Betriebsratswahlen 2022. Warum sie gerade jetzt wichtig sind. (Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Element im Betrieb. LCM-Serie Teil 5)
„Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten.“ Dieser Spruch war Ende der 1980er Jahre auf WG-Kühlschränken, Häuser- und Toilettenwänden zu lesen. Was heute als abgedroschene Phrase gelten darf und spätestens seit den erdrutschartigen Erfolgen der AfD selbst von eingefleischten Anarch@s überdacht werden musste, kommentierte vor allem den fabelhaften Aufstieg der Grünen seit 1980 bei gleichzeitigem Niedergang ihrer Glaubwürdigkeit. Der Spruch bezog sich auch generell auf Parlamentswahlen in westlichen Industrienationen.
Betriebsräte hatte damals wie heute niemand als Faktor auf dem Schirm. Sie galten bestenfalls als langweilig, bürokratisch, verfilzt… Doch das sollten wir überdenken! Die nächsten Betriebsratswahlen stehen vom 1. März bis 31. Mai 2022 an. Betriebsratsgründungen können zwar jederzeit erfolgen, existierende Gremien wählen alle vier Jahre bundesweit in diesem Zeitfenster. Jetzt sollten Wahllisten vorbereitet werden.
Dysfunktionale Demokratien und Massenverblödung
Bleiben wir noch kurz bei Parlamentswahlen. Heute wissen wir dank der USA und Donald Trump, aber auch anhand jüngster Vorgänge in anderen dysfunktionalen „westlichen“ Demokratien wie Brasilien, Bolivien, dass Wahlen nicht gleich verboten werden müssen, wenn sie etwas zu ändern drohen. Die Methoden, sie unschädlich zu machen, sind wesentlich vielfältiger und raffinierter: Wahlen können untergraben, manipuliert, gezielt delegitimiert, nicht anerkannt werden. Wahlen können durch Inhaftierung oder gerichtliche Absetzung der gegnerischen Spitzenkandidaten (Lula, Evo Morales) gewonnen werden. Wahlen werden beeinflusst durch manipulativen Zuschnitt der Stimmbezirke (englisches Fachwort: Gerrymandering), durch gezieltes Abhalten bestimmter Wählergruppen (Schwarze in den Südstaaten) oder durch deren systematische Demoralisierung, Desinformation und Verblödung.
Vielleicht ändern Parlamentswahlen damals wie heute tatsächlich nichts am Kern des Übels, also den Eigentums- und Besitzverhältnissen – wo doch selbst ein bescheidener Berliner Mietendeckel vom Verfassungsgericht kassiert wird.
In Bezug auf Betriebsratswahlen gilt der Umkehrschluss: Sie sind gefürchtet,
a) weil hier tatsächliche Macht in einer überschaubaren Einheit entsteht,
b) weil diese Macht von gewählten Personen aus dem Kreis der Ausgebeuteten ausgeübt wird.
Betriebsratswahlen werden zwar nicht verboten, aber vom Staat auch nicht durchgesetzt und konsequent verteidigt, sondern durch einen professionelle Dienstleistungssektor aus Jurist:innen, Berater*innen und PR-Profis mit Methoden sabotiert, die auf der betrieblichen Ebene den oben aufgezählten parlamentarischen Wahlmanipulationen ähneln.
Betriebsratswahlen werden keineswegs flächendeckend, regulär und selbstverständlich abgehalten – entgegen geltender Gesetze. Laut einer repräsentativen Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB, einer Tochter der Bundesagentur für Arbeit) gibt es in nur 9 Prozent der wahlberechtigten Betriebe (mit mindestens fünf Beschäftigten) einen Betriebsrat. Das ist an sich ein Skandal. In jeder Schulklasse werden ab der Grundschule Klassensprecher:innen gewählt, in jeder Kommune und gibt es Stadträte. Bei genauer Betrachtung stellen wir fest: Es gibt noch nicht einmal Zahlen! Niemand weiß, wie viele Betriebsräte überhaupt existieren. Aber wir dürfen vermuten, dass selbst 1978, in der Zeit der größten Machtentfaltung der westlichen Arbeiterklasse (laut der Zeitschrift Wildcat) Betriebsräte nie flächendeckend und in sämtlichen Industrien verbreitet waren.
