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Nach fast 100 Prozesstagen ist im Antifa-Ost-Verfahren gestern, am 31.05.2023, ein Urteil gefallen. Lina wurde zu fünf Jahren Knast verurteilt, die anderen drei Angeklagten zu jeweils zwei Jahren und fünf Monaten, drei Jahren und drei Jahren und drei Monaten. Während die Bundesanwältin, der diese Urteile vermutlich neue Karrieresprünge eröffnen, sich bei der Urteilsverkündung ihr Dauergrinsen nicht verkneifen konnte, wechselten sich angesichts der Ausführungen, die der vorsitzende Richter in den folgenden Stunden von sich gab, bei den Zuschauern Wut, Fassungslosigkeit und Erschöpfung ab.

Der vorsitzende Richter Schlüter-Staats, personifizierter erhobener Zeigefinger, wäre gerne souveräner als er ist. Aber es ist offensichtlich, dass ihm ein Prozess, in dem die Verteidigung ihren Job macht, auf die Nerven gegangen ist. In seinem Resumé des Prozesses erklärt er etwa vorwurfsvoll, dass die Verteidigung ja die ganze Zeit damit zugebracht habe, die Ermittlungen der Polizei in Zweifel zu ziehen. Die bürgerliche Presse ist da ganz an seiner Seite. In der FAZ kann man lesen, dass es dem Richter wohl ein besonderes Bedürfnis sei, „endlich mal die ungeteilte Aufmerksamkeit“ zu haben, nachdem er im Prozess von der Verteidigung „ständig und teilweise unflätig unterbrochen wurde“. Weil in einem guten Prozess werden des guten Ton halbers den Gottkönigen des Gerichts die Stiefel geleckt. Dementsprechend sparte der vorsitzende Richter nicht mit Spitzen gegen die Verteidiger, die das über sich ergehen lassen mussten – während der Urteilsverkündung, dem Moment mit der größten medialen Aufmerksamkeit, hat der Richter das Wort. Die Vorwürfe sind hart: Es fehle an juristischen Grundkenntnissen und einer der Verteidiger, der – zurecht – von politischer Justiz gesprochen hatte, solle doch die Gedenkstätte in Hohenschönhausen besuchen, wenn er wissen wolle, was politische Justiz sei.

Die kognitive Dissonanz, die hier an den Tag gelegt wurde, ist beachtlich. Das Urteil als politisch zu bezeichnen, wäre eigentlich fast schon ein Kompliment. Die mündliche Urteilsbegründung hat es nämlich in sich. Für diese nahm sich der vorsitzende Richter ausgiebig Zeit. Von 10 bis 20 Uhr dozierte er darüber, warum die Angeklagten verurteilt werden. Der Teufel liegt ja bekanntlich im Detail. Und die Details in diesem Prozess sind die wahnwitzigen Argumentationen, die das Gericht heranzieht, um die Angeklagten zu verurteilen. Auch wenn es, wie die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer schon gesagt hatte, keine „smoking gun“, a.k.a. Beweise gebe.

Der Berliner Angeklagte etwa wurde unter anderem verurteilt, weil er sein Auto verliehen hatte, welches dann in Eisenach eingesetzt wurde, um den Neonazi Leon R. auszuspionieren und anzugreifen. Ob er wusste, dass das Auto dafür eingesetzt wurde, konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Ist aber egal. Der vorsitzende Richter Schlüter-Staats führte aus, dass, wenn es sich um etwas anderes gehandelt hätte, wie etwa Graffiti oder zum See fahren, der Angeklagte dann ja gefragt hätte, ob er mitkommen könne. Da er das nicht gemacht habe, müsse er gewusst haben, wofür er das Auto verliehen habe, und habe sich dementsprechend der Unterstützung der kriminellen Vereinigung, die das Gericht de jure mit diesem Urteil geschaffen hat, schuldig gemacht. So einfach kann man es sich wohl nur im Staatsschutzsenat machen.

Die Bundesanwaltschaft BAW hat sich in seinem Fall sowieso nicht mit Ruhm bekleckert. Für eine der ihm ursprünglich vorgeworfenen Tatbeteiligungen hatte er ein handfestes Alibi: Aus einem anderen, von der selben Bundesanwältin geführten Verfahren geht hervor, dass er gar nicht beteiligt gewesen sein kann: Sein Telefon wurde abgehört, und die Gesprächsprotokolle zeigten, dass er in Berlin war. Dieses Wissen musste allerdings von den Verteidiger*innen in den Prozess eingebracht werden, die BAW hätte ihn wider besseren Wissens oder aus Versehen auch deswegen verurteilt.

Ein weiteres Beispiel für die absurden Begründungen der Verurteilungen: Lina soll an einem Angriff auf einen Kanalarbeiter, der eine Mütze der Nazi-Marke Greifvogel-Wear getragen hatte, beteiligt gewesen sein. Zum Verhängnis wird ihr hierbei, dass sie eine ca. 1,75 m große Frau ist. Weil eine 1,75 m große Frau war anscheinend dabei. Weitere Beweise: Der Richter führte aus, dass der „Modus Operandi“ der der Vereinigung gewesen sei. Vor allem die Abgeklärtheit, und dass an anderer Stelle auch eine Frau ein Pfefferspray dabei gehabt habe. Außerdem wohne Lina in der Nähe. Und weil man davon ausgehe, dass ihr Partner bei der Aktion dabei gewesen sei, gehe man davon aus, dass die 1,75m große Frau Lina gewesen sein müsse. Selbst als zynischer Linksradikaler bleibt man bei so einem Quatsch fassungslos zurück.

Die gleiche Argumentation lieferte das Gericht bei einem anderen Fall. Bei einem Angriff auf die Neonazi-Kneipe Bulls Eye sei nachgewiesen, dass ihr Partner an der Aktion teilgenommen habe; es war eine Frau dabei; und weil es ja eine Vereinigung gebe, müsse das Lina gewesen sein. Und schon kommen fünf Jahre Knast zusammen.

Dass so ein nach logischen Maßstäben komplett irres Urteil gefällt werden kann, liegt maßgeblich am Verräter Johannes Domhöver. Dieser war auch angeklagt, nachdem aber Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn öffentlich gemacht wurden, beschloss er sich dem VS, dem LKA und eben auch dem Gericht anzudienen, um eine für ihn günstigere Strafe herauszubekommen. Das hat er erreicht. Sein Verfahren wurde abgetrennt und er bekam vor dem Landgericht Meiningen eine Bewährungsstrafe für seine Beteiligung an einem Angriff auf die Nazikneipe Bulls Eye.

