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Die Abschottungspolitik der Europäischen Union führt immer wieder zu Eskalationen an den Außengrenzen der Staatengemeinschaft. Zuletzt hat sich die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze zugespitzt, weil eine wachsende Zahl Geflüchteter versucht, über diese Route in die EU zu gelangen. Als Antwort entsandte die polnische Regierung tausende Soldaten an die Grenze und richtete eine Sperrzone ein, in die weder internationale Beobachter noch Ärzte und Journalisten gelassen werden. Helfer dringen dennoch unter Inkaufnahme persönlicher Risiken zu den Geflüchteten vor. Sie berichten von unhaltbaren Zuständen. Die Aktion Mauerfall jetzt! – bestehend aus der Seebrücke DeutschlandLeaveNoOneBehind und dem Verein Wir packen’s an aus dem brandenburgischen Bad Freienwalde – brachte vor kurzem mit einem Bus Sachspenden an die Grenze. Unter den Aktivisten war auch Tareq Alaows, aktiv bei Seebrücke und dem Flüchtlingsrat Berlin. Im Interview mit dem Lower Class Magazine berichtet er von der Aktion und der Lage an der Grenze. 

Ihr wolltet den Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze Hilfsgüter bringen. Wie ist es gelaufen?

Leider sind wir nicht bis zur Grenze durchgekommen. Direkt an der Sperrzone wurde der Bus gestoppt. Plötzlich war überall Polizei, uns wurde erklärt, dass wir umkehren müssten. Die Situation war so eskalierend, dass wir das wir das Gefühl hatten, man würde uns in Gewahrsam nehmen, wenn wir noch geblieben wären. Schweren Herzens haben wir uns zur Umkehr entschlossen, da eine Konfrontation hier keinen Sinn gemacht hätte. Die Hilfsgüter, die wir dabei hatten, haben wir an humanitäre Organisationen übergeben, die eine Möglichkeit haben, sie Geflüchteten zukommen zu lassen. 

Erklärtes Ziel eurer Aktion war neben dem Transport von Sachspenden, geflüchtete Menschen auf der Rückfahrt mit nach Deutschland zu nehmen. 

Ja. Wir hatten beim Bundesinnenministerium um eine Erlaubnis gefragt, dass wir Geflüchtete im Bus mit nach Deutschland zurücknehmen können. Es lagen bereits Zusagen von drei deutschen Kommunen vor, die Menschen aufzunehmen. Aber wie nicht anders zu erwarten war, hat das BMI (Bundesministerium des Inneren, Anm.) auf unser Hilfsangebot nicht reagiert. 

Habt Ihr denn bei eurer Aktion Geflüchtete treffen können?

Vor Ort ging das leider nicht. Aber ich bin über die sozialen Medien im Kontakt mit vielen geflüchteten Menschen in der Grenzregion. Weil ich eine relativ große Reichweite in den entsprechenden Communities habe und selbst arabisch spreche, schreiben sie mich dort an. Ich komme ja aus Syrien und bin vor sechs Jahren selbst geflüchtet und dann nach Deutschland gekommen, habe hier deutsch gelernt. 

War hörst du über die Lage vor Ort? Es heißt die Versorung sei miserabel, die Menschen der Kälte und Witterung seit Tagen und Wochen fast schutzlos ausgeliefert. Ein Video des belarussischen Fernsehens zeigte Menschen, die um Lagerfeuer kauern. 

Von der belarussischen Seite gibt es überhaupt keine Versorgung. Die Menschen haben faktisch nur die Sachen, die sie mit sich tragen. Wer also eine Decke mitgebracht hat, der hat eine. Wer keine dabei hatte, hat eben keine. Sie versuchen, sich an Lagerfeuern ein wenig zu wärmen. Auch zu Essen und zu Trinken haben die Menschen zu wenig. Viele sind schon länger dort. Sie kommen weder über die von Grenzpolizisten und Soldaten gesicherte polnische Grenze, noch kommen sie zurück nach Belarus. Die Grenzer auf belarussischer Seite lassen sie nicht durch, um zum Beispiel etwas zum Essen oder zu Trinken zu beschaffen. 

Das heißt, die Menschen sind im Grunde eingesperrt in den Wäldern.

Sie stecken fest im Niemandsland zwischen den beiden Staaten, kommen nicht vor und nicht zurück. 

