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Wie die deutschen Medien und Politiker beständig wiederholen, handelt es sich bei dem Ukraine-Konflikt um einen Kampf zwischen Demokratien auf der einen und Diktaturen auf der anderen Seite. Damit ist die Frage, ob Parteinahme nötig sei – und falls ja, für wen – für viele Menschen schon beantwortet. Die Ukraine, über deren korruptes politisches System ansonsten viel berichtet wurde, verteidigt jetzt die Werte der freien Welt gegen die „letzten Diktatoren“: Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko, die sich in der EU mit autoritären Demokratiegefährdern wie Viktor Orbán verbünden. Angesichts dieser Gefahr wird die Einheit aller Demokraten über die sonstigen politischen Lagergrenzen hinweg gefeiert.

Mittendrin kommt es, von der Öffentlichkeit nur am Rande bemerkt, zu einem diplomatischen Konflikt der EU mit dem NATO-Mitgliedsstaat Türkei über die Haltung zum Ukraine-Konflikt. Der EU-Botschafter in Ankara, Nikolaus Meyer-Landrut warnte die Türkei davor, einen „Balanceakt“ zu vollziehen. Gemeint ist der Spagat zwischen den Interessen des politisch-militärischen Bündnisses der Ukraine-Untersützter und den Interessen Russlands.

Die Türkei war in den letzten acht Jahren ein wichtiger Waffenliferant der Ukraine. Die Schwäche der ukrainischen Heeresflieger sollte durch Bayraktar TB2 Drohnen wettgemacht werden. Bis 2023 sollen in der Türkei vier von der Ukraine bestellte Korvettenschiffe mit Raketenaufrüstung fertiggebaut werden. Zwar hält die EU Erdogan weiterhin vor, kein „lupenreiner Demokrat“ – wie Gerhard Schröder Putin einmal nannte – zu sein, aber solches Engagement im Konflikt mit Russland sieht man doch gerne. 

Dass Erdogan sich jedoch rausnimmt, die Beziehungen zu Russland an den eigenformulierten Staatsinteressen der Türkei zu messen und sich deswegen immer wieder eigenständig mit Moskau über Syrien und Karabach verständigt, erscheint aus Sicht der EU als ebenso dreiste Zumutung, wie die aus US-amerikanischer Perspektive mangelnde Bereitschaft einiger EU-Länder, aus Solidarität mit der Ukraine auf lohnende Geschäfte mit Russland zu verzichten. Denn die Türkei verhandelt nicht nur mit Russland, sie unterhält auch intensive Wirtschaftsbeziehungen und bezieht ihrerseits sogar Waffen, wie die Flugabwehrraketensysteme S-400 des größten russischen Rüstungsunternehmens Almas-Antei, aus dem Land. Außerdem ist die Türkei weiterhin auf Gas-Lieferungen aus Russland angewiesen. Der Wille der Türkei, ihre eigenen Interessen in dem Konflikt hinten an zu stellen, ist daher begrenzt.

Die Entscheidung, die Meeresengen vom Bosporus und der Dardanellen für Kriegsschiffe „aller Kriegsparteien“ – also faktisch für die russische – zu schließen, traf die türkische Regierung nur zögerlich. Weiterhin läuft der zivile Luftverkehr zwischen EU und Russland über die Türkei, die sich den Sanktionen gegen die russischen Fluglinien nicht anschließt. Auch das Canceln der Auftritte russischer Künstler im Namen der Ukraine-Solidarität verurteilte Erdogan als „Hexenjagd“. Die Empörung darüber, dass ein Staat die bewaffneten Rebellen auf dem Gebiet seines Nachbarn erst unterstützt und schließlich eine Invasion zu ihren Gunsten durchführt, scheint in der Türkei nicht so groß zu sein, wie bei den NATO-Staaten – die solches Handeln der Türkei im Bezug auf Syrien zumindest tolerieren.

Dass die deutschen Medien heute gar nicht mehr so tun, als würden sie sich um Distanz zu den Kriegsparteien bemühen, sondern ohne wenn und aber die ukrainische Perspektive übernehmen, ist nun auch kein großes Geheimnis. Damit ist es für die Verbündeten der Ukraine noch nicht genug – auch in den dritten Staaten soll der Sumpf der „Putinverstehrerei“ trockengelegt werden.

Erst im März verlangte der EU-Botschafter in Ankara, dass die Türkei „russische Propagandasender“ einschränke. Das gelegentlich für seine Zensur angeprangerte Erdogan-Regime soll nun also noch mehr davon leisten. Zweifelsohne waren Sender wie Russia Today auch schon in den Vorkriegszeiten vor allem darauf ausgelegt, das Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Regierungen der sich mit Russland im Interessengegensatz befindenden Staaten zu stören. Ein wichtiges Mittel dafür sind als „unterdrückte Wahrheiten“ präsentierte Fake-News. In Kriegszeiten wird der Zirklulation von von solchen Meldungen besondere Bedeutung beigemessen.

In ihrer Sorge um die Demokratie fordert die EU also von einem souveränen Staat, er solle seine Bürger und die sich im Land aufhaltenden Touristen vor den Medien eines anderen souveränen Staates abschotten. 

Dass Erdogan Phosphorbomben einsetzt, darüber könnten seine westliche Partner noch hinwegsehen. Aber bei den russischen Nachrichtensendern ist die rote Linie endültig überschritten. 

#Foto: Wikimedia Commons

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„Maskierte Männer und Grenzbeamte treten auf Geflüchtete ein, setzen Schlagstöcke und Elektroschocks ein.“ Vor gut drei Monaten hat die freie, auf der griechischen Insel Lesbos lebende Journalistin Franziska Grillmeier in einem Beitrag für das medico-Rundschreiben, Zeitschrift der Organisation medico international, mit diesen Worten beschrieben, wie die rechtswidrigen „Pushbacks“ an der bosnischen-kroatischen Grenze meist verlaufen. Es lohnt sich, ihren Text heute noch mal gründlich zu lesen, denn es hat sich nichts geändert.

Bei der Lektüre wird vor allem ein grotesker Kontrast deutlich: Hier eine EU, die ihre Abschottung immer mehr perfektioniert, Geflüchtete aus Afghanistan, Syrien, dem Irak oder afrikanischen Ländern im Mittelmeer verrecken lässt oder an Außengrenzen in Polen, Kroatien oder Griechenland zurückprügelt — dort eine EU, deren Mitgliedsstaaten plötzlich, angesichts von mehr als 3,5 Millionen Geflüchteten aus der Ukraine, eine „Willkommenskultur“ ausrufen und sich als Leuchttürme von Freiheit, Demokratie und Humanismus aufspielen.

Menschen, die vor Krieg und Armut flüchten, sind in dieser Union nur dann willkommen, wenn sie in die geostrategischen und propagandistischen Absichten der Mitgliedsstaaten passen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Jede Solidarität gegenüber Geflüchteten ist zu begrüßen, und das gilt natürlich auch für die Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten. Aber die Reaktionen auf die Flucht von Millionen von Ukrainer*innen haben die widerliche Doppelmoral und Verlogenheit der EU deutlich gemacht. Menschen, die vor Krieg und Armut flüchten, sind in dieser Union nur dann willkommen, wenn sie in die geostrategischen und propagandistischen Absichten der Mitgliedsstaaten passen. Für den großen Rest der Geflüchteten heißt es wie bisher: „Wir müssen draußen bleiben!“

Besonders deutlich wird die Verlogenheit der EU in Polen. In ihrem Beitrag für das medico-Rundschreiben schilderte Franziska Grillmeier ihre Eindrücke von einer Fahrt an die polnisch-belarussische Grenze Ende 2021. Sie berichtete, dass auf einem über 400 Kilometer langen Grenzstreifen, in den sumpfigen Wäldern des Bialowieza-Nationalparks, seit Monaten hunderte Geflüchtete ohne medizinische Versorgung, ausreichend Wasser oder Essen festsitzen, eingekesselt zwischen belarussischen und polnischen Grenzschützer*innen. Die Journalistin zitierte den polnischen Innenminister Mariusz Kaminski, der Anfang September erklärt hatte: „Wir werden nicht zulassen, dass Polen zu einer weiteren Route für den Massenschmuggel von illegalen Migranten in die Europäische Union wird.“

Grillmeiers Bericht entspricht den Schilderungen anderer deutscher Aktivist*innen und Politiker*innen, die an der polnisch-belarussischen Grenze gewesen sind. So Henriette Quade, Landtagsabgeordnete der Partei Die Linke in Sachsen-Anhalt, die Mitte Januar mit einer Delegation in die dortige Sperrzone gereist war. Im Februar berichtete sie gegenüber junge Welt: „Es gibt dort für die Geflüchteten zwei wesentliche Bedrohungen. Das sind einmal aufgrund der Witterungslage die Kälte, die Nässe und der Hunger. Und es sind Grenzschützer, Polizisten und rechte paramilitärische Gruppen, die, mit Maschinenpistolen und Knüppeln bewaffnet, Jagd auf Menschen machen.“

Wie anders sind die Bilder und Berichte, die nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine aus Polen zu sehen sind. „Ukrainer werden in Polen mit offenen Armen empfangen“, titelte die Deutsche Welle am 19. März auf ihrer Homepage. Polens Regierung habe allen Kriegsflüchtlingen aus dem Nachbarland den Aufenthalt bis zu 180 Tagen und den Zugang zu Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem und Sozialleistungen versprochen, heißt es da. Natürlich kann man solche Maßnahmen, soweit sie nicht nur heiße Luft sind, nur begrüßen, ebenso wie das große Engagement der Zivilgesellschaft in Polen. Aber die Haltung des polnischen Staates ist heuchlerisch.

Denn an der polnisch-belarussischen Grenze hat sich gar nichts geändert. Weiterhin werden die Geflüchteten, die dort in den sumpfigen Wäldern vegetieren, am Grenzübertritt gehindert. Kerem Schamberger, seit kurzem Referent für Migration und Flucht in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international, war Mitte März mit einer Kollegin in Polen und berichtete ebenfalls in der jungen Welt von seinen Eindrücken. An der polnisch-belarussischen Grenze werde die Lage immer schwieriger, vor allem weil auch auf der belarussischen Seite kaum noch Lebensmittel zur Verfügung gestellt würden. Zudem gebe es nach wie vor Berichte über Gewalt von Seiten des Grenzschutzes auf beiden Seiten.

