GET POST FORMAT

Der Aufstand in Chile geht seit Samstag unvermindert weiter. Militär und Polizei gehen brutal gegen die protestierende Bevölkerung vor. Doch die Bevölerung trotzt der Polizeigewalt: Allein gestern, Dienstag, waren allein in der Hauptstadt Santiago mehr als 100.000 Menschen auf der Straße. Chris Ko hat für’s lcm ein Interview mit Camilo González, der aktiv in der Studierendenbewegung in Valparaíso ist, geführt und mit ihm über die Hintergründe des Protests gesprochen

In den letzten Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Was ist da gerade los in Chile?

Was gerade in Chile passiert, ist der größte Aufstand seit dem Ende der Diktatur vor 30 Jahren. Der Neoliberalismus ist während der „Demokratie“ noch stärker geworden. Und jetzt haben wir hier die krassesten Ausschreitungen und sie werden auch nicht nur von Studierenden getragen.

Am Anfang sah es ja tatsächlich so aus, als wenn vor allem Schüler_innen und Studierende protestiert haben. Hat sich das jetzt auf andere Gruppen ausgeweitet, z.b. die ganzen verarmten und diskriminierten Migrant_innen aus Venezuela oder Haiti?

Ja, alles hat damit angefangen, dass die Regierung die Ticketpreise für die U-Bahn um 30 Chilenische Pesos (weniger als 5 Eurocent) erhöhen wollte. Das klingt vielleicht erst mal nicht nach viel, aber das Leben in Chile ist sowieso schon sehr teuer, die Löhne gering. Deshalb fingen die Studierenden an über die Drehkreuze zu springen und die Polizei ist dann dagegen vorgegangen. Daraufhin gab es Aufrufe, massenhaft ohne Ticket zu fahren, die Situation heizte sich auf und am Freitag begannen die Leute in den U-Bahn-Stationen zu randalieren. In kurzer Zeit entwickelte sich dies zu einem Aufstand, in dessen Verlauf viele Stationen angezündet und zerstört wurden. Samstag waren dann wirklich viele Leute auf den Straßen. Hauptsächlich junge Menschen, aber auch mehr und mehr ältere. Es gab weiter Ausschreitungen und auch Plünderungen von Supermärkten, Shopping Malls, Banken, Autohäuser etc. Tatsächlich haben ein paar Migrant_innen an friedlichen Demonstrationen in Santiago teilgenommen, aber diese Revolte speist sich vor allem aus der lang angestauten Wut in der chilenischen Gesellschaft: Der Sozialpakt ist gründlich delegitimiert.

Studierende wären von den neuen Ticketpreisen gar nicht betroffen gewesen. Warum seid ihr trotzdem bei den Protesten ganz vorne mit dabei?

Es stimmt, dass Studierende nicht betroffen wären, aber die Erhöhung war auch nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wie gesagt, die Unzufriedenheit im neoliberalen Chile ist groß. Nicht nur die Wirtschaft, alle Lebensbereiche sind prekär. Diese neoliberale Logik, dass um jeden Preis Profite erhöht und Kosten gesenkt werden müssen, ist fester Bestandteil des sozialen Lebens geworden. Überall herrscht ein extremer Individualismus. Studierende und Schüler_innen können sich noch organisieren und Bildungsproteste haben hier ja auch eine starke Tradition, vor allem in den öffentlichen Universitäten und Schulen. Aber Arbeiter_innen haben kaum noch Möglichkeit dazu, weil es in Chile kaum Sicherheit für die Arbeiter_innenklasse gibt.

Die Regierung hat die Erhöhung bereits zurückgezogen, aber die Proteste sind mit einem Generalstreik am Montag weiter gegangen. Was erwartest du für die nächste Zeit?