Bis vor kurzem war von zehn bestätigten Todesfällen die Rede, Menschen, die erfroren oder an Dehydrierung gestorben sind. Jetzt kam noch ein Fall hinzu.

Ja, es ist schrecklich. Ein 14 Jahre alter Junge wurde heute morgen tot aufgefunden, offensichtlich ist er erforen. Viele Berichte, die ich von Geflüchteten aus der Region empfange, sprechen von viel mehr Toten als den jetzt elf bestätigten. Die Dunkelziffer ist hoch. Viele Geflüchtete, die durchgekommen sind und hier in Deutschland ankommen, berichten, dass sie in den Wäldern Leichen gesehen haben. 

Wie viele Geflüchtete halten sich denn nach deinen Kenntnissen in der Grenzregion auf?

Laut den Zahlen, die ich bekomme, sind es 4000 bis 5000 Personen. Aber es könnten auch noch mehr sein. 

Es heißt, die polnischen Grenzpolizisten und Soldaten würden äußerst brutal gegen die Menschen vorgehen. Die Männer, die es geschafft hätten und hier ankommen, hätten fast alle Hämatome oder andere Verletzungen. Entspricht das deinen Erkenntnissen?

Das kann ich bestätigen, auch auf Grundlage der Berichte meiner Kollegen aus der Flüchtlingsberatung in Berlin. Es liegen viele Berichte von Gewaltspuren an den Körpern der Menschen vor, meist erwachsene Männer. Es wird von hunderten rechtswidrigen Pushbacks berichtet, die mit Gewalt verbunden sind. Von denen, die hier sind, sind die wenigsten gleich beim ersten Mal durchgekommen. Als wir vor Ort waren, bekam ein Aktivist einen Anruf von einer achtköpfigen Familie mit schwerkranker Tochter. Die hatte drei oder vier Mal versucht, über die Grenze zu kommen. Es wurde berichtet von Gewaltspuren bei diesen Menschen, das Kind wurde nicht medizinisch versorgt. Wir wissen nicht, wie es ihnen jetzt geht und wo sie sind. 

Hierzulande hat die Entwicklung eine üble Kampagne in den Leitmedien und viel Hetze in den sozialen Medien ausgelöst. Bild, Welt, die FAZ und viele andere Medien haben kritiklos das Narrativ übernommen, es handele sich um einen „hybriden Krieg“ des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, die Geflüchteten würden „als Waffen benutzt“. Was sagst du dazu?

Diese Berichterstattung und die Debatte führen zu einer Enthumanisierung. Wir haben es mit Menschen zu tun, die in Not sind. Sie kommen zu einem großen Teil aus Syrien, Irak und Afghanistan. Das sind Länder die instabil sind, in denen es Kriege gibt oder gab. Die Not dieser Menschen wird von Lukaschenko missbraucht, keine Frage. Aber die politische Antwort der EU kann nicht sein, dass neue Zäune und Mauern errichtet werden, sondern die müssen abgebaut werden. Ich begreife nicht, woher diese Angst vor den geflüchteten Menschen kommt. Wir machen uns doch erpressbar, wenn wir mit Panik reagieren. Die Gesamtzahl der Menschen an der Grenze liegt, wie gesagt, bei etwa 5000 Personen. Wenn die alle aufgenommen und in ganz Europa verteilt werden, dann machen sie einen Anteil von 0,01 Prozent der europäischen Bevölkerung aus. 

Rechte Politiker und Medien wie die Bild-Zeitung arbeiten mit dem Framing, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Den Satz kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung heraus nur bekräftigen – allerdings ganz anders, als etwa die CDU oder die AfD es meinen. Ich gehöre zu den Menschen, die damals nach Deutschland gekommen sind und weiß, wovon ich rede. 2015 bedeutet soviel Leid, bedeutet brutale Reaktionen gegen geflüchtete Menschen, 2015 steht für viele, die ertrunken sind. Und das ist es, was sich auf keinen Fall wiederholen darf. Darum müssen wir sichere Fluchtwege schaffen, dass Menschen Asyl außerhalb von Europa beantragen können und sich nicht auf solche lebensgefährlichen Routen begeben müssen. 

Die EU scheint das Elend der Menschen an der Grenze nicht zu interessieren. Offenbar geht es nur darum, die Abschottung um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Ist es nicht absurd, wenn EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen, Lukaschenko Zynismus vorwirft?