Domhöver, den das Gericht für glaubwürdig hält, hatte die nötige Munition geliefert, damit eine kriminelle Vereinigung nach § 129 konstruiert werden konnte. Unter anderem wegen diesem Aspekt wurde das Verfahren auch als Testballon für den 2017 reformierten Schnüffelparagrafen bezeichnet. Nun gilt eine Vereinigung als ein „auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.“ Damit definiert der Staat dann quasi jeden politischen Zusammenhang, der sich nicht auf bloße Lippenbekenntnisse beschränkt, als potenziell kriminelle Vereinigung.

Nur unter Zuhilfenahme dieses juristischen Werkzeugs war es möglich, den Angeklagten die der Organisation angelasteten Taten anzukreiden. Und da der Organisationsbegriff juristisch maximal schwammig formuliert ist, kann man davon ausgehen, dass es weitere Verfahren geben wird. Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) hat schon angekündigt, dass weiter „ermittelt“ werde und dass er zuversichtlich sei, „weitere Straftäter“ vor Gericht bringen zu können. Scheint realistisch, die für Verurteilungen nötige Beweislage ist ja offensichtlich wahnsinnig dünn und es gibt willige Gerichte, die den Auftrag der Exekutive umsetzen.

Was bleibt angesichts dieses absurden Theaters, das als Prozess bezeichnet wird? Innenministerin Nancy Faeser äußerte sich dahingehend, dass „die Radikalisierungs- und Gewaltspirale“ sich nicht weiterdrehen dürfe. Als würden Neonazis und Faschisten keine Gewalt mehr ausüben, wenn man sie nur in Ruhe lässt. Trotz der Repression in Dresden bleibt antifaschistischer Selbstschutz notwendig. Daran ändert auch dieses Urteil nichts. Genauso wenig wie die Verurteilungen von Jo, Dy und Findus in Baden-Württemberg. Denn man kann sich, wie so oft gesagt, im Kampf gegen Nazis nicht auf den Staat verlassen.

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Gastbeitrag der Kampagne „NS-Verherrlichung stoppen!“

Der diesjährige „Tag der Ehre“ in Budapest fand auch außerhalb antifaschistischer Kreise in der BRD erhöhte Aufmerksamkeit. Grund dafür war jedoch nicht der paramilitärische Aufmarsch europäischer Neonazis mit SS-Symbolen. Vielmehr sorgte ein im Netz verbreitetes Video, das zeigte, wie mehrere Personen eine Person in Tarnkleidung angriffen und zu Boden brachten, für Aufsehen. Nach mehreren Festnahmen in Budapest folgte eine mediale Hetzjagd, ausgelöst durch die Bild-Zeitung, die die Namen der Festgenommenen veröffentlichte, denen vorgeworfen wurde, an insgesamt acht Angriffen auf Teilnehmer des Tags der Ehre beteiligt gewesen zu sein. Seitdem ist viel passiert: Es gab länderübergreifend mehrere Festnahmen, Identitätsfeststellungen, Öffentlichkeitsfahndungen, Razzien in Berlin, Leipzig, Jena und zunächst vier Personen in Untersuchungshaft, von denen zwei immer noch in Ungarn einsitzen. Dort wird die Repression von einer Hetze gegen den Antifaschismus an sich begleitet. Die größte regierungsnahe Zeitung des Landes “Magyar Nemzet” bezeichnete Antifaschismus als Terrorismus, „der von extremen, lebensfeindlichen Ideologien angetrieben wird“. Und weiter hieß es, es sei „eine moralische Pflicht, sich dem Antifaschismus entgegenzustellen“. Diese Äußerungen sind bezeichnend für die Medienlandschaft, die fast ausschließlich von Orban und seinem Umfeld kontrolliert wird.

Der „Tag der Ehre“- Ein faschistisches Vernetzungstreffen seit 1997

Um zu verstehen, warum der „Tag der Ehre“ ein legitimes Ziel in der Feindbestimmung aktiver Antifas ist, muss man sich mit der Geschichte dieses Nazi-Events vertraut machen. Der sogenannte “Tag der Ehre” existiert seit 1997 und ist ein wichtiges Ereignis für die Neonazis von Blood & Honour, Hammerskins und deren Sympathisant:innenkreis. Das Wochenende um den 11. Februar ist dem Gedenken an zwei Divisionen der Waffen-SS und einer SS-Gebirgsjägereinheit gewidmet, die sich im Dezember 1944 in Budapest vor der anrückenden Roten Armee verschanzten und einen kläglich gescheiterten Ausbruchsversuch aus dem Budapester Kessel unternahmen. In der Schlacht um Budapest starben auf Seiten der Wehrmacht und ihren ungarischen Kollaborateuren über 100.000 Soldaten. Das NS-Gedenken an den gescheiterten Ausbruch aus dem “Budapester Kessel” ist an diesem Wochenende nur eine Veranstaltung. Neben Rechtsrock-Konzerten steht am Wochenende ein 60 Kilometer langer Nachtmarsch auf dem Programm, der die Fluchtroute der Nazis nachzeichnet. Über 3.000 NS Nostalgiker:innen nahmen in diesem Jahr an der „Wanderung“ teil, die bei Neonazis beliebt ist, weil sie dort trotz eines offiziellen Verbots von SS-Symbolik und Hakenkreuzen ihre NS-Insignien weitgehend ungestört zur Schau stellen können. Der ungarische Tourismusverband “Hazajáró Honismereti és Turista Egylet” bewirbt und unterstützt die Wanderung „Kitörès” unter dem Slogan „Gedenken an die heldenhaften Verteidiger unseres Landes und Europas“. Dazu passend ist der nachträgliche Bericht über die Wanderung illustriert mit Bildern voller NS-Symbolik u. a. von einem Kontrollpunkt mit Hakenkreuzfahne und Hitler-Portrait.

Seit 1997 gibt es marginale Proteste gegen den Tag der Ehre von einer Handvoll engagierter Budapester Antifaschist:innen. Lokale Antifaschist:innen haben in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass das westliche Narrativ, das Victor Orban als personiifiziertes Problem ausmacht, zu kurz greift und die Kritik nicht auf seine Person reduziert werden sollte. Ein lokaler Aktivist, der die Proteste in diesem Jahr mitorganisiert hat, weist darauf hin, dass die liberale Demokratie in Osteuropa an der„kapitalistischen Hemisphäre“ nur eine „vorübergehende Erscheinung“ sei. Die Verhältnisse in Ungarn sind verfestigt autoritär. So sei es in Ungarn in den letzten 150 Jahren nur selten gelungen, die regierenden Parteien demokratisch abzulösen. Die Orban-Regierung sei das „natürliche Kennzeichen dieses semiperipheren Kapitalismus“. Tatsächlich ist das Regime in Ungarn sehr stark vom hegemonialen kapitalistischen System geprägt und mit ihm verbunden. Die Regierung Orban ist bemüht, diesen Kapitalismus möglichst geräuschlos zu verwalten. Das führt auch dazu, dass soziale Bewegungen wie die LGBTIQ-Bewegung oder die kleine Antifa-Szene möglichst klein gehalten werden sollen. Das kapitalistische System wird in Ungarn, wie auch in den meisten postsozialistischen Staaten Osteuropas nationalistisch und autoritär gemanaged. 