Der Generalstreik wurde nicht vom größten Gewerkschaftsverband, der CUT (Central unitaria de trabajadores), unterstützt. Die Gewerkschaft der Hafenarbeiter_innen und Bergbaugewerkschaften aus dem Norden haben dazu aufgerufen. Aber davon ab ist es kein richtiger Generalstreik.
Meiner Meinung nach waren die Proteste am Wochenende vor allem von zwei Gruppen getragen:
Die politischen Protestierenden und das randalierende „Lumpenproletariat“ (in Chile wird tatsächlich auch von „Lumpen“ in den Medien gesprochen, haha). Diese Trennung soll nur den unterschiedlichen Grad der politischen Beweggründe und des Austauschs mit der Community deutlich machen.
Erstere haben geplündert und die Beute geteilt, so Robin Hood mäßig, während die Menschen die besonders arm und prekär leben, einfach oft die Möglichkeit etwas umsonst zu bekommen genutzt haben. Das umfasst sowohl Dinge des alltäglichen Bedarfs wie Klopapier, als auch Alkohol oder große Fernseher. Frei nach dem Motto: „Wenn andere das können, kann ich das auch!“.
In jedem Fall sind beide aber Ausdruck der Wut gegen die staatliche Autorität und insbesondere die Polizei.
Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass es keine Anführer_innen in den Demonstrationen gibt. Auch haben politische Parteien nichts zu sagen. Die linken Parteien haben generell kein politisches Projekt, mit dem sie die zwei oben erwähnten Gruppen ansprechen können.

Was sind die weiteren Forderungen, nachdem die Preiserhöhungen verhindert wurden?

Weitere Forderungen haben sich noch nicht richtig herauskristallisiert. Da die Bewegung keine Anführer_innen hat, steht erst mal die Ablehnung der Regierung im Mittelpunkt. Die Oppositionsparteien haben keine politische Strategie, aber am Montag hat die Hafenarbeitergewerkschaft angefangen zu streiken, ebenso die Arbeiter_innen von Minera Escondida, der größten Kupfermine in Chile. In erster Linie tun sie das, damit die Armee wieder abgezogen wird.
Meiner Meinung nach, ist es aber wirklich Zeit, dass die Arbeiter_innen in den Gewerkschaften endlich ihre Rolle übernehmen und damit anfangen die Arbeiter_innenklasse auf die Straße zu bringen.
Dass nach der Erklärung des Ausnahmezustandes, die Armee auf die Straßen geschickt wurde erinnert natürlich an die sehr bekannten Bilder vom Putsch 1973 und der darauf folgenden Militärdiktatur. Nichtsdestotrotz gehen die Menschen auf die Straße. Was für Gefühle und Reaktionen erzeugt diese Situation in der Bevölkerung? Gibt es Konfrontationen zwischen Armee und Demonstrant_innen?
Für ältere Menschen ist es eine krasse Erfahrung, dass wieder Panzer über die Straßen rollen. Der Sound von Helikoptern über der Stadt und die Arme wieder in den Städten patrouillieren zu sehen, hat natürlich eine gewaltvolle, symbolische Aufladung. Aber für die Jüngeren, die die Diktatur nicht mehr aktiv mitbekommen haben, geht es um etwas anderes. Insbesondere für die, die bei der Schüler_innenbewegung 2006 und bei den Bildungsprotesten 2011, wo wir gestreikt und die Unis für fünf Monate besetzt haben, dabei waren. Und jetzt haben wir diese Situation. Es ist wie eine Spirale des politischen Konflikts, aber wir warten immer noch darauf, dass sich diejenigen einmischen, die am meisten unter der Diktatur gelitten haben: die Arbeiter_innenklasse.

Es wird immer wieder skandiert, dass die Diktatur noch andauert. Inwiefern beeinflusst sie das Land noch immer?

Die Diktatur ist präsent, weil wir immer noch unter der Verfassung von 1980 leben. Im Zuge dessen wurden viele Teile der produktiven Sektoren in Chile privatisiert. Das betrifft vor allem die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem, aber auch Bodenschätze und sogar das Trinkwasser. Auch untersteht die Armee nicht den zivilen Gerichten. Deshalb gibt es immer noch keine Gerechtigkeit für die zahlreichen Verbrechen, die unter der Diktatur stattfanden. Armee und Polizei haben in dieser Zeit gefoltert, gemordet und mehr als 1200 Menschen verschwinden lassen. Bis heute ist oft nicht klar, wo ihre Körper sind und was genau mit ihnen passiert ist. Die wenigen Soldaten die verurteilt worden sind, sitzen ihre Strafen in speziellen Gefängnissen ab und genießen dort viele Privilegien.
Während Angehörige der Armee eine vergleichsweise hohe Pension vom Staat erhalten, erhalten Rentner_innen bloß einen kleinen, miserablen Betrag aus dem privatisierten Rentensystem … Scheiss auf die Armee!