Schamberger wies auf das „Paradoxe der Situation“ hin, das man begreife, wenn man sich den Twitter-Account des polnischen Grenzschutzes ansehe. „Die veröffentlichen täglich, wie viele Menschen sie aus der Ukraine reingelassen haben, verbreiten Fotos von Soldaten, die das Gepäck der Flüchtlinge tragen“, sagte der Aktivist. „Im nächsten Tweet heißt es dann: Wir haben wieder 50 illegale Einwanderer daran gehindert, über die polnisch-belarussische Grenze vorzudringen.“

„Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge.“

Schamberger lieferte auch eine Interpretation des geschilderten Paradoxons. Man könne „von einer Repolitisierung und Nutzbarmachung des Flüchtlingsbegriffs“ sprechen. Diejenigen, die momentan aus der Ukraine kämen, seien die „Flüchtlinge des Westens“ und würden willkommen geheißen, „weil sie ins geostrategische Konzept passen“. Schutzsuchende etwa aus Kurdistan oder afrikanischen Ländern gehörten allerdings nicht dazu und würden nach wie vor nicht in die EU gelassen.

Wie nicht anders zu erwarten war, meldeten sich in den Medien recht schnell Journalist*innen zu Wort, die die Unterschiede bei der Behandlung von Geflüchteten rechtfertigten. Der Grundtenor dieser Erklärungen war mal mehr, mal weniger rassistisch. Der Medienunternehmer und frühere Handelsblatt-Chefredakteur Gabor Steingard äußerte im ARD-Talk Hart aber fair, Ukrainer*innen gehörten zu unserem Kulturkreis, sie seien Christ*innen – das sei schon etwas anderes als die Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan oder Somalia.

Noch deutlicher wurde Anfang März Marc Felix Serrao von der reaktionären Neuen Zürcher Zeitung. In seinem Newsletter erklärte er zuerst, es gebe Zeiten, in denen Willkommenskultur „das einzig Richtige“ sei und das sei jetzt der Fall. Das „ukrainische Volk“ habe „jede Hilfe verdient“. Europas Regierungen müssten ihm „alles an Unterstützung zukommen lassen, was unterhalb der Schwelle einer direkten Kriegsbeteiligung möglich ist“. Vor allem gelte dies „für die Frauen, Kinder und Alten, die ihr Land als Flüchtlinge verlassen“. Dann hebt Serrao zu einer Suada an, die in ihrer Widerlichkeit kaum zu übertreffen ist.

Die Ukraine sei „nicht irgendein Land“, vielmehr „ein europäisches Land“, schreibt der Journalist und betont: „Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge.“ Niemand könne „die Gefahr leugnen, in der sie stecken“. Das sei bei vielen Migranten, „die in der Vergangenheit als vermeintliche Flüchtlinge nach Europa gekommen sind“, aber anders. Serrao: „Während die Männer in Charkiw und Kiew für ihre Heimat kämpfen und dafür sorgen, dass ihre Frauen und Kinder in Sicherheit kommen, waren es in früheren Jahren auffallend oft junge Männer, die von anderen Kontinenten nach Europa kamen. Ihre Familien ließen sie zurück.“ Menschenverachtender geht es kaum noch. Es ist aber zu befürchten, dass solche Positionen bis weit ins Bürgertum hinein Konsens sind.

Die Doppelmoral der EU fällt vielen hierzulande daher wohl auch kaum auf, entspricht diese doch der Lebenshaltung, die ihnen selbst nur allzu vertraut ist. Darum wird dieses Thema in den bürgerlichen Medien auch nur wenig thematisiert. Immerhin sind immer wieder mal kritische Töne zu vernehmen, so in einem Gastkommentar, den das Portal t-online kürzlich veröffentlichte. Darin ging es um das Verhalten der dänischen Regierung in der Flüchtlingsfrage, die in puncto Verlogenheit das Vorgehen der polnischen Regierung sogar noch toppte.

Für die Geflüchteten aus der Ukraine wird eine Ausnahme gemacht, mehr nicht.

Noch Anfang 2021 hatte die rechts-sozialdemokratische Premierministerin Mette Frederiksen als Ziel ‚null Asylsuchende im Land‘ ausgegeben. Jetzt legte die Regierung eine „beispiellose Kehrtwende“ hin, wie die Politikwissenschaftlerin Carolin Hjort Rapp von der Universität Kopenhagen am 19. März bei t-online schrieb. Seit kurzem erhalten Ukrainer*innen in Dänemark ohne Visum oder Asylantrag eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis: Damit dürfen sie arbeiten gehen, ihre Kinder können Schulen und Kindergärten besuchen. Das regelt ein Sondergesetz, das vom Parlament im Eilverfahren mit breiter Mehrheit beschlossen wurde.

Eine breite Mehrheit im dänischen Parlament hatte im Februar 2016 auch ein Gesetz ermöglicht, das allgemein „Schmuckgesetz“ genannt wird. Flüchtlingen kann seitdem Bargeld und Wertsachen ab einem Wert von 10.000 Kronen, umgerechnet 1340 Euro, abgenommen werden, um ihre Unterbringung mitzufinanzieren. Der Familiennachzug wird erschwert und die Dauer von Aufenthaltsgenehmigungen verkürzt. Mit diesem Gesetz sollten Flüchtlinge explizit abgeschreckt werden. Als die ersten ukrainischen Geflüchteten in Dänemark auftauchten, brachte die Regelung die Behörden in die Bredouille. Blonden, blauäugigen Menschen, die gerade einem Krieg entronnen waren, wollte die Regierung dann doch Schmuck und Geld nicht abnehmen. Sie sollen von dem Gesetz ausgenommen werden.

Zum Schluss sei erneut der Beitrag von Franziska Grillmeier zitiert, die im medico-Rundschreiben Ende 2021 schrieb:

„Für diejenigen, die es noch durch die Grenzkontrollen schaffen, bleibt in den Hochsicherheitslagern auf den griechischen Inseln, in den Haftanstalten in Polen oder in den isolierten Fluchtheimen in Kroatien meist nur das Warten ohne Ziel. In Griechenland allein sitzen im Moment 2400 Menschen in Abschiebeanstalten fest, ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen soll. Auch hier hat die Presse keinen Zugang. Aus einer humanitären Krise, die Tausende Menschen 2015 aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in Richtung Europa fliehen ließ, wurde eine europäische Wertekrise. An den Grenzen ist eine rechtliche Parallelwelt entstanden, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit existiert und durch die gezielte Verunsicherung der lokalen Bevölkerung und Kriminalisierung humanitärer Hilfe möglich gemacht wird.“

Daran hat sich nichts geändert und das wird es auch nicht. Für die Geflüchteten aus der Ukraine wird eine Ausnahme gemacht, mehr nicht. Für sie öffnet sich eine Tür in der Mauer, die hinter ihnen sofort wieder zugeschlagen wird.

#Titelbild: Sandor Csudai

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Die Abschottungspolitik der Europäischen Union führt immer wieder zu Eskalationen an den Außengrenzen der Staatengemeinschaft. Zuletzt hat sich die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze zugespitzt, weil eine wachsende Zahl Geflüchteter versucht, über diese Route in die EU zu gelangen. Als Antwort entsandte die polnische Regierung tausende Soldaten an die Grenze und richtete eine Sperrzone ein, in die weder internationale Beobachter noch Ärzte und Journalisten gelassen werden. Helfer dringen dennoch unter Inkaufnahme persönlicher Risiken zu den Geflüchteten vor. Sie berichten von unhaltbaren Zuständen. Die Aktion Mauerfall jetzt! – bestehend aus der Seebrücke DeutschlandLeaveNoOneBehind und dem Verein Wir packen’s an aus dem brandenburgischen Bad Freienwalde – brachte vor kurzem mit einem Bus Sachspenden an die Grenze. Unter den Aktivisten war auch Tareq Alaows, aktiv bei Seebrücke und dem Flüchtlingsrat Berlin. Im Interview mit dem Lower Class Magazine berichtet er von der Aktion und der Lage an der Grenze. 

Ihr wolltet den Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze Hilfsgüter bringen. Wie ist es gelaufen?

Leider sind wir nicht bis zur Grenze durchgekommen. Direkt an der Sperrzone wurde der Bus gestoppt. Plötzlich war überall Polizei, uns wurde erklärt, dass wir umkehren müssten. Die Situation war so eskalierend, dass wir das wir das Gefühl hatten, man würde uns in Gewahrsam nehmen, wenn wir noch geblieben wären. Schweren Herzens haben wir uns zur Umkehr entschlossen, da eine Konfrontation hier keinen Sinn gemacht hätte. Die Hilfsgüter, die wir dabei hatten, haben wir an humanitäre Organisationen übergeben, die eine Möglichkeit haben, sie Geflüchteten zukommen zu lassen. 

Erklärtes Ziel eurer Aktion war neben dem Transport von Sachspenden, geflüchtete Menschen auf der Rückfahrt mit nach Deutschland zu nehmen. 

Ja. Wir hatten beim Bundesinnenministerium um eine Erlaubnis gefragt, dass wir Geflüchtete im Bus mit nach Deutschland zurücknehmen können. Es lagen bereits Zusagen von drei deutschen Kommunen vor, die Menschen aufzunehmen. Aber wie nicht anders zu erwarten war, hat das BMI (Bundesministerium des Inneren, Anm.) auf unser Hilfsangebot nicht reagiert. 

Habt Ihr denn bei eurer Aktion Geflüchtete treffen können?

Vor Ort ging das leider nicht. Aber ich bin über die sozialen Medien im Kontakt mit vielen geflüchteten Menschen in der Grenzregion. Weil ich eine relativ große Reichweite in den entsprechenden Communities habe und selbst arabisch spreche, schreiben sie mich dort an. Ich komme ja aus Syrien und bin vor sechs Jahren selbst geflüchtet und dann nach Deutschland gekommen, habe hier deutsch gelernt. 

War hörst du über die Lage vor Ort? Es heißt die Versorung sei miserabel, die Menschen der Kälte und Witterung seit Tagen und Wochen fast schutzlos ausgeliefert. Ein Video des belarussischen Fernsehens zeigte Menschen, die um Lagerfeuer kauern. 

Von der belarussischen Seite gibt es überhaupt keine Versorgung. Die Menschen haben faktisch nur die Sachen, die sie mit sich tragen. Wer also eine Decke mitgebracht hat, der hat eine. Wer keine dabei hatte, hat eben keine. Sie versuchen, sich an Lagerfeuern ein wenig zu wärmen. Auch zu Essen und zu Trinken haben die Menschen zu wenig. Viele sind schon länger dort. Sie kommen weder über die von Grenzpolizisten und Soldaten gesicherte polnische Grenze, noch kommen sie zurück nach Belarus. Die Grenzer auf belarussischer Seite lassen sie nicht durch, um zum Beispiel etwas zum Essen oder zu Trinken zu beschaffen. 