Auch geschichtspolitisch täuscht Orban die Menschen, indem er versucht, den Realsozialismus mit dem Faschismus gleichzusetzen.  Diese Umdeutung der Geschichte ist ein Versuch, von seinem maroden System abzulenken. Durch die Verbreitung rechter Narrative ist Ungarn eine der treibenden Kräfte des Geschichtsrevisionismus in Europa. Dies drückt sich in Budapest auch städtebaulich aus. So ließ Orban in den vergangenen Jahren nationalistische Denkmäler des Horthy-Regimes wie z.B. das Nationale Märtyrerdenkmal originalgetreu wieder aufbauen. Es hat seinen Grund weshalb sich Neonazis in Ungarn so wohl fühlen und mit keinerlei Gegenwind rechnen müssen. Das Motiv der Neonazi-Szene, die alljährlich zum Tag der Ehre pilgert, ist dem der ungarischen Regierung sehr ähnlich. Denn es geht ihnen darum, den Ausbruch aus dem Budapester Kessel als Akt der Verteidigung Europas gegen den Vormarsch der Kommunist:innen umzudeuten.

Der Tag der Ehre 2023 

In diesem Jahr gelang es durch antifaschistische Raumnahme mit zwei Gegenkundgebungen an der Burg, das Nazi-Gedenken von Blood&Honour und Legio Hungaria aus Budapest zu verbannen. Das Vorgehen der ungarischen Behörden steht im Kontext der erfolgreichen antifaschistischen Mobilisierung der letzten Jahre. Es ist den Nazis nicht mehr möglich, ihr ritualisiertes Gedenken in der Budapester Innenstadt abzuhalten, so dass das offizielle Nazigedenken in einen Wald außerhalb Budapests ausweichen musste. Damit wurde zum ersten Mal ein faschistisches Gedenken in der Innenstadt verhindert, was vor Ort als sehr großer Erfolg gewertet wird. Dieser Erfolg war auch nur durch den unermüdlichen Einsatz einiger lokaler Aktivist:en möglich, denen es in den letzten Jahren gelungen ist, ein internationales Netzwerk mobiler antifaschistischer Gruppen einzubinden.

Repression

Sinn und Zweck staatlicher Repression ist es, organisierte antagonistische Strukturen zu kriminalisieren und letztlich zu zerschlagen. Am Beispiel des Tags der Ehre in Budapest ist es deswegen folgerichtig, dass sowohl die ungarischen Behörden als auch im Wege der Amtshilfe die deutsche Polizei mit großem Ermittlungseifer den Widerstand gegen den Tag der Ehre verfolgen und kriminalisieren. In Ungarn liegt dies daran, dass der Gegenprotest nationale Geschichtsmythen wie die Unterjochung unter “zwei Diktaturen” in Frage stellt. Zudem liegt es in der Natur jedes Staates Organisation außerhalb des vom Staat vorgegebenen Rahmens zu verfolgen, unabhängig dessen, wie militant im Detail agiert wird. Vor diesem Hintergrund lehnen wir eine Einteilung in „gute“ und „böse“ Antifas ab. Wir solidarisieren uns mit allen, die sich gegen dieses geschichtsrevisionistische Gedenken an die Waffen-SS organisieren und aktiv werden. Die Repression darf nicht dazu führen, dass sich weniger Menschen an den Protesten gegen den Tag der Ehre beteiligen. Vielmehr sollten wir das gestiegene Interesse nutzen, um die faschistische Gefahr aufzuzeigen, die von diesem internationalen Faschist:innentreffen ausgeht.

Die Kampagne „NS-Verherrlichung stoppen!“ lässt sich von zunehmender Repression nicht einschüchtern, denn diese ist immer eine Begleitmusik antifaschistischer Arbeit. Wir werden weiterhin die Notwendigkeit des Aufbaus internationaler antifaschistischer Netzwerke forcieren und geschlossen auftreten.

Wir sammeln Spenden für von Repression Betroffene.

Konto: Netzwerk Selbsthilfe
Stichwort: NS Verherrlichung stoppen
IBAN: DE1210 0900 0040 3887 018
Kontakt: nsverherrlichungstoppen@riseup.net

# Titelbild: vvn-bda, Gegenprotest gegen den Tag der Ehre 2023

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Die Erdbeben-Katastrophe sei Schicksal gewesen, sagt der türkische Präsident Erdoğan. Nur „Zusammenhalt“ helfe nun. Doch war die Katastrophe wirklich unabwendbar? Und wer hält hier eigentlich mit wem zusammen? In der Türkei ist die politische Diskussion über diese Fragen längst entbrannt – und auch wir in Deutschland sollten uns mit ihr befassen.

Dürfen wir jetzt überhaupt politisch sein?

Es ist klar, dass das Erdbeben selbst eine Naturkatastrophe war. Aber jetzt geht es vor allem darum, wie es in der aktuellen Situation weitergehen soll. Und das ist eine politische Frage – ob wir wollen oder nicht. Wir müssen uns fragen: Geht die Erdoğan-Regierung gut mit der Situation um und tut alles Notwendige für die Betroffenen? Oder organisiert die Regierung die Katastrophenhilfe nicht richtig und es muss mehr getan werden? Wenn man sich dazu nicht positioniert, akzeptiert man Erdoğans aktuelle Krisenpolitik. Es gibt hier keine unpolitische Haltung.

Seit dem Erdbeben äußern unzählige betroffene Menschen massive Kritik daran, wie die Regierung und die Behörden mit der aktuellen Situation umgehen. Sie forderten und fordern schnellere und umfassendere Hilfe. Besonders starke Kritik gibt es von Betroffenen, die Minderheiten angehören, beispielsweise Kurd:innen, Alevit:innen oder Araber:innen. Sie kritisieren unter anderem, dass die Städte, in denen sie mehrheitlich leben, vernachlässigt werden. In tausenden von Fällen trafen staatliche Rettungskräfte erst ein, als es für viele Verschüttete schon zu spät war – falls sie überhaupt eintrafen. Besonders kritisch ist die Situation geflüchteter Menschen. Freiwillige Helfer:innen in der Provinz Hatay berichten, dass die staatliche Katastrophenhilfe „völlig unzureichend“ ist: Nirgendwo ist der Staat zu sehen. Ähnliche Bewertungen hört man von den meisten freiwilligen Helfer:innen und selbst Mitarbeiter:innen des staatlichen Katastrophenschutzes AFAD äußern anonym teilweise scharfe Kritik. Es gibt auch eine Reihe von Berichten, dass AFAD selbstorganisierte Hilfe behindert – beispielsweise die Lieferung von Sachspenden. Nun wurde auch noch aufgedeckt, dass der Türkische Rote Halbmond Geschäfte mit dem Verkauf von Zelten macht – dabei ist erwähnenswert, dass die Organisation eng mit dem Staat zusammenhängt. Außerdem wurden in mehreren Fällen freiwillige Helfer:innen inhaftiert. Als wäre die Lage nicht schon schlimm genug, bombardierte der türkische Staat vom Erdbeben betroffene Gebiete der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, in der vor allem Kurd:innen leben (auch „Rojava“ genannt).

