rojava eine weitere KDP [Anm. d. Red.: Regierungspartei in Südkurdistan die mit der Türkei kollaboriert] wie in Südkurdistan aufzubauen. Der Inhalt, die Vernichtung der Freiheitsbewegung, bleibt jedoch der gleiche.
Auch für Russland ist die Türkei ein wichtiger Partner. Ökonomisch ist die Türkei ein wichtiger Handelspartner geworden. Russland hat stets über die Türkei versucht Einfluss auf die NATO zu nehmen, Widersprüche innerhalb der NATO zu verschärfen.
Durch die verstärkte Konfrontation der NATO mit Russland im Rahmen des Ukrainekriegs und die Restrukturierung der NATO, spielt die Türkei in der NATO eine wichtige Rolle.
Wenn wir als Internationalist:innen nicht an die Nationalstaaten appellieren, da wir wissen, dass von Ihnen nichts zu erwarten ist, was ist zu tun? Was ist euer Aufruf als Kampagne RiseUp4Rojava?
Vor einigen Tagen haben wir den sogenannten „Tag X“ ausgerufen.
Wir müssen sehen, dass, unabhängig davon ob es aktuell zu einer Bodenoffensive kommt oder nicht, Rojava sich im Krieg befindet. Die Revolution ist gefährdet.
Der Wille zum Sieg und Kampf gegen den türkischen Faschismus in der Bevölkerung ist groß, aber es braucht jetzt Internationale Solidarität.
Das was in Rojava in den vergangenen zehn Jahren aufgebaut wurde ist gefährdet. Die kurdische Freiheitsbewegung führt seit Jahrzehnten einen Kampf für Demokratie, Frauenbefreiung und ökologisches Wirtschaften.
Sie ist ein Beispiel dafür, wie konsequent gekämpft werden kann. Sie zeigt wie mit erhobenen Kopf den größten Schwierigkeiten getrotzt werden kann und bei allen Widersprüchen und Schwierigkeiten an der eigenen politischen Linie festgehalten werden kann. Für uns Internationalist:innen spielt diese Revolution auch gerade deshalb eine wichtige Rolle, weil sie zeigt, dass ein anderes Leben möglich ist, eine gesellschaftliche Alternative möglich ist. Die Front gegen den Faschismus muss international organisiert sein. Eine Niederlage Rojavas hätte massive Auswirkungen auf die revolutionären Kräfte weltweit, der Erfolg jedoch genauso.
Überall dort wo wir sind, wo wir leben und arbeiten, muss der türkische Faschismus angegriffen werden. Wir müssen unsere Solidarität mit dem Widerstand Kurdistans auf die Straße tragen. Wir sagen, jede Aktion und Beteiligung ist erwünscht. Von kleinen symbolischen Aktionen, über Massendemonstrationen und Blockaden. Einerseits haben diese Aktionen natürlich den Effekt Druck auf den deutschen Staat aufzubauen. Andererseits dürfen wir nicht die Wirkung unterschätzen, die diese Aktionen hier in Rojava haben. Sie gegeben Kraft und Mut weiterzukämpfen. Wenn du im Kampf bist und siehst, dass überall auf der Welt Menschen hinter dir stehen und sich auch als Teil dieses Kampfes sehen, das ist unbeschreiblich.
Unser Aufruf ist an alle: Geht auf die Straße, organisiert euch. Lasst diejenigen die dachten sie verdienen sich eine goldene Nase an diesem Vernichtungskrieg, es bereuen. Sorgt dafür, dass diejenigen die diese Vernichtungspolitik unterstützen, es bereuen werden.
#Titelbild: Trümmer der Pressestelle der YPG in Qerecox nach der Bombardierung durch die Türkei 2017
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Thailand als Land der Semiperipherie befindet sich irgendwo in der Schwebe zwischen Zentrum und Peripherie. Wir haben einen Text der thailändischen Genoss:innen von dindeng übersetzt, der sich die Frage stellt, wie Staat, Macht und Gewalt sich in ihrem Kontext auf ihre Kämpfe auswirken.
Autor: Yung Kay
Wir sind hier an der Schnittstelle zwischen Zentrum und Peripherie, und wenn es irgendwo möglich sein sollte, diese in Einklang zu bringen, dann sicherlich hier. Nicht nur Thailand, sondern auch andere Regionen, die in der gleichen globalen ökonomischen Gruppe des mittleren Einkommens gefangen sind. Kann es eine Interaktion zwischen der Peripherie und dem Zentrum geben?
Im Moment befinden wir uns in Nordthailand. Hier sind wir zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Wir haben Geflüchtete von jenseits der Grenze gesehen, die von den Eiswägen aus in die tadellos sauberen Co-Working Spaces liefern und mühelos an den professionellen E-Mail-Schreibern in ihren klimatisierten Räumen vorbeigleiten.
Thailand selbst ist zwischen der Peripherie und dem Zentrum gefangen. Noch heute ist es ein „wichtiger Nicht-Nato-Verbündeter“, der gegenüber unseren Genossen in Peking endlos Lippenbekenntnisse abgibt. In Wirklichkeit sind unsere Glanzzeiten als kolonialer Vorposten des Kalten Krieges längst vorbei. Thailand bröckelt langsam vor sich hin und ist ein Relikt der alten bipolaren Welt, erdrückt von autoimperialistischer Aufblähung und gefangen in längst überholten, vom Ausland aufgezwungenen Dogmen.
Wie kann man das unter einen Hut bringen?
Lokal
Um mit einer Versöhnung zu beginnen, müssen wir zunächst versuchen zu bestimmen, was die Peripherie und was das Zentrum ist. Eine einfache Möglichkeit, dies zu tun, ist ein Blick auf die Verteilung des BIP im gesamten Königreich zu werfen. Bangkok verzehrt alles. Ein schwarzes Loch, das Wohlstand und Arbeit aus dem ganzen Land ansaugt. Fast 50 Prozent des Reichtums des Landes liegen in Bangkok, während nur 22 Prozent der Bevölkerung dort leben, von denen ein Großteil inländische oder ausländische Wanderarbeiter*innen sind. Von diesem Reichtum befindet sich natürlich der größte Teil in den Händen der Bourgeoisie.
Seit seiner Gründung in der Mitte des 18. Jahrhunderts hat Bangkok seine Außenposten im ganzen Königreich ausgebaut. Chiang Mai im Norden, Khon Kaen und Korat im Isaan, Had Yai und Nakorn Si Thammarat im Süden. Diese Außenposten dienen dem Zweck, die Peripherie ins Zentrum zu integrieren. Die Thaifizierungspolitik der explizit faschistischen Regierung in den 1930er Jahren war nicht nur ein kultureller Imperialismus, sondern auch ein wirtschaftliches Programm, mit dem sie die Peripherie und den Kern miteinander versöhnen wollte, indem sie die Peripherie in den ökonomischen Einflussbereich des Kerns aufnahm.
Der Norden ist pro Kopf die ärmste Region, was vor allem auf die Armut in Mae Hong Son zurückzuführen ist – zweifellos die Provinz, welche geografisch, wirtschaftlich, kulturell und in Bezug auf die Reichweite der Regierung am weitesten vom Kern entfernt ist – die Einheimischen sagen oft, dass Mae Hong Son nicht Thailand ist. Mae Hong Son ist der Ort, aus dem viele der oben erwähnten subalternen Arbeiter stammen oder durch den sie kommen. Sie sind alle auf die eine oder andere Weise Flüchtlinge, sowohl diejenigen, die im Inland geboren sind, als auch diejenigen, die von jenseits der Grenze kommen, denn die Grenze bedeutet sehr wenig, wenn sie so weit draußen in der Peripherie liegt.
International
Bangkok ist zwar das imperiale Zentrum Thailands, wird aber selbst immer mehr Teil der globalen Peripherie des Kapitals. Einst war es das Bollwerk des amerikanischen Imperiums im Kampf gegen den Kommunismus in Südostasien – Milliarden von Dollar wurden in die Hauptstadt gepumpt, um sie vor den Bauern zu schützen, die sie erobern und ihren Reichtum umverteilen wollten.
Zu diesem Zeitpunkt wurde der „tiefe Staat“ im eigenen Land geschmiedet. Der republikanische Faschismus, der Thailand von den dreißiger Jahren bis in die frühe Nachkriegszeit hinein beherrschte, wurde von einer mehr auf die Dritte Welt ausgerichteten, bündnisfreien Stimmung bedroht. Die republikanischen Elemente des früheren offen faschistischen Regimes wurden verworfen, auch wenn viele ihrer Ideale erhalten blieben und der Republikanismus wurde durch ein Programm zur Aufwertung der Monarchie ersetzt, um sie zur wohlwollenden Fassade der Nation zu machen. Man machte sich ihre religiösen und feudalen Patronagenetze zunutze und kombinierte sie mit dem nationalistischen militaristischen Faschismus der vorangegangenen Generation von Führern. Das Militär, die Monarchie und das Kapital verbündeten sich gegen die Arbeiter und den Kommunismus, ein Bündnis, das vom globalen Kapital über die Fänge des US-Imperiums heftig unterstützt und ermöglicht wurde.
Das Königreich wurde zu einer wichtigen Operationsbasis, von der aus Aggressionen gegen Nachbarstaaten gestartet wurden. Obwohl das Kapital in Vietnam, Laos und Kambodscha kleinere Rückschläge hinnehmen musste, war diese Aggression letztlich erfolgreich. In den 90er Jahren, als die Bedrohung durch die Arbeiter nachließ, wurde Bangkok weitgehend sich selbst überlassen, die Schmiergelder waren gestrichen worden und die imperiale Aufblähung begann. Heute ist der Verfall in ganz Bangkok offensichtlich: eine absurd überfüllte Stadt, deren Boulevards mit leeren Ladenfronten buchstäblich versinken, während sich das Meer langsam das Land zurückholt, auf dem immer noch glitzernde neue Einkaufszentren und Eigentumswohnungen errichtet werden.
Für das obere Ende der Bourgeoisie musste sich jedoch nichts ändern. In dem Unterbietungswettlauf des Kapitals, immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten für die Gewinnung von so viel Überschuss wie möglich, stagniert Thailand jedoch. Die brutale Gewinnausbeutung kann in nahe gelegenen Ländern wie Bangladesch und Birma billiger durchgeführt werden. Heute gleiten makellose Teslas mühelos über die rissigen Straßen und an den verfallenden Slums vorbei – ihre Fahrer sind sich der Fäulnis, die sie umgibt, überhaupt nicht bewusst und wissen nicht, dass sie nur noch mit Abgasen fahren, dass das Kapital sie im Stich lässt, obwohl der Gestank bleibt.
Diejenige, die die Fäulnis aus erster Hand kennen, ist natürlich die Arbeiterklasse. Die jüngsten Zahlen zeigen, dass die Verschuldung der thailändischen Haushalte inzwischen 90 % des BIP übersteigt und damit an elfter Stelle in der Welt steht, wobei der Großteil dieser Schulden auf Haushalte mit niedrigem Einkommen entfällt.
Die Wirtschaft braucht dringend massive Investitionen und eine Generalüberholung, aber die Säulen, die die Nation stützen, sind am Wanken. Das Militär, die Monarchie, die Bürokratie und das Parlament sind allesamt völlig unfähig, etwas anderes zu tun als den Status quo aufrechtzuerhalten. Diese Institutionen sind durch ihre aufgeblähten Klientelnetzwerke verankert und gebunden und werden durch den tiefen Staat eingeengt, der seinerseits durch das Dogma der thailändischen Vergangenheit aus der Mitte des 20. Jahrhunderts gebunden ist. Heute aber ist er kein wichtiger Außenposten des globalen Imperiums mehr, sondern nur noch ein Relikt.
Der einzige sinnvolle Reformversuch kam in Gestalt von Thaksin Shinawatra. Im Guten wie im Schlechten war Thaksin eine revolutionäre Kraft in der thailändischen Wirtschaft, politisch wollte er die Nation ins 21. Jahrhundert bringen. Obwohl seine Politik immer noch fest im Dienste der Bourgeoisie stand, wurde er als zu große Bedrohung für die bereits erwähnten aufgeblähten dogmatischen Institutionen des Staates und des Kapitals angesehen. Sie setzten ihn gewaltsam ab und arbeiteten unermüdlich daran, jegliche Überreste von Reformen zu vernichten, und bewiesen damit ihre Unfähigkeit, sich dem Tempo des globalen Kapitals anzupassen.
Wir sind nicht allein
Diese Gefahr ist weltweit keine Seltenheit. Haltet Ausschau nach Ländern mit einer großen Bevölkerung, die hauptsächlich vom Land kommt und die im letzten halben Jahrhundert eine massive Verstädterung erfahren und eine Produktionsbasis entwickelt haben. Achtet auf die verräterischen Anzeichen von sich ausbreitenden Städten, die sowohl eine wehrhafte einheimische Elite als auch eine massive Slumbevölkerung beherbergen. Beachtet die geografische Peripherie, d. h. die Teile des Landes, die vom Zentralstaat praktisch nicht regiert werden. Schaut auch die politische Gewalt an, auf der diese zeitgenössischen Versionen des Staates aufgebaut wurden, wobei US-Geheimdienstmitarbeiter im Hintergrund lauerten. Brasilien, Indonesien, Südafrika, Mexiko, usw.
Diese Länder dienen als eine Art Vermittler zwischen dem Kern und der Peripherie. Niedrige Unterleutnants des globalen Kapitals. Nur wenige erklimmen die Leiter in die oberen Ränge, wobei Südkorea eine der wenigen großen Nationen ist, die in die Bruderschaft des Zentrums eingetreten ist. Thailands Führer blicken neidisch dort hin und fragen: „Warum können wir das nicht haben?“
Die Antwort ist, dass Südkorea im Auftrag des Kapitals, genauer gesagt seiner Vollstrecker, des US-Imperiums, gezwungen wurde, jegliche Souveränität aufzugeben. Südkorea, ein Staat mit einer so absurden Geschichte, voller grotesker Gewalt und brutaler Unterwerfung, wurde weitgehend mit Gewalt und als Ergebnis eines außergewöhnlichen Ereignisses in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zum perfekten kapitalistischen Staat geformt. Ein paar andere Fälle in Ostasien, nämlich Taiwan und Singapur, basieren mehr auf Zufällen der Geschichte als auf geschickter innenpolitischer Führung oder klugem Wirtschaftsmanagement. Eine Gemeinsamkeit besteht jedoch darin, dass die Souveränität im eigenen Land fast völlig fehlt und in Wirklichkeit in den Händen des Westens und des globalen Kapitals liegt.
Die thailändischen Eliten waren nicht bereit, dieses Maß an Souveränität aufzugeben, wie wir 1973 gesehen haben, oder vielleicht wurde ihnen auch nie die Gelegenheit dazu gegeben. Wie auch immer, es scheint, dass sie am Ende an ihr eigenes Märchen von einem „besonderen“, tapferen kleinen Staat glaubten, der in der Lage war, sich gegen Kolonialreiche zu behaupten. In Wirklichkeit hat Thailand lediglich Platz gemacht für das britische Empire und dessen Nachfolger, das Kapital des 20. Jahrhunderts, unterstützt von seinem Vollstrecker, dem US-Imperium. Als Thailand nach dem Kalten Krieg nicht mehr von Nutzen war, verlor das Imperium das Interesse. Zum Glück für die koreanische und taiwanesische Bourgeoisie sorgten unsere Genossen weiter nördlich dafür, dass sie in den Augen des Imperiums relevant blieben, und so wurden sie in den Kern, die Bruderschaft der „fortgeschrittenen Volkswirtschaften“, aufgenommen.
„Warum können wir das nicht haben?“ – schreit der thailändische tiefe Staat dem Kapital zu.
„Weil ihr zu irrelevant seid“, antwortet das Kapital beiläufig und stößt auf taube Ohren.
Gewalt
Um die Politik in diesen Ländern mit mittlerem Einkommen im Vergleich zur wahren Peripherie und zum wahren Zentrum zu definieren, müssen wir die Gewalt verstehen. In den Ländern des Zentrums ist explizite politische Gewalt selten. Natürlich gibt es diese Art von permanenter unterschwelliger Gewalt und Unterwerfung, die man in fortgeschrittenen Volkswirtschaften findet, aber sie bricht selten in massenhafter politischer Brutalität aus. Die wahre Peripherie ist jedoch von Gewalt geprägt. Gleich jenseits unserer westlichen Grenze ist Gewalt im Alltag allgegenwärtig, sie ist der wichtigste Faktor bei fast allen Entscheidungen der Arbeiterklasse. In unserem Erleben gibt es jedoch ein unbehagliches Verständnis von Gewalt, ein Verständnis, das sie erlebt hat und nur äußerst ungern noch einmal erleben möchte.
Die thailändische Politik ist gespickt, aber nicht übersät mit politischen Massakern, einige sichtbar, andere nicht. Phumi Bhoon, Thammasat, Black May, Tak Bai, Krue Se und Ratchaprasong sind in den Köpfen des Proletariats fest verankert. Dies sind Fälle, in denen der Staat gezeigt hat, dass er bereit und in der Lage ist, öffentlich Massengewalt anzuwenden. Viele in der Arbeiterklasse erinnern sich auch an die Gewalt des Krieges gegen die Drogen Mitte der 2000er Jahre, an die Verhaftungen, die spontanen brutalen Verhöre und die massenhaften, fast unsichtbaren außergerichtlichen Morde – die so weit verbreitet und doch irgendwie so unauffällig waren. Im vorigen Jahrhundert sahen sich diejenigen, die den Revolutionären des Aufstands Unterschlupf gewähren wollten, mit Morden und staatlicher Brutalität konfrontiert, die öffentlich bis heute völlig ignoriert werden, an die sich aber diejenigen, die sie erlebt haben, noch erinnern.
Wenn man bereit ist, die Macht des Staates herauszufordern, ist Gewalt auf individueller Ebene nicht so sehr eine Bedrohung, sondern eine Unvermeidlichkeit. Wie viele Aktivist*innen wurden allein in den letzten zehn Jahren geschlagen, gefoltert oder in überfüllte sadistische Gefängnisse geworfen? Ihre Geschichten und Erfahrungen, ihr Blut, sind eine abschreckende Botschaft für alle anderen, die mutig genug sind, es ihnen gleichzutun. Sie sind die Überlebenden, viele andere wurden einfach ermordet, entsorgt, manchmal am Telefon mit ihren Angehörigen, ihre Leichen wurden in den Mekong geworfen.
Natürlich ist die Gewalt in Thailands innerer Peripherie eine weitaus allgegenwärtigere Facette des täglichen Lebens. Diejenigen, welche auf „Land leben, das ihnen nicht gehört“, sind der ständigen Gefahr einer gewaltsamen Vertreibung ausgesetzt. Für Migrant*innen, die in das Zentrum reisen um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, ist das Leben von Gewalt am Arbeitsplatz und in den städtischen Slums geprägt. Insbesondere Frauen sind in der Sexindustrie, einem historischen Hort frauenfeindlicher Barbarei, der übrigens im Dienste der aus den USA importierten Kolonialtruppen des letzten Jahrhunderts errichtet wurde, entsetzlicher Gewalt ausgesetzt – heute führen die Söhne und Enkel dieser Truppen das Erbe ihrer Vorfahren fort.
Diese Art von Gewalt, sowohl die gegenwärtige als auch die historische, sowohl die sichtbare als auch die unsichtbare, stellt eine ständige Bedrohung für diejenigen dar, die ihre gegenwärtigen Bedingungen ändern wollen. Im August, in den ersten Tagen der Protestbewegung 2020 Bangkok und fast 50 Jahre nach dem Massaker an der Thammasat-Universität, kämpften Student*innen auf der Straße gegen die Polizei. Für viele von ihnen war es die erste Erfahrung mit staatlicher Gewalt. Als sie in der Chulalongkorn-Universität Zuflucht vor dem Tränengas suchten, hallte im ängstlichen Flüstern die Erinnerung an die Thammasat-Universität wider: „Könnten sie es wieder tun? Ich glaube, sie könnten es wieder tun?“ Die Angst ist weit verbreitet und berechtigt – eine Angst, die im globalen Zentrum unbekannt ist, aber nur allzu bekannt in der wahren Peripherie.
In unserer Lebenswelt hat der Staat unter Beweis gestellt, dass er die Fähigkeit zu expliziter Massengewalt hat, diese jedoch im Kontext eines allgemeinen Friedens existiert. Diejenigen, die den Status quo in Frage stellen wollen, geraten in eine schwierige existenzielle Lage.
Wie lässt sich das unter einen Hut bringen?
Eine Chance
Vielleicht sind wir nicht zwischen einem Tiger und einem Alligator gefangen, sondern befinden uns vielmehr in der besten der beiden Welten.
Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, geht allmählich in den Todeskampf über. Vor allem aber wird das US-Imperium immer weniger in der Lage sein, die Rolle des Vollstreckers zu spielen. Aber was passiert mit der halben Peripherie, wenn der Kern zusammenbricht? Wenn die Westgoten Rom plündern? …eine Gelegenheit bietet sich.
Wir kennen die brutale Unterdrückung gut genug um zu ahnen, womit wir es zu tun haben. Der Reichtum der Bourgeoisie präsentiert sich im gleichen Rahmen wie die Notlage der Arbeiterklasse, und zwar auf eine Weise, wie sie es weder im Zentrum, noch in der wahren Peripherie wagen würde. Die bröckelnde Wirtschaft ist eine Bedrohung für das Proletariat, aber auch für die Bourgeoisie – eine Bourgeoisie, die immer selbstgefälliger, langsamer und aufgeblähter wird, steht einem Proletariat gegenüber, das ungeduldig, unzufrieden und immer mutiger wird.
Die Arbeiteraristokratie des Kerns ist nicht in der Lage, das Kapital wirklich herauszufordern ohne ihre materiellen Annehmlichkeiten zu verlieren. Hier, im Norden, im Isaan, haben wir Bangkok im Visier. Wir haben das Potenzial, den Reichtum des Zentrums in die Hände der Peripherie zu bringen, ein Potenzial, das für einen Großteil des übrigen Planeten unerreichbar ist.
Gleichzeitig bedeutet diese mittlere Malaise aber auch, dass wir vorerst wenig Handlungsspielraum haben. Wir sind darauf angewiesen, dass der Zusammenbruch des globalen Zentrums uns die Gelegenheit bietet, mit dem Kapital, mit unserem heimischen Zentrum, in Konflikt zu geraten. Hier warten wir ab und bereiten uns still vor. Wenn es irgendwo passieren kann, dann sicherlich hier.
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Imperialismus – kaum ein Schlagwort wird so sinnentleert benutzt wie dieses. Während aktuell von westlichen Regierungen der „russische Imperialismus“, gemeint ist der Angriffskrieg in der Ukraine, gegeißelt wird, wird das eigene militärische Agieren und die Unterstützung antikommunistischer Putsch- und Regierungsprojekte auf allen Kontinenten selbstverständlich nicht unter diesem Begriff gefasst, genausowenig die ökonomischen Bedingungen, die zu weltweit krasser Ungleichheit führen. Aber auch für Teile der Linken, insbesondere in Deutschland, sind Imperialismus und auch Antiimperialismus begriffliche Leerstellen, bzw. Codewort für irgendwas, das man beides in der Vergangenheit verortet und irgendwie schlimm ist. Damit das nicht so bleibt haben wir das Buch „Die globale Perspektive“ von Torkil Lauesen herausgegeben, in der Hoffnung, diese Leerstelle aus linker, revolutionärer Perspektive zumindest etwas füllen zu können. Wir veröffentlichen hier unser Vorwort zum Buch, das Ihr in der Buchhandlung eures Vertrauens, oder direkt beim Unrast-Verlag bestellen könnt.
Am 24. Februar 2022 marschierten Streitkräfte Russlands in der Ukraine ein. Die „Spezialoperation“, wie der Kreml den Angriffskrieg nennt, belebte auch in den westlichen Konzern- und Staatsmedien die Debatte um einen Begriff, der zumindest in der bürgerlichen Öffentlichkeit zuvor als ein Ding des 20. Jahrhunderts erschien. „Imperialismus“, allerdings fast ausschließlich in Gestalt des „russischen Imperialismus“, war nun wieder in aller Munde. Die FDP-nahe „Friedrich Naumann Stiftung für Freiheit“ veranstaltete ein Online-Panel mit „Expert:innen“ zum Thema „Russian Imperialism for Dummies“, die US-Regierung versammelte Diskutant:innen zur Frage der „Dekolonialisierung Russlands“ und der als Jugendlicher im Stamokap-Flügel der SPD geschulte Bundeskanzler erklärte in einem Gastbeitrag für die FAZ: „Der Imperialismus ist zurück in Europa.“
Aber war er denn je weg? Das kommt darauf an, was man darunter versteht. Olaf Scholz lässt es uns wissen: Die EU sei die „gelebte Antithese zu Imperialismus und Autokratie“. Imperialismus betreiben in dieser Weltsicht also zufällig immer die geopolitischen Gegner des Westens. China und Russland agieren „imperialistisch“, die USA und ihre stets willigen Partner dagegen „verteidigen“ sich – und sei es tausende Kilometer entfernt am Hindukusch. Oder sie „helfen“ – wie im Jemen, in Mali oder in Libyen. Ob diese „Hilfe“ Millionen Tote mit sich bringt und die von ihr beglückten Nationen als Failed States zurücklässt, spielt dabei keine Rolle. Imperialisten sind immer die anderen.
Das war im Ersten Weltkrieg nicht anders. „Mitten im Frieden überfällt uns der Feind“, klagte Kaiser Wilhelm II. in seiner Thronrede am 6. August 1914. Und die SPD sprang ihm bei: „Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. (…) Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei“, schwor der Fraktionsvorsitzende der Partei, Hugo Haase, die „Volksgenossen“ auf den heiligen Verteidigungskrieg ein. Das Parteiblatt „Vorwärts“ legte nach: „Wenn die verhängnisvolle Stunde schlägt, werden die vaterlandslosen Gesellen ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen.“ Natürlich musste dieser Burgfrieden mit der eigenen Bourgeoisie gerechtfertigt werden und man fand die Beschönigung des eigenen „sozialistischen“ Bellizismus im selben moralisierenden Begriff des Gegners, den noch der heutige SPD-Kanzler nutzt: Der russische Despotismus und Imperialismus sei das wesentlich größere Übel als Deutschland und zudem sei man ja aus heiterem Himmel angegriffen worden.
Zwei Jahre und Hunderttausende Tote später verfasste W.I. Lenin in Zürich seine Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, die 1917 zum ersten Mal erschien. Der russische Revolutionär hatte für die durchaus theoretische Schrift klare praktische Interessen. Es ging darum, die Arbeiterbewegung aus der Krise zu befreien, in die sie geraten war, weil die sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale ein Klassenbündnis mit „ihren“ nationalen Herren geschlossen hatten und in den Krieg gezogen waren.
Lenin führte den Begriff „Imperialismus“ auf Veränderungen in der ökonomischen Basis des Kapitalismus zurück und entwickelte Kriterien für seine Verwendung. Imperialismus ist Kapitalismus in seinem „monopolistischen“ Stadium, also einer, in dem die Konzentrations- und Zentralisationstendenz des Kapitalismus zur Herausbildung marktbeherrschender Großkonzerne geführt hat. Er arbeitet die veränderte Rolle der Banken (Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital zu Finanzkapital) und die Rolle von Kapitalexporten bei der Aufteilung der Welt in Interessensphären heraus.
Die ökonomische Analyse ist ihm aber zugleich kein Selbstzweck. Der Imperialismus-Schrift voran gingen bereits mehrere kleinere Arbeiten zur Stellung der revolutionären Arbeiterbewegung zum Weltkrieg (z.B. „Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Kriege“ von 1914, „Sozialismus und Krieg“ von 1915, „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ von 1916). Lenin will auf eine Position hinaus, die er in der Imperialismus-Schrift so umreißt: „In der Schrift wird der Beweis erbracht, dass der Krieg von 1914 – 1918 auf beiden Seiten ein imperialistischer Krieg (d.h. ein Eroberungskrieg, ein Raub- und Plünderungskrieg) war, ein Krieg um die Aufteilung der Welt, um die Verteilung und Neuverteilung der Kolonien, der ‚Einflußsphären‘ des Finanzkapitals usw.“ Und er will die Frage klären, warum die vor Kriegsbeginn noch auf Solidarität des Proletariats gegen den Bellizismus der Herrschenden setzenden Parteien der II. Internationale nun das Bündnis mit ihrer nationalen Bourgeoisie einging, um die Arbeiter:innen der anderen Nationen abzuschlachten.
Im Zentrum seiner Erklärung steht der „Parasitismus“ der imperialistischen Nationen, die zu Vehikeln der Ausplünderung des Rests der Welt werden. Er zitiert eine erstaunlich prophetische Passage des englischen Ökonomen John Atkinson Hobson: „Der größte Teil Westeuropas könnte dann das Aussehen und den Charakter annehmen, die einige Gegenden in Süd-England, an der Riviera sowie in den von Touristen am meisten besuchten und von den reichen Leuten bewohnten Teilen Italiens und der Schweiz bereits haben: ein Häuflein reicher Aristokraten, die Dividenden und Pensionen aus dem Fernen Osten beziehen, mit einer etwas größeren Gruppe von Angestellten und Händlern und einer noch größeren Anzahl von Dienstboten und Arbeitern im Transportgewerbe und in den letzten Stadien der Produktion leicht verderblicher Waren; die wichtigsten Industrien wären verschwunden. Die Lebensmittel und Industriefabrikate für den Massenkonsum würden als Tribut aus Asien und Afrika kommen. (… ) Mögen diejenigen, die eine solche Theorie als nicht der Erwägung wert verächtlich abtun, die heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in jenen Bezirken Südenglands untersuchen, die schon jetzt in eine solche Lage versetzt sind, und mögen sie darüber nachdenken, welch gewaltiges Ausmaß ein derartiges System annehmen würde, wenn China der ökonomischen Herrschaft ähnlicher Gruppen von Finanziers, Investoren, von Beamten in Staat und Wirtschaft unterworfen würde, die das größte potentielle Profitreservoir, das die Welt je gekannt hat, ausschöpfen würden, um diesen Profit in Europa zu verzehren.“
Die in den imperialistischen Zentren beheimateten Monopolkonzerne eignen sich über – so würde man heute sagen – Global Value Chains den Mehrwert aus der ganzen Welt an. Und damit sind sie in der Lage, einen kleinen Teil der Beute an die privilegiertesten Arbeiterschichten der eigenen Nation weiterzugeben, um sich sozialen Frieden zu erkaufen. Diese „Arbeiteraristokratie“ bildet die Klassenbasis des sozialdemokratischen Opportunismus und Sozialchauvinismus.
Der politische Inhalt des Opportunismus und Sozialchauvinismus ist für Lenin stets das Klassenbündnis mit der „eignen Bourgeoisie“, auf deutsch: die „Sozialpartnerschaft“: „Das Bündnis einer kleinen bevorrechteten Arbeiterschicht mit ‚ihrer‘ nationalen Bourgeoisie gegen die Masse der Arbeiterklasse, das Bündnis der Lakaien der Bourgeoisie mit ihr gegen die von ihr ausgebeutete Klasse“, wie er in „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ formuliert.
Nun ist aber die Arbeiteraristokratie für Lenin noch eine selbst in den entwickelten kapitalistischen Ländern stets kleine Schicht des Proletariats. Mit dieser Einschränkung brach der dänische Kommunistische Arbeitskreis (KAK) in den 1960er-Jahren und entwickelte die „Schmarotzerstaat“-Theorie, die nachzuweisen suchte, dass ohne den Wegfall der globalen Abhängigkeiten die Arbeiterklasse im Westen zu keiner Revolution fähig sei. „Die Arbeiterklasse hat keine Chance, die Kapitalistenklasse zu stürzen und den Sozialismus aufzubauen, bevor das Fundament der Kapitalistenklasse durch den Kampf und zumindest teilweisen Sieg der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas erschüttert wurde“, schrieb der Gründer der Schmarotzerstaat-Theorie, Gotfred Appel 1966. Die Gruppe, aus der später die sogenannte Blekingegade-Bande hervorging, der auch der Autor des vorliegenden Bandes angehörte, setzte die Theorie konsequent in die Praxis um: Auf Agitation für den „heimischen“ Klassenkampf wurde zugunsten von Umverteilungsaktionen in den Globalen Süden verzichtet. Die der Theorie entsprechende Praxis war der Bankraub für Befreiungsbewegungen.
1989/1990 endete diese Praxis mit der Verhaftung mehrerer Genossen, darunter Lauesen, und mehrjährigen Haftstrafen. 2017 erschien „Die globale Perspektive“ zunächst auf dänisch, ein Jahr später auf englisch. Der Band liefert nicht nur historisch interessante Passagen zur kolonialen Frage in der Arbeiterbewegung sowie zur Geschichte der Imperialismus-Theorie und des Antiimperialismus. Er knüpft auch inhaltlich an die früheren Arbeiten der Schmarotzerstaat-Theorie an, wenngleich er deren Spitze, revolutionärer Klassenkampf sei in den Metropolen quasi unmöglich, abschwächt.
Wichtig ist aber: Er bleibt bei der „globalen Perspektive“, also einer Sicht auf die Klasse, die nicht beim jeweils „nationalen“ Proletariat stehen bleibt, sondern Imperialismus als weltumspannendes System begreift, in welchem auch die Klasse nur als Weltarbeiterklasse zu fassen ist. Wertschöpfung hat hier auch immer mit der Unterordnung der Mehrheit der Nationen unter die imperialistischen Big Player zu tun. Und die „nationalen“ Arbeiterklassen sind nicht mehr als Sektionen der einen Weltarbeiterklasse. Daraus ergeben sich weitreichende Fragen: Mit welchen Mechanismen vollzieht sich der Surplus-Transfer aus der Peripherie in die Metropolen? Welche Auswirkungen hat das auf die Lebensrealitäten der Klasse dort wie hier? Und auf welchen gemeinsamen Nenner sind die Interessen der in sich gespaltenen Weltarbeiterklasse zu bringen, um sie als kämpfendes politisches Subjekt zu konstituieren?
Die so aufgeworfenen Fragen sind keine bloß theoretischen Spielereien. Eine revolutionäre Linke, die sich in Deutschland neu aufstellt, wird das nur auf Grundlage einer ausgearbeiteten Imperialismustheorie können. Und dazu kann sie den Input aus internationalen Debatten ganz gut gebrauchen. Schriften wie „Die Globale Perspektive“ gibt es auf deutsch sicherlich zu wenige. Im englischsprachigen Raum sind mit Intan Suwandis Arbeiten zu Arbeitsarbitrage und Globalen Wertschöpfungsketten, John Smith‘s „Imperialism in the 21st Century“ oder Zak Copes „The wealth of (some) nations“ neben den Werken Lauesens zahlreiche Bücher vorhanden, die geeignet sind, eine Imperialismustheorie auf der Höhe der Zeit zu formulieren. In Deutschland sieht es da magerer aus. Wir hoffen, mit der in diesem Band vorliegenden Übersetzung anzufangen, diese Lücke zu schließen.
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Es ist wahrlich keine provokante These, dass auch diejenigen politischen Kräfte, die sich als linksradikal verstehen, vom aktuellen Krieg kalt erwischt wurden. Weder in Russland, noch in der Ukraine, noch im Westen konnten sie sich auf eine Position zum Krieg einigen, oder relevanten Widerstand organisieren. So zu tun, als wäre das eine große Überraschung, wäre falsch, denn warum sollten alle, die sich „linksradikal“ nennen, auf einmal ihre theoretischen Differenzen und ihre organisatorische Schwäche überwinden können, nur weil jetzt ein Krieg von größeren Format losgeht? Als Reaktion darauf lässt sich nicht plötzlich theoretische Klarheit oder organisatorische Einheit und Stärke herstellen. Jedoch erfordert die Situation, die sich von Tag zu Tag verschlimmert und immer mehr Menschenleben kostet, zumindest den Versuch einer Koordination zwischen denjenigen, die den Krieg nicht als Unfall, sondern als ein Resultat der kapitalistischen Weltordnung sehen und willig sind, dagegen einzutreten.
An dieser Stelle sollte keine unnötige Häme gegenüber denjenigen verbreitet werden, die sich schnell mehr oder weniger offen auf eine der Seiten stellten. Versuchen wir sie ehrlich zu verstehen.
Ein Teil der Linken in Russland und im Westen hatte den Fakt vor Augen, dass die NATO für die Interessen der führenden kapitalistischen Mächte steht. Ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, können die NATO-Führungsmächte der ganzen Welt ihre Bedingungen diktieren, Verstöße dagegen wirtschaftlich und militärisch sanktionieren, „harte aber notwendige“ Marktreformen in anderen Staaten mit Nachdruck nahelegen usw. Diese Linken hatten vor Augen, dass die Ukraine seit 2014 Antikommunismus zum Grundstein der neuen nationalen Identität macht und hatten keine Illusion, dass dies nur irgendwelche „falschen“, weil autoritäre Kommunisten betreffe (Lenindenkmale werden nicht gestürzt um für Machnos Ideen Platz zu machen). Das Verschweigen der zivilen Opfer des Kampfes der Ukraine für die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität im Donbass in den westlichen Medien sahen sie als Beweis für die Verlogenheit der Meldungen über das Leiden der ukrainischen Zivilist:innen in Folge der russischen Invasion ab Februar 2022.
Ein anderer Teil der Linken, viele in Deutschland, sehr viele in der Ukraine und etliche in Russland, haben vor allem im Blick, dass gerade die ukrainische Bevölkerung darunter leidet, dass der russische Staat ihre Lebensgrundlagen zerstört. Ukrainische Bürger:innen fallen den kriegerischen russischen Aktivitäten als „Kollateralschäden“ zum Opfer oder sind als potentielle Unterstützer:innen der ukrainischen Streitkräfte gezielt mit bisweilen tödlicher Gewalt bedroht. Russland möchte den Ukrainer:innen eine politische Ordnung aufdrängen, die sie offensichtlich mehrheitlich nicht wollen. Den genannten Linken entgeht weder jene chauvinistische Abwertung bzw. Negierung der (wie auch immer definierten) ukrainischen Identität, von der die (pro)russische Propaganda durchtränkt ist, noch die Verschwörungstheorien und auch nicht die Ideologie der „traditionellen Werte“, mit denen Putins Russland um die Zustimmung im In- und Ausland wirbt.
Dennoch meine ich, dass beide dieser linken Fraktionen fatale Fehler begehen und sich auf dem Weg zu einemBurgfrieden mit den kriegführenden bürgerlichen Staaten befinden. Um diese politischen Fehler soll es hier aber nicht gehen. Hier widmen wir uns den blinden Flecken des politisch sympathischen Restes, der sich prinzipiell gegen beide Kriegsparteien stellt, gegen Kriegsmobilisierung agitiert und auf keiner Seite ein „kleineres Übel“ erkennen will. Mit und zwischen diesen Kräften sollte eine Debatte auf einer ganz anderen Grundlage möglich sein, die die eine Perspektive für praktischen Antikriegswiderstand schafft. Doch häufig kommt die Diskussion gar nicht erst zustande, weil sich mit der Verkündung begnügt wird, alle Kriegsparteien seien „gleich schlimm“. Das mag sympathischer wirken als linksverbrämte Vaterlandsverteidigung, als Analyse genügt es jedoch nicht. Es ist im schlechtesten Sinne abstrakt und erklärt wenig.
Fangen wir damit an, dass die Kriegskontrahenten offensichtlich sehr unterschiedliche Ausgangspositionen haben. Die Ukraine ist ein Land ohne gut funktionierende kapitalistische Wirtschaft, das fest entschlossen ist, Teil von zwei westlichen Bündnissen zu werden: EU und NATO. Zwar sind bei weite nicht alle beteiligten Länder dieser Bündnisse wirtschaftlich erfolgreich, aber immerhin werden sie von den wichtigsten kapitalistischen Mächten angeführt. Die Staaten an der Spitze von EU und (vor allem) NATO sind nicht nur militärisch klar überlegen, sie verfügen auch über Weltwährungen: die USA über den Dollar, die EU über den Euro. In diesen Währungen werden nicht nur die wesentlichen Geschäfte auf dem Weltmarkt abgewickelt, sondern auch viele Vermögen aufbewahrt. Gegenüber Russland, dessen Währung keine Weltwährung ist, haben sie exklusive Druckmittel. Um irgendwas auf dem Weltmarkt zu kaufen, brauchen der russische Staat sowie russische Unternehmen Dollar und Euro. Mehr noch: um diese Kaufaktionen durchzuführen, brauchen sie Konten bei westlichen Banken. Da Russland vor allem Rohstoffe verkauft und Fertigwaren einführt, brauchen russischer Staat und russische Unternehmen sehr viele dieser Devisen und sind sehr anfällig für ökonomische Sanktionen. Zudem muss Russland Staatsschulden in Weltwährungen bedienen. Die ukrainische Regierung samt weiteren Teilen des ganzen politischen Spektrums hingegen hat sich für eine Westorientierung entschieden. Diese Entscheidung ist auch eine in Richtung Euro, für westliche Kapitale als potenzielle Investoren, dafür dass die westlichen Firmen in der Ukraine produzieren, für westliche Länder als Märkte für die eigenen ukrainischen Waren, und nicht zuletzt dafür, die Ware Arbeitskraft der eigenen Staatsbürger in den Westen zu exportieren.
Russland ist gemäß unzähliger Verlautbarungen der eigenen Führung eine Weltmacht. Seine wirtschaftliche Stärke lässt diesen Schluss allerdings nicht zu. Doch Russland verfügt über ein schlagkräftiges Militär und über Atomwaffen, die für die anderen Weltmächte die Kosten jeglicher militärischer Auseinandersetzung in die Höhe treiben. Russland will nicht mehr wie früher die Sowjetunion „Systemkonkurrenz“ zum „freien Westen“ aufbauen, sondern versucht seit 1991 eine kapitalistische Weltmacht zu werden. Das scheiterte regelmäßig daran, dass der Kapitalismus in Russland schlecht funktioniert. Es ist ein Scheitern im Kapitalismus am Kapitalismus. Die westliche Konkurrenz ist eindeutig stärker und hat nicht vor, ihren Vorsprung aufzugeben. Im Gegenteil: die westlichen Mächte bauen ihren Vorsprung immer weiter aus. Sie fluten den russischen Markt – mit China um die Wette – mit ihren Fertigwaren, sie nehmen Russland politische Verbündete und ökonomische Absatzmärkte weg und verweisen bei allen Protesten Russlands auf die Spielregeln, diebehaupteterweise – „neutral“ für alle gelten. Doch wann Ausnahmen davon möglich sind, entscheidet der Westen und nicht Russland. Was die Regel und was ein Verstoß dagegen sei, entscheiden diejenigen, die die Macht haben, die Regeln durchzusetzen, indem sie einen Verstoß sanktionieren können.
Russlands Kampfprogramm dagegen ist ein Versuch, mit der verbliebenen militärischen Stärke die Vorteile des Westens im Idealfall auszuhebeln. Die Kampfansage an die führenden kapitalistischen Mächte ist weder eine Kampfansage an den Kapitalismus, noch ein Versuch, irgendwelche neuen Spielregeln für die Weltmarktkonkurrenz durchzusetzen. Es ist ein ziemlich durchschaubares „cosplayen“ des Benehmens der NATO und der USA mit der einfach gestrickten Argumentation: „Wir dürfen es auch, weil wir auch Atommacht von Rang sind“.
Seinem Weltmachtanspruch möchte Russland auch dadurch Geltung verschaffen, dass es stets betont, nur mit den USA ernsthafte Verhandlungen zu führen und es die ukrainische Regierung ignoriert. Die komplette Absage des Status eines souveränen Subjekts Ukraine durch Russland ist auch eine Antwort auf die Be- und Abwertung Russlands als „Regionalmacht“ durch westliche Politiker.
Wer über „(legitime) russische Sicherheitsinteressen“ spricht, sollte sich im Klaren sein, was ein souveräner Staat unter Sicherheit versteht. Macht sich ein Staat durch Aufrüstung weniger angreifbar, so fühlen sich andere Staaten in ihrer Sicherheit bedroht. Gehen schwächere Verhandlungspartner mit stärkeren Weltmächten ein Bündnis ein, stiftet dies bei anderen „global playern“ Unruhe. Die Atommächte mögen es schon gar nicht, wenn andere Staaten ihrem Klub beitreten. Das verringert nämliche relativ ihre Möglichkeiten, Druck auszuüben, was die stärkeren Staaten in der Regel gegenüber anderen tun.
Das „Sicherheitsbedürfnis“ eines Staates spielt aber nicht nur in der militärischen Sphäre eine Rolle. Denn wer Handel mit anderen treibt, will auch die Bedingungen für diesen Handel festlegen, am liebsten allein. Dagegen stehen die oft entgegengesetzten Interessen im anderen Staat, der sich eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ verbittet. Diese Formulierung wirkt ziemlich naiv – denn was wäre die Diplomatie sonst als ein Versuch, politische Entscheidungen in anderen Staaten zu beeinflussen?
Die russische Regierung ließ nun 2022 zu den Waffen greifen und die Ukraine angreifen, aufgrund der Sorge, dass bei längerem Zögern das Drohpotential der Gegenseite nur wachsen und das eigene aufgrund ökonomischer Schwächung zumindest relativ schrumpfen würde. Anfang der 2000er, in der Zeit hohen Ölpreise, war Russland eine aufsteigende, heute ist es eine absteigende Macht. Die Antwort Putins ist: schwächere Verbündete des Westens so zu behandeln, wie der Westen „Schurkenstaaten“ behandelt.
Wenn von westlicher Seite vom „russischen Imperialismus“ die Rede ist, so ist damit jegliche Einmischung Russlands in die Politik anderen Staaten und vor allem gegenüber Anrainern gemeint. Dahinter steckt kein irgendwie theoretisch avancierter Begriff von „Imperialismus“. Das sieht man schon daran, dass die Einmischung des Westens, egal wo, prinzipiell nicht als Regelbruch, sondern als regelkonformes Wahrnehmen der eigenen legitimen Interessen wahrgenommen wird. Es gibt Linke, die den Begriff „Imperialismus“ ebenfalls so nutzen, dass ein militärischer Einmarsch von wem auch immer wohin auch immer so betitelt wird ohne weitere Analyse von Interessen und Machtpotenzial der Akteure. Nicht, dass die Gründe Nigerias bei den zahlreichen Interventionen in die benachbarten westafrikanischen Länder irgendwie sympathischer wären als die der USA in Irak, Afghanistan oder Libyen – aber es sind andere.
Der derzeit kursierende Plakatspruch „Es gibt nur einen Imperialismus – den gegen die Menschen“ bereichert die Analyse um keine richtige Erkenntnis. Die führenden kapitalistischen Mächte tragen heute selten Konflikte um Gebietsgewinne aus und versuchen nicht, verfeindete Staaten direkt ihrer Souveränität zu berauben. Sie diktieren vielmehr jene Verträge, die sie als Souverän mit anderem Souverän abschließen, aber zu ihren Bedingungen. So wollen sie die Souveränität anderer Staaten für die Interessen eigener Kapitale und für sich als Staat nützlich machen. Russlands Versuch die ukrainische Souveränität für die eigene Zwecke zu nutzen hat vorläufig nicht geklappt und nun kommt so eine „altmodische“ Methode, wie territoriale Zergliederung zum Einsatz.
Russland bleibt ein in der Konkurrenz unterlegener Staat, dessen Ressourcen die Kapitale der erfolgreicheren Mächte gerne nutzen würden. Russische Kriegsziele sind deswegen nicht „antiimperialistisch“. Die Invasion der Ukraine istRusslands Versuch, die vorhandenen Gewaltmittel dafür einzusetzen, die Rahmenbedingungen zu eigenen Gunsten zu ändern.Es ist richtig, keine der beiden Kriegsparteien zu unterstützen, für eine echte Position gegen den Krieg können die Unterschiede der Positionen und Praktiken der Kriegsparteien aber nicht ignoriert werden.
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Während die Weltöffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit den Krieg in der Ukraine verfolgt, sieht der türkische Diktator Erdogan die Chance auf einen neuen Einmarsch in Syrien. Hier in den selbstverwalteten Gebieten Nordost-Syriens laufen die Verteidigungsvorbereitungen auf Hochtouren. Und die Linke in Deutschland?
Mit einem Lappen wische ich das letzte Körnchen Staub von meinem Maschinengewehr. Blitzblank ist es nun, bereit, um die Menschen hier gegen einen erneuten Angriffskrieg Erdogans und seiner jihadistischen Banden zu verteidigen. Später sitze ich bei kurdischen Revolutionsliedern mit meinen Genossen von unserer internationalistischen Einheit am Feuer. Wir alle denken an die nächsten Tage. Ich weiß, dass er kommen wird, der Angriff. Erdogan braucht den Krieg. Er hat die Türkei in den letzten Jahren in eine tiefe ökonomische Krise getrieben und versucht nun mit seinem Krieg gegen Rojava davon abzulenken. Im Anschluss will er vorgezogene Wahlen abhalten und hofft durch den militärischen Sieg doch noch, an der Macht zu bleiben.
Vor knapp zehn Jahren entfaltete sich in Rojava eine Revolution auf Basis von Frauenbefreiung, Ökologie und Demokratie. Eine Region, in der heute Kurd*innen und Araber*innen mit allen anderen Völkern friedlich zusammenleben. Mit ihrem Modell der Selbstverwaltung durch Räte stellt die Revolution eine enorme Hoffnung für die Völker der Region, aber auch weltweit dar. Das war der Grund, warum ich mich vor mehren Jahren auf den Weg gemacht habe, mit den Menschen hier diese Errungenschaften zu verteidigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass nur ein System, in dem die vielen verschiedenen Völker gleichberechtigt zusammenleben und in dem Frauenbefreiung eine zentrale Säule darstellt, in dieser Region eine positive Veränderung bringen kann. Während die Kriegsrhetorik Erdogans jeden Tag lauter wird, treffen wir (YPG-Kämpfer*innen) alle nötigen Vorbereitungen für einen neuen Angriffskrieg durch die Türkei. Erdogan betreibt eine Art Kuhhandel: Für den Beitritt Schwedens und Finnlands in die NATO, fordert er grünes Licht für seinen Angriffskrieg.
Ich weiß, was auf dem Spiel steht. Die letzten Angriffskriege der Türkei gegen Nordost-Syrien 2016, 2018 und 2019 haben nicht nur viel Tod und Vertreibung gebracht, in den besetzten Gebieten wird bis heute täglich von Gräueltaten, durch die von der Türkei unterstützen Jihadisten berichtet. Viele von ihnen sind ehemalige IS oder Al-Nusra Kämpfer. Deswegen ist es auch keine Überraschung, dass die letzten beiden Anführer des IS sich dort versteckt hatten. Ich fühle auch die Verantwortung. Ich schätze mich glücklich, Teil dieser Revolution sein zu dürfen. Das heißt aber auch, dass ich für geselschaftlichen Wandel bereit bin, Verantwortung zu übernehmen. Eigene Schwächen zu überwinden. Und mit fester Überzeugung für die Werte Rojavas zu kämpfen. Ein gesellschaftlicher Aufbruch, der Menschen weltweit Hoffnung gibt, dass ein anderes Leben möglich ist. Doch dieser Angriff, so die türkische Propaganda, soll über die gesamte Grenzlänge einen 30 km tiefe Zone besetzen. Das wäre das Ende Rojavas.
Ich frage mich, was die Linke in Deutschland machen wird? Während auf die letzten beiden Angriffskriege mit ein paar kleineren Demonstrationen und Aktionen reagiert wurde, konnte sie den Krieg nicht verhindern. Jetzt aber geht es um die Frage des Fortbestehens der Revolution. Um Sein oder Nicht-Sein. Eine internationalistische Revolution muss international verteidigt werden. Daher kann ich in diesem Moment, kurz vor dem Sturm, nur an alle appellieren, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden. Was werdet ihr im Falle einer Niederlage dieses einmaligen gesellschaftlichen Aufbruchs hier, der zukünftigen Generation erzählen?
Und wenn sich viele fragen, was sie eigentlich Rojava interessieren soll? Liegt doch in Syrien. Ist weit weg. Dann kann ich nur antworten: Rojava zeigt allen von uns, dass eine andere Welt möglich ist. Schon allein die Hoffnung, die von der Existenz dieser Revolution ausgeht, gibt Menschen weltweit enorme Kraft und Stärke.
Ich habe mir geschworen, dem Faschismus keinen Fußbreit kampflos zu überlassen. Weder dem deutschen, dem türkischen, noch dem des IS. Mir ist aber auch klar, dass wir ihn nur gemeinsam besiegen können. Ich schultere meine Waffe, um mich dann an den Ort zu begeben, an dem ich in den kommenden Tagen den Vormarsch des Feindes erwarten werde. Dabei frage ich mich, was wirst du machen, wenn der türkische Einmarsch gegen Rojava beginnt?
Interview mit Peter Egger, Mitglied des Bund der Kommunist:innen, über Folklore am Arbeiter*innenkampftag, den DGB auf der Revolutionären-1.-Mai-Demo und die Notwendigkeit, die Systemfrage zu stellen. Das Gespräch führte Casia Strachna
Die Türkei führt seit Tagen erneut eine großangelegte Militäroperation gegen die befreiten Gebiete der Selbstverwaltung in Nord-Ost-Syrien und Rojava. Zur […]
Imperialismus – kaum ein Schlagwort wird so sinnentleert benutzt wie dieses. Während aktuell von westlichen Regierungen der „russische Imperialismus“, gemeint […]