Das heißt, die Menschen sind im Grunde eingesperrt in den Wäldern.

Sie stecken fest im Niemandsland zwischen den beiden Staaten, kommen nicht vor und nicht zurück. 

Bis vor kurzem war von zehn bestätigten Todesfällen die Rede, Menschen, die erfroren oder an Dehydrierung gestorben sind. Jetzt kam noch ein Fall hinzu.

Ja, es ist schrecklich. Ein 14 Jahre alter Junge wurde heute morgen tot aufgefunden, offensichtlich ist er erforen. Viele Berichte, die ich von Geflüchteten aus der Region empfange, sprechen von viel mehr Toten als den jetzt elf bestätigten. Die Dunkelziffer ist hoch. Viele Geflüchtete, die durchgekommen sind und hier in Deutschland ankommen, berichten, dass sie in den Wäldern Leichen gesehen haben. 

Wie viele Geflüchtete halten sich denn nach deinen Kenntnissen in der Grenzregion auf?

Laut den Zahlen, die ich bekomme, sind es 4000 bis 5000 Personen. Aber es könnten auch noch mehr sein. 

Es heißt, die polnischen Grenzpolizisten und Soldaten würden äußerst brutal gegen die Menschen vorgehen. Die Männer, die es geschafft hätten und hier ankommen, hätten fast alle Hämatome oder andere Verletzungen. Entspricht das deinen Erkenntnissen?

Das kann ich bestätigen, auch auf Grundlage der Berichte meiner Kollegen aus der Flüchtlingsberatung in Berlin. Es liegen viele Berichte von Gewaltspuren an den Körpern der Menschen vor, meist erwachsene Männer. Es wird von hunderten rechtswidrigen Pushbacks berichtet, die mit Gewalt verbunden sind. Von denen, die hier sind, sind die wenigsten gleich beim ersten Mal durchgekommen. Als wir vor Ort waren, bekam ein Aktivist einen Anruf von einer achtköpfigen Familie mit schwerkranker Tochter. Die hatte drei oder vier Mal versucht, über die Grenze zu kommen. Es wurde berichtet von Gewaltspuren bei diesen Menschen, das Kind wurde nicht medizinisch versorgt. Wir wissen nicht, wie es ihnen jetzt geht und wo sie sind. 

Hierzulande hat die Entwicklung eine üble Kampagne in den Leitmedien und viel Hetze in den sozialen Medien ausgelöst. Bild, Welt, die FAZ und viele andere Medien haben kritiklos das Narrativ übernommen, es handele sich um einen „hybriden Krieg“ des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, die Geflüchteten würden „als Waffen benutzt“. Was sagst du dazu?

Diese Berichterstattung und die Debatte führen zu einer Enthumanisierung. Wir haben es mit Menschen zu tun, die in Not sind. Sie kommen zu einem großen Teil aus Syrien, Irak und Afghanistan. Das sind Länder die instabil sind, in denen es Kriege gibt oder gab. Die Not dieser Menschen wird von Lukaschenko missbraucht, keine Frage. Aber die politische Antwort der EU kann nicht sein, dass neue Zäune und Mauern errichtet werden, sondern die müssen abgebaut werden. Ich begreife nicht, woher diese Angst vor den geflüchteten Menschen kommt. Wir machen uns doch erpressbar, wenn wir mit Panik reagieren. Die Gesamtzahl der Menschen an der Grenze liegt, wie gesagt, bei etwa 5000 Personen. Wenn die alle aufgenommen und in ganz Europa verteilt werden, dann machen sie einen Anteil von 0,01 Prozent der europäischen Bevölkerung aus. 

Rechte Politiker und Medien wie die Bild-Zeitung arbeiten mit dem Framing, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Den Satz kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung heraus nur bekräftigen – allerdings ganz anders, als etwa die CDU oder die AfD es meinen. Ich gehöre zu den Menschen, die damals nach Deutschland gekommen sind und weiß, wovon ich rede. 2015 bedeutet soviel Leid, bedeutet brutale Reaktionen gegen geflüchtete Menschen, 2015 steht für viele, die ertrunken sind. Und das ist es, was sich auf keinen Fall wiederholen darf. Darum müssen wir sichere Fluchtwege schaffen, dass Menschen Asyl außerhalb von Europa beantragen können und sich nicht auf solche lebensgefährlichen Routen begeben müssen. 

Die EU scheint das Elend der Menschen an der Grenze nicht zu interessieren. Offenbar geht es nur darum, die Abschottung um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Ist es nicht absurd, wenn EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen, Lukaschenko Zynismus vorwirft?

Natürlich. Die EU macht ja selbst zynische Deals mit Diktatoren, nur um Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Zum Beispiel der sogenannte Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Oder der Deal mit der so genannten libyschen Küstenwache, das sind paramilitärische Gruppen, die von der EU finanziert werden, um Geflüchtete aufzuhalten. Das Muster ist immer dasselbe, man will null Asylbewerber in Europa. Aber das funktioniert einfach nicht, weil die Menschen aus Ländern kommen, in denen sie keinerlei Perspektive haben. Selbst wenn die Hoffnung für sie, ein sicheres Leben in Europa zu führen, noch so gering ist, ist das noch eine Hoffnung – in ihrer Heimat haben sie gar keine Hoffnung mehr. 

#Titelbild: Srishti Pandya on unsplash

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Anbieter von Messengern und Cloud-Diensten dürfen weiter freiwillig nach strafwürdigen Inhalten zum Kindesmissbrauch suchen, dies könnte bald in der gesamten EU verpflichtend werden. Rat und Kommission drängen auf eine Ausweitung auf andere Kriminalitätsbereiche. Kommende Woche veröffentlichen die EU-Innenminister:innen dazu eine Erklärung.

Am 1. Dezember wollte die Europäische Kommission ihren Vorschlag für eine Verordnung zur „Erkennung, Entfernung und Meldung illegaler Online-Inhalte“ im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern präsentieren. Anbieter von Messenger-Diensten oder Chatprogrammen würden darin verpflichtet, die private Kommunikation automatisiert auf entsprechendes Material zu durchsuchen.

Doch die bereits verspätete Vorlage wird nun abermals verschoben. Das geht aus einem Vergleich der Tagesordnungen der Kommission hervor. In der letzten Fassung vom 26. Oktober ist der Gesetzgebungsvorschlag nicht mehr enthalten. Ursprünglich wollte die Kommission die EU-Verordnung bereits im Frühjahr vorlegen. Einen neuen Termin gibt es bislang nicht.

Freiwillige Übergangslösung

Bis Ende 2022 ist den Internetanbietern bereits die freiwillige Durchleuchtung der Kommunikation erlaubt. Die Kommission hatte dafür eine Interims-Verordnung ausgearbeitet, der zunächst der Rat und anschließend das Parlament vor der Sommerpause zugestimmt haben. Dies betrifft ausschließlich unverschlüsselte Kommunikation bzw. Plattformen, bei denen die Anbieter Zugang zu Inhalten haben.

Große Firmen wie Apple, Google und Microsoft machen davon bereits seit Jahren Gebrauch. Der freiwillige Einsatz der automatisierten Scanner verstieß jedoch gegen die EU-Datenschutzgrundverordnung und die E-Privacy-Verordnung, die derzeit verhandelt wird. Die in aller Hektik durchgebrachte Ausnahmeregelung sollte den Firmen deshalb entgegenkommen.

Die nun geplante Verpflichtung zum Durchleuchten der Kommunikation soll auch verschlüsselte Inhalte umfassen, darunter Dienste wie Signal, Threema oder WhatsApp. Dies hat die Kommission gegenüber dem Europaabgeordneten Patrick Breyer kürzlich bekräftigt. Breyer hat für die zunächst freiwillige und bald erzwungene Durchsuchung von Internetinhalten das Wort „Chatkontrolle“ geprägt.

Einzigartige Massenüberwachung

Warum die Kommission den Vorschlag für die Folgeverordnung verschiebt, ist nicht bekannt. Jedoch gibt es seit der Ankündigung im vergangenen Jahr viel Kritik von Bürgerrechtsorganisationen, Krypto-Expert:innen und Abgeordneten. Befürchtet werden etwa falsche Treffer vor allem unter Jugendlichen, wenn sich diese über sexuelle Themen austauschen.

Wie bei der Vorratsdatenspeicherung wäre die vorgesehen Verpflichtung zur Inhaltskontrolle ein einzigartiger Angriff auf die grundrechtlich gesicherte Vertraulichkeit der Kommunikation. Bei den Plänen handelt es sich um eine Massenüberwachung, die zum allergrößten Teil Unschuldige betrifft. Kritisiert wird außerdem, dass die Überprüfung womöglich strafwürdiger Inhalte an Private ausgelagert wird. Diese sollen Verdachtsfälle dann automatisch an Ermittlungsbehörden weiterleiten.

Im Sommer hatte Apple angekündigt, die Erkennung von „Child Sexual Abuse Material“ (CSAM) bereits auf seinen Geräten vornehmen zu wollen. Dieses Verfahren, das ausdrücklich für verschlüsselte Kommunikation und Cloud-Daten entwickelt wurde, wird als „Client-Side Scanning“ (CSS) bezeichnet. Ab einer bestimmten Anzahl an gefundenen Dateien würde dann die Polizei informiert. Die Firma bezeichnete dies als Spagat zwischen dem berechtigten Bedürfnis zur Strafverfolgung und der Privatheit der Telekommunikation. Auch die EU-Kommission ließ ähnliche technische Verfahren untersuchen. Nach teils heftiger Kritik zog Apple das Vorhaben zunächst zurück.

Ausweitung auf „öffentliche Sicherheit“ und „Terrorismus“

Absehbar ist, dass eine Regelung zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern auf andere Kriminalitätsphänomene ausgeweitet wird. In zahlreichen Schlussfolgerungen oder anderen Stellungnahmen zum Zugang zu verschlüsselten Inhalten haben der Rat und die Kommission hierzu „Terrorismus“ und „innere Sicherheit“ ins Spiel gebracht.

In einer Woche treffen sich die EU-Innenminister:innen unter slowenischer Ratspräsidentschaft in Brdo zu einer „Konferenz über die Prävention und Untersuchung von sexuellem Kindesmissbrauch“. Der britischen Bürgerrechtsorganisation Statewatch liegt das geplante Abschlussstatement vor, das bereits an einigen Stellen redigiert wurde. Eingeladen sind auch die assoziierten Schengen-Staaten, die westlichen Balkanstaaten sowie USA, auf deren Hoheitsgebiet die meisten großen Anbieter von Internetdiensten ihren Sitz haben.