Die Situation macht deutlich, dass es nicht richtig ist, zu sagen: „Wir sollten jetzt nicht über Unterschiede und Minderheiten sprechen.“ Vor allem Erdoğan und seine Unterstützer sagen ja ähnliches. Es geht hier nicht nur um das Unrecht, das Minderheiten all die Jahre erfahren haben. Es geht auch um die jetzige Situation. Denn wenn der Staat diese Menschen schon so lange benachteiligt und unterdrückt, dann wird er das doch auch in der jetzigen Situation fortführen. Es geht nicht darum, in einer theoretischen Diskussion Recht zu haben – sondern ganz real um Menschenleben. Nur wenn das Problem von Benachteiligung und Unterdrückung von Minderheiten auch in der aktuellen Situation öffentlich angeprangert wird, kann der türkische Staat unter Druck gesetzt werden, an den entsprechenden Stellen mehr Hilfe zu leisten.

Was für die Minderheiten gilt, gilt aber für auch für alle anderen Betroffenen. Denn alle brauchen mehr Unterstützung. Die Lage ist katastrophal und der Staat tut viel zu wenig, um den Betroffenen zu helfen. Aber die Regierung wird nur mehr Ressourcen für die Katastrophenhilfe zur Verfügung stellen, wenn die Bevölkerung der Türkei genügend Druck auf die Regierung ausübt. Und wenn wir die Menschen in der Türkei dabei unterstützen können, das Unrecht öffentlich zu machen und anzuklagen, dann sollten wir das tun und ihnen den Rücken stärken.

Erdoğan dagegen sagt, die Bevölkerung solle die Katastrophe nicht politisch betrachten und nicht „Unfrieden und Zwietracht stiften“. Er stellt es so dar, als würden Kritiker:innen die Bewältigung der Katastrophe behindern. Dabei ist klar, dass er nur von den desaströsen Auswirkungen seiner vergangenen und aktuellen Politik ablenken will. Um gegen die Kritik vorzugehen, ließ die Regierung sogar Twitter einschränken. So erschwerte sie der Bevölkerung den Zugang zu unabhängigen Informationsquellen, behinderte aber auch die Kommunikation darüber, an welchen Stellen nach dem Erdbeben Hilfe gebraucht wurde – wahrscheinlich mit tödlichen Konsequenzen.

„Devlet nerede?“

Die Kritik an Erdoğan bezieht sich nicht nur auf die aktuelle Situation. Es geht auch um die letzten 20 Jahre, in denen er die Türkei regierte. Denn das katastrophale Ausmaß der Zerstörung durch das Erdbeben hat großteils damit zu tun, dass der türkische Staat kaum Vorbereitungen für den Fall von Erdbeben traf. Und das, obwohl es schon vorher starke Erdbeben gegeben hatte; beispielsweise das von Gölcük im Jahr 1999 mit über 17.000 Toten und ca. 140.000 Häusern, die entweder einstürzten oder irreparabel beschädigt wurden. Auch die geologischen Gegebenheiten in der jetzt betroffenen Region waren bekannt. Deshalb war es laut Wissenschaftler:innen „nur eine Frage der Zeit, wann sich solche Erdbeben ereignen.“ Auch Oppositionspolitiker:innen hatten die Gefahr zum Thema gemacht; und sogar Erdoğan selbst sprach davon, dass man Vorkehrungen treffen müsse.

Eigentlich wurde seit dem Erdbeben von 1999 in der Türkei deshalb auch eine Erdbebensteuer erhoben, durch die der Staat bis zu 38 Milliarden Euro eingenommen habe. Dieses Geld sei allerdings von Erdoğans Regierungen zu einem großen Teil für andere Zwecke ausgegeben worden als für die Vorbereitung auf Erdbeben. So sorgte der Staat offensichtlich weder konsequent dafür, dass ältere Gebäude saniert und erdbebensicher gemacht wurden, noch wurden die Sicherheitsstandards bei Neubauten eingehalten. Die Baumaterialien sind teilweise so instabil, dass sie mit der bloßen Hand zerbrochen werden können. Vor diesem Hintergrund habe die Erdoğan-Regierung 2018/19 sogar noch „13 Millionen illegale Bauten gegen Zahlungen“ genehmigt. Das Resultat ist eine humanitäre Krise riesigen Ausmaßes, von der viele Millionen Menschen betroffen sind.

Das Budget des staatlichen Katastrophenschutz AFAD kürzte der türkische Staat dieses Jahr außerdem auf nur 66,4 Prozent. Gleichzeitig erhöhte er sein Militärbudget 2022 auf 181 Milliarden türkische Lira. Die Türkischen Streitkräfte sind mit 735.000 Soldaten (inklusive Reservisten) übrigens die zweitgrößte Armee innerhalb der NATO. Der gigantische Militärapparat wird gebraucht, um Widerstand innerhalb der eigenen Grenzen zu bekämpfen, um die Interessen der herrschenden Klasse des Landes aggressiv nach außen zu vertreten (z.B. gegenüber dem griechischen oder dem armenischen Staat) und auch um Invasionen und Angriffe außerhalb der Grenzen des Landes durchzuführen (Beispiele hierfür sind Rojava und die Autonome Region Kurdistan im Nordirak). Selbst in den Tagen nach dem Erdbeben hatte das Militär nichts Besseres zu tun, als die PKK anzugreifen, obwohl diese bereits einseitig einen Waffenstillstand erklärt hatte, damit alle Kräfte auf die Katastrophenhilfe fokussiert werden können – dazu kommt der erwähnte Bombenangriff auf Rojava.

Was hat die normale Bevölkerung von diesem Militärapparat? Statt Menschen zum Militärdienst zu zwingen, hätte der Staat massenhaft Katastrophenhelfer:innen und Sanitäter:innen ausbilden können. Statt Milliarden für Panzer und Kriegsflugzeuge auszugeben, hätte der Staat Ausrüstung für Katastrophenschutz und gesundheitliche Versorgung beschaffen können. Ja, er hätte durch Vorsorge sogar verhindern können, dass es überhaupt zu so einer großen Katastrophe kommt. Aber stattdessen bleibt den Betroffenen in diesem Desaster nur, verzweifelt und wütend zu fragen: „Devlet nerede?“ / „Wo ist der Staat?“

Situationen wie diese sind nicht neu. Man kann sie fast jeden Sommer erleben, wenn die Waldbrände wieder beginnen: Es gibt zu wenige Feuerwehrleute, es fehlt an Ausrüstung, es gibt kaum Löschflugzeuge. Es ist eine bewusste Entscheidung, den Katastrophenschutz derart zu vernachlässigen und die tödliche Gefahr in Kauf zu nehmen. Aber das ist nicht nur in der Türkei der Fall, sondern auch im Nachbarland Griechenland und in anderen Balkan-Ländern – teilweise müssen Feuerwehrleute mit der Gießkanne gegen Waldbrände ankämpfen. Der unzureichende Katastrophenschutz ist ein Dauerzustand, aber das Erdbeben führt ihn noch einmal in aller Grausamkeit vor Augen.