Natürlich. Die EU macht ja selbst zynische Deals mit Diktatoren, nur um Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Zum Beispiel der sogenannte Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Oder der Deal mit der so genannten libyschen Küstenwache, das sind paramilitärische Gruppen, die von der EU finanziert werden, um Geflüchtete aufzuhalten. Das Muster ist immer dasselbe, man will null Asylbewerber in Europa. Aber das funktioniert einfach nicht, weil die Menschen aus Ländern kommen, in denen sie keinerlei Perspektive haben. Selbst wenn die Hoffnung für sie, ein sicheres Leben in Europa zu führen, noch so gering ist, ist das noch eine Hoffnung – in ihrer Heimat haben sie gar keine Hoffnung mehr. 

#Titelbild: Srishti Pandya on unsplash

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“Bosnia grave of the doomed.” Der Spruch, einer der wenigen auf Englisch, steht an der Wand eines Gebäudes in der Stadt Bihac im nördlichen Kanton Una-Sana, nur 10 km von der kroatischen Grenze entfernt.
Er macht deutlich, dass die Balkanroute nicht nur hier durchführt, sondern hier auch endet. Europa liegt dort drüben, jenseits der Berge, die den Blick nach Westen versperren und ein klaustrophobisches Gefühl vermitteln. Mit knapp über 60.000 Einwohner*innen ist Bihac zu einem Grenzaußenposten geworden.

Die Grenze davor ist eine der am meisten kontrollierten auf der Route. Anders als Ungarn, das eine unpopuläre Mauer errichten ließ, schützt sich Kroatien mit einer Hightech-Ausrüstung aus Drohnen, Bewegungsmeldern und Wärmebildkameras. Trotz moderner Technik sind die Methoden immer noch die alten: Es ist überall bekannt, dass die kroatische Grenzpolizei geflüchtete Menschen verprügelt und ihres Geldes, Handys, Schuhe und Kleidung beraubt, bevor sie sie zurück nach Bosnien abschiebt. All das mit Zustimmung der europäischen Institutionen, subventioniert aus Gledern der EU (108 Millionen für die Jahren 2014-2020, Ende 2018 noch um 6,8 Millionen aufgestockt) und unter Missachtung des internationalen Rechts, das eine Überprüfung der Asylanträge vorschreibt. Für Menschen, die illegal nach Europa einreisen müssen wird Bosnien immer mehr zu einer Sackgasse, in der sie Monate und Jahre ihres Lebens verlieren.
Gewissheit, wieder herauszukommen, haben sie nicht.

Viele kommen aus dem Iran, Irak und aus afrikanischen Ländern, die meisten jedoch aus Pakistan und Afghanistan. Wie Sakine, eine 36-jährige Afghanin, die der schiitischen Minderheit der Hazara angehört. Sie durchquerte den Iran, die Türkei, Griechenland, Albanien und Montenegro, aber seit Monaten sitzt sie an der kroatischen Grenze fest. “Wir versuchen es seit fast einem Jahr, wir sehen kein Ende”, sagt sie. Zusammen mit ihrem Mann Jawad und ihren 4- und 8-jährigen Töchtern haben sie mehr als 30 Mal versucht, Europa zu erreichen. Dort möchten sie den Mädchen eine Ausbildung ermöglichen. Das letzte Mal nahm die kroatische Polizei ihnen alles weg und drängte sie dann mit Schlagstöcken, Tasern und Hunden zurück über die Grenze.
“Gegenüber Kroatien verlieren wir gerade unsere Hoffnung”, gesteht die Frau.

Sakine und Jawad leben mit anderen afghanischen Familien in einem verlassenen Haus in der Nähe von Velika Kladusa, der anderen Stadt des Kantons, die nahe der Grenze liegt. In Bosnien sind solche Häuser mit freiliegenden roten Ziegeln überall zu sehen. Sie werden verlassen, bevor sie überhaupt fertig sind. Die Besitzer haben entweder kein Geld mehr oder wandern einfach aus, vielleicht nach Deutschland oder Österreich. Sie wollen einem Land ohne Perspektive entkommen, in dem Durchschnittslöhne knapp 400 Euro betragen und Jugendarbeitslosigkeit bei 60 % liegt. Dass in vielen dieser Häuser auf dem Weg zwischen Bihac und Velika Kladusa nun Menschen, die Europa erreichen wollen, Zuflucht gefunden haben, gibt einem zu denken. Es scheint so, als wären die Häuser eine Art Erbe – hinterlassen von diejenigen, die vor Jahren auf der Suche nach Hoffnungen und Träumen ausgewanderten, dieser neuen Generation von “Verdammten”, die Bosnien nicht verlassen können.

Gleichermaßen erinnern die Namen der alten und neuen besetzten Gebäude in Bihac, in denen Geflüchtete in absoluter Not und ohne staatliche Unterstützung leben, an wilde Privatisierungen und Bankrotte, die nach Ende des jugoslawischen Sozialismus stattfanden: Kombitex, wo noch etwa 100 Menschen leben, war ein Textilunternehmen; Dom Penzionera, wo 300 Menschen lebten, war ein Altenheim, das aufgrund eines Korruptionsskandals nie eröffnet wurde; Krajina Metal, wo kürzlich 200 Menschen Unterkunft fanden, war eine ehemalige Fabrik für Metallteile; selbst im ehemaligen Lager von Bira, das letztes Jahr infolge von Bürgerprotesten geschlossen wurde, wurden einst Kühlschränke hergestellt. Das frühere Scheitern der produktiven Infrastruktur, die ausverkauft und zum Zusammenbruch geführt wurde, überschneidet sich nun mit dem Scheitern des Empfangssystems – wenn man es überhaupt als Empfang bezeichnen kann.

Ein Junge aus Afghanistan in der Nähe der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien

Denn während die EU darauf beharrt, geflüchtete Menschen außerhalb ihrer Grenzen zu halten, tut die bosnische Regierung ihrerseits alles, um die Lage im Kanton Una-Sana unerträglich zu machen. Der Plan ist, Regierungslager als einzige Alternative vorzuschreiben. Ins Lager von Lipa wollen aber viele Menschen nicht. Es liegt total isoliert auf einer Hochebene 28 km von Bihac entfernt, zu weit von der Grenze entfernt, die sie überqueren wollen und zu Fuß erreichen müssen. Der Lager untersteht der SFA (Service for Foreigner’s Affairs) und wird nach einem Brand im vergangenen Dezember weiter ausgebaut. Untergebracht sind in ihm derzeit 600 Personen, bei einer Kapazität von 900 Personen hat die Regierung 30 Militärzelte, eine gleiche Anzahl von chemischen Toiletten und einige medizinische Container aufgestellt, in denen hauptsächlich Schmerzmittel verteilt werden. Als Mitte Juli die Touristensaison begann und die Räumung einiger großer von Geflüchteten besetzen Gebäude – darunter auch Krajina Metal – stattfand, machten sich Menschen, die in das Lager deportiert worden waren, auf den Weg nach Bihac zurück. Sie gingen wieder in informelle Unterkünfte: Gebäude und Zeltlager ohne Strom und Wasser und mit kritischen hygienischen Bedingungen. Verschärft wird diese Lage durch das Verbot von Hilfeleistungen (einschließlich medizinischer Versorgung) und der Verteilung grundlegender Güter außerhalb der Regierungslager, so dass internationale NGOs und Gruppen gezwungen sind, im Verborgenen zu arbeiten.

Der Versuch, die Grenze zu überqueren, scheint so als einzige Möglichkeit. Selbst für diejenigen, die erschöpft einen Asylantrag in Bosnien stellen möchten, sind die Fristen so lang, dass sie davon abgeschreckt werden: 300 Tage für die Formalisierung des Antrags, 400 Tage für die erste Anhörung, die einen aus der Illegalität holen könnte. Es gibt nur “the game”, wie Geflüchtete die Grenzüberquerung nennen: Gewinnt man, ist man in Europa; verliert man, verliert man alles, manchmal sogar sein Leben – wie der fünfjährige afghanische Junge, der am 30. Juli im Fluss Una ertrank, als er mit seiner Familie versuchte, Kroatien zu erreichen. Der Anteil von denen, die es schaffen, ist sehr gering, die Verzweiflung und Zähigkeit aber so groß, dass sie als letzte Form des Widerstands erscheint. An dieser Grenze kämpfen Menschen nur mit ihrem eigenen Körper, gegen Müdigkeit, Schläge, Wunden. Eine Chance haben hier, wie anderswo auch, nur diejenigen mit Geld: 3.500 Euro kostet ein “taxi game”, damit kann man mit dem Auto Italien erreichen. Allen anderen bleibt nichts anderes übrig, als sich zu Fuß auf den Weg zu machen, nachts, manchmal über Felder, die noch vom Krieg vermint sind. Von hier bis Triest sind es zwölf Tage Fußmarsch und drei Grenzen, an denen man geschlagen, abgeschoben und zum Ausgangspunkt zurückgebracht werden kann, zurück nach Bosnien, dem Grab der Verdammten.

#Text und Bilder: Elisa Scorzelli und Fabio Angelelli

Ursprünglich erschienen auf italienisch in il manifesto unter dem Titel “Benvenuti in Bosnia, la tomba dei dannati”

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Seit dem 7. April 2019 wurde die 32-jährige Kenianerin Rita Awour Ojunge vermisst (wir berichteten). Sie lebte im Flüchtlingslager Hohenleipisch, welches von der Firma „Human Care“ betrieben wird. Obwohl Ritas Sohn seinem Vater erzählte, dass ein Mitbewohner des Lagers seine Mutter am Tag ihres Verschwindens niedergeschlagen und weggeschleppt habe und der Vater die Polizei vor Ort am 10. April verständigte, gaben die Behörden erst nach über zwei Wochen eine Suchmeldung heraus. Umfangreiche Maßnahmen erfolgten sogar erst im Juni. In einem Gebüsch in einem benachbarten Wald des Lagers wurden dann Mitte Juni skelettierte menschliche Überreste gefunden, welche der vermissten Rita Awour Ojunge zugeordnet werden. Wir sprachen mit Dana von „Women in Exile & Friends“ über Rita‘s Tod und die politische Einordnung, die dabei nicht übersehen werden darf.

Ganz zu Anfang: Kannst du kurz beschreiben, wer Rita Awour Ojunge war?

Wir kannten Rita alle als eine sehr freundliche Frau. Sie hat immer gelächelt. Sie war ruhig und hat nicht so viel geredet. Ich weiß, dass sie ihre Kinder geliebt hat. Als zunächst gesagt wurde, sie sei einfach abgehauen und hätte ihre Kinder verlassen, konnte ich das nicht glauben.

Was geschah am 7. April 2019?

An diesem Tag verschwand Rita. Anscheinend hatte sie mit einer Freundin verabredet, an diesem Tag zusammen nach Berlin zu fahren. Als ihre Freundin morgens an ihre Tür klopfte, um einen Besen, den sie ausgeliehen hatte, zurückzubringen und ihr zu sagen, dass sie nach Berlin losfahren könnten, sah sie Rita nicht. Im Zimmer waren die Kinder und der Nachbar, den alle als Freund Ritas kannten (Anmerkung Red.: der selbe Nachbar, den Ritas Sohn beschuldigt). Sie fragte ihn, wo Rita sei, aber er sagte, sie wäre schon zum Markt losgefahren. Details konnte er ihr nicht sagen. Die Freundin fuhr also allein nach Berlin, wurde aber mehrfach von anderen Nachbarinnen aus dem Heim angerufen und gefragt, ob sie Rita gesehen habe. Anscheinend hat auch der Heimleiter ein paar Tage, nachdem die Nachbarinnen ihn mehrfach auf das Verschwinden Ritas aufmerksam gemacht hatten, bei der Polizei angerufen. Die Polizei kam und durchsuchte das Lager und die nähere Umgebung, ging aber nicht gründlich vor. Deshalb denken wir alle, dass der Mörder gute Gelegenheit hatte, alle Beweise rund um Ritas Tod verschwinden zu lassen.

Bis zum 9. Mai ging die Polizei anscheinend nicht von einem Verbrechen aus, weswegen Ritas Verschwinden weiterhin als Vermisstensache behandelt wurde. Gleichzeitig gab es von Anfang an Hinweise auf ein Verbrechen durch die Aussagen des Sohnes. Wie verhält sich die Polizei gegenüber Angehörigen?

Am Tag von Ritas Verschwindens befragte die Polizei auch den älteren Sohn Ritas. Uns wurde von Nachbarinnen, die dabei waren, erzählt, dass er nur sagen konnte: „Mama Blut auf der Hand und auf dem Kopf.“ Und trotzdem hat die Polizei nie etwas zu ihrem Tod oder den Umständen, die zu ihrem Tod geführt haben, gesagt. Niemand weiß, was los ist, weil weder Polizei noch Heimleitung die Bewohner*innen informieren. Gerüchten zufolge sei der „Freund“ in ein nahegelegenes Heim transferiert wurde.

Nach all der Zeit, in der Rita vermisst worden ist, wurden ihre Überreste erst sehr spät an dem Ort aufgefunden, an dem die Polizei angeblich die ganze Zeit nach ihr gesucht hatte. Ihr schreibt auf euer Seite selbst, dass sich wieder „ganz deutlich die Vernachlässigung und der Rassismus“ zeigen. Inwiefern lässt sich behördlicher Rassismus an Ritas Fall erkennen?

Anscheinend rief der Heimleiter erst einige Tage, nachdem Bewohner*innen ihn mehrfach auf Ritas Verschwinden aufmerksam gemacht hatten, die Polizei. Letztlich brauchte es einen Anruf bei der Berliner Polizei, die dann Druck auf die Polizei in Brandenburg ausübte, damit überhaupt mal eine Vermisstenanzeige aufgenommen wird.

Ich glaube, die Suche nach Rita war so langsam, weil wir Geflüchteten nie Priorität haben, im speziellen noch einmal Schwarze Geflüchtete. Wenn die Polizei schneller reagiert hätte, hätten sie sicherlich ihren Körper gefunden, bevor es nur noch „Überreste“ waren.

Rassismus ist eine Realität. Als die Nachbarinnen meldeten, dass Ritas Kinder schreien und es keine Spur von ihrer Mutter gibt, dachten die Verantwortlichen zunächst, dass sie einfach irgendwo hin gegangen sei und bestimmt bald wieder käme. Es gab zunächst keinerlei Reaktionen von Heimleitung und Polizei, trotz des Alarms, den die Nachbarinnen von Rita schlugen.

Durch Ignoranz und Hass gegenüber Asylsuchenden, vor allem solchen, die in den Augen des Staats nicht genug „Wert“ haben, um hier bleiben zu können, wird eine Atmosphäre kreiert, in der die Person oder Personen, die Rita getötet haben, fast schon sicher sein können, dass sie davonkommen. In dem Kontext konnten sie auch von Anfang an, wie es ja auch eingetroffen ist, mit verlangsamten Ermittlungen rechnen.

Das Flüchtlingslager, in dem Rita lebte, wird von der Firma „Human Care” betrieben – allein der Name ist ja schon mehr als schlechter Sarkasmus. Inwiefern trägt konkret dieses Lager und die Firma Verantwortung für den Tod von Rita?

Der Firma „Human Care” sind wir egal. Es ist ein Business von Firmen, auf dem Rücken der Geflüchteten Geld zu machen. Das Lager in Hohenleipisch ist sehr abgelegen in einem Wald. Es ist ein Ort mit dünnen Wänden, Schimmel und Kakerlaken. Es gibt keine Nachbarn. Eigentlich gibt es drumherum nichts, außer wilden Tieren und Minen aus dem Krieg. Es muss leicht für den oder die Täter gewesen sein, Rita dort heraus zu schleppen und mit ihr zu machen, was immer sie gemacht haben.

Ich finde Securities nicht so super, denn meistens sind sie Teil des Problems. Aber in anderen Heimen machen sie wenigstens ihren Job – für Sicherheit sorgen – und drehen nachts Runden außerhalb der Wohnblöcke, um zu schauen, ob alles okay ist. Nicht so in Hohenleipisch. Oder wie hätte ihr Körper lebend oder tot einfach so mitten in der Nacht aus dem Heim verschwinden können?

Als Frauen* in den Lagern erleben wir täglich Gewalt: und zwar von Männern innerhalb und außerhalb des Lagers und durch Security-Mitarbeitende. In einem Fall von sexualisierter Gewalt zum Beispiel meldete die Frau den Täter bei der Security. Deren Antwort war, dass sie nur etwas tun könnten, wenn sie den Täter in Aktion erwischen, daher solle sie einfach zu ihnen kommen, wenn er sie das nächste Mal angreift. Wie soll das gehen? Wir wissen auch von verschiedenen Fällen, in denen Menschen auf mysteriöse Weise aus den Lagern verschwunden oder gestorben sind. Oder von Frauen wie Juliet H., die von ihrem weißen deutschen Ex-Mann in Hamburg mit 50 Messerstichen ermordet wurde.

Das Lagersystem ist ein System der Abhängigkeit. Für schutzbedürftige Gruppen wie alleinreisende Frauen* oder Kinder ist das sehr gefährlich. Rita wäre nicht gestorben, wenn es dieses Lager nicht gäbe und sie keine Schwarze asylsuchende Frau gewesen wäre.

Also muss sich grundlegend was ändern, damit solche Fälle wie Rita‘s nicht mehr passieren….

Ich beharre darauf, dass wir diese sehr harschen Asylgesetze ändern müssen. Für Rita war es eigentlich unmöglich, aus diesem Ort herauszukommen. Sie hatte zwei kleine Kinder, ihr Asylantrag war abgelehnt, ihre Sozialleistungen gekürzt und sie steckte mit ihrer Duldung in Hohenleipisch fest. Das machte sie sehr verletzlich. Und die Situation im Lager lässt Menschen durchdrehen…

Außerdem gab und gibt es viel Hass von Menschen, die Ritas Tod feiern. Der offene Rassismus in der Gegend von Hohenleipisch ist ein weiterer Faktor, der die Leute, die dort leben müssen, in stetige Furcht versetzt. Als wir dort letztens zu Besuch waren, erzählten uns die Frauen und Kinder im Lager, dass sie nach Ritas Tod in ständiger Angst leben. Sie können nicht schlafen und trauen sich nicht einmal mehr allein zur Toilette.

Ritas Tod lässt uns wiederholen, was Women in Exile seit 17 Jahren fordert: Keine Lager für Frauen* und Kinder. Alle Lager abschaffen.

Planen Women in Exile weitere Schritte? Gibt es Allianzen mit anderen Schwarzen Gruppen?

Wir stehen mit anderen Gruppen in Kontakt, die Ritas Tod aufarbeiten, sich um ihre Beerdigung kümmern und die Kinder unterstützen. Wir denken, dass der Mord an Rita einer von so vielen tragischen Feminiziden ist, die durch das sexistische und rassistische System, in dem wir leben, hervorgebracht werden. Es ist ein System, in dem (vornehmlich Männer) Gewalt mit Gewalt beantworten. Wir schließen uns als Frauen* zusammen, um diesen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen.

Außerdem ruft Women in Exile am 27.08.19 um 14:30 Uhr zur Kundgebung “Gerechtigkeit für Rita!” vor dem brandenburgischen Innenministerium in Potsdam auf. (Anmerkung Red.)

#Dana ist bei Women in Exile aktiv und musste selbst einige Zeit im Lager Hohenleipisch wohnen.

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In den US-Auffanglagern für Migrant*innen eingepferchte Kinder haben, so entschied ein US-Gericht diese Woche, Anspruch auf Seife.

Lassen Sie sich den Satz auf der Zunge zergehen. In den US-Auffanglagern für Migrant*innen eingepferchte Kinder haben, so entschied ein US-Gericht diese Woche, Anspruch auf Seife. Es brauchte einen richterlichen Beschluss, um wegen nichts als ihrer Herkunft inhaftierten Minderjährigen den Zugang zu Seife zu garantieren.

Die Lager, die Washington als Abschreckung gegen nicht-weiße Mittellose aller Altersklassen, eingerichtet hat, sind überfüllt, Inhaftierte werden in Käfigen gehalten, Transgender-Gefangenen wird hormonelle Behandlung verweigert. Die medizinische Versorgung ist mangelhaft und die sanitären Umstände gesundheitsgefährdend. Gefangene müssen tagelang stehen oder auf dem blanken Boden schlafen. Ein Bericht des Department of Homeland Security wies aus, dass ein für 125 Personen ausgerichteter Raum von 900 Menschen belegt wurde. 24-Stunden-Bestrahlung mit Licht und Schikanen von Wärtern erinnern an Guantanamo – mit dem Unterschied, dass den in den ICE-Camps eingekerkerten nichts als ihre Herkunft vorgeworfen wird.

Während in den USA eine Koalition aus jungen jüdischen Aktivist*innen und radikalen Linken gegen die Einrichtungen mobil macht, erschöpfte sich die kurze Aufmerksamkeit in der hiesigen Social-Media-Szene in einer philologischen Debatte darüber, ob man die ICE-Camps Konzentrationslager nennen darf oder nicht. Keine Massendemonstrationen vor der US-Botschaft, keine militanten Aktionen, kein tief empfundener Hass gegen diejenigen, die Kinder wegen ihrer Hautfarbe in Käfige sperren.

Dabei könnten selbst diejenigen, denen die USA aus irgendwelchen Gründen zu weit vom eigenen Empörungskosmos entfernt sind, gut in der deutschen Regierung einen Adressaten ungezügelter Wut finden. Die Lager, die Berlin in Libyen ermöglicht, verdienen den Titel Konzentrationslager nämlich zweifellos. Folter in jeder erdenklichen Form, sexualisierte Gewalt, Sklavenhandel sind an der Tagesordnung in den EU-gesponserten Höllenlöchern Libyens.

Was ist eine angemessene Reaktion auf diese Zustände? Vielleicht noch am ehesten die Verzweiflungstat Willem van Spronsens, jenes Antifaschisten, der am 12. Juli bei einem Angriff auf ein US-ICE-Lager von Bullen erschossen wurde. Er habe eine „unerschütterliche Abscheu vor Ungerechtigkeit“ gefühlt, schreibt Miriam Marauders in einem Nachruf für das Commune Magazine und fragt: „Willem van Spronsen konnte nicht länger zusehen. Aber was werden wir übrigen tun?“

Die Frage ist berechtigt. Nicht allein wegen der im Krieg gegen die aus dem Trikont Fliehenden mörderischen Grenzregimes. Faschisierung, Krieg, Umweltzerstörung – auf sie alle reagieren wir mit einem gut informierten Schulterzucken und routinierten gelegentlichen Meinungskundgebungen zur Gewissensberuhigung.

Soll das so weitergehen? Und wenn ja, was wollt ihr in ein paar Jahrzehnten den Nachgeborenen sagen? Wie hast du auf den Massenmord im Jemen reagiert? Ich habe einen Tweet retweetet. Was hast du getan, als die Nazis anfingen, Waffen zu horten? Ich habe grün gewählt und mir ein Schild gebastelt. Und wie hast du reagiert, als sie Menschen wegen ihrer Hautfarbe in Folterlager sperrten? Ich habe hart diskutiert, ob man sie Konzentrationslager nennen darf oder nicht.

#Bildquelle: www.facebook.com/NeverAgainAction/

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Die Apardo GmbH will in Neukölln eine syrische Familie aus ihrer Wohnung werfen. Der Vorfall rückt erneut die Businessmodelle der privaten Betreuungsunternehmen in den Fokus.

Eigentlich muss Mohamad T. lernen. Für die Schule. „Ich war richtig gut bis vor einem Monat“, erzählt der junge Mann aus dem syrischen Ariha. „Aber jetzt, mit dieser Sache, komme ich gar nicht dazu. Meine Noten werden schon schlechter“, sorgt er sich. Diese Sache, das ist die Angst um die eigene Wohnung. Am 8. Februar erging ein Brief an Mohamad, der „ordnungsgemäß“ die Kündigung einer Nutzungsvereinbarung mit der Apardo Betreutes Wohnen GmbH zum 28. Februar 2019 erklärte – ohne Begründung, ohne Vorschlag, wo er und seine Familie nun leben sollen. „Eine weitere Unterbringung in diesem Objekt ist damit nach dem o.g. Datum nicht möglich“, heißt es lapidar. (mehr …)

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Als das Erdogan-Regime das nordsyrische Afrin Anfang 2018 militärisch besetzte, wurden hunderttausende Menschen vertrieben. Ein Besuch bei Geflüchteten in Til Temir.

Seit einigen Wochen werden die Angriffsdrohungen der Türkei gegen die verbleibenden beiden Kantone der demokratischen Selbstverwaltung im Norden Syriens, Kobane und Cizire, konkreter. Der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdogan will die Auslöschung aller kurdischen Verbände. Schon Anfang 2018 durfte er, unterstützt von den USA, Russland und Deutschland, diesen Vernichtungswillen an einer nordsyrischen Provinz – Afrin – erproben. Das Gebiet wurde besetzt, türkisiert, geplündert, hunderttausende wurden vertrieben. Heute wird Afrin von islamistischen Terrorbanden und der türkischen Armee verwaltet.

Unser Reporter in Syrien, Bernd Machielski, besuchte Ende November Til Temir, eine Stadt, in deren Umgebung zahlreiche geflüchtete Familien aus Afrin Zuflucht fanden. Er sprach mit dem Vorsitzenden der lokalen Kommune, Bave Demhat, über den Krieg in Afrin. (mehr …)

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