In ihrem Papier wollen die Minister:innen nach derzeitigem Stand fordern, „die notwendigen Instrumente, Mechanismen und gesetzlichen Instrumente [zur Verfolgung von Straftaten des sexuellen Kindesmissbrauchs] zu entwickeln und auf nationaler Ebene umzusetzen“. Die vage Formulierung wird einige Absätze später konkretisiert. Benötigte „Lösungen“ müssten die Verschlüsselung, aber auch ein Festhalten an der Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten und die Herausgabe „digitaler Beweismittel“ betreffen (auch hierzu plant die EU eine Gesetzgebung). Abermals wird die Nutzung der Technologie auch zur „Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit“ ins Spiel gebracht.

# Titelbild: Charles Deluvio on Unsplash.

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“Bosnia grave of the doomed.” Der Spruch, einer der wenigen auf Englisch, steht an der Wand eines Gebäudes in der Stadt Bihac im nördlichen Kanton Una-Sana, nur 10 km von der kroatischen Grenze entfernt.
Er macht deutlich, dass die Balkanroute nicht nur hier durchführt, sondern hier auch endet. Europa liegt dort drüben, jenseits der Berge, die den Blick nach Westen versperren und ein klaustrophobisches Gefühl vermitteln. Mit knapp über 60.000 Einwohner*innen ist Bihac zu einem Grenzaußenposten geworden.

Die Grenze davor ist eine der am meisten kontrollierten auf der Route. Anders als Ungarn, das eine unpopuläre Mauer errichten ließ, schützt sich Kroatien mit einer Hightech-Ausrüstung aus Drohnen, Bewegungsmeldern und Wärmebildkameras. Trotz moderner Technik sind die Methoden immer noch die alten: Es ist überall bekannt, dass die kroatische Grenzpolizei geflüchtete Menschen verprügelt und ihres Geldes, Handys, Schuhe und Kleidung beraubt, bevor sie sie zurück nach Bosnien abschiebt. All das mit Zustimmung der europäischen Institutionen, subventioniert aus Gledern der EU (108 Millionen für die Jahren 2014-2020, Ende 2018 noch um 6,8 Millionen aufgestockt) und unter Missachtung des internationalen Rechts, das eine Überprüfung der Asylanträge vorschreibt. Für Menschen, die illegal nach Europa einreisen müssen wird Bosnien immer mehr zu einer Sackgasse, in der sie Monate und Jahre ihres Lebens verlieren.
Gewissheit, wieder herauszukommen, haben sie nicht.

Viele kommen aus dem Iran, Irak und aus afrikanischen Ländern, die meisten jedoch aus Pakistan und Afghanistan. Wie Sakine, eine 36-jährige Afghanin, die der schiitischen Minderheit der Hazara angehört. Sie durchquerte den Iran, die Türkei, Griechenland, Albanien und Montenegro, aber seit Monaten sitzt sie an der kroatischen Grenze fest. “Wir versuchen es seit fast einem Jahr, wir sehen kein Ende”, sagt sie. Zusammen mit ihrem Mann Jawad und ihren 4- und 8-jährigen Töchtern haben sie mehr als 30 Mal versucht, Europa zu erreichen. Dort möchten sie den Mädchen eine Ausbildung ermöglichen. Das letzte Mal nahm die kroatische Polizei ihnen alles weg und drängte sie dann mit Schlagstöcken, Tasern und Hunden zurück über die Grenze.
“Gegenüber Kroatien verlieren wir gerade unsere Hoffnung”, gesteht die Frau.

Sakine und Jawad leben mit anderen afghanischen Familien in einem verlassenen Haus in der Nähe von Velika Kladusa, der anderen Stadt des Kantons, die nahe der Grenze liegt. In Bosnien sind solche Häuser mit freiliegenden roten Ziegeln überall zu sehen. Sie werden verlassen, bevor sie überhaupt fertig sind. Die Besitzer haben entweder kein Geld mehr oder wandern einfach aus, vielleicht nach Deutschland oder Österreich. Sie wollen einem Land ohne Perspektive entkommen, in dem Durchschnittslöhne knapp 400 Euro betragen und Jugendarbeitslosigkeit bei 60 % liegt. Dass in vielen dieser Häuser auf dem Weg zwischen Bihac und Velika Kladusa nun Menschen, die Europa erreichen wollen, Zuflucht gefunden haben, gibt einem zu denken. Es scheint so, als wären die Häuser eine Art Erbe – hinterlassen von diejenigen, die vor Jahren auf der Suche nach Hoffnungen und Träumen ausgewanderten, dieser neuen Generation von “Verdammten”, die Bosnien nicht verlassen können.

Gleichermaßen erinnern die Namen der alten und neuen besetzten Gebäude in Bihac, in denen Geflüchtete in absoluter Not und ohne staatliche Unterstützung leben, an wilde Privatisierungen und Bankrotte, die nach Ende des jugoslawischen Sozialismus stattfanden: Kombitex, wo noch etwa 100 Menschen leben, war ein Textilunternehmen; Dom Penzionera, wo 300 Menschen lebten, war ein Altenheim, das aufgrund eines Korruptionsskandals nie eröffnet wurde; Krajina Metal, wo kürzlich 200 Menschen Unterkunft fanden, war eine ehemalige Fabrik für Metallteile; selbst im ehemaligen Lager von Bira, das letztes Jahr infolge von Bürgerprotesten geschlossen wurde, wurden einst Kühlschränke hergestellt. Das frühere Scheitern der produktiven Infrastruktur, die ausverkauft und zum Zusammenbruch geführt wurde, überschneidet sich nun mit dem Scheitern des Empfangssystems – wenn man es überhaupt als Empfang bezeichnen kann.

Ein Junge aus Afghanistan in der Nähe der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien

Denn während die EU darauf beharrt, geflüchtete Menschen außerhalb ihrer Grenzen zu halten, tut die bosnische Regierung ihrerseits alles, um die Lage im Kanton Una-Sana unerträglich zu machen. Der Plan ist, Regierungslager als einzige Alternative vorzuschreiben. Ins Lager von Lipa wollen aber viele Menschen nicht. Es liegt total isoliert auf einer Hochebene 28 km von Bihac entfernt, zu weit von der Grenze entfernt, die sie überqueren wollen und zu Fuß erreichen müssen. Der Lager untersteht der SFA (Service for Foreigner’s Affairs) und wird nach einem Brand im vergangenen Dezember weiter ausgebaut. Untergebracht sind in ihm derzeit 600 Personen, bei einer Kapazität von 900 Personen hat die Regierung 30 Militärzelte, eine gleiche Anzahl von chemischen Toiletten und einige medizinische Container aufgestellt, in denen hauptsächlich Schmerzmittel verteilt werden. Als Mitte Juli die Touristensaison begann und die Räumung einiger großer von Geflüchteten besetzen Gebäude – darunter auch Krajina Metal – stattfand, machten sich Menschen, die in das Lager deportiert worden waren, auf den Weg nach Bihac zurück. Sie gingen wieder in informelle Unterkünfte: Gebäude und Zeltlager ohne Strom und Wasser und mit kritischen hygienischen Bedingungen. Verschärft wird diese Lage durch das Verbot von Hilfeleistungen (einschließlich medizinischer Versorgung) und der Verteilung grundlegender Güter außerhalb der Regierungslager, so dass internationale NGOs und Gruppen gezwungen sind, im Verborgenen zu arbeiten.

Der Versuch, die Grenze zu überqueren, scheint so als einzige Möglichkeit. Selbst für diejenigen, die erschöpft einen Asylantrag in Bosnien stellen möchten, sind die Fristen so lang, dass sie davon abgeschreckt werden: 300 Tage für die Formalisierung des Antrags, 400 Tage für die erste Anhörung, die einen aus der Illegalität holen könnte. Es gibt nur “the game”, wie Geflüchtete die Grenzüberquerung nennen: Gewinnt man, ist man in Europa; verliert man, verliert man alles, manchmal sogar sein Leben – wie der fünfjährige afghanische Junge, der am 30. Juli im Fluss Una ertrank, als er mit seiner Familie versuchte, Kroatien zu erreichen. Der Anteil von denen, die es schaffen, ist sehr gering, die Verzweiflung und Zähigkeit aber so groß, dass sie als letzte Form des Widerstands erscheint. An dieser Grenze kämpfen Menschen nur mit ihrem eigenen Körper, gegen Müdigkeit, Schläge, Wunden. Eine Chance haben hier, wie anderswo auch, nur diejenigen mit Geld: 3.500 Euro kostet ein “taxi game”, damit kann man mit dem Auto Italien erreichen. Allen anderen bleibt nichts anderes übrig, als sich zu Fuß auf den Weg zu machen, nachts, manchmal über Felder, die noch vom Krieg vermint sind. Von hier bis Triest sind es zwölf Tage Fußmarsch und drei Grenzen, an denen man geschlagen, abgeschoben und zum Ausgangspunkt zurückgebracht werden kann, zurück nach Bosnien, dem Grab der Verdammten.

#Text und Bilder: Elisa Scorzelli und Fabio Angelelli

Ursprünglich erschienen auf italienisch in il manifesto unter dem Titel “Benvenuti in Bosnia, la tomba dei dannati”

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Am 17. Dezember verstarb in der Berliner Charité mit 61 Jahren Gennadi Adolfowitsch Kernes an den Folgen einer COVID-19-Infektion. Der Bürgermeister von Charkow war eine der markantesten Figuren der ukrainischen Politik der letzten Jahrzehnte. Anhand seines Lebenslaufs lässt sich die Entwicklung des postsowjetischen Kapitalismus besser verstehen.

Die ursprüngliche Akkumulation

Der 1959 im Charkow geborene Gennadi Kernes schlug sich nach dem Abschluss einer Berufsschule mit Gelegenheitsjobs durch, bis er ein Geschäftsmodell entwickelte, das in einem Staat, der private unternehmerische Tätigkeit für immer abschaffen wollte, schnellen, wenn auch illegalen Reichtum versprach. Die Sowjetunion verbat ihren Bürger:innen den Besitz von Devisen, bot aber gleichzeitig für die ausländische Tourist:innen begehrte, weil in Einzelhandel kaum vorhandene Waren in speziellen Läden an um an harte Weltwährungen zu kommen. Um diese Läden herum blühte ein Schwarzmarkt für Devisen und „Zertifikate“, die zum Betreten der Läden berechtigten. Die Sowjetbürger:innen, die in den Westen auswandern wollten, versuchten ihre Wertsachen gegen im neuen Leben dringend benötigte Dollar einzutauschen. Und genau diese Dollars behaupteten Kernes und seine Geschäftspartner anzubieten. Als besonders effektiv erwies sich, wenn während Übergabe ein woher geschmierte Milizionär (sowjetische Polizei) am Horizont erschien. Die Opfer des Betrugs suchten so ohne Nachzählen mit einem Bündel angeblicher Dollar das Weite. Da die ganze Transaktion illegal war, hatte Kernes nicht zu befürchten, dass sich eines seiner Opfer an die Miliz wenden würde, mit der Beschwerde, statt Dollar eine Packung geschnittenes Papier im Tausch für Edelmetalle oder Rubel erhalten zu haben.