Erdoğan und seine Regierungen sind zwar einerseits verantwortlich für diese Zustände, aber andererseits sind solche Zustände auch die schreckliche Normalität einer Welt, in der Profit an erster Stelle steht. Auch wenn wir es uns wünschen, dass die Staaten sich um das Wohl der Bevölkerung kümmern: Das ist nicht, wozu sie existieren. Die Hauptaufgabe von kapitalistischen Staaten ist, die Ordnung aufrecht zu erhalten, in der private Wirtschaftsunternehmen Profite machen können. Darüber hinaus sollen diese Staaten die Interessen dieser Unternehmen in der internationalen Konkurrenz des Kapitalismus durchsetzen. Das Wohl der Bevölkerung spielt in der Regel nur dann eine Rolle, wenn es diesen Zwecken der Staaten dient. Deswegen hat Erdoğan in einer Weise Recht, wenn er in seiner Rede von „devletimiz“ spricht – von „unserem Staat“. Denn dieser Staat gehört ihm und der herrschenden Klasse, einer kleinen, aber reichen und mächtigen Minderheit. Aber es ist nicht der Staat der gesamten Bevölkerung.

„Nur das Volk wird das Volk retten.“

Während sich die Betroffenen auf den Staat kaum verlassen können, unterstützen sie sich viel untereinander. Vielen ist klar, dass sie jetzt nur mit Zusammenhalt und Solidarität weiterkommen. Es haben sich auch schnell Strukturen gebildet, über die Hilfen unabhängig vom Staat organisiert werden – von den Menschen vor Ort selbst, aber auch mit Unterstützung von angereisten freiwilligen Helfer:innen. Zahlreiche linke politische Organisationen und Menschen beteiligen sich dabei in der Katastrophenregion.

Dieser solidarische Einsatz aus breiten Teilen der Bevölkerung ist ein Lichtblick in der ansonsten düsteren Lage. Hier wird deutlich, wie viel der Zusammenhalt der Menschen bewirken kann. Linke in Griechenland haben eine Parole, die an dieser Stelle gut passt: „Nur das Volk wird das Volk retten.“ Der Ausdruck „Volk“ meint im Griechischen wie auch im Türkischen in dieser Verwendung nicht eine ethnische Gruppe, sondern die breite Bevölkerung im Gegensatz zur Minderheit der herrschenden Klasse (die Wörter für „Volk“ sind „λαός“ und „halk“). Das Volk also ist zwar einerseits auf sich allein gestellt und kann von der herrschenden Klasse keine Unterstützung erwarten. Es hat aber andererseits auch die Kraft, schwierige Situationen wie die aktuelle vereint zu bewältigen.

Unter den zahlreichen Menschen, die nach dem Erdbeben in die betroffenen Gebiete gereist sind, sind auch Minenarbeiter. Sie haben nicht nur wichtiges Wissen und Fähigkeiten für Rettungseinsätze – aufgrund häufig unsicherer Arbeitsbedingungen ist es für einige von ihnen leider keine gänzlich neue Situation, verschüttete Menschen zu retten. Die wahrscheinlich prägendste Erfahrung für Minenarbeiter in der Türkei war das „Unglück“ von Soma 2014, bei dem über 300 Kollegen starben. Neben Minenarbeitern meldeten sich unter anderem auch Bauarbeiter am Flughafen von İstanbul freiwillig, um in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten Hilfe zu leisten. Allerdings hinderte das Management sie daran – Hauptsache: die Profit-Maschinerie läuft weiter. Außerdem häufen sich mittlerweile Meldungen von Kündigungen von Arbeiter:innen, die sich an der Katastrophenhilfe beteiligt haben – und den Unternehmen deshalb kurzzeitig nicht als Arbeitskraft zur Ausbeutung zur Verfügung standen.

Zur Katastrophenhilfe gehört aber nicht nur die Rettung Verschütteter, sondern auch die Versorgung Überlebender. So hat beispielsweise eine Gruppe kurdischer Frauen innerhalb kurzer Zeit 18.000 Brote für Bedürftige gebacken. Es ist das Volk selbst, das sich jetzt einsetzt, um die Katastrophe gemeinsam durchzustehen – jede:r nach seinen/ihren Fähigkeiten.

Währenddessen schläft Erdoğan in einem der 1.000 Zimmer seines Palastes, der 270 Millionen Euro gekostet hat – oder vielleicht auch in seiner Ferienanlage an der Küste mit 300 Zimmern, die 62 Millionen Euro gekostet hat. Aber nicht nur er muss sich keine Sorgen um seine Existenz machen: In der Türkei gibt es 24 Milliardäre. Welche Berechtigung hat solch ein Reichtum angesichts einer Katastrophe wie der aktuellen? Warum leben die einen in Palästen, während andere unter Trümmern begraben erfrieren? In manchen der betroffenen Gebiete sanken die Temperaturen nachts auf unter -15 °C. Nicht einmal Zelte, Nahrung, Toiletten und Medizin gibt es bisher für alle Menschen. Viele von ihnen haben bei Minusgraden kein Dach über dem Kopf.

Kapitalismus bedeutet Klassengesellschaft: die einen arbeiten, die anderen werden davon reich. Milliarden-Reichtum lässt sich niemals durch eigene Arbeit erreichen, sondern basiert immer auf der Ausbeutung tausender anderer Menschen. Diese Gesellschaftsordnung war nie im Interesse der breiten Bevölkerung. Aber in Notsituationen wie der aktuellen, wenn es um Leben und Tod geht, wird die Unmenschlichkeit dieses Systems besonders deutlich. Wo sind die Reichen, wo sind die Herrscher dieser Welt jetzt? Es sind die Menschen aus dem Volk, die die Verschütteten retten, die ihnen zu Essen geben, die ihre Wunden pflegen – die körperlichen wie die seelischen. Wir haben kein Interesse an dieser Klassengesellschaft. Es gibt für uns keinen „Zusammenhalt“ mit der kapitalistischen Klasse. Wir und sie stehen nicht miteinander, sondern gegeneinander.