Du hast schon die letzte große Protestwelle in Chile, die Bildungsstreiks 2011/2012, angesprochen. Damals war auch der rechte Politiker Sebastián Piñera Präsident. Durch die damalige Weigerung der Regierung mit den Studierenden zu sprechen und die brutale Repression, hat er einen immensen Beliebtheitsverlust in der Bevölkerung einstecken müssen. Nun werden wieder Rücktrittsforderungen laut. Wie konnte er überhaupt wieder Präsident werden?

Piñera wurde hauptsächlich aus zwei Gründen gewählt: In seiner ersten Amtszeit, hat er zusammen mit den Medien eine Erzählung entwickelt, dass mit dem anderen (mitte-“links“ und auch neoliberalen) Kandidaten, Chile wirtschaftlich zu einem zweiten Venezuela werden würde. Die Leute fingen sogar an von „Chilezuela“ zu sprechen. Bemerkenswerterweise waren dann aber die Warteschlangen in den Geschäften in der Mitte der Amtszeit von Piñera am längsten.
In seiner zweiten Amtszeit hat er mehr Jobs und höhere Löhne versprochen. Die Kultur dieses Landes ist so neoliberal geprägt, dass sich viele Leute weniger von sozialen Rechten oder öffentlicher Gesundheitsversorgung und Bildung angesprochen fühlen, dafür aber umso mehr von einem hohen Gehalt. Bei der starken alltäglichen Konkurrenz und den vergleichsweise geringen persönlichen finanziellen Ressourcen vieler Chilen_innen, hat dieser Wahlkampf leider gut funktioniert.

Scheinbar fand der Aufstand vor allem in Chiles Hauptstadt Santiago und in ein paar größeren Städten statt. Wie sieht es gerade im Rest des Landes aus?

Die Demonstrationen haben in Santiago begonnen und sind schnell auch hier nach Valparaíso und nach Concepción übergeschwappt. Dies waren auch die ersten Regionen wo der Ausnahmezustand und damit einhergehende Ausgangssperren verhängt wurden. Danach breitete sich der Aufstand von Norden nach Süden aus. Überall gibt es große Riots und Plünderungen, sogar im eher dünn besiedelten Süden Chiles.

In jüngerer Zeit gab es öfter Aufstände gegen neoliberale Regierungen in Lateinamerika. Jetzt in Chile, davor in Ecuador, Haiti, Puerto Rico oder auch letztes Jahr in Argentinien. Was denkst du warum passiert das gerade? Meinst du, wir könnten noch sowas wie einen lateinamerikanischen Frühling erleben?

Ich denke, man kann sagen, dass der Kapitalismus der Grund für all das Unbehagen ist. Wenn ich sehe, wie Menschen Supermärkte plündern, dann ist das für mich Klassenkampf. Auch wenn es in erster Linie darum geht, Sachen umsonst zu bekommen. Denn hier kommt es durchaus vor, dass Menschen Rechnungen über umgerechnet 15 Euro für ganz normale Artikel des täglichen Bedarfs in zwölf Raten abstottern müssen. Das ist super brutal. Oder wenn ein 75-jähriger Arbeiter als Wachmann schuften muss, weil seine kümmerliche Rente nicht ausreicht, um zu leben. Wenn du in die müden Gesichter der Menschen schaust, dann merkst du, dass die Wut nicht bloß aus der Erhöhung der Ticketpreise resultiert. Die Ausbeutung ist riesig.
In den letzten Jahren wurden Länder wie Argentinien oder Ecuador wieder deutlich neoliberaler und wir konnten sehen, wie zerstörerisch das ist. Viele sind gerade nostalgisch und wünschen sich die Zeit der progressiven Regierungen in Lateinamerika zurück. Sie verkennen dabei aber, dass es auch in dieser Zeit kein ernsthaftes Interesse gab, den Kapitalismus zu überwinden und die Autonomie der Bevölkerung zu stärken. Stattdessen verfestigte sich die Abhängigkeit von Rohstoffen und der Führungsanspruch von Präsidenten.
Jetzt gerade gibt es keine Anführer_innen im Aufstand. Ich denke, die Menschen sollten in ihre eigene Kraft vertrauen. Ich würde mich freuen, wenn sich die verschiedenen nationalen Kämpfe verbinden würden, aber um wirklich zu gewinnen, müssen wir zuerst das neoliberale Denken aus unseren Köpfen und Herzen drängen.