Warum sind Betriebsräte so gefürchtet?
Ein Betriebsrat schränkt die unternehmerische Willkür bei Einstellung und Entlassungen ebenso ein wie bei Überstunden, Dienstplänen, Urlaubsvergabe, tariflicher Eingruppierung und willkürlicher Ungleichbehandlung. Der Betriebsrat schafft Transparenz über Auftragslage, Geldflüsse, geplante Manöver des Managements; er ist die einzige wirklich effektive Kontrollinstanz für geltende Gesetze, Vorschriften und Verordnungen etwa zu Arbeitsschutz, Arbeitszeiten etc. Der Betriebsrat ist der zentrale Brückenkopf für Gewerkschaften und sozialistische Organisationen. Der Betriebsrat ist nicht kündbar – theoretisch, denn um Kündigungen zu fabrizieren und Betriebsratsmitglieder zu zermürben, werden Union Buster angeheuert. Und nur wo ein Betriebsrat existiert, können Gewerkschafter:innen offen und ohne Angst vor Kündigung im Betrieb auftreten.
Genau deshalb ist die Betriebsratswahl seit der Verabschiedung des ersten Betriebsrätegesetzes am 13. Januar 1920 ein Stiefkind der Demokratie und ein blinder Fleck des Rechtsstaats geblieben. Die SPD ließ zur Verabschiedung das größte deutsche Massaker an Demonstrant:innen der deutschen Geschichte zu. 42 Personen starben im Kugelhagel, als die mit Rechtsextremen durchsetze paramilitärische „Sicherheitspolizei“ (SIPO) angeblich zum Schutz des Reichstags mit Maschinengewehren in eine Menge von 100.000 Berliner Arbeiter:innen ballerte. Das Betriebsrätegesetz und das spätere Betriebsverfassungsgesetz sind Resultate eines unerklärten Bürgerkriegs. Wesentliche Teile des Unternehmerlagers haben Betriebsräte nie oder nur zähneknirschend und vorübergehend akzeptiert. Staatsanwaltschaften und Gesetzgeber behandeln die Straftat Betriebsratsbehinderung (§119 BetrVG) als Kavaliersdelikt. Tatsächlich ist sie mit dem selben Strafmaß bewehrt wie Beleidigung, Höchststrafe ist ein Jahr Gefängnis.
Kritik von links und rechts
Auf rechtsextremer Seite ist hingegen eine ideologische Mutation passiert: Galten Betriebsräte früher als Schande für die deutsche Industrie und als Verstoß gegen das Führerprinzip, die nach der Machtübernahme der Faschisten 1933 sofort liquidiert wurden, so bereiten sich diverse Schattierungen von AfD und Pegida längst intensiv darauf vor, sich über Betriebsratsmandate dauerhaft in Belegschaften zu verankern. Dass diese Strategie durchaus erfolgreich sein könnte, zeigen Wahlerfolge des „Zentrum-Automobil“ bei Daimler und BMW.
Die radikale Linke der 1970er Jahre hat Betriebsräte zu großen Teilen abgelehnt und oft aus guten Gründen und schlechten Erfahrungen regelrecht verabscheut. In einem Nachruf auf den jüngst verstorbenen Wortführer des Kölner Ford-Streiks 1973, Baha Targün,lesen wir, warum. Denn der Ford-Betriebsrat beteiligte sich federführend an der Niederschlagung des „Türken-Streiks“: „Mit Gebrüll stürmte die Polizei den Betrieb. Mit dabei: Werkschutz, angeheuerte rechtsradikale Schläger, Gewerkschaftsfunktionäre, Meister, Vorarbeiter. BahaTargün wurde schwer verletzt. Die Werksleitung bedankte sich nach dem Streik öffentlich für den ‚persönlichen Einsatz der Betriebsräte unter der Führung des Betriebsratsvorsitzenden‘.“
Die Betriebsratsfürsten der Großkonzerne waren Teil eines fest verwobenen Filzes aus SPD-Apparastschiks, Gewerkschaftsbonzen, Seitenwechslern aus den Gewerkschaften ins Management, Aufsichtsratspöstchen, fetten Abfindungen, Vergünstigungen wie Dienstwagen und Lustreisen, vermutlich auch inklusive knallharter Bestechung und Korruption. Rund um Betriebsräte hat sich eine regelrechte Industrie aus Anwält:innen und Schulungsunternehmen gebildet. Betriebsräte lassen sich regelmäßig in 4-Sterne-Sporthotels schulen, all-inclusive versteht sich. Das alles war richtig und ist es zum Teil immer noch.
Zuletzt hat etwa der Prozess um massive Betriebsratsbegünstigung, Korruption und Veruntreuung bei VW, der leider mit Freisprüchen für das Management endete, für schlechte Presse von Betriebsräten gesorgt. Und dieser Prozess zeigt nur die Spitze eines Eisbergs, der immer noch ziemlich massiv ist.
Allerdings haben sich sich die Vorzeichen geändert. Der Eisberg schmilzt. Und wird vom Management in den vergangenen 40 Jahren gezielt abgeschmolzen. Auch wenn die Börsennachrichten im Ersten und das Handelsblatt einen anderen Anschein erwecken: Die deutsche Wirtschaft besteht nicht mehr aus DAX-Konzernen und Industrie-Giganten. Auslagerungen, gezielte Aufspaltungen der integrierten Großunternehmen nach Vorbild von Ford haben eine immer kleinteilige Produktionslandschaft entstehen lassen. Ein Betriebsrat bei H&M oder einem Bremsscheibenhersteller der Autoindustrie ist nicht zu vergleichen mit den Betriebsratsfürstentümern bei VW. Zudem sind ehemalige Giganten wie ThyssenKrupp, AEG oder General Electric längst Geschichte.
Wenn wir von direkter Demokratie sprechen, dann sind die bunten, alternativen Listen, die ab den 1970er Jahren zu Betriebsratswahlen antraten – und in denen sich jene Radikalinskis sammelten, die damals routinemäßig wegen „Unvereinbarkeit“ aus DGB-Gewerkschaften ausgeschlossenen wurden – sogar Vorboten der Grün-Alternativen Listen auf kommunaler Ebene gewesen. Und sie enthalten Restbestände und deutliche Spurenelemente der gescheiterten sozialistischen deutschen Räterepublik von 1918.
Wenn diese Wahlen unwichtig wären, würden sie nicht so massiv behindert.
Für Betriebsräte gilt also der Umkehrschluss der alten Sponti-Weisheit. Daraus folgt der Appell sich jetzt ernsthaft Gedanken über eine Kandidatur und eine Wahlliste zu machen. Diese kann unabhängig, bunt und alternativ sein oder in enger Abstimmung mit einer Gewerkschaft und ihrem Vertrauensleute-Körper aufgestellt werden. Was besser ist, muss im konkreten Fall abgewogen und entschieden werden.
Der Beitrag ist in ähnlicher Form in der Roten Hilfe Zeitung Nr. 2 / 2021 erschienen.
Ruth Wiess ist freie Autorin und Organizerin. Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht e.V. Beide beraten aktive Betriebsräte und Betriebsratsgründer_innen. Ihr erreicht sie unter kontakt@arbeitsunrecht.de
# Titelbild: Betriebsrat der Zeche Mansfeld 1951, wikimedia commons, CC BY-SA 3.0