Widersprüche der Klassengesellschaft werden auch deutlich, wenn wir uns anschauen, wie jetzt finanziell versucht wird, die Betroffenen zu unterstützen: Während Hilfsorganisationen in Deutschland bei aller Mühe einige Millionen Euro an Spenden sammeln, liegt der Jahresgewinn von einem Unternehmen wie der Mercedes-Benz Group bei über 14 Milliarden Euro. Das Spendensammeln ist hilfreich und notwendig, das steht außer Frage. Aber der Punkt ist, dass es gleichzeitig immensen Reichtum in dieser Welt gibt, der dem Wohl der meisten Menschen nicht zu Gute kommt – nicht mal im Fall existentieller Not. Es liegt in unserem Interesse, dass wir der herrschenden Minderheit den Reichtum nehmen und als gesamte Gesellschaft über ihn verfügen. Wie viele Menschenleben hätten nach dieser Katastrophe mit den Milliarden und Billionen der kapitalistischen Klasse gerettet werden können?

Internationale Solidarität und die Perspektive

Solidarität kam aber nicht nur aus der Türkei und Syrien selbst, sondern auch aus anderen Ländern. So reisten Rettungs- und Hilfsteams aus über 40 Ländern in die betroffenen Gebiete auf türkischem Staatsgebiet. Sie halfen bei der Bergung Verschütteter und bei der humanitären und medizinischen Versorgung Überlebender. Viel weniger Unterstützung gab es leider für die betroffenen Menschen auf syrischem Staatsgebiet: zunächst kamen nur Hilfsteams aus drei Ländern – aus Russland, Algerien und Palästina. Auch bei Spenden und Hilfslieferungen sieht es ähnlich aus.

In der Türkei halfen auch Rettungsteams, die von Staaten geschickt wurden, mit denen der türkische Staat im Konflikt steht. So wurde auch aus Armenien ein Team entsendet. Und das obwohl der türkische Staat 2020 einen Krieg des aserbaidschanischen Staates gegen den armenischen Staat unterstütze. Und auch aus Griechenland kamen Rettungsteams – trotz des politischen Dauerkonflikts zwischen dem griechischen und dem türkischen Staat in den letzten Jahren. Erdoğan drohte dabei 2022 sogar, griechische Inseln zu überfallen.

Beachtlich ist unter anderem auch die Hilfe, die von Linken und der Arbeiter:innenbewegung Griechenland für die Betroffenen in der Türkei und in Syrien geleistet wird: Gewerkschafter:innen und Studierende sammeln Sachspenden. Die klassenkämpferische Gewerkschaftsplattform PAME organisierte Blutspenden unter dem Motto „Solidarität ist in unserem Blut“. Eine Ärzt:innengewerkschaft rief zur Teilnahme von Ärzt:innen an Rettungseinsätzen auf. Sogar migrantische Feldarbeiter sammelten Spenden, obwohl sie selbst unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und leben müssen. PAME brachte mittlerweile 100 Tonnen an Hilfsgütern in die betroffenen Gebiete auf türkischem Staatsgebiet, weitere 100 Tonnen stehen in Griechenland bereit. Dabei sollen die Hilfsgüter auch an Betroffene auf syrischem Staatsgebiet gehen.

Es helfen jetzt unter anderem also genau die Menschen, die all die Jahre in den staatstreuen Medien als Feinde dargestellt wurden. Die Feindschaft besteht aber nicht zwischen den Völkern. In der internationalen Solidarität zeigt sich aktuell im Gegenteil eine Verbundenheit zwischen Menschen egal welcher Nationalität. Wir alle haben Interesse an einem guten Leben in Frieden – egal in welchem Land. Die Feindschaft besteht zwischen den Staaten und sie basiert auf der internationalen Konkurrenz zwischen den herrschenden Klassen um Profit und Macht. Die Völker werden in ihrem Interesse gegeneinander aufgehetzt.

Bisher waren die Menschen in den betroffenen Gebieten darauf fokussiert, ihre verschütteten Angehörigen und Freund:innen zu retten. Schock und Trauer sind noch stark. In der Türkei drückt sich aber auch an vielen Stellen Wut aus: darüber, dass kaum staatliche Hilfe kommt, und vor allem darüber, dass der Staat das Ausmaß dieser Katastrophe erst möglich gemacht hat. Auch die Sorge vor einer womöglich noch größeren Erdbeben-Katastrophe in İstanbul besteht. Dagegen werden Erdoğan und seine Anhänger weiter versuchen, von den eigenen Verbrechen abzulenken und andere beschuldigen, für das Desaster verantwortlich zu sein. Sie werden weiter über die Medien verbreiten, dass sie umfassende und ausreichende Hilfe leisten würden. Sie werden weiter den Menschen vermitteln, dass alle im gleichen Boot sitzen würden – als wäre das Volk eine Einheit mit Kapital und Staat.

In Deutschland sind einige linke Organisationen aktiv, die ihren Ursprung in der Türkei und in Kurdistan haben. Wir können sie in der aktuellen Situation unterstützen: Zum einen können wir ihnen den Rücken stärken in der Kritik am türkischen Staat und auch am deutschen Staat, der den türkischen Staat mit seiner Politik unterstützt. Und zum anderen können wir mit den Genoss:innen Solidaritätsaktionen für die Menschen im Erdbebengebiet organisieren.

(Wer vom Erdbeben betroffene Menschen mit Geldspenden unterstützen möchte, kann das gut über medico international tun. Die Hilfsorganisation ist sowohl in der Türkei als auch in Syrien aktiv, hat jahrelange Erfahrung in der Region und arbeitet mit politisch fortschrittlichen Partner:innen vor Ort zusammen – unter anderem mit dem Kurdischen Roten Halbmond.)

#Titelbild: eigenes Archiv.

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Es ist erstaunlich ruhig geworden um den so genannten Neukölln-Komplex. Zeitweise berichteten die Medien in großer Aufmachung über die rechtsterroristischen Anschläge, die in dem Berliner Bezirk vor allem von 2016 bis 2019 für Angst und Schrecken sorgten. Dass vor dem Amtsgericht Tiergarten im August der Prozess gegen zwei mutmaßliche Haupttäter der Anschlagserie begonnen hat, die Neonazis Sebastian T. und Thilo P. (36 und 39 Jahre alt), sorgte zwar noch mal für Berichterstattung. Aber das Thema wurde eher pflichtgemäß abgehakt – zumindest bei den bürgerlichen Blättern und Sendern. Es waren, wie so oft, linke Zeitungen und Portale, die sich darum bemühten, die Hintergründe aufzuhellen. Etwa auf den Umstand hinzuweisen, dass sich die Ermittlungen zu der Anschlagsserie jahrelang hinzogen, während es bei linken Angeklagten oft sehr schnell geht.