#Titelbild: Nachdem das Militär aus nächster Nähe auf eine Demo in Santiago schoss, haute ein Demonstrant einem Soldaten ins Gesicht. frentefotografico

GET POST FORMAT

In Chile eskalieren Proteste gegen die Erhöhung der Ticketpreise im öffentlichen Nahverkehr immer weiter zu einem das ganze Land umfassenden Aufstand. Eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse

„Ich protestiere wegen der ganzen Ungerechtigkeit, wegen der Gewalt und weil unsere Stimme nie gehört wird“ erklärt eine Demonstrantin gegenüber dem online-magazin politika.cl. Die Proteste in Chile, die sich Anfang der Woche noch gegen die Erhöhung der Ticketpreise in der U-Bahn der Hauptstadt Santiagos gerichtet hatten, haben sich auf das ganze Land ausgeweitet. Am vergangenen Freitag rief die Regierung den Ausnahmezustand aus und entsandte das Militär in die Straßen. Nachdem damit keine Ende der Proteste erreicht werden konnte, wurde nun in den Städten Santiago und Valparaíso eine Ausgangssperre verhängt. Mittlerweile wurde der Ausnahmezustand auf die Städte La Serena, Coquimbo, Concepción und Rancagua ausgeweitet. Die Proteste haben sich zu einem landesweiten Aufstand entwickelt. Die Ausgangssperre gilt von 22 bis 7 Uhr. Der Ausnahmezustand sei ausgerufen worden, um “die öffentliche Ordnung und die Ruhe der Einwohner Santiagos sicherzustellen und sowohl privates als auch öffentliches Eigentum zu schützen”, wie der eigens ernannte verantwortliche General Javier Iturriaga del Campo erklärte.

Trotz der immer massiveren Repression gehen die Proteste weiter, mittlerweile allerdings nicht mehr nur gegen die Erhöhung der Ticketpreise, sondern sich gegen das neoliberale Modell im allgemeinen und die Ausgangssperre im besonderen richten.

Die Ausgangssperre, die zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur 1990 verhängt wurde, ist die nächste hilflose Eskalationsstufe der Regierung nach einer Woche von Protesten. Angefangen mit zivilem Ungehorsam von Schüleri*innen, die gegen die hohen ÖPNV-Preise demonstrierten, indem sie kollektiv schwarz fuhren, weiteten sich die Proteste angetrieben von in Videos dokumentierter Polizeigewalt gegen die Schüler*innen immer weiter aus. Auf Videos ist zu sehen, wie Schülerinnen von Polizisten niedergeschossen werden. In der Nacht von Freitag auf Samstag wurden in ganz Santiago Barrikaden gebaut, mindestens fünf Busse wurden angezündet und zahlreiche Polizeifahrzeuge zerstört. Ein Anwohner des Zentrum Santiagos erklärte gegenüber dem lcm: „Es geht alles in Flammen auf. Die Militärs sind in den Straßen. Das ganze Haus ist voll mit Tränengas.“

Trotz der Ausgangssperre gingen die Proteste in der Nacht von Samstag auf Sonntag unvermindert weiter. Das Militär, das ausgestattet mit Kriegswaffen in den Straßen ist, hält die Bevölkerung nicht davon ab zu demonstrieren. Die ganze Nacht über gab es cazerolazos, eine Protestform aus der Miliätrdiktatur, bei der mit Kochlöffeln auf Topfdeckel geklopft wird. In Santiago und der Hafenstadt Valparaíso kam es zu Plünderungen. In sämtlichen größeren Städten des Landes, Iquique, Antofagasta, La Serena, Temuco, Valdivia und Rancagua wurden Barrikaden gebaut. Selbst in kleinen Dörfern, wie Neltume gibt es Demos vor den örtlichen Polizeistationen. Es wurden mindestens 300 Menschen verhaftet. Auf sozialen Medien wird mittlerweile dazu aufgerufen Blut zu spenden, da es viele Verletzte gibt, da sowohl Polizei, als auch das Militär scharf schießen. Die Regierung kündigte an, weitere 1.500 Soldaten in die Gebiete in denen der Ausnahmezustand gilt zu entsenden. In Santiago sind mindestens drei Personen in einem brennenden Supermarkt ums Leben gekommen. Unbestätigten Berichten zufolge sind weitere Demonstrant*innen nach Schussverletzungen gestorben.

„Wir haben hier im Viertel Widerstand geleistet, alle sind an allen Ecken von den Vierteln und bauen Barrikaden, die Atmosphäre ist etwas anderes. Es ist verrückt, das Militär ist in den Straßen und die Bullen sind maximal gewalttätig. Ich habe Angst“, erklärte ein weiterer Anwohner Santiagos gegenüber dem lcm. Vom ursprünglichen Grund der Proteste, der Erhöhung der Ticketpreise in Santiago, ist mittlerweile immer weniger zu hören. Die Proteste sind Ausdruck einer über Jahre angewachsenen Wut über ein Leben in Armut, alltägliche Polizeigewalt und die Schamlosigkeit der herrschenden Klasse. Diese scheint mittlerweile das Muffensausen zu bekommen. Die Regierung um den Unternehmer und Dollarmilliardär Sebastián Piñera hat angekündigt, die Erhöhung der Ticketpreise zurückzunehmen. Er habe „mit Demut die Stimme seiner Landsleute“ gehört. Angesichts der bisher verfolgten Eskalationsstrategie, ist es unwahrscheinlich, dass sich die Proteste mit diesen Brotkrumen befrieden lassen. Sowohl der Studierendendachverband CONFECH als auch verschiedene Gewerkschaften haben für Montag zum Generalstreik aufgerufen.

#Titelbild: Demonstrantin konfrontiert Militär, frentefotografico

GET POST FORMAT

In Ecuador gibt es seit dem 2. Oktober massiven Protest gegen das Strukturanpassungsprogramm der Regierung. Mittlerweile hat die Regierung auf Grund der Proteste das umstrittenste Dekret zurück genommen. Das LCM sprach mit Carlos Pazmiños, 32. Pazminõs ist Soziologe, Journalist und Redakteur des linken Online-Magazins Revista Crisis aus Ecuador. Revista Crisis hat die Protestierenden vor allem in Quito begleitet und ist eines der wenigen Medien, das solidarisch mit dem Aufstand im Land berichtet.

Seitdem das Dekret 883 am Mittwoch, den 2. Oktober, vom ecuatorianischen Präsidenten Lenín Moreno verkündet wurde, welches die Richtlinien des Internationalen Währungsfonds (IWF) befolgt und eine Reihe von staatlichen Subventionen für Alltagsgüter kappt, gibt es massive Proteste im Land. Zeitweilig musste sogar die Regierung aus Quito nch Guayaquil fliehen. Bis jetzt werden offiziell 5 Tote gezählt, sowie tausende Verletzte und Verhaftete. Am Sonntag, den 13. Oktober hat die Regierung Morenos nun das Dekret aufgehoben. Welche Folgen hätte das Dekret für die einfache Bevölkerung gehabt? Warum gab und gibt es so massiven Widerstand?

Dieser paquetazo wie wir ihn nennen, hätte vor allem für die normale und eher arme Bevölkerung große ökonomische Konsequenzen gehabt. Sobald die Streichung der Subvention von Kraftstoffen durchgeführt worden wäre, wären die Preise aller produktiven Wirtschaftszweige wie industrieller Produktion, Transport, Konsum in die Höhe geschellt. Auch die Kosten von städtischemöffentlichem Nahverkehr, sowie vom Fernverkehr wäre exponentiell gestiegen. Dies würde konkret weniger Brot auf den Tischen der Menschen bedeuten. Auf der anderen Seite steht die Dollarisierung, denn Ecuador ist seit der Wirtschaftskrise 1998 dollarisiert. Dieses Dekret hätte die Schranken für die Ein- und Ausfuhr von Kapital aufgehoben und da wir dollarisiert sind, würden ecuatorianische Güter katastrophal an Wert verlieren. In einem realistischem Szenario würden wir stärker abstürzen als Argentinien 2001. Zusammengefasst geht es um die Verteuerung des täglichen Lebens sowie alltäglicher Dienstleistungen, wie zum Beispiel der Bildung und der Gesundheit, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Privatisierung dieser Sektoren; es geht um die Verminderung von Wohnqualität und die Deregulierung der staatlichen Werkzeuge zum Eingreifen in die Wirtschaft.

Die CONAIE, die Konföderation der indigenen Völker in Ecuador, ist die am stärksten mobilisierende Kraft und hat auch am 9. Oktober zum Generalstreik aufgerufen. Wer ist die CONAIE und wie können wir diese politisch einordnen?

Die CONAIE ist eine der wichtigsten historischen Organisationen der Indigenenbewegung in Ecuador, in welchem die verschiedenen indigenen Völker und Nationen des Landes vertreten sind. Eines ihrer Ziele war es indigene Politiker*innen zur Wahl stellen zu können, und zwar unabhängig von den jeweiligen politischen Kräften, die gerade in der Regierung sind. Die CONAIE ist eine komplexe Organisation, in der es unterschiedlichste Spannungen und Perspektiven gibt. Das was sie vereint ist die Vernunft der indigegen Völker und Nationen des Landes. Hier spielen vor allem indigene Kosmovisionen und religiöse Überzeugungen eine wichtige Rolle. Die CONAIE ist der zentrale Akteur der aktuellen Proteste und ist eine grundlegende soziale, politische und ideologische Kraft. Ihr Gesellschaftsprojekt ist ein interkulturelles, also zum Aufbau eines tatsächlich interkulturellen Staates. Diese Devise steht im Widerspruch zu der modernen, kapitalistischen Rationalität. Die CONAIE selber ist im ganzen Land vertreten. Sie ist im Grunde wie ein Parallelstaat, da sie in allen gesellschaftlichen Bereichen und auf allen Ebenen vertreten sind. Es ist eine unglaublich beeindruckende Kraft. Die CONAIE und die indigegen Völker und Nationen Ecuadors sind aktuell die Speerspitze im Kampf gegen den Neoliberalismus in diesem Land.

In einem Artikel vom 8. Oktober schriebt ihr über die „Kommune“ von Quito. Welche Erfahrungen der sozialen, politischen und/oder ökonomischen Selbstorganisierung macht die Bevölkerung gerade in Ecuador und in anderen Epizentren des Protestes?

Man muss verstehen, dass es sich um einen ausgedehnten Aufstand des Volkes handelt. In allen Regionen des Landes finden Straßenblockaden, sowie offene Protestversammlungen statt. In einigen Regionen mehr und in anderen weniger. Dabei herrscht in einigen Versammlungen und politischen Aktionen ein hoher Politisierungsgrad. Es ist kein perfekter Prozess, jedoch ist kein revolutionärer Prozess perfekt. Es gibt unterschiedliche Formen in denen die politische Organisierung der Menschen und der Protest auf der Straße zu Tage tritt. Was wir in Quito erleben, ist besonders spannend, denn hier gibt es besonders viele Versammlungen in den verschiedenen Bezirken. Sogar in Bezirken mit einer gemischten Klassenbasis. Wir erleben das im Süden der Stadt, sowie im Norden; wobei im Süden die traditionellen Arbeiterviertel zu finden sind, und im Norden die traditionellen Viertel des Klein- und Großbürgertums. Dies ist ein durch und durch spontaner Prozess. Es ist ein Prozess der spontanen Solidarität, welcher wirklich beeindruckend ist. Es gibt wirklich keine Worte um das zu beschreiben, was sich in diesen Tagen hier zuträgt. Die Kommune-Erfahrungen ergeben sich in dem Moment, in dem normale Menschen politische Macht ausüben und ein Territorium verteidigen können. Auf der Straße zeigt sich dies, wenn die Menschen der Staatsgewalt trotzem und nicht zurückschrecken. Und hier werden unterschiedliche Formen des Kampfes erprobt, die von der Bevölkerung selber legitimiert werden. Wir sehen in einem Arbeiterviertel Männer, Frauen, Kinder und Alte gemeinsam Barrikaden bauen. Die Menschen verteidigen sich mit dem was sie finden: Stöcker, Äste, Steine. Menschen machen Kaffee und Zimt-Tee, damit die Protestierenden nicht ermüden. Es wird Natronwasser zusammen gemischt, damit man sich die Augen auswaschen kann, wenn man Tränengas abbekommen hat. Alls dies geschieht hier.