Kurz vor dem Ende der Sowjetunion landete Kernes dann doch noch auf der Anklagebank und wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. In die unabhängige Ukraine, der ein Übergang zur Marktwirtschaft bevorstand, kam er dank seiner vorherigen Tätigkeit mit zwei Dingen, die unentbehrlich für eine erfolgreiche Kapitalistenkarriere waren – Startkapital und die richtigen Bekanntschaften.

Politische Ökonomie

Als sich „Gepa“, wie Kernes in einschlägigen Kreisen genannt wurde, 1998 für den Gang in die Politik entschloss, kontrollierte seine NPK-Holding bereits die wichtigsten Medien der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Er war eine der Schlüsselfiguren bei der Privatisierung des ehemaligen sowjetischen Staatseigentums. Als Sekretär des Stadtrates und enger Vertrauter und Wahlkampfsponsor des damaligen Bürgermeisters Michail Dobkin konnte er bei der Vergabe von Aufträgen an die Privatunternehmen mitentscheiden.

Die erste „Orangene Revolution“ 2004/2005 zwang ukrainische Politiker:innen zu unangenehmen Entscheidungen: Der Wahlsieg des als prorussisch geltenden Wiktor Janukowitsch wurde von den Anhänger:innen seines prowestlichen Herausforderers Wiktor Juschenko als Resultat massiver Fälschungen beanstandet. Kernes ergriff zuerst entschlossen die Partei für das prowestliche, „orangene“ Lager und überlebte sogar ein Attentat der prorussischen paramilitärischen Organisation „Oplot“. Doch 2010 trat Kernes Janukowitschs „Partei der Regionen“ bei. Im selben Jahr wurde er als Nachfolger Dobkins zum Bürgermeister von Charkow gewählt.

Als im es Winter 2013/14 wieder zu Massenprotesten gegen den inzwischen doch noch zum Präsidenten gewählten Janukowitsch kam, zeigte sich Kernes als bekennender Gegner des „Maidans“. Die neue ukrainische Regierung befürchtete, dass in Charkow, wie in Donezk und Lugansk die prorussischen Kräfte die Oberhand gewinnen könnten. Seite an Seite mit den „Oplot“-Aktivisten traten Kernes und Dobkin bei den Anti-Maidan-Demos auf. Die Tatsache, dass in der neuen Regierung das Amt des Innenministers an den Charkower Multimillionär Arsen Awakow ging, der als Erzfeind von Kernes galt, trug ebenfalls zu Spannungen bei. Nachdem er sich im Februar 2014 in Genf mit dem Oligarchen Igor Kolomoiski traf, der schon früh für den Maidan Partei ergriffen hatte, änderte Kernes seine Position erneut. Er flog nach Charkow zurück und sprach vor pro-russischen Demonstrant:innen darüber, dass Charkow sei ein Teil der unabhängigen Ukraine und werde es immer bleiben.

Am 7. April wurden in Donezk und Lugansk die Gründung der „Volksrepubliken“ verkündet, am 8. April nahm in Charkow eine aus der Westukraine eingeflogene Polizeispezialeinheit die Anti-Maidan-Aktivisten, die sich in dem Gebäude der Stadtverwaltung verbarrikadiert hatten fest. Im russischsprachigen Charkow fand kein „Russischer Frühling“ statt und die neuen Machthaber ließen Kernes im Amt, obwohl er für sie eine der meist verhasstesten Figuren der ukrainischen Politik war. Schließlich galt er als einer der Geldgeber der „Tituschki“ – Provokateure und Schlägertrupps im Zivil, die in den Tagen der Maidanproteste berüchtigt wurden. Während Kernes weiterregierte, setzte sich der Anführer von „Oplot“, Jewgeni Schilin, der die Kader für „Tituschki“ bereit stellte, erst in die „Volksrepublik Donzek“ und später nach Russland ab, wo er im September 2016 von einem Unbekannten erschossen wurde.

Nun galt Kernes als ein Garant der Stabilität im Region, zumal als ein Schützling von Kolomoiski, dessen Gewicht in der ukrainischen Politik beständig wuchs. Dass die politische Macht in der Ukraine kaum von der wirtschaftlichen getrennt ist, wird zwar von vielen westlichen Beobachter:innen kritisiert, dennoch gelten alle Politiker:innen, die sich gegen die „Volksrepubliken“ entschieden hatten als, vom Standpunkt der „guten Demokrat:innen“, kleineres Übel.

Am 28. April 2014 entging Kernes nur knapp dem Tod, als ihn die Kugel eines Heckenschützes traf. Das Attentat wurde nie aufgeklärt, obwohl der von nun an den Rollstuhl gefesselte Kernes, dem Innenminister Awakow die Schuld gab. Ab diesem Zeitpunkt war der Charkower „Stadtvater“ in Augen seiner Wähler:innen ein Märtyrer. Ein Jahr nach dem Attentat wurde er als erster Bürgermeister in der neueren Geschichte der Stadt für eine zweite Amtszeit wiedergewählt – mit satten 65,8 Prozent der Wähler:innenstimmen.

Kapitalist, Demokrat, König

„Gepa, der König von Charkow“ war in der Tat durchaus populär bei der Bevölkerung. Er gab sich stets als Lokalpatriot, der einerseits gewillt ist, sich mit Kiew anzulegen, andererseits aber auch immer zu Kompromissen bereit ist, wenn sie nur für neue Geldflüsse in die Region sorgten.

Unter Kernes wurden mehrere Industrieanlagen aus der Sowjetzeit stillgelegt und abgerissen, an ihrer Stelle entstanden riesige Wohnkomplexe. Ein Teil der Wohnungen wurde „sozial schwachen“ Familien zugeteilt, während der Großteil profitabel verkauft wurde. Kernes machte Charkow zu einer der saubersten Städte der Ukraine, aber bei jedem Bau- oder Renovierungsprogramm kam es zu Skandalen um Geldwäsche, die Vermittlung der Aufträge und überhöhte Preise, für die die Stadtverwaltung Baumaterialien bei „befreundeten“ Unternehmen bezog. Kernes machte Charkow zur Vorzeigestadt in Sachen Barrierefreiheit – aber erst als er selber auf einen Rollstuhl angewiesen war. Er verhinderte den Abbau der sowjetischen Denkmäler – obwohl er selber vom Zerfall der Sowjetunion unmittelbar profitiert hatte. Er schützte den Status der russischen Sprache – und behielt die Macht, weil er Charkows Verblieb in der Ukraine sicherte. Bei seinen Wahlkämpfen wurde er von Unternehmerverband und Gewerkschaften der Stadt gleichermaßen unterstützt.

Als Faktor in der gesamtukrainischer Politik konnte der „König von Charkow“ nur bedingt wirken. Er galt zwar weiterhin als ein Überbleibsel der Janukowitsch-Zeit. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 unterstützte Kernes offiziell den Amtsinhaber Petro Poroschenko, der vom Newcomer Wolodymyr Selenskyj vernichtend geschlagen wurde. Poroschenko war auch mal Mitglied in Janukowitschs „Partei der Regionen“, stand nach dem Sieg von Maidan gerade für unbedingte Westbindung. Selenskyj wurde im Wahlkampf nachgesagt von Kolomojski unterstützt zu werden. Der Kreis der Akteur:innen der ukrainischen Politik scheint sich wenig zu ändern. Noch vom Berliner Krankenbett aus gewann Kernes die Regionalwahlen am 25. Oktober 2020. So treibt nach seinem Tod eine Frage die ukrainische Öffentlichkeit um: Was passiert mit dem Charkower Modell, das voll und ganz durch die Person Kernes zusammengehalten wurde?

Das Gepas Charkow keine Stadt war, wo Kapital frei vor sich hin konkurrieren konnten, weil bereits die Konkurrenz mit außerökonomischen Gewaltmitteln ausgefochten war und ihre Gewinner:innen das Geld aus der Staatskassen in ihre eigene Kassen scheffeln, haben die Anhänger:innen von „richtiger“, „reiner“ Marktwirtschaft häufig moniert. Dies ist aber keine Anomalie, sondern direkte Folge der Einführung des Kapitalismus auf den Ruinen des Realsozialismus. Neukapitalistische Länder müssten sich den Spielregeln stellen, die ihnen keine reale Chancen einräumen. Dass der ukrainischer Staat kein ideeller Gesamtkapitalist wurde, sondern zum umkämpften Instrument solcher Kapitalisten wie Kernes (auf der Regionalen Ebene) oder Kolomojski (auf Landesebene) – das ist nicht einfach nur deren Verkommenheit geschuldet.

# Titelbild: Sergiy Bobok. From Wikimedia Commons. License CC BY-SA 4.0, Massenandrang bei Kernes’ Beerdigung am 04.01.2021

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Nach den Präsidentschaftwahlen in Moldawien spielt sich dort ein Machtkampf zwischen Maia Sandu von der Partei „Aktion und Solidarität“ (PAS) und Igor Dodon von der Partei der Sozialisten der Republik Moldau (PSRM) ab. Beide gebaren sich als Korruptionsbekämpfer:innen und positionieren sich gegen den einflussreichen Oligarchen Vladimir „Vlad“ Plahotniuc.

Vor den Parlamentsgebäuden in der moldawischen Hauptstadt Chișinău demonstrieren hunderte von Menschen. Sie fordern die Auflösung des Parlaments und sofortige Neuwahlen. Bei der aufgebrachten Menschenmenge handelt es sich um die Anhänger:innen der am 16. November zur Präsidentin gewählten Politikerin Maia Sandu von der liberalen Partei „Aktion und Solidarität“ (Partidul Acțiune și Solidaritate,  PAS). Sandu gewann im zweiten Wahlgang mit 57,72, steht jedoch einer feindlichen Parlamentsmehrheit gegenüber. Die von den Demonstrant:innen verlangten Neuwahlen sollen die Situation ändern.

Vom antioligarchischen Allianz zur Neuauflage des Kampfes um die Wahl der Anlehnungsmacht

Die Harvard-Absolventin Sandu hatte bereits vom 8. Juni bis zum 14. November 2019 das laut Verfassung entscheidende Amt des Premierministers inne, doch ihr Koalitionspartner, die Partei der Sozialisten der Republik Moldau (Partidul Socialiștilor din Republica MoldovaPSRM) des bisherigen Präsidenten Igor Dodon kündigte das Bündnis auf und entzog der Regierung die Mehrheit. Zur Regierungschefin wurde Sandu damals durch die Proteste im Sommer 2019. Damals einigten sich die als pro-russisch geltende PSRM und verschiedene prowestlich-liberale Kräfte gegen die Macht des Oligarchen Vladimir (Vlad) Plahotniuc.

Obwohl seine Demokratischen Partei Moldaus (Partidul Democrat din Moldova, PDM) offiziell keine Mehrheit im Parlament besaß, kontrollierte Plahotniuc faktisch nicht nur das Parlament, sondern auch das Verfassungsgericht. In Moldawien kam Trennung von politischer Gewalt und ökonomischer Privatmacht nie zu Stande – was von den westlichen Betreuer:innen der „Transformation“ vom Realsozialismus zur Marktwirtschaft stets bemängelt wurde. Als Plahotniuc eine Wahlrechtsreform, die ihm Mehrheit sichern sollte in die Wege leitete und den Präsidenten Dodon faktisch entmachtete, kam eine Koalition von Sandus PAS und Dodons PSRM zustande. Plahotniuc musste aus dem Land fliehen, doch das im Februar 2019 gewählte Parlament blieb und dort entscheiden weniger die Mehrheitsverhältnisse der Fraktionen, sondern Plahotniucs Gelder.

Dodon und Sandu beschuldigten sich gegenseitig nicht nur der Korruption, sondern sprachen einander überhaupt ab, ernsthaft für die Unabhänigkeit des Landes einzustehen. Wie es in prowestlichen Kreisen Moldawiens üblich ist, bekennt sich Sandu zur rumänischen Identität und hält die „moldawische Sprache” für ein Konstrukt der sowjetischen Politik. Das ist aus der Sicht von Dodon und moldawischen „Linken” – die sich in vielen Fragen eher wertkonservativ gebähren – ein Verrat. Umgekehrt gilt das gleiche: Dodons Festhalten an sowjetischen Geschichtsnarrativen, seine Verteidigung des Moldawischen als eigenständiger Sprache, sein demonstratives Bekenntnis zur Freundschaft mit Russland gilt seinen Gegner:innen als ein sicherer Beweis dafür, dass er eine „Marionette des Kremls” ohne Sinn für Nationales sei.

Der ganze ideologische Konflikt um die richtige Auslegung des Nationalismus hat jedoch ganz materielle Demension. Denn seit der Unabhängigkeit der ehemahligen Sowjetrepublik müssen immer mehr ihre Bürger:innen ihren Lebensunterhalt im Ausland verdienen. Die chronische Abhängigkeit Moldawiens vom Visumsregime der EU und Russlands schlägt sich auch im Wahlverhalten nieder. Die in der EU arbeitenden Moldawier:innen stimmten geschlossen für Sandu ab. Da sie als Putz- und Servicekräfte, als Bauarbeiter:innen oder Sexworker:innen eben die Weltwährung Euro nach Hause überweisen, sind sie ein wichtiger Faktor des Politik- und Wirtschaftsleben im ärmsten Staat Europas. Dodon versuchte dagegen mit seinen Erfolgen in Verhandlungen um Kredite aus Russland zu punkten.

Die Koalition zwischen Sandu und Dodon zerfiel, als die PSRM ein Gesetz einbrachte, das vorsah, dass Supermärkte 50 % des Sortiments von den heimischen Produzent:innen beziehen müssen – ein Versuch die heimische Landwirtschaft zu retten. Denn diese leidet stark unter von Russland verhängten Einfuhrbeschränkungen. Sandu verweigerte jedoch die Zustimmung zum Gesetz mit dem Verweis auf Auflagen der EU – denn ihre Partei sieht Moldawiens Zukunft nur in der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Daraufhin stimmten Dodons „Sozialisten“ zusammen mit Plahotniucs PDM ab und setzten eine Regierung der „unabhängigen Experten“ unter dem parteilosen Dodon-Berater Ion Chicu ein. Das konnte Sandu im Wahlkampf als Beweis für Dodons Verrat an den deklarierten „antioligarchischen“ Zielen ausschlachten.

Zudem war das pro-russischer Lager im Wahlkampf gespalten, Platz drei belegte mit 16, 90 % Renato Usatîi, der Bürgermeister der Stadt Bălți. Obwohl seine „Unsere Partei“ (Partidul Nostru, PN) es bei den letzten Wahlen gar nicht ins Parlament schaffte, punktete er unter der russischsprachigen Bevölkerung und unter Jugendlichen von Land mit seinen Hasstiraden auf den Westen und die Korruption. Mit Sandu eint ihn die Wut auf den „Verräter” Dodon. Sein Ruf als prorussischer Politiker wird allerdings dadurch relativiert, dass er von den russischen Behörden wegen illegalen Finanztransaktionen gesucht wird.

Sandus Vision und moldawische Realität

Die Bestandsaufnahme und das Programm der designierten Präsidentin lassen sich kurz zusammenfassen. Die Ursache aller Probleme in Moldawien sei die Korruption. Wenn man stattdessen richtig faire Konkurrenz etabliere, sich allen Anforderungen der EU und des IWF beuge, werde die Republik irgendwann das Lebensniveau der reichen europäischen Länder erreichen.

Im Interview mit dem ukrainischen Journalisten Dmitri Gordon am 12. November kündigte Sandu ihre Agenda als Präsidentin an: „das Gerichtssystem und die Staatsanwaltschaft zu säubern” und die Verteidigung der Interessen der „ehrlichen” Unternehmer:innen, die nicht länger vom oligarchenhörigen Staat drangalisiert werden sollten. „Ich werde die ernsthafte Anwältin des moldawichen Business sein!”. Nicht der eigenen Geschäftsinteressen, wie die „politische Klasse”, die sie säubern möchte, sondern eben Anwältin des Rechts auf kapitalistisches Wirtschaften an sich.

So viel guten Willen sollen die westlichen Demokratien nach ihrer Vorstellung belohnen, indem sie helfen die russischen „Friedenstruppen” aus der international nicht anerkannten Republik Transnistrien zum Abzug zu zwingen.

Weder die durchwachsene Erfolge dieser Strategie in anderen postsowjetischen Republiken, noch die Tatsache, dass sich die Geschäftswelt Moldawiens schlicht nicht in „böse Korrupte” und „ehrliche Unternehmer” sortieren lässt, da Kontakte zur Politik für erfolgreiches Kapitalistsein unverzichtbar sind und die Parteien häufig als Eigentum der Oligarchen fungieren, können Sandu ins Zweifeln bringen. Dass auch Plahotniuc sich zur Westintegration bekannte, während er den Staat zum Instrument seiner privatwirtschaftliche Interessen machte, erklärt Sandu schlicht damit, dass er und ihm nahestehende Politiker:innen „verlogen” seien. Wenn die erneuerten Gerichte endlich die alte politische Klasse kräftig durchsäuberten, würde im armen Moldawien auf einmal kräftig Kapital akkumuliert, so die Logik von Sandus Erneuerungsprogramm.

Ihre Gegner:innen mobilisieren gegen sie mit Ängsten vor „Lockdown-Politik” nach europäischen Vorblid, vor Verlust der Unabhängigkeit oder „westlichem Sittenverfall”. Die Abhängigkeit Moldawiens von Russland wird als Argument gegen Sandus EU-Pläne positiv gewendet.

Kampf um die Kompetenzen

Noch bevor Sandu ihr – laut der aktuellen Verfassung in Kompetenzen sowieso stark eingeschränktes – Amt als Präsidentin antreten konnte, beschloss das Parlament immer neue Gesetze, die die Macht beim Parlament selbst und der Regierung konzentriert. So soll unter anderem der Geheimdienst SIS nun nicht mehr der Staatschefin, sondern dem Parlament unterstellt werden. Zudem kann das Verfassungsgericht die Amtsführung des Präsidenten immer wieder unterbrechen. Da die Abgeordneten im moldawischen Parlament beständig die Fraktionen wechseln, war die Bedeutung der Wahlergebnisse in der Republik schon seit langem relativ klein. Sandu spricht dem Parlament, in dem nach wie vor eine Plahotniuc-hörige Mehrheit existiert, offen die Legitimität ab.

Ähnlich wie ihr ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj, der ebenfalls mit Antikorruptionsparolen an die Macht kam, stellt Sandu fest, dass die Legislative und die Judikative in ihrem Staat ein einziges Instrument der Oligarchie seien, die Abgeordente und Richter:innen fraktionsübergreifend mit Bestechung und Erperessung dazu bringt in ihrem Sinne abzustimmen. Als Mittel dagegen fällt den selbsterklärten Held:innen des Antikorruptionskampfes Sandu und Selenskyj vor allem die Stärkung der Präsidialmacht ein. Schon vor zwanzig Jahren hat der Lieblingsfeind der beiden, der russische Präsident Wladimir Putin im Bezug auf sein Land und das dortigen Parlament sehr ähnliche Schlüsse gezogen.

# Titelbild: Jennifer Jacquemart, Europäische Union, 2019, Maia Sandu

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Moria ist abgebrannt. Das Geflüchtetenlager, in dem 13 000 Menschen leben. Menschen die seit Monaten während der Pandemie eng zusammengepfercht in Lagern leben mussten, haben nun selbst diese menschenunwürdige Lebensgrundlage verloren. Ob das Feuer von Bewohner*innen des Lagers oder von Bewohner*innen der Insel Lesbos gelegt wurde ist unklar. Es ist auch nicht wichtig, denn diese Katastrophe ist das Produkt der Politik der EU, die Deals mit der Türkei oder Libyen macht, damit diese unter allen Umständen Geflüchtete aus Europa raushalten.

Die Betroffenheit im bürgerlichen Milieu ist angesichts des Brandes auf Lesbos groß. Linksliberale können sich vor lauter Idealismus und geheuchelter Betroffenheit nicht mehr retten. Es brenne „die europäische Idee“, wer Deutschland verteidigen wolle müsse die Menschenwürde retten, der Glaube an europäische Werte würde hier leiden.

Das Leid an den europäischen Grenzen ist kein Scheitern irgendwelcher Werte Europas, es ist kein Ideelles Problem. Es ist Ergebnis des imperialistischen Projekts EU, dass seine Grenzen nach innen liberalisiert, um einen freien Fluss von Waren und vor allem Arbeitskräften aus Süd- und Osteuropa gewährleistet und deshalb seine Grenzen nach außen umso brutaler schließt. Wer denkt, bei Europa gehe es um Antinationalismus statt um eine Form des deutschen Imperialismus, der glaubt auch dass das Geflüchtete an den Grenzen sterben müssen, weil der Bürger noch nicht verstanden hat, dass der Platz ja eigentlich da ist.

Die Begriffe, mit der (Links)Liberale versuchen, diese Zustände zu beschreiben, entlarven dabei die Menschenfeindlichkeit der Ideologie der sie anhängen. Menschenleben reichen nicht aus um empört zu sein, es braucht erstmal eine Abstraktion. Es muss um Werte und Ideale und das Vertrauen in Deutschland gehen, sonst hält man sich mit Kolleteralschäden auf. Diejenigen, die jetzt von europäischen Werten schwafeln, von einer europäischen Idee, sind blind für das menschliche Leid, das diese europäischen Werte jeden Tag schaffen. Dabei setzen sie praktisch fort, was sämtliche materialistischen Denker als „Deutschen Idealismus“ kritisiert haben. Eine Denkweise, die sich mit aus der Luft gegriffenen Abstrakionen die Welt zurecht erklärt, ohne sich auf die materielle Realität zu beziehen.

Das englische Crimes against Humanity, heißt auf deutsch statt Verbrechen gegen die Menschheit etwa Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine konsenquente Antwort auf diese Verbrechen kann jedoch nur sein, sich den kapitalistischen Zuständen entgegenzustellen, die Politik im Interesse des deutschen Kapitals und gegen die Menschheit machen.

Marx hat es bereits treffend formuliert: „Krieg den Deutschen Zuständen. Allerdings.“

#Titelbild: Pixabay/Gemeinfrei, Montage LCM

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Übersteht die erodierende Eurozone die zunehmenden Auseinandersetzungen um die gegenwärtige Krisenpolitik, die in Brüssel wie in Berlin toben?

In der aktuellen Neuinszenierung der Eurokrise haben Hitlervergleiche mal wieder Konjunktur. Den Aufschlag machte der maltesische Botschafter in Finnland anlässlich des Jahrestages des Sieges über den Nazifaschismus. Vor 75 Jahren habe Europa und die Welt “Hitler gestoppt”, wer würde nun aber Angela Merkel stoppen, frage der Diplomat auf Facebook. Merkel sei gelungen, woran Nazideutschland gescheitert war, sie habe Hitlers Traum erfüllt, “Europa zu kontrollieren”.

Solche Vergleiche waren schon einmal in Mode: Auf den Höhepunkt der ersten großen paneuropäischen Schuldenkrise, als der damalige Bundesfinanzminister Schäuble ab 2010 daran ging, unter Beifall der deutschen Öffentlichkeit die Länder Südeuropas einem drakonischen neoliberalen Sparregime zu unterwerfen, wurden bei Gegendemonstrationen in Griechenland oder Spanien immer wieder Merkel oder Schäuble in Naziuniformen oder mit Hitler-Bärtchen dargestellt.

Derartige Frechheiten sind im Jahr 2020 allerdings nicht mehr drin: Der Botschafter musste umgehend zurücktreten, während Maltas Außenministerium eine Entschuldigung für den “unsensiblen” Kommentar an Berlin richtete. Die Moral aus der Geschichte: Es ist nicht klug, Deutschland böse zu machen, denn die BRD hat in der Eurozone das Sagen.

Der zunehmende Machtanspruch Berlins wurde zuletzt beim Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts zu Anleihekäufen der EZB evident. Karlsruhe entschied, dass eins der wichtigsten Anleiheprogramme der Europäischen Zentralbank (Public Sector Purchase Programme – PSPP), mit dem Schuldtitel europäischer Krisenländern aufgekauft wurden, um die dortige Zinslast im Gefolge der Eurokrise zu mindern, nicht verfassungsgemäß sei. Die Anleihekäufe seien nach Ansicht Karlsruhes “im Verhältnis zu ihren Nebenwirkungen unverhältnismäßig”. Die Bundesregierung und der Bundestag müssten folglich die Aufkäufe auf ihre “Verhältnismäßigkeit” prüfen, erst nach einer Prüfung durch Berlin könnten sie fortgesetzt werden.

Darüber hinaus wurde ein diesbezügliches Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) für unrechtmäßig und nicht bindend erklärt. Im Dezember 2018 hatte das EuGH das EZB-Anleiheprogramm ohne Abstriche gebilligt. Sowohl der EuGH als auch die EZB handelten laut dem Bundesverfassungsgericht entgegen europäischem Recht. Deutschlands “Verfassungsschützer” sind damit de facto dazu übergegangen, sich per Selbstermächtigung zur höchsten Instanz europäischer Rechtsprechung zu erklären – und den EuGH zu entmachten. Es ist ein kalter Justizputsch.

Binnen drei Monaten hat sich die EZB den Karlsruher Vorgaben zu beugen, ansonsten muss die Bundesbank laut Richterspruch aus dem europäischen Aufkaufprogramm aussteigen. Alles, was die EZB macht, soll von Berlin auf seine “Verhältnismäßigkeit” geprüft werden. Karlsruhe fordert somit letztendlich ein exklusives Mitsprache- und Vetorecht Berlins bei diesbezüglichen geldpolitischen Entscheidungen der EZB.

Vermittels der schwammigen Formulierung von der “Verhältnismäßigkeit” vom Anleihekäufen übergibt das deutsche Gericht Berlin, wo Anleihekäufe als Ausdruck südeuropäischer Misswirtschaft gelten, damit einen juristischen Hebel, um in einer schweren Systemkrise die expansive Geldpolitik der EZB zu torpedieren.

Die EZB selbst reagierte auf den Karlsruher Richterspruch, indem sie erklärte, nicht daran gebunden zu sein, da nur der Europäische Gerichtshof für sie zuständig sei. Europäisches Recht hat laut EU-Verträgen Vorrang vor nationalem Recht. Die französische EZB-Präsidentin Christine Lagarde erklärte, den expansiven geldpolitischen Kurs fortzusetzen und notfalls “anzupassen”. Dem Urteil aus Karlsruhe wird von europäischer Seite aus also offiziell keinerlei Bedeutung beigemessen.

Europäische und deutsche Institutionen – die EU-Kommission sowie EZB und das Bundesverfassungsgericht samt Bundesbank – befinden sich also, von der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet, auf Kollisionskurs; mit ungewissem Ausgang.

Ein Schlupfloch, dass die totale Eskalation vermeiden könnte, besteht zumindest in dem Umstand, dass Karlsruhe über ein älteres Aufkaufprogramm der EZB – das besagte bilioneschwere PSPP – urteilte, während das aktuelle Corona-Anleiheprogramm (PEPP) ausdrücklich nicht Objekt des Urteilsspruchs des Verfassungsgerichts war. Das aktuellere PEPP könnte also selbst bei einem Rückzug der Bundesbank aus dem PSPP zumindest theoretisch noch weiterlaufen. Nichtsdestotrotz ist laut der Entscheidung des Verfassungsgerichts nun die wichtigste geldpolitische Maßnahme, die seit Ausbruch der Eurokrise den Bestand der Eurozone gewährleistete, teilweise grundgesetzwidrig. Das Eskalationspotenzial, das dem Karlsruher Urteil innewohnt, wird aber erst vor dem Hintergrund des bisherigen Krisenverlaufs in Europa voll verständlich.

Als die große transatlantische Immobilienblase 2007/08 platzte in infolge dessen Länder wie Spanien, Portugal, Irland und Griechenland ab 2009 unter ihrer Schuldenlast zusammenzubrechen drohten, formte sich in Europa eine spezifische Krisenpolitik heraus. Die war allerdings gerade nicht Produkt einer konsistenten politischen Strategie, sondern der in der Krise sich massiv verschiebenden Machtverhältnisse. In Gestalt des damaligen Bundesfinanzministers Schäuble konnte Berlin als klassischer “Krisengewinner” weitgehend seinen harten Austeritätskurs in der Eurozone durchsetzen, die Einführung von “Schuldenbremsen” in den Verfassungen der Zonenländer forcieren und so ein zu einem preußischen Kasernenhof zugerichtetes Europa schaffen. Das schäublerische Spardiktat verheerte viele südeuropäische Volkswirtschaften, die sich – wie etwa Griechenland – nie mehr vollständig von der Berliner Rosskur erholten und sich nun abermals mit einem dramatischen Wirtschaftseinbruch konfrontiert sehen.

Das einzige relevante Instrument, das dem Austeritätskurs Schäubles entgegenwirkte, war die expansive Geldpolitik der EZB unter Draghi und Lagarde, die durch Aufkäufe von Anleihen im Umfang von inzwischen knapp drei Billionen Euro die Zinsen niedrig hielt und die zaghafte Konjunkturbelebung in der Peripherie der Eurozone unterstützte. Die Krisenpolitik in Europa war also gewissermaßen schizophren, weil ein knallhartes Sparregime mit einer ultralockeren Geldpolitik einherging.

Dieselbe Konstellation ist auch in der Corona-Rezession in Europa zu beobachten. Während die Bundesrepublik einerseits das größte Konjunkturpaket ihrer Geschichte auflegte, blockierte Berlin andererseits alle europäischen Initiativen zu einer nennenswerten, gemeinsamen Konjunkturpolitik als “Vergemeinschaftung von Schulden”. Die konjunkturpolitische Blockadehaltung Merkels auf europäischer Ebene führte dazu, dass die EZB abermals zu einer extremen Gelddruckerei überging, bei der Anleihen der südeuropäischen Peripherie aufgekauft werden, damit diese Länder sich ebenfalls Konjunkturmaßnahmen leisen können.

Die Frage von Konjunkturprogrammen in Krisenzeiten ist aber eine europäische Machtfrage. Das konnte selbst Spiegel-Online in einem seltenen lichten Moment erkennen. Die üppigen Konjunkturprogramme der Bundesrepublik, die sich auf rund 39 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beliefen, seien für “unsere Partner in der EU denn auch ein Grund zur Besorgnis”, hieß es in einer Kolumne, da deutsche Konzerne mit den üppigen “Staatshilfen im Rücken” ihre europäischen Konkurrenten “plattmachten oder aufkaufen” könnten. Für gewöhnlich prüfe die EU-Kommission deswegen solche Subventionen sehr streng, doch in der Krise würden nun in dieser Hinsicht beide Augen zugedrückt.