Für etwas Aufregung sorgte der Umstand, dass das Amtsgericht Tiergarten zuerst Ferat Kocak, der für die Linkspartei im Abgeordnetenhaus sitzt und einer der Betroffenen der Anschlagserie ist, nicht als Nebenkläger zuließ. Gleich zweimal lehnte die Vorsitzende Richterin einen entsprechenden Antrag ab. Seltsame Begründung: Der Linke-Politiker habe „keine körperlichen und seelischen Schäden“ davongetragen. Offenbar hielt es die Richterin für nicht weiter gravierend, dass Kocaks Auto in der Nacht des 1. Februar 2018 direkt vor dem Haus seiner Familie in Flammen aufging und zeitweise die Gefahr bestand, dass das Feuer auf das Haus übergreift. Und wie sich herausstellte, hätte eine Gasleitung explodieren können.

Zum Glück hatte das Landgericht Berlin als höhere Instanz ein Einsehen. Am 26. August kassierte es den Beschluss des Amtsgerichts und entschied, dass Ferat Kocak im Prozess zur Anschlagsserie doch als Nebenkläger auftreten darf. Damit war ein erneuter Antrag des Linke-Politikers erfolgreich. Zur Begründung führte Kocaks Anwältin, Franziska Nedelmann, unter anderem an, dass den Angeklagten T. und P. im Falle der Brandstiftung zu Lasten ihres Mandanten möglicherweise ein versuchtes Tötungsdelikt vorzuwerfen sei. Es sei nur einem glücklichen Zufall zu verdanken gewesen, dass die Gasleitung an der nahegelegenen Garage der Kocaks nicht durch die Flammen erfasst worden sei.

Das Landgericht Berlin schloss sich dieser Argumentation in seinem Beschluss teilweise an. Eine Tötungsabsicht der Angeklagten, so heißt es in dem Beschluss laut dem Rundfunksender rbb, sei „nicht so fernliegend“, als das dem geschädigten Kocak der Zugang zum Prozess als Nebenkläger verwehrt werden könne. Drei Tage später begann vor dem Amtsgericht Tiergarten der Prozess gegen die beiden Hauptangeklagten aus der Neonaziszene. Der Berliner Generalstaatsanwaltschaft wirft T. und P. unter anderem Bedrohung, Brandstiftung beziehungsweise Beihilfe dazu sowie das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vor. Nach Überzeugung der Berliner Generalstaatsanwaltschaft sollen die beiden Angeklagten versucht haben, Menschen einzuschüchtern, die sich gegen Nazis engagieren.

Mitte September meldete die Deutsche Presse-Agentur, dass im Prozess das Verfahren gegen einen dritten Angeklagten abgetrennt worden. Im Fall des 38-Jährigen, dem Sachbeschädigung vorgeworfen wird, wolle das Amtsgericht bereits am diesem Mittwoch zu einem Urteil kommen. Gegen die beiden Hauptangeklagten werde die Verhandlung am 24. Oktober mit ersten Zeugen zu Brandanschlägen auf Autos von zwei Männern fortgesetzt. Geladen sei auch Kocak als einer der Betroffenen. Im Prozess habe sich das Gericht zunächst mit dem angeklagten Komplex zu Aufklebern und Zetteln sowie aufgesprühten Parolen mit „rechtsextremistischen Inhalten“ im Jahr 2017 befasst. Dem 38Jährigen, dessen Verfahren nun abgetrennt wurde, werde die Beteiligung an 17 solcher Vorfälle zur Last gelegt. Ursprünglich sei der Prozess gegen fünf Beschuldigte geplant gewesen, so die Agentur. Das Verfahren gegen einen 48Jährigen sei jedoch wegen Krankheit abgetrennt. Gegen einen 50 Jahre alten Mitangeklagten sei wegen Sachbeschädigung in zwei Fällen eine Geldstrafe von 900 Euro per Strafbefehl ergangen. Dagegen habe er allerdings Einspruch eingelegt. Für den Prozess gegen P. und T. seien vier weitere Tage bis Ende November vorgesehen.

Während also die mutmaßlich für die Anschlagsserie verantwortlichen Neonazis endlich vor Gericht stehen, befasst sich parallel ein Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses mit dem Neukölln-Komplex. Am 16. September war Ferat Koçak geladen. Er schilderte vor dem Ausschuss, wie viel Glück seine Eltern und er hatten, dass sie noch rechtzeitig aus dem Haus gekommen waren. Koçak sprach vor dem Ausschuss auch von Todesangst in der Tatnacht, wie er gegenüber dem Lower Class Magazine berichtete. Die Flammen des brennenden Autos seien bereits bis zum Dach des Wohnhauses hochgeschlagen, als sich die Familie habe retten können.

Zu diesem Zeitpunkt habe er noch gar nichts von der Gasleitung in der Garage gewusst, die zu explodieren drohte. Nur fünf Minuten später, so habe ihm ein Feuerwehrmann gesagt, wären er und seine Familie nicht mehr so zügig aus dem Haus gelangt. Diese Bilder aber blieben. Stets wachsam und in Alarmbereitschaft sei er seit dem Anschlag. Er habe die Abgeordneten gefragt: „Wie würden Sie sich fühlen, wenn sie immer damit rechnen müssten, dass jemand einen Molotowcocktail durch die Scheibe wirft und die Eltern im eigenen Haus verbrennen?“ Dann habe er dem Ausschuss berichtet, dass er noch in der Tatnacht von einem Streifenbeamten nach „seinen Wurzeln“ befragt worden sei und ihm gesagt worden sei, dass der Brand auf einen „türkisch-kurdischen Konflikt“ zurückzuführen sein könnte. Kocak: „Dabei hätte ein Blinder mit Krückstock sehen müssen, dass der Anschlag auf mich und meine Familie einen rechten Hintergrund hatte.“

In Sicherheitsgesprächen mit dem Landeskriminalamt sei es aber fast nur um ihn selbst gegangen – sein politisches Engagement, seine „Kennverhältnisse“, seinen Tagesablauf. „Mir wurde vermittelt, dass keine unmittelbare Gefahr für mich bestehe“, erklärte Kocak gegenüber LCM: „Das war absolut widersinnig, denn auf der anderen Seite bekam ich vom LKA Verhaltenstipps, die genau das Gegenteil suggerierten: dass ich zum Beispiel Wegstrecken ändern oder den Schlafort regelmäßig wechseln sollte.“

Von Torsten Akmann, Staatssekretär der Senatsverwaltung für Inneres, sei er im Ausschuss „angemacht worden“, erklärte Kocak weiter. Auslöser war, dass Kocak zuvor konstatiert hatte, dass die Polizei ein „Nazi-Problem“ habe. „Akmann hat sich darüber aufgeregt, dass ich damit einen Vergleich mit der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte gezogen hätte“, sagte Kocak: „Ich werde aber weiterhin Nazis Nazis nennen. Davon hält mich keiner ab.“ Noch unangenehmer als Akmanns Empörung sei für ihn bei der Befragung im Ausschuss aber das Vorgehen des AfD-Vertreters Antonin Brousek gewesen. Der ist – interessantes Detail am Rande – übrigens Richter am Amtsgericht a. D., wie es auf der Homepage des Abgeordnetenhaus heißt.