Wie wird es deiner Meinung nach weiter gehen?

Offensichtlich muss die Regierung in einen Dialog treten, was sie ja auch bereits angekündigt hat. Die Situation auf der Straße hat ihnen keine andere Option gegeben. Die Armee und die Polizei hat Reibungen zwischen den Mittleren und Höheren Rängen und den Fußsoldaten. In diesem möglichem Dialog gibt es gute Chancen, weitere Forderungen wie der Aufhebung des Notstandes. Die Genoss*innen der CONAIE werden Straferlass für alle inhaftierten Protestierenden fordern. Der Erfolg dieses Dialogs wird sich zeigen, solange der Druck auf der Straße aufrecht erhalten werden kann. Daher muss die aktuelle soziale Bewegung dazu über gehen kohärentere und organisiertere Schritte zu machen, um den Staat selber in die Enge zu treiben und im bestmöglichen Fall weiter zu destabilisieren. Und hier ist die Rolle der alternativen Medien besonders von Relevanz. In den letzten Tagen gab es eine riesige Rauchwolke in den traditionellen ecuatorianischen Medien, die nicht wirklich über das berichten, was gerade passiert. Sie versuchen den Generalstreik zu einem Ausdruck von willkürlicher Gewalt und Diebstahl zu verklären. Aber die Menschen erkennen nun, dass die bürgerlichen Medien Lügen – sie sehen die Wahrheit.

Wie können wir euch aus dem Ausland unterstützen?

Ich denke aus dem Ausland kann man an die unabhängigen Organisationen spenden, denn egal ob der Generalstreik bald aufhört oder nicht, brauchen die Genoss*innen Geld, um die Menschen alle zu transportieren, Anwält*innen sowie Essen und Unterkunft zu bezahlen. Wenn dieser Generalstreik weiter gehen sollte, müssen wir auch die Provinzen mit versorgen. Des weiteren könnt ihr im Ausland Teil davon sein diesen mediatischen Boykott zu durchbrechen und der Welt zu zeigen was wirklich in Ecuador geschieht.

#Titelbild: Generalstreik am 8.Oktober, Iván Castaneira, revista crisis

GET POST FORMAT

[Anmerkung der Redaktion am 13.04.: Omar Al-Bashir wurde am 11.04. vom Militär abgesetzt. Eine militärische Übergangsregierung geführt vom General Awad Ibn Auf wurde installiert. Am 13. April trat Ibn Auf durch Druck der Straße zurück – sein Nachfolger General Abdel Fattah Burhan hat die Regierungsgeschäfte übernommen. Die sudanesische Bevölkerung geht weiter auf die Straße – die Forderung bleibt eine zivile Übergangsregierung.]

Seit Mitte Dezember 2018 finden im Sudan fast täglich Demonstrationen statt. Anfangs wandten sie sich gegen steigende Lebensmittelpreise, doch schnell stand die Forderung nach dem Sturz des Regimes im Fokus. Am 6. April, dem Jahrestag eines vergangenen Diktatorensturzes im Sudan, fand ein Millionenmarsch in der Hauptstadt Khartoum statt, der schließlich in einer bis jetzt anhaltenden Dauerkundgebung vor dem Gebäude der Militärführung mündete. Samstagnacht wurde zum Generalstreik aufgerufen.

Der Autor hat Nasredin Abdalla Mahmoud, einen politischen Aktivisten aus Darfur, Sudan, bei der Solidaritätskundgebung am 6. April in Berlin getroffen und hat mit ihm über die aktuelle Situation im Sudan gesprochen.

(mehr …)
GET POST FORMAT

Die ablehnende Reaktion von Teilen der deutschen Linken auf die Sozialproteste der »gilets jaunes« ist nicht nur falsch – sie ist gefährlich

Seit dem 17. November brennt Frankreich. Zehntausende Demonstrant*innen, oft in gelben Signalwesten, legen das Land lahm. Der Protest, der sich zunächst gegen eine angekündigte Benzinpreiserhöhung richtete, wurde bald zu einer allgemeinen Revolte gegen die neoliberale Regierung Emmanuel Macrons.

Die Bewegung der »gilets jaunes« begann als eine spontanes Aufbegehren gegen ein ungerechtes Steuersystem: »Massenabgaben werden erhöht, die Reichen müssen kaum irgendwas zahlen« – der simple Grund der Empörung. Es kamen weitere Forderungen – etwa die nach einem Mindestlohn, der zum Leben reicht – hinzu. Eine Million Menschen unterzeichneten innerhalb kürzester Zeit die Online-Petition der Gelbwesten, viele tausend liefern sich Straßenschlachten mit der brutal vorgehenden Staatsmacht.

Eigentlich – so könnte man meinen – ein fixer Bezugspunkt für innereuropäische, linke Solidarität. Und vor wenigen Jahren hätten wir, wie bei den Krisenprotesten in Griechenland oder Spanien, sicher noch linke Soli-Demos in Berlin gesehen – wie klein und wirkungslos auch immer. Doch das Koordinatensystem vor allem der liberalen Linken in Deutschland hat sich verschoben. Aus dem Gefühl der eigenen Ohnmacht folgt die Angst vor Veränderung. Man traut sich nichts zu, also hängt man an der Illusion, der bürgerliche Staat möge wenigstens die dünne zivilisatorische Eisdecke nicht brechen lassen, die einem veganes Essen in der Uni-Mensa oder den Job als Redenschreiber im Bundestag ermöglicht. (mehr …)

Artikel

12 ... 24 von 1316 gefundene Artikel

Der Aufstand in Chile geht seit Samstag unvermindert weiter. Militär und Polizei gehen brutal gegen die protestierende Bevölkerung vor. Doch […]

In Chile eskalieren Proteste gegen die Erhöhung der Ticketpreise im öffentlichen Nahverkehr immer weiter zu einem das ganze Land umfassenden […]

In Ecuador gibt es seit dem 2. Oktober massiven Protest gegen das Strukturanpassungsprogramm der Regierung. Mittlerweile hat die Regierung auf […]

[Anmerkung der Redaktion am 13.04.: Omar Al-Bashir wurde am 11.04. vom Militär abgesetzt. Eine militärische Übergangsregierung geführt vom General Awad […]

Die ablehnende Reaktion von Teilen der deutschen Linken auf die Sozialproteste der »gilets jaunes« ist nicht nur falsch – sie […]

Der Aufstand in Chile geht seit Samstag unvermindert weiter. Militär und Polizei gehen brutal gegen die protestierende Bevölkerung vor. Doch […]

In Chile eskalieren Proteste gegen die Erhöhung der Ticketpreise im öffentlichen Nahverkehr immer weiter zu einem das ganze Land umfassenden […]

In Ecuador gibt es seit dem 2. Oktober massiven Protest gegen das Strukturanpassungsprogramm der Regierung. Mittlerweile hat die Regierung auf […]

[Anmerkung der Redaktion am 13.04.: Omar Al-Bashir wurde am 11.04. vom Militär abgesetzt. Eine militärische Übergangsregierung geführt vom General Awad […]

Die ablehnende Reaktion von Teilen der deutschen Linken auf die Sozialproteste der »gilets jaunes« ist nicht nur falsch – sie […]