Der gegenwärtige Krisenschub wird somit zum Kampf um die ökonomische und politische Machtstellung innerhalb der Eurozone missbraucht. Während Berlin das größte Konjunkturprogramm aller Zeiten ohne Störfeuer aus Brüssel auflegt und ähnliche Maßnahmen für die europäische Konkurrenz blockiert, könnten nun, mit Rückendeckung aus Karlsruhe, die Anleihekäufe der EZB unter Beschuss genommen werden, die die Zinslast der südeuropäischen Krisenstaaten absenken, die trotz der Berliner Blockadehaltung über Verschuldung ähnliche Programme starten.

Die Krise wird in Berlin vor allem als Chance zur Festigung der eigenen Dominanz in der Eurozone gesehen – wie schon während der Eurokrise ab 2009. Das Schäublerische Spardiktat, das ja an seiner offiziellen Zielsetzung spektakulär scheiterte, ist Resultat des Bestrebens Berlins, das ökonomische Übergewicht der Bundesrepublik, welches das Fundament der politischen Dominanz Berlins in der Eurozone bildet, möglichst stark zu vergrößern. Während die Bundesrepublik – auch dank des strukturell zur Wirtschaftsleistung unterbewerteten Euro – einen exportgetriebenen Aufschwung erfuhr, mussten die europäischen Konkurrenten lange Jahre in Rezession oder Stagnation verharren, was den ökonomischen Abstand zwischen Zentrum und Peripherie der Eurozone immer weiter vergrößerte. Zumeist ließ man damals die Krisendynamik für sich arbeiten, indem man den damaligen “Schuldenstaaten” solange nennenswerte Hilfen verweigerte, bis sie aufgrund eskalierender Zinsen und einbrechender Konjunktur zur Hinnahme des Schäublerischen Spardiktates und damit zur Aufgabe weiter Teile staatlicher Souveränität – vor allem in Haushaltsfragen – bereit waren.

Berlin agiert als Garantiegeber der Eurozone, insbesondere des Euro, in der man sich als krisengebeutelter europäischer Staat verschulden kann, ohne dass gleich eine Inflationswelle die Volkswirtschaft verwüstet. Die Angst vor dem Absturz in die “Dritte Welt” hält somit die Peripherie Europas in der “deutschen” Eurozone. Dessen ist sich Berlin auch bewusst und in diesem Kontext muss auch das Karlsruher Urteil betrachtet werden. Durch eine bewusste Eskalation der Eurokrise werden der südlichen Peripherie mittels steigender Zinslast die Daumenschrauben angezogen und damit weitere Souveränitätseinbussen aufgenötigt, die ja strategisches Ziel deutscher Europapolitik sind.

Das Karlsruher Urteil deutet aber auch darauf hin, dass es innerhalb der deutschen Funktionseliten eine wachsende reaktionäre Fraktion gibt, die sich durchaus ein Ende der Eurozone vorstellen könnte. Der Umstand, dass der Euro der französische Preis für die Wiedervereinigung war, ist in diesen Kreisen unvergessen. Folglich tobt im deutschen Staatsapparat ein Machtkampf zwischen einer europaskeptischen und einer proeuropäischen Fraktion.

Die bekannten Vorteile des Euro für den Exportweltmeister BRD, die eine regelrechte deutsche Transferunion in der Eurozone etablierte, bei der deutsche Handelsüberschüsse maßgeblich – als faktischer Schuldenexport – zu den europäischen Schuldenbergen beitrugen, erschöpfen sich aufgrund der Wirtschaftseinbrüche immer mehr.

Auch die globale, außereuropäische Exportförderung aufgrund der strukturellen Unterbewertung des Euro gegenüber der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik wird aufgrund der erodierenden Globalisierung tendenziell abnehmen. Die Eurozone ist durch deutsche Exportüberschüsse und Spardiktat ausgepresst worden wie eine Zitrone – das Bestreben, diese nun möglichst kostengünstig zu entsorgen, gewinnt innerhalb der reaktionären Strömungen im Staatsapparat der Bundesrepublik an Popularität.

Die Strategie Berlins, die Krisen als Chance zur Festigung der eigenen Dominanz zu nutzen, erklären aber weder das Aufkommen der besagten Krisen, noch den Aufstieg der BRD als europäischer “Krisengewinner”. Die Eurokrise bilden nur die spezifisch europäische Verlaufsform des historischen Krisenprozesses, den das kapitalistische Weltsystem durmacht – und bei dem beständig wachsende Schuldenberge eine hyperproduktive Warenwirtschaft an einem kreditfinanzierten zombiehaften Scheinleben halten. Sobald eine Schulden- oder Spekulationsblase platzt, setzt ein abermaliger Krisenschub ein. Das war 2008 der Fall und ist es auch diesmal. Die Pandemie war nur der Auslöser, und nicht der Grund für die Krise.

Direkt verantwortlich ist für die Krise also niemand, aber alle nationalen Akteure bemühen sich, sie zu ihrem Gunsten zu wenden. Die BRD konnte dabei, wegen ihres ökonomischen Übergewichts die Krisenpolitik maßgeblich formen. Möglich gemacht wurde diese Dominanz Berlins durch die Agenda 2010 als eine spezifisch deutsche, autoritäre Antwort auf den Krisenprozess. Die Prekarisierung des Arbeitslebens, die Herausbildung einer breiten Unterschicht in der Bundesrepublik zu Beginn des 21. Jahrhunderts bildeten die Voraussetzung für die Exportweltmeisterschaften der Bundesrepublik in den darauf folgenden Jahren.

Es besteht ein eindeutiger kausaler Zusammenhang zwischen der Intensivierung der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft in der BRD einerseits und der Ausbildung der europäischen Schuldenberge andererseits. Bevor die Agenda 2010 in Gestalt des deutschen Spardiktats zu einem europaweiten Exportschlager werden konnte, war sie die Grundlage der erfolgreichen Exportoffensiven der deutschen Industrie in der Euro-Zone. Das real rückläufige Lohnniveau in Deutschland ging einher mit einer Steigerung der Produktivität der hochentwickelten deutschen Industrie. Hieraus ergab sich eine für das Kapital sehr vorteilhafte Entwicklung der Lohnstückkosten (des Anteils der Löhne an den Kosten einer Ware) in Deutschland, die weit unter dem EU-Durchschnitt blieben. Die Euro-Einführung und die damit einhergehende Durchsetzung der Agenda 2010 hatten eine förmliche Explosion der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber der Euro-Zone zur Folge. Inzwischen belaufen sie sich auf rund 1 500 Milliarden Euro.

In Südeuropa – das aufgrund des Euro nicht mehr mit Währungsabwertungen auf die Exportoffensiven des deutschen Kapitals reagieren konnte – führten die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse zur Ausbildung von Defiziten, von Schuldenbergen in eben demselben Ausmaß. Es gibt keine Ausgleichsmechanismen in der Eurozone, die den deutschen Exportüberschüssen, die einer Deindustrialisierungskampagen gleichkommen, entgegenwirken würden, da sie von Berlin als Transferunion verteufelt werden. Die Mathematik hat es aber nun einmal so eingerichtet, dass der Überschuss des einen zwangsläufig das Defizit des anderen darstellt. Diese Tatsache gehört auch zu den größten Tabus der deutschen Krisenideologie, die sich ja immer wieder gerne über die Schuldenberge im Ausland empört, die man selber exportiert.

Die krisenbedingte Zwang zur Schuldenbildung, die das System am Laufen hält, läuft somit nicht in allen Ländern gleich ab. Es bilden sich Ungleichgewichte bei den Handelsbilanzen heraus, bei denen Länder mit Handelsüberschüssen diese in Defizitländer exportieren, die sich verschulden müssen. Genau durch diese Handelsüberschüsse und die damit einhergehenden Handelskriege, die etwa Trump ganz offen führt, wird die Krisenkonkurrenz zwischen den Nationalsaaten ausgetragen. Vermittels dieser nationalen Auseinandersetzungen um Handelsbilanzen wird aber objektiv der Krisenprozess befeuert, bei dem die Verlierer einen dauerhaften sozioökonomischen Abstieg in die wachsende Periphere erfahren. Der Umstand, dass die Bundesrepublik sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, bei Einführung des Euro, auf einseitige Exportfixierung ausrichtete, verschaffte ihr die Position eines “Krisengewinners”. Weil die Krise aber in der ganzen Welt um sich greift, gehen der deutschen Wirtschaft langsam die Zielländer für ihre Exportoffensiven aus.

Das zeigt sich auch dadurch, dass ein europapolitischer Kamikazekurs innerhalb der an Einfluss gewinnenden, reaktionären Fraktionen der deutschen Funktionseliten immer populärer wird. Offensichtlich wird auch der schwindende Einfluss Merkels, die nicht mehr in der Lage ist, die Auseinandersetzungen intern zu regeln. In Reaktion auf diese Angriffe konservativer und europaskeptischer Kräfte innerhalb des deutschen Partei- und Staatsapparates ging Merkel am Mittwoch an die Öffentlichkeit, um den “EZB-Anleihenkäufen demonstrativ den Rücken” zu stärken, wie es die FAZ formulierte. Hierbei verweis Merkel auf die globalen Ambitionen Europas, die nur realisiert werden könnten, wenn der Euro “international mehr Gewicht” habe. Zudem stellte die Kanzlerin eine stärkere wirtschaftspolitische Koordination der Eurozone in Aussicht, um die EZB zu entlasten, und Konjunkturpolitik durch Konjunkturprogramme zu realisieren – und nicht durch Anleihekäufen der Notenbank. Zu diesen Instrumenten einer stärkeren europäischen Wirtschaftspolitik solle auch ein sogenannter “Wiederaufbaufonds” des EU-Kommission zählen, der mit einer massiven Aufstockung des EU-Haushalts verbunden wäre. Eventuell haben die Karlsruher Verfassungshüter schlicht den Bogen überspannt. Das Urteil von Karlsruhe wird somit entweder als der Anfang vom Ende der Eurozone in die Gescheite einhegen, oder als der Beginn erneuter spannungsreicher Integrationsbemühungen.

Den Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa beschrieb der Autor in seinem Buch Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa.

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Cemil Bayik ist Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Co-Vorsitzender des Exekutivrats der Koma Civakên Kurdistan (KCK). Im zweiten Teil des Interviews spricht er über die drohende Invasion Rojavas durch die Türkei, den Stand der Verhandlungen zwischen der Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyriens und der syrischen Regierung und die Transformation der HPG und YJA-Star zur “Siegesguerilla”.
Teil 1 des Interviews kann hier nachgelesen werden. (mehr …)

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