„Armselig“ nannte Kocak den Auftritt des Mannes in der Befragung. Dieser habe sich ereifert, dass er ihm doch den Namen seiner Eltern zu nennen habe, damit sie als Zeugen geladen werden könnten. „Ich bin natürlich nicht darauf eingegangen“, so Kocak, „daraufhin hat der AfD-Vertreter versucht, ein Ordnungsgeld zu erwirken, was aber durch den Ausschussvorsitzenden zurückgewiesen wurde.“ Der AfD-Mann habe natürlich provozieren wollen, er habe sich aber nicht aus der Reserve locken lassen, so Kocak gegenüber LCM.

Als weiterer Zeuge trat der Gewerkschafter Detlef Fendt in der Ausschusssitzung vom 16. September auf, der ein Jahr vor dem Anschlag auf Kocak bereits vom rechten Terror betroffen war. Er und seine Frau leben bis heute in der Neuköllner Hufeisensiedlung. In ruhigen, knappen Worten, beschrieb Fendt seine Erfahrungen. Sein Auto stand am 23. Januar 2017 auf der Straße in der Nähe des Wohnhauses in Flammen. Ein Nachbar habe ihn damals mit den Worten geweckt: „Du komm mal, dein Auto brennt.“ Kurz zuvor hatte das Auto der Neuköllner Bezirksstadträtin Mirjam Blumenthal von der SPD gebrannt. Fendt habe daraus geschlossen: „Ach, jetzt bist du dran.“ Schon zuvor waren neben seinem Gartentor Aufkleber der NPD und der Identitären Bewegung aufgetaucht. Fendt macht deutlich, was der Anschlag mit ihm gemacht hat: Seine Kinder trauten sich nicht mehr, bei ihm zu übernachten. Die Nazis beobachteten ihn weiter, erinnerten ihn regelmäßig daran, dass es sie noch gebe. Er lebe heute nicht mehr so unbefangen.

Im Mai 2022 brannte das Auto einer jüdischen Nachbarsfamilie. Diese war bereits am 9. November 2021 durch ein Hakenkreuz auf dem Gartentor „markiert“ worden. Fendt ist sich sicher, dass der rechte Terror schlicht weitergehe. Er berichtete dem Ausschuss, dass er des öfteren Anrufe auf dem Festnetz erhalte, wo sich niemand melde und dann einfach auflege: „Wer ist so hart, dass er das alles so durchzieht? Das gibt schon irgendwo nen Knick“, erklärte Fendt.

Wie Kocak berichtete auch der Gewerkschafter über sein mangelndes Vertrauen in die Behörden. Ihm sei vom Staatssekretär Akmann immer signalisiert worden, dass alles „ganz kurz vor der Aufklärung sei“ – doch bis heute ist nichts aufgeklärt. Fendt bemängelte, dass den Worten der politisch Verantwortlichen nichts Substanzielles folge: „Der Staatssekretär war bei uns, um zu sagen, dass die Staatsanwaltschaft die Fälle zusammenlegt. Da geht man zweimal hin, ein drittes Mal und dann kann man das nicht mehr hören“, sagte er im Ausschuss.

# Titelbild: Kim Winkler, 7. November 2020 – Demonstration “Rechte & rassistische Strukturen in Staat & Gesellschaft bekämpfen!” in Berlin

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Anetta Kahane ist bei den Sicherheitskräften des Landes ein gern gesehener Gast. So referierte sie Mitte November bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), einer Veranstaltung, bei der die Bundesbehörde regelmäßig den Diskurs simuliert, aber tatsächlich vor allem ihre Forderung nach mehr Geld und Befugnissen argumentativ absichert. In einem moderierten Gespräch äußerte sich Kahane per Videoschalte zur Zusammenarbeit von Polizei und „Zivilgesellschaft“ – und zwar an der Seite von Thilo Cablitz, dem Pressesprecher der Polizei Berlin. Das zeigt vor allem eines: Die Gründerin und Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) hat keine Berührungsängste, jedenfalls wenn es um die Behörden geht, die in der BRD für Repression und Machtabsicherung zuständig sind.

Nicht nur für diesen Kuschelkurs zieht die in Heidelberg sitzende Stiftung schon seit längerer Zeit Kritik von radikalen Linken auf sich und das durchaus zu Recht. Wie der aktuelle Zoff um einen Tweet von Dan Kedem, einem der Landessprecher der Linksjugend Solid Berlin, erneut gezeigt hat, sind Kahane und ihre Stiftung Teil eines sich linksliberal gebenden Milieus, das tatsächlich staatstragend und systemerhaltend agiert, sich von den Herrschenden für ihre Zwecke einspannen lässt und daher im Ergebnis mehr Schaden anrichtet, als zu helfen.

Die Nähe der AAS zu den Sicherheitsorganen ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer politischen Positionierung. Es ist bezeichnend, dass Kahane und ihre Stiftung nicht nur mit der Polizei gut können, sondern auch mit dem Verfassungsschutz keine grundsätzlichen Probleme haben. Mit Stephan J. Kramer sitzt der Chef des thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz im Stiftungsrat. Der als Erwachsener zum Judentum konvertierte Kramer war lange Generalsekretär des Zentralrats der Juden, bevor Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) ihn Ende 2015 an die Spitze seines Verfassungsschutzamtes holte mit dem Ziel, dieses zu „demokratisieren“. Im Stiftungsrat der AAS saß der Jurist schon bevor er den Behördenposten übernahm.
Das hielt diverse antirassistische Initiativen, darunter die Kölner Initiative „Keupstraße ist überall“, die Opfer des NSU-Terrors unterstützt, im Juli 2016 nicht davon ab, in einer Erklärung Kritik zu üben. Moniert wurde dabei nicht nur das Verbleiben Kramers im Stiftungsrat der AAS, sondern auch ein Auftritt Kahanes bei einem Symposium ostdeutscher Verfassungsschutzämter. Eine Zusammenarbeit mit Geheimdiensten sei „für uns nicht vereinbar mit der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitismus“, konstatierten die Initiativen. Kahane erklärte damals gegenüber der Zeitung Neues Deutschland, an Kramer festhalten zu wollen. Die AAS werde weiterhin mit Vertreter:innen des Verfassungsschutzes sprechen und versuchen, Reformen durchzusetzen.

Kahanes Äußerungen sind ebenso wie das Vorhaben von Kramer und Bartsch, den Verfassungsschutz „reformieren“ zu wollen, Ausdruck einer Haltung, die mit naiv noch schmeichelhaft umschrieben ist. Da versucht offenbar der Schwanz mit dem Hund zu wedeln. Diese Haltung ist typisch für das erwähