GET POST FORMAT

Race- und Klassenfragen sind zwar verschränkt, sollten aber auch unabhängig voneinander betrachtet werden. Vor dem Hintergrund der jüngst intensiv geführten identitätspolitischen Kontroversen wird folgend anhand a) der Debatten um Haupt- und Nebenwidersprüche und des neuen Buches von Sahra Wagenknecht; b) eines Vergleichs zwischen versklavten Schwarzen auf den US-amerikanischen Plantagen und weißen britischen TextilarbeiterInnen des 19. Jahrhunderts; c) der Rolle des euro-amerikanischen Kolonialismus, Imperialismus und ihren nichtweißen NutznießerInnen und KollaborateurInnen sowie d) den jetzigen Arbeitsbeziehungen und sozioökonomischen Verhältnissen im Kapitalismus diskutiert

Zahlreiche liberale und politisch rechts zu verortende JournalistInnen und AkademikerInnen bedienten sich zuletzt – v.a. unter dem Deckmantel des liberalen Universalismus – der zum Kampfbegriff avancierten Schablone „linker Identitätspolitik“. Meistens, um ihre Ignoranz oder Gleichgültigkeit gegenüber institutioneller Diskriminierung und Formen der Unterdrückung, die aus sozialer Ungleichheit, Rassismus und patriarchalen Strukturen resultieren, unverblümt zur Schau zu stellen. Unter Missachtung der bestehenden Faktenlage, bagatellisieren sie die Existenz von strukturellem Rassismus, rassistischen Morddrohungen, physischer Gewalt gegen und die Ermordung von People of Color (PoC), Frauen, LGBTQ+ Personen, Obdachlosen und AntifaschistInnen. Zusätzlich erkennen sie die Notwendigkeit von geschützten Räumen sowie sozialer Mobilität für diskriminierte Gruppen und subalterne Klassen nicht an. Stattdessen beschwören sie die vermeintlichen Gefahren der „woken Cancel Culture“, der „feministischen Sprachpolizei“ und der gefährlich überbordenden „PoC-Mobs“.

Auch in linken Kreisen gab es in den letzten Jahren vermehrt hitzige Debatten darüber, ob Klassen- gegenüber Race– und/oder Geschlechterfragen der Vorrang eingeräumt werden sollten. Orthodoxe Linke vertreten nicht selten die Meinung, dass die Kategorie der Klasse den Hauptwiderspruch darstellen würde, da sie über Partikularinteressen und unterschiedliche Identitätsgruppen hinausgehe. Heterodoxe Linke hingegen messen Race– und Geschlechterfragen oftmals die größere Bedeutung bei und lehnen die Vorstellung ab, dass diese Kategorien lediglich Nebenwidersprüche seien.

Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für die Gegenüberstellung von Klasse und Race/Herkunft ist in Sahra Wagenknechts jüngst erschienenem Buch Die Selbstgerechten (2021) zu finden. Darin wettert sie gegen die linksliberale „Lifestyle-Linke“, deren Identitätspolitik angeblich darauf hinausläuft, „das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden.“ (S. 102). Gleichzeitig bleibt sie selbst jedoch ebenfalls der Identitätspolitik verhaftet ohne es aber als solche kenntlich zu machen. Sie stellt nämlich einer nicht klar definierten Gemeinschaft – die v.a. daraus besteht, dass sie deutsche Kultur, Bräuche und Traditionen vertritt – Menschen gegenüber, die „nicht dazugehören“. Linksidentitär wird es besonders dann, wenn sie die eher bildungsfernen Unterschichten (mit deutschem Pass oder zumindest gesichertem Aufenthaltsstatus), deren Interessen sie vorgibt zu vertreten, den gebildeten „Lifestyle-Linken“ sowie „Zuwanderern“ (ohne dauerhaften/gesicherten Aufenthaltsstatus) gegenüberstellt. In der Tat ruft sie dazu auf, die Interessen der einheimischen Geringverdienenden als das wesentliche Grundproblem zu betrachten. Sie behauptet aber, dass dies nur möglich wäre, wenn die Einwanderung begrenzt werden würde, da Migration maßgeblich für das Lohndumping verantwortlich sei. Die Bedürfnisse und Kämpfe von MigrantInnen und Geflüchteten werden dadurch zu einem Sekundarproblem degradiert. Für Wagenknecht sind letztere scheinbar nur Zahlen, deren Anstieg eingeschränkt werden müsse, um die ihrer Meinung nach berechtigten Ängste vor der Immigration und den wirtschaftlichen Folgen für die deutsche Kerngemeinschaft zu minimieren. Die „Zuwanderer“ wären ohnehin in ihren Heimatländern besser aufgehoben, ohne dass Wagenknecht dabei auch nur den geringsten Anschein macht sich in diese Menschen hineinzuversetzen, um ihre konkreten Flucht- und Auswanderungsmotive besser verstehen zu können. Ihr Verständnis für besorgte BürgerInnen einerseits und die Empathielosigkeit gegenüber in Deutschland lebenden Geflüchteten und MigrantInnen (insbesondere denjenigen, die nicht aufgrund von politischer Verfolgung oder Kriegen geflohen sind) andererseits sind jedenfalls frappierend. Ferner ist es – selbst aus einer einigermaßen progressiven sozialdemokratischen Logik heraus – äußerst problematisch, dass sie denkt, es sei angemessener die Einwanderung einzudämmen und politisch praktikabler die Fluchtursachen zu bekämpfen als gesetzlich höhere Löhne flächendeckend durchzusetzen, von denen ja schließlich alle Arbeitenden in Deutschland bis zu einem gewissen Grad profitieren würden.

