Die Abschottungspolitik der Europäischen Union führt immer wieder zu Eskalationen an den Außengrenzen der Staatengemeinschaft. Zuletzt hat sich die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze zugespitzt, weil eine wachsende Zahl Geflüchteter versucht, über diese Route in die EU zu gelangen. Als Antwort entsandte die polnische Regierung tausende Soldaten an die Grenze und richtete eine Sperrzone ein, in die weder internationale Beobachter noch Ärzte und Journalisten gelassen werden. Helfer dringen dennoch unter Inkaufnahme persönlicher Risiken zu den Geflüchteten vor. Sie berichten von unhaltbaren Zuständen. Die Aktion Mauerfall jetzt! – bestehend aus der Seebrücke Deutschland, LeaveNoOneBehind und dem Verein Wir packen’s an aus dem brandenburgischen Bad Freienwalde – brachte vor kurzem mit einem Bus Sachspenden an die Grenze. Unter den Aktivisten war auch Tareq Alaows, aktiv bei Seebrücke und dem Flüchtlingsrat Berlin. Im Interview mit dem Lower Class Magazine berichtet er von der Aktion und der Lage an der Grenze.
Ihr wolltet den Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze Hilfsgüter bringen. Wie ist es gelaufen?
Leider sind wir nicht bis zur Grenze durchgekommen. Direkt an der Sperrzone wurde der Bus gestoppt. Plötzlich war überall Polizei, uns wurde erklärt, dass wir umkehren müssten. Die Situation war so eskalierend, dass wir das wir das Gefühl hatten, man würde uns in Gewahrsam nehmen, wenn wir noch geblieben wären. Schweren Herzens haben wir uns zur Umkehr entschlossen, da eine Konfrontation hier keinen Sinn gemacht hätte. Die Hilfsgüter, die wir dabei hatten, haben wir an humanitäre Organisationen übergeben, die eine Möglichkeit haben, sie Geflüchteten zukommen zu lassen.
Erklärtes Ziel eurer Aktion war neben dem Transport von Sachspenden, geflüchtete Menschen auf der Rückfahrt mit nach Deutschland zu nehmen.
Ja. Wir hatten beim Bundesinnenministerium um eine Erlaubnis gefragt, dass wir Geflüchtete im Bus mit nach Deutschland zurücknehmen können. Es lagen bereits Zusagen von drei deutschen Kommunen vor, die Menschen aufzunehmen. Aber wie nicht anders zu erwarten war, hat das BMI (Bundesministerium des Inneren, Anm.) auf unser Hilfsangebot nicht reagiert.
Habt Ihr denn bei eurer Aktion Geflüchtete treffen können?
Vor Ort ging das leider nicht. Aber ich bin über die sozialen Medien im Kontakt mit vielen geflüchteten Menschen in der Grenzregion. Weil ich eine relativ große Reichweite in den entsprechenden Communities habe und selbst arabisch spreche, schreiben sie mich dort an. Ich komme ja aus Syrien und bin vor sechs Jahren selbst geflüchtet und dann nach Deutschland gekommen, habe hier deutsch gelernt.
War hörst du über die Lage vor Ort? Es heißt die Versorung sei miserabel, die Menschen der Kälte und Witterung seit Tagen und Wochen fast schutzlos ausgeliefert. Ein Video des belarussischen Fernsehens zeigte Menschen, die um Lagerfeuer kauern.
Von der belarussischen Seite gibt es überhaupt keine Versorgung. Die Menschen haben faktisch nur die Sachen, die sie mit sich tragen. Wer also eine Decke mitgebracht hat, der hat eine. Wer keine dabei hatte, hat eben keine. Sie versuchen, sich an Lagerfeuern ein wenig zu wärmen. Auch zu Essen und zu Trinken haben die Menschen zu wenig. Viele sind schon länger dort. Sie kommen weder über die von Grenzpolizisten und Soldaten gesicherte polnische Grenze, noch kommen sie zurück nach Belarus. Die Grenzer auf belarussischer Seite lassen sie nicht durch, um zum Beispiel etwas zum Essen oder zu Trinken zu beschaffen.
Das heißt, die Menschen sind im Grunde eingesperrt in den Wäldern.
Sie stecken fest im Niemandsland zwischen den beiden Staaten, kommen nicht vor und nicht zurück.
Bis vor kurzem war von zehn bestätigten Todesfällen die Rede, Menschen, die erfroren oder an Dehydrierung gestorben sind. Jetzt kam noch ein Fall hinzu.
Ja, es ist schrecklich. Ein 14 Jahre alter Junge wurde heute morgen tot aufgefunden, offensichtlich ist er erforen. Viele Berichte, die ich von Geflüchteten aus der Region empfange, sprechen von viel mehr Toten als den jetzt elf bestätigten. Die Dunkelziffer ist hoch. Viele Geflüchtete, die durchgekommen sind und hier in Deutschland ankommen, berichten, dass sie in den Wäldern Leichen gesehen haben.
Wie viele Geflüchtete halten sich denn nach deinen Kenntnissen in der Grenzregion auf?
Laut den Zahlen, die ich bekomme, sind es 4000 bis 5000 Personen. Aber es könnten auch noch mehr sein.
Es heißt, die polnischen Grenzpolizisten und Soldaten würden äußerst brutal gegen die Menschen vorgehen. Die Männer, die es geschafft hätten und hier ankommen, hätten fast alle Hämatome oder andere Verletzungen. Entspricht das deinen Erkenntnissen?
Das kann ich bestätigen, auch auf Grundlage der Berichte meiner Kollegen aus der Flüchtlingsberatung in Berlin. Es liegen viele Berichte von Gewaltspuren an den Körpern der Menschen vor, meist erwachsene Männer. Es wird von hunderten rechtswidrigen Pushbacks berichtet, die mit Gewalt verbunden sind. Von denen, die hier sind, sind die wenigsten gleich beim ersten Mal durchgekommen. Als wir vor Ort waren, bekam ein Aktivist einen Anruf von einer achtköpfigen Familie mit schwerkranker Tochter. Die hatte drei oder vier Mal versucht, über die Grenze zu kommen. Es wurde berichtet von Gewaltspuren bei diesen Menschen, das Kind wurde nicht medizinisch versorgt. Wir wissen nicht, wie es ihnen jetzt geht und wo sie sind.
Hierzulande hat die Entwicklung eine üble Kampagne in den Leitmedien und viel Hetze in den sozialen Medien ausgelöst. Bild, Welt, die FAZ und viele andere Medien haben kritiklos das Narrativ übernommen, es handele sich um einen „hybriden Krieg“ des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, die Geflüchteten würden „als Waffen benutzt“. Was sagst du dazu?
Diese Berichterstattung und die Debatte führen zu einer Enthumanisierung. Wir haben es mit Menschen zu tun, die in Not sind. Sie kommen zu einem großen Teil aus Syrien, Irak und Afghanistan. Das sind Länder die instabil sind, in denen es Kriege gibt oder gab. Die Not dieser Menschen wird von Lukaschenko missbraucht, keine Frage. Aber die politische Antwort der EU kann nicht sein, dass neue Zäune und Mauern errichtet werden, sondern die müssen abgebaut werden. Ich begreife nicht, woher diese Angst vor den geflüchteten Menschen kommt. Wir machen uns doch erpressbar, wenn wir mit Panik reagieren. Die Gesamtzahl der Menschen an der Grenze liegt, wie gesagt, bei etwa 5000 Personen. Wenn die alle aufgenommen und in ganz Europa verteilt werden, dann machen sie einen Anteil von 0,01 Prozent der europäischen Bevölkerung aus.
Rechte Politiker und Medien wie die Bild-Zeitung arbeiten mit dem Framing, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.
Den Satz kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung heraus nur bekräftigen – allerdings ganz anders, als etwa die CDU oder die AfD es meinen. Ich gehöre zu den Menschen, die damals nach Deutschland gekommen sind und weiß, wovon ich rede. 2015 bedeutet soviel Leid, bedeutet brutale Reaktionen gegen geflüchtete Menschen, 2015 steht für viele, die ertrunken sind. Und das ist es, was sich auf keinen Fall wiederholen darf. Darum müssen wir sichere Fluchtwege schaffen, dass Menschen Asyl außerhalb von Europa beantragen können und sich nicht auf solche lebensgefährlichen Routen begeben müssen.
Die EU scheint das Elend der Menschen an der Grenze nicht zu interessieren. Offenbar geht es nur darum, die Abschottung um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Ist es nicht absurd, wenn EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen, Lukaschenko Zynismus vorwirft?
Natürlich. Die EU macht ja selbst zynische Deals mit Diktatoren, nur um Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Zum Beispiel der sogenannte Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Oder der Deal mit der so genannten libyschen Küstenwache, das sind paramilitärische Gruppen, die von der EU finanziert werden, um Geflüchtete aufzuhalten. Das Muster ist immer dasselbe, man will null Asylbewerber in Europa. Aber das funktioniert einfach nicht, weil die Menschen aus Ländern kommen, in denen sie keinerlei Perspektive haben. Selbst wenn die Hoffnung für sie, ein sicheres Leben in Europa zu führen, noch so gering ist, ist das noch eine Hoffnung – in ihrer Heimat haben sie gar keine Hoffnung mehr.
#Titelbild: Srishti Pandya on unsplash