Die Beziehungen zwischen Klasse, Race und Geschlecht sind auf jeden Fall weitaus komplizierter, komplexer und dynamischer, als es eine einfache Gegenüberstellung darzulegen vermag, und hängen darüber hinaus zu einem entscheidenden Maße vom spezifischen räumlich-zeitlichen Kontext ab, in dem sie Verwendung finden. Es wäre daher vielleicht lehrreich einen historischen Exkurs vorzunehmen und einen vergleichenden Blick auf zwei der am meisten ausgebeuteten Gruppen der atlantischen Welt vom späten 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu werfen: die versklavten schwarzen ArbeiterInnen der amerikanischen Plantagenwirtschaft und die LohnarbeiterInnen der englischen Textilfabriken. Versklavte Menschen wurden zunächst zu Eigentum degradiert und der Verkauf an europäische SklavenhalterInnen setzte sie einer Ware gleich. Im Anschluss daran wurden sie zu elementaren Bestandteilen der Produktivkräfte von PlantagenbesitzerInnen. In Zeiten hohen Arbeitskräftebedarfs und geringen SklavInnennangebots war ihr Leben im monetären Sinne wertvoller als das vieler mittelloser, weißer LohnarbeiterInnen. Während Versklavte im 19. Jahrhundert oft versichert waren (ähnlich wie andere Kapitalanlagen) und genug zu essen hatten, um nicht zu verhungern, waren sie gesetzlich gesprochen tot, d.h. vollkommen rechtlos und daher horrender physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt, von der weiße ArbeiterInnen i.d.R. verschont blieben.

Im Gegensatz dazu war es nicht ungewöhnlich, dass die, auch als „LohnsklavInnen“ bezeichneten, ArbeiterInnen der frühen Industrialisierungsphase Großbritanniens, v.a. Frauen und Kinder, länger arbeiten mussten und auch häufiger an Unterernährung starben als ihre de facto und de jure versklavten amerikanischen Pendants jener Zeit. Gleichzeitig waren weiße, britische Männer (und in begrenztem Maße auch Frauen) rechtlich freie Personen, die – zumindest theoretisch – ihre Arbeitskraft verkaufen konnten, an wen sie wollten. Eines ist allerdings klar: Im 19. Jahrhundert wurden sowohl den meisten karibischen und US-amerikanischen Versklavten als auch den britischen LohnarbeiterInnen grundlegende Rechte verwehrt. Trotz offensichtlicher Unterschiede hatten versklavte Menschen im US-amerikanischen Süden und „LohnsklavInnen“ in den Baumwollspinnereien von Lancashire mehr gemeinsam als mit den einheimischen Eliten, weißen HerrInnen und Kapitalisten, die sie beherrschten, unterdrückten und, wie im Falle der Sklaventreiber, verkauften.

Zur gleichen Zeit gab es – obwohl die überwiegende Mehrheit der PlantagenbesitzerInnen weiß waren – auch freie PoC (gens de couleur libres) und schwarze Sklavenhalter in der Karibik, wie zum Beispiel im späten 18. Jahrhundert auf Saint-Domingue (heute Haiti). Westafrikanische Eliten erzielten ebenfalls hohe Gewinne durch den Verkauf versklavter Menschen an europäische Sklavenhändler. Unumstritten ist jedoch, dass Euro-AmerikanerInnen zu den unangefochtenen HerrscherInnen des globalen 19. Jahrhunderts avancierten und ganze Erdteile durch koloniale Unterwerfung gewaltsam ausbeuteten. Wichtige Teile der zwischen dem 16. und 21. Jahrhundert akkumulierten euro-amerikanischen Reichtümer entsprangen der Anwendung roher Gewalt; der Versklavung von 12 Millionen AfrikanerInnen während des transatlantischen Sklavenhandels, der Ausrottung indigener Völker, der kolonialen Ausbeutung von Arbeitskräften und Ressourcen sowie aus neokolonialen Kriegen. Obwohl Regime-Change-Operationen in Ländern wie Afghanistan (seit 2001), Irak (2003-2011), Libyen (2011) und Mali (2013) die Staatsverschuldung in die Höhe trieben, generierten sie gleichzeitig enorme Profite für den militärisch-industriellen-Komplex, v.a. in den USA.

Parallel dazu machten asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Königshäuser, Adlige, Politiker, Kapitalisten und andere Eliten, einschließlich der „Kompradoren-Bourgeoisien“, zur selben Zeit ein Vermögen durch Steuererhebung, Handel, Produktion, den Verkauf von natürlichen Ressourcen und die Umwandlung von Menschen in Eigentum. Sie lebten ein bequemes und luxuriöses Leben auf Kosten ihrer überwiegend armen und unterdrückten Untertanen. Darüber sollte ferner nicht vergessen werden, dass die Kolonisierung und imperialistische Ausbeutung Indiens, Westasiens, Afrikas und Lateinamerikas auch durch die Zusammenarbeit mit den lokalen euro-amerikanischen KollaborateurInnen ermöglicht wurde.

Nun zurück zur Gegenwart. Heute besteht ein überproportional großer Anteil der „gering qualifizierten“ euro-amerikanischen ArbeiterInnen aus Nichtweißen und Geflüchteten. Sie arbeiten auf Baustellen, als zeitlich befristete landwirtschaftliche LohnarbeiterInnen, in Geschäften und Supermärkten, als Pflegekräfte, KrankenpflegerInnen, Reinigungskräfte, im Transportwesen und Lieferservice, in Fabriken und in der Fleisch- und Lagerindustrie. Sie bilden den Löwenanteil der „essentiellen Arbeitskräfte“. Obwohl sie unentbehrlich sind, so sind sie doch austauschbar und obendrein gehören sie zu den mit am schwersten von der grassierenden Covid-19-Pandemie Betroffenen. Viele dieser ArbeiterInnen, die in prekären Arbeitsverhältnissen schuften und trotz zunehmender Arbeitszeiten kaum über die Runden kommen, veranschaulichen die Überschneidungen von Klasse und Race/Herkunft.

Abgesehen von den Niedriglöhnen wird ein großer Anteil der „essentiellen Arbeitskräfte“ massiv überwacht und erniedrigt. So riskieren Amazon-Angestellte beispielsweise ihre Anstellung, wenn sie Pausen einlegen um auf die Toilette zu gehen, während migrantische Zeitarbeitskräfte, die in der Landwirtschaft oder der Fleischindustrie arbeiten, in besonders miserablen und überfüllten Wohnverhältnissen leben müssen. Demnach ist es kaum verwunderlich, dass Amazon im Dezember 2020 einen Landkreis in Alabama (USA) dazu veranlasste, die Ampelschaltung vor ihrem Warenhaus so zu verändern, dass gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen nicht mehr genug Zeit hatten andere ArbeiterInnen anzuwerben, während sie an der Ampel warteten.

Selbst (oder sollte man nicht viel eher sagen gerade) in einem so wohlhabenden Land wie Deutschland arbeiten über 20% der Beschäftigten im Niedriglohnsektor – davon etwa 40% MigrantInnen und PoC. „Hochqualifizierte“ ArbeitnehmerInnen sind allerdings ebenso von der allgegenwärtigen Sparpolitik betroffen, die im Laufe der letzten 40 Jahre immer stärker um sich gegriffen hat. Es ist keine Ausnahme, dass ein/e angehende/r PsychotherapeutIn nach sechs Jahren Studium, während der Ausbildung ca. 240€ im Monat verdient und Lehrbeauftragte an Universitäten und Hochschulen einen Stundenlohn von etwa 20€ und oftmals sogar nur 3€ beziehen (ohne Zulagen für Vor- und Nachbereitungen der Seminare). Auch in den USA sind außerordentliche Dozierende auf dem Vormarsch und machen ca. 75% der akademischen Belegschaft aus. Sie erhalten zwischen 20.000$ und 25.000$ pro Jahr und müssen ihr Einkommen nicht selten durch Nebentätigkeiten aufstocken, um überleben zu können.

Gleichzeitig gibt es sowohl im „Globalen Norden“ als auch im „Globalen Süden“ eine verhältnismäßig kleine, aber dennoch beachtliche Anzahl von gutsituierten PoC der Mittel- und Oberschicht. Ihnen geht es wirtschaftlich besser als großen Teilen der weißen ArbeiterInnenklasse Euro-Amerikas, die zunehmend der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind, v.a. seitdem die industrielle Produktion verstärkt nach Asien ausgelagert wurde. Darüber hinaus zeigen der wirtschaftliche Aufstieg und die Kapitalinvestitionen Japans, Südkoreas, Chinas, Indiens, der Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabiens in den USA, Europa, Lateinamerika und Afrika, dass die Antagonismen zwischen der „entwickelten“ und der „sich entwickelnden“ Welt nur eine Seite der Medaille aufzuzeigen vermag. In diesem spezifischen Zusammenhang ist die Aussage des Historikers C.L.R. James aus dem Jahr 1938 erwähnenswert – auch wenn er m. E. das Ausmaß von Rassifizierungsprozessen wohl deutlich unterschätzte: „In der Politik ist die Racefrage der Klassenfrage untergeordnet, und den Imperialismus [ausschließlich] in Race-Begriffen zu denken, ist verhängnisvoll. Aber den Racefaktor als bloße Nebensächlichkeit zu vernachlässigen, ist ein Fehler, der nur weniger schwer wiegt, als ihn zum wesentlichen Moment zu erklären.“

Bis zu einem gewissen Grad werden als weiß gelesene Non-Citizens (d.h. „AusländerInnen“ oder geflüchtete Menschen ohne Bürgerrechte) aus den Peripherien (z.B. Osteuropa und Südamerika) stärker diskriminiert als nichtweiße StaatsbürgerInnen, einschließlich schwarzer und anderer nichtweißer Menschen mit Pässen aus den USA oder europäischen Staaten. Diese weiß gelesenen ImmigrantInnen sind mehr oder weniger Teil der überwiegend nichtweißen und immer weiter ansteigenden globalen Reservearmee illegalisierter Arbeitskräfte. Im Jahr 2020 betrug die Zahl der Zwangsvertriebenen weltweit über 80 Millionen Menschen. Im Westen schuften Geflüchtete beispielsweise auf Baustellen oder als ZwangsarbeiterInnen (z.B. in der Prostitution) und werden, falls ihnen der ohnehin schon dürftige Arbeitslohn nicht vorenthalten wird, meistens mit Hungerlöhnen abgespeist. Um ein anderes Beispiel zu nennen: in Frankreich vermieten einige von Lohnkürzungen betroffene Fahrradkuriere multinationaler Essenslieferketten wie Uber Eats und Deliveroo ihre Arbeits-App-Accounts an „illegale“ Geflüchtete, die nicht selten noch minderjährig sind. Im Gegenzug erhalten sie 30 bis 50% der auf Stücklohn beruhenden Lieferserviceerträge.

Auf der anderen Seite sind jene nichtweißen euro-amerikanischen Minderheiten, die ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht besitzen – auch wenn sie wohlhabend und hochqualifiziert sind – derzeit immer öfter faschistischen Mobs, rassistischer Gewalt und Terrorismus ausgesetzt. Seit Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten, wurden sie zudem Opfer heftiger Polizeigewalt, systematischem Racial Profiling und struktureller Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt; eine Normalität, die weißen euro-amerikanischen Bevölkerungsgruppen heutzutage zumeist erspart bleibt. Tatsächlich laufen schwarze Menschen in den USA permanent Gefahr, von der Polizei verhaftet oder getötet zu werden, mehr oder weniger unabhängig von ihrem Status und Einkommen (wobei Geld und Macht sicherlich dazu beitragen, diese Gefahren zu mindern).

Die verschiedenen globalen Nationalbourgeoisien haben oft ähnliche Interessen. Abgesehen von den „ArbeiterInnenaristokratien“ gilt dies auch für weite Teile der internationalen ArbeiterInnenklasse. Daher ist Solidarität unter PoC kein Wert an sich, sondern hängt sehr stark vom jeweiligen Kontext ab. In der Tat sind, könnten und sollten weiße Menschen aus der ArbeiterInnenklasse als potentielle Verbündete für alle Arten von emanzipatorischen Bewegungen betrachtet werden, vorausgesetzt, sie sind nicht rassistisch, frauenfeindlich usw. und auch zur Kooperation bereit. Im Gegensatz dazu versteht es sich von selbst, dass nichtweiße KriegsverbrecherInnen, Diktatoren, autoritäre HerrscherInnen und kapitalistische MilliardärInnen – die sich allesamt auf Kosten ihrer ausgebeuteten und unterdrückten Bevölkerungen und ArbeiterInnen bereichern und ermächtigen – niemals Teil einer genuin progressiven Allianz sein können.

Kurz gesagt, das Verstehen der tiefgreifenden Beziehung zwischen Race, Klasse und Geschlecht ist ein kompliziertes Unterfangen. Obwohl diese Kategorien in einem Netz intersektionaler Beziehungen miteinander verwoben sind, sollten sie ebenso unabhängig voneinander, d.h. aus sich selbst heraus verstanden werden. Einerseits scheint es unwahrscheinlich, dass die Rassifizierung und strukturelle Diskriminierung schwarzer und anderer nichtweißer Menschen signifikant abnehmen wird, solange die gegenwärtigen kapitalistischen sozioökonomischen Strukturen und Herrschaftsverhältnisse bestehen bleiben. Andererseits führen Empowerment und die Verbesserung der Lebensbedingungen von PoC nicht automatisch zu weniger Rassismus, da rassistische Ideologien nicht auf rein materialistischer Basis erklärt werden können. Gleichzeitig können sich die unterprivilegierten Klassen in der „entwickelten Welt“ nicht nachhaltig emanzipieren, wenn die Mehrzahl der Menschen auf unserem Planeten in Fesseln lebt. Karl Marx brachte 1866 dieses dialektische Verhältnis von Klasse und Race prägnant auf den Punkt, als er schrieb: „Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird.“

# Titelbild: Sowjetisch-chinesisches Propagandaplakat zur Stärkung der Kooperation der beiden Staaten, Ausschnitt

GET POST FORMAT

Man stelle sich folgendes vor. Boris Palmer, Rechtsausleger und Enfant terrible der Partei Bündnis 90/Die Grünen, wird an einem Wochenende im Frühjahr 2021 vom Landesverband Baden-Württemberg seiner Partei auf Platz eins der Landesliste für die Bundestagswahl gesetzt. Am selben Wochenende sitzt der Bundesvorstand der Grünen zusammen und verabschiedet den Programmentwurf für die bevorstehende Wahl, den die Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck am Montag darauf der Öffentlichkeit präsentieren. Genau an diesem Tag erscheint in der Zeit ein Namensbeitrag von Palmer, in dem er die Thesen seines neuen, zwei Tage später erscheinenden Buches „Die Öko-Spinner“ wiederkäut. Hauptthese des Buches: Die Grünen hätten sich in weiten Teilen von ihrer Klientel entfernt und kämpften nur noch pro forma für Klima- und Umweltschutz.

Es dürfte klar sein, auf welchen Vorgang diese Sätze anspielen. Was in diesem Beispiel durchexerziert wurde, widerfuhr fast genauso der Partei Die Linke. Am zweiten Aprilwochenende setzte die Aufstellungsversammlung des größten Linke-Landesverbandes, Nordrhein-Westfalen, Sahra Wagenknecht auf den ersten Listenplatz für die Bundestageswahl – wenn auch nur mit der dürftigen Mehrheit von 61 Prozent. Am selben Tag feilte der Bundesvorstand der Partei am Programm für die Bundestagswahl, das die neuen Parteichefinnen, Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, am Montag darauf bei einer Online-Pressekonferenz vorstellten. Eben an diesem Tag erschien ein Beitrag von Wagenknecht in der FAZ, in dem sie Thesen ihres zwei Tage später erscheinenden Buches „Die Selbstgerechten“ wiederkäute. Kernthese des Buches: Die Linke und damit auch die Partei habe sich in weiten Teilen von den „kleinen Leuten“, den Arbeitern und sozial Benachteiligten abgewandt und beschäftige sich lieber mit Identitätspolitik.

Eigentlich sollte man als radikaler Linker Wagenknechts Machwerk rechts liegen lassen und nicht noch durch einen Textbeitrag aufwerten. Aber das Buch und vor allem die Debatte darüber entfalten fraglos politische Wirkung. Daher lässt es sich nicht ganz vermeiden, sich zu dem Vorgang ein paar Gedanken zu machen und diese zu verschriftlichten. Zumal sich hier mal wieder einiges über Dynamiken in einer spätkapitalistischen Gesellschaft lernen lässt. Vor allem über die Grenzen, auf die linke Parteien oder solche, die sich als links verstehen, in parlamentarischen Systemen zwangsläufig stoßen. Und auch darüber, zu welchen Illusionen und Fehleinschätzungen es führt, wenn man sich dieser Grenzen nicht bewusst ist.

Zu den Inhalten des Buches soll hier nicht mehr gesagt werden als nötig, zumal sich jeder und jede mittlerweile anhand der bekannt gewordenen Textproben selbst ein Bild machen kann. Daher sei hier lediglich die Einordnung von Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, zitiert, die in einem ebenso klugen wie sachlich-nüchternen Kommentar in junge Welt das Wesentliche zu dem Geschreibsel gesagt hat. Wagenknechts „Furor“, schreibt Jelpke, richte sich gegen eine „Lifestyle-Linke“ innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Partei, die die soziale Frage zugunsten von „Identitätspolitik“ aus dem Blick verloren habe. Diese trage mit „linksliberalen Kulturkämpfen zur Spaltung und Polarisierung unserer Gesellschaft mindestens in gleichem Maße bei wie die Hetzreden der Rechten“.

Zurecht weist Jelpke darauf hin, dass es natürlich auch eine jeder sozialen Programmatik entkleidete Identitätspolitik gebe, „die der Vernebelung neoliberaler Herrschaft dient“, so bei den deutschen Grünen oder der US-Administration unter Joseph Biden. Doch Wagenknecht behaupte pauschal, Identitätspolitik laufe darauf hinaus, „das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identitäten jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein“. Damit negiere sie einerseits reale Erfahrungen und Strukturen von gesellschaftlicher Unterdrückung wie Rassismus oder Sexismus. Und sie unterstelle andererseits den Betroffenen und damit indirekt auch Bewegungen wie „Black Lives Matter“ oder „Me Too“, aus einer „Marotte“ persönlichen Profit schlagen zu wollen, so Jelpke.

Die Linke-Politikerin stellt völlig zutreffend fest, dass Wagenknecht weit entfernt ist von einer antikapitalistischen Politik. Ihre Unterscheidung der Motivation „echter Unternehmer“, die Firmen aufbauen, von derjenigen von „Kapitalisten“, die nur Rendite sehen wollen, sei nichts anderes als die alte Mär vom schaffenden und raffenden Kapital. Wer in einer tief gespaltenen Klassengesellschaft, so Jelpke, „gemeinsame Werte und Bindungen“ oder gar „Leitkultur“ als Voraussetzung für „Gemeinsinn und Zusammenhalt“ einfordert wie Wagenknecht, anstatt die Eigentumsverhältnisse grundlegend verändern zu wollen, vernebele damit die tatsächlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse.

Wagenknechts Thesen werden nicht zufällig von rechts bejubelt, von AfD-Politkern und neoliberalen Hetzern wie dem Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt, denn ihr Buch ist eine Steilvorlage für alle Rechten und Rassisten. Frei nach dem Motto: Haben wir ja immer gesagt! Viele Äußerungen in ihrem Buch sind so haarsträubend, dass man als vernunftbegabter Leser nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. So gibt sie allen Ernstes den 68ern, die sie pauschal als „wohlhabende Bürgerkinder“ bezeichnet, die Schuld daran, dass die SPD sich von ihren einstigen Idealen und der Arbeiterschaft entfernt hat.

Der „Angriff der neuen Bewegung“ habe nicht nur „dem rechten und erzkonservativen Milieu“ gegolten, sondern sich auch gerichtet, heißt es im Buch, „gegen den gesamten Wertekanon von „Maß und Mitte” und gegen die damalige Gesellschaft, die immerhin den Arbeitern mehr Rechte, Konsummöglichkeiten und Aufstiegsoptionen eröffnet hatte, als sie jemals zuvor gehabt haben“. Das ist genauso verdreht, wie Wagenknechts Hypothese, Fridays for Future habe Klimaschutzziele „nicht etwa populärer gemacht, sondern sie werden heute von weniger Menschen unterstützt als über all die Jahre zuvor“. Hier scheint die Autorin nach der Devise „Frisch behauptet ist halb bewiesen!“ vorzugehen.

Am verheerendsten von all ihren absurden Behauptungen ist aber die – hier nicht zum ersten Mal geäußerte – These, die Migranten seien an der Ausweitung des Niedriglohnsektors im Lande schuld. Sie schreibt: „Dass die Löhne allerdings in vielen Branchen um bis zu 20 Prozent sanken und selbst ein jahrelang anhaltendes Wirtschaftswachstum daran nichts ändern konnte, das war allein wegen der hohen Migration nach Deutschland möglich. Denn nur sie stellte sicher, dass die Unternehmen die Arbeitsplätze zu den niedrigen Löhnen unverändert besetzen konnten.” Das ist immer noch nichts als Hetze gegen Geflüchtete, weil es am Ende immer darauf hinausläuft, den rechten Glaubenssatz zu bestätigen: „Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg.“

Darum ist die Debatte darüber, ob Wagenknecht eine Rassistin ist oder nicht, müßig. Sie gibt den Herrschenden und ihren faschistischen und protofaschistischen Knechten mit ihrem Buch und ihren Auftritten in den Medien reichlich Futter – im Ergebnis stärkt sie damit die Rechte und schwächt die Linke. Wagenknecht hat sich längst auf die Seite der Herrschenden geschlagen. Sie sitzt in aller Selbstgefälligkeit in einer Talkshow nach der anderen, um ihr Buch zu bewerben und ihre grotesken Thesen breit zu treten. Sie schreibt für die FAZ, das Mitteilungsblatt des Kapitals, und entblödet sich dabei nicht, das ausgelutschte Klischee von der „Zigeunersauce“ zu bemühen. Sie lässt sich instrumentalisieren als Rammbock gegen ihre eigene Partei und das in einem Moment, in dem ihre Partei mit einem neuen Führungsduo in den Wahlkampf startet. „Die Frau ist so was von angekommen im System“, hieß es bereits im November 2019 an dieser Stelle über Sahra Wagenknecht und daran hat sich nichts geändert.

Für alle, die in der Linkspartei auf eine Regierungsbeteiligung schielen, sollte der Vorgang eine Lehre sein. Die Causa Wagenknecht zeigt in wünschenswerter Deutlichkeit, wer in dieser Gesellschaft die Ansagen macht und wie leicht die öffentliche Meinung zu manipulieren ist. Die Konzernmedien und die nicht weniger gleichgeschalteten öffentlich-rechtlichen jubeln hoch, wen immer sie wollen, und sei es eine in ihrer Eitelkeit gekränkte Diva, die an den Widersachern in ihrer Partei ihr Mütchen kühlt. Der Vorgang zeigt vor allem auch, dass eine linke Partei, die wirklich etwas verändern wollte, schnell an die Kandare genommen wird. Entweder sie tanzt nach der Pfeife der Herrschenden oder sie ist raus.

# Titelbild: Sahra Wagenknecht in Soest, 2009, Attribution-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-ND 2.0)

GET POST FORMAT

Dieser Text ist ein Versuch, verschiedene linke Positionen und Kritiken zum Thema Identitätspolitik zu diskutieren. Es ist weniger ein Text für oder gegen Identitätspolitik, als vielmehr ein Schritt, Missverständnisse und falsche Annäherungen an das Thema aus dem Weg zu schaffen, damit die Debatte sich nicht mehr ständig im Kreis dreht. Durch eine antikapitalistische, antirassistische und feministische Linse sollen einige Grundlagen bestimmt werden, auf der Basis dessen zukünftig vielleicht sinnvoller darüber diskutiert werden kann, inwiefern Identitätspolitik für linke Kämpfe brauchbar oder unbrauchbar ist.

Während sich viele in letzter Zeit auch um differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema bemühen, scheint es in linken Kontexten bezüglich dieser Frage grob betrachtet zwei dominante Pole zu geben, und um es vorweg zu nehmen: Beide enthalten einige problematische und verkürzte Sichtweisen, die aus dem Weg geräumt werden müssen, damit wir in unserer Praxis weiterkommen. Die eine Seite besteht wohlgemerkt zu gefühlt 90 Prozent aus Männern mittleren Alters. Manchmal sind sie links, in dem Fall lautet ihr Argument in etwa so: Leute wollen nur ein bisschen rumopfern, spalten die Linke und lenken mit ihrem Identitätsgelaber vom Klassenkampf ab. Dem anderen Pol liegt der Irrglaube zugrunde, dass bestimmten Identitäten schon an und für sich irgendwas „Radikales“ innewohnen würde. Das kann im Fall von Deutschland gelegentlich mal dazu führen, dass in Kontexten antirassistischer Arbeit türkische Faschos gepusht werden, weil „die sind ja PoC“ und alles andere (wie zum Beispiel linke politische Grundhaltung oder Rückgrat zu besitzen) ist dann nicht mehr von Belang.

Bei genauerer Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen Positionen und Kritiken lassen sich jedoch trotzdem einige gemeinsame Grundlagen bestimmen, auf deren Basis wir linke Praxis weiterdenken und weiterbringen könnten.

Zunächst zu denjenigen, die sich über Identitätspolitik aufregen, weil sie um die „Einheit“ der Linken bangen: Linke sind und waren nie eine starre Einheit, die nun erst durch „sektiererische“ Identitätspolitik zu zerbrechen droht. Im Gegenteil bestanden Spaltungen innerhalb der Linken eigentlich schon immer und zwar mitunteranderem auch darin, dass z.B. Frauen, Migrant*innen, Schwarze Menschen, PoC, queere Menschen, Geflüchtete usw. in vielen linken Strukturen jahrzehntelang ausgeschlossen, rausgemobbt, ignoriert, mundtot gemacht, belächelt oder nicht ernst genommen wurden. Hier stellt sich die Frage: Was genau wird hier „gespalten“, was genau wird hier gestört? Ist es wirklich „die Linke“ oder vielleicht doch einfach ein gemütlicher Status Quo, in welchem niemand über Macht, Mackertum und übers Kartoffelsein nachdenken musste? So betrachtet stand hinter Identitätspolitik ursprünglich ein sehr simpler Grundgedanke. Wenn es z. B. um internationalistische antifaschistische Kämpfe geht, ist es nicht in Ordnung, dass nur weiße Männer zu Wort kommen und dass über die Köpfe von Betroffenen hinweg gearbeitet wird – bis hierhin sind wir uns doch bestimmt alle erstmal einig. Diese Grundidee ist vielleicht auch gar nicht das Problem – das Problem ist vielleicht viel eher, was heute aus Identitätspolitik gemacht wird, aber dazu später.

Davor noch zurück zur Annahme, Identitätspolitik würde vom Klassenkampf ablenken: Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, unseren Begriff von Klasse zu hinterfragen bzw. weiterzudenken. Denn wenn wir von der unterdrückten Klasse sprechen, sollten alle ausgebeuteten Gruppen gemeint sein. Arbeiter*innen, Menschen im globalen Süden, rassifizierte Menschen, (ehemals) Kolonisierte, Frauen usw. wurden im Laufe der Geschichte systematisch unterworfen und in einen Zustand der Gewalt und Ausbeutung gedrängt. Sie müssen in diesen Klassenbegriff aufgenommen werden, ohne dass ihre Unterdrückung als bloßer Nebenwiderspruch behandelt wird. Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus und Patriarchat gingen historisch gesehen Hand in Hand und diese Tatsache müssen wir in unsere Praxis einbetten. Wenn diese Praxis „von unten“ wachsen soll, muss denjenigen Platz gemacht werden, die am meisten unter diesen Unterdrückungssystemen leiden und gelitten haben. Das heißt nicht, dass bestimmte Identitäten glorifiziert und mit Allwissenheit assoziiert werden. Wie wir wissen, können Leute diskriminiert und unterdrückt werden, aber trotzdem scheiße sein: So gibt es z.B. weibliche Cops, korrupte Politiker*innen of Color oder queere Menschen, die rassistisch sein können. Es geht hier aber vielmehr darum, dass diejenigen, die am meisten unter dem System leiden und vielleicht genau deshalb potenziell die radikalsten Bekämpfer*innen des Systems sein könnten, sich endlich Raum nehmen müssen, der ihnen vorher versperrt wurde.

Das Combahee River Collective, ein Kollektiv Schwarzer Feministinnen, formulierte es 1977 in seinem Statement folgendermaßen: „Wir glauben, dass eine tiefgehende und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht“. Die Idee, die eigene Identität für den politischen Kampf hervorzuheben, entstand für das Kollektiv aus der Erkenntnis heraus, dass „keine andere vermeintlich progressive Bewegung unsere spezielle Unterdrückung jemals als Priorität gesehen hat oder sich ernsthaft damit beschäftigt hätte, sie zu beenden“ [aus Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Unrast, 2019. S. 53). Und genau das trifft auf viele marginalisierte und diskriminierte Menschen zu, die aus linken Kontexten immer wieder ausgeschlossen oder nur geduldet wurden, solange sie ihre spezifische Unterdrückung nicht zum Thema machten. Kein Wunder also, dass heute so ein starkes Bedürfnis danach besteht, sich durch kollektive Identitätsbildung selbst zu ermächtigen und so einen würdigen Platz im Kampf gegen das System einzunehmen.

An diesem Punkt scheinen heute jedoch sowohl viele Kritiker*innen als auch Befürworter*innen das Konzept der Identitätspolitik falsch zu verstehen. Vielleicht liegt das eigentliche Problem mit Identitätspolitik aktuell vor allem darin, dass der Ansatz sich von seinen radikalen Inhalten und Ursprüngen entfernt und somit immer weniger mit revolutionärer Praxis zu tun hat. Manche Angehörige unterdrückter Gruppen haben angefangen, mit Neoliberalismus zu liebäugeln, anstatt die kollektive Selbstermächtigung in Aktion und Widerstand umzuwandeln.

Die kurdische Frauenbewegung (auch wenn sie sich an der Stelle nicht auf Identitätspolitik bezieht) kritisiert z.B. an westlichen Feminismen, dass sie, obwohl gerade Feminismus eine der radikalsten Bewegungen gegen das System sein müsste, es nicht geschafft haben, akkurat auf gesellschaftliche Probleme zu reagieren und einen radikalen Widerstand zu organisieren. Damit Feminismus wieder zum radikalen Ursprung zurückkehrt, muss er sich von den Einflüssen der kapitalistischen Moderne loslösen. Vielleicht ist das ein nützlicher Ausgangspunkt für die weitere Diskussion um Identitätspolitik: Konzepte für politische Kämpfe sollten daran beurteilt werden, inwiefern sie einen Beitrag zur Befreiung der Gesellschaft leisten und reell Veränderung bewirken. Wie wirksam sind z.B. elitäre Diskurse, die sich nicht über die akademische Sphäre hinausbewegen oder Ansätze wie sog. „Girlboss feminism“? Kaum – denn sie bewegen sich oft in geschlossenen Kreisen und erreichen nicht die Straßen. Bestimmte Konzepte, die ursprünglich aus revolutionären Ideen entstanden, werden in solchen Zusammenhängen aus dem Kontext gerissen und zweckentfremdet. Auch der Neoliberalismus bedient sich heute etwa Konzepten wie Diversity und Feminismus. Besonders schlimm wird’s dann, wenn das auch noch abgefeiert wird: Es werden diejenigen von uns gepriesen, die es „nach ganz oben“ geschafft haben und es scheint irgendwie egal zu sein, wenn es sich dabei z.B. um stinkreiche Celebrities handelt. Klasse und Kapitalismus werden nicht mehr problematisiert, sondern vielmehr hingenommen. Identifikation findet hier mit den falschen Leuten statt; sie dient nicht mehr dem kollektiven Bewusstwerdungsprozess, um gegen die Verhältnisse zu kämpfen, sondern es scheint immer mehr darum zu gehen, sich als Angehörige*r einer unterdrückten Gruppe einen Weg nach „oben“ bzw. einen Platz innerhalb des ausbeuterischen Systems zu verschaffen. Dabei kümmert es viele nicht, dass sich Ungleichheit und Gewalt dadurch nicht vermindert, denn egal, wieviel „Diversität“ oben herrscht – es sind und bleiben die Massen, auf deren Schultern die Last kapitalistischer, rassistischer und sexistischer Ausbeutung und Ausgrenzung sitzt.

Um nun zurück auf Identitätspolitik zu kommen: Das Konzept in dieser jetzigen, zweckentfremdeten Form wird bestimmt keine Antwort auf die Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Welt sein. Das heißt jedoch nicht, dass die Relevanz von Identität einfach ausradiert werden darf. Die Rolle von Identität im Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat muss neu gedacht werden und zwar als die direkteste, radikalste Form, sich den Missständen bewusst zu werden und dementsprechend kollektiven Widerstand zu organisieren. Aufwertung der eigenen, unterdrückten Identität kann dabei ein erster wichtiger Schritt, aber nicht Selbstzweck sein. Sie sollte dazu dienen, den Kampf für Befreiung voranzutreiben, anstatt sich von diesem zu entfremden.

#Titelbild: ROAR Magazine/P2P Attribution-ConditionalNonCommercial-ShareAlikeLicense

GET POST FORMAT

Die Netflfix-Serie »Dear White People« wird seit 2017 ausgestrahlt und beleuchtet das Leben schwarzer Studierender an einer US-amerikanischen Elite Universität. Nach zwei erfolgreichen Staffeln geht die Serie 2019 in die dritte Runde.

»Dear White People«. So lautet die Sendung, die Hauptcharakter Sam White als universitäres Hobby regelmäßig sendet. Inhalt und Fokus der Radiosendung ist, weiße Menschen auf alltägliches, rassistisches und diskriminierendes Verhalten gegenüber schwarzen Menschen auf dem Campus aufmerksam zu machen.
Die Handlung umspannt das Campusleben vieler schwarzer Studierender an der fiktiven Ivy League Universität Winchester, die viele Parallelen zur Harvard Universität aufweist. Die diversen Gruppen des Black Caucus, einer Art Dachverband schwarzer Communities im Rahmen von Winchester und des Wohnheims für schwarze Studierende, repräsentieren verschiedene politische und gesellschaftliche Anliegen schwarzer Studierender. Die Intensität der Identitätspolitik von Winchesters erfolgreichen Studierenden aufzeichnend, legt die Serie ihren Fokus auf die Konflikte der schwarzen Gruppierungen untereinander. Dabei wird in jeder Episode abwechselnd das Leben der Hauptcharaktere mit Rückblenden aufgerollt. Die zentrale und immer wiederkehrende Frage ist, wie mit Rassismus- und Gewalterfahrungen auf dem Campus umzugehen ist. (mehr …)

Artikel

0 ... 12 von 1316 gefundene Artikel

Race- und Klassenfragen sind zwar verschränkt, sollten aber auch unabhängig voneinander betrachtet werden. Vor dem Hintergrund der jüngst intensiv geführten […]

Man stelle sich folgendes vor. Boris Palmer, Rechtsausleger und Enfant terrible der Partei Bündnis 90/Die Grünen, wird an einem Wochenende […]

Dieser Text ist ein Versuch, verschiedene linke Positionen und Kritiken zum Thema Identitätspolitik zu diskutieren. Es ist weniger ein Text […]

Die Netflfix-Serie »Dear White People« wird seit 2017 ausgestrahlt und beleuchtet das Leben schwarzer Studierender an einer US-amerikanischen Elite Universität. […]

Race- und Klassenfragen sind zwar verschränkt, sollten aber auch unabhängig voneinander betrachtet werden. Vor dem Hintergrund der jüngst intensiv geführten […]

Man stelle sich folgendes vor. Boris Palmer, Rechtsausleger und Enfant terrible der Partei Bündnis 90/Die Grünen, wird an einem Wochenende […]

Dieser Text ist ein Versuch, verschiedene linke Positionen und Kritiken zum Thema Identitätspolitik zu diskutieren. Es ist weniger ein Text […]

Die Netflfix-Serie »Dear White People« wird seit 2017 ausgestrahlt und beleuchtet das Leben schwarzer Studierender an einer US-amerikanischen Elite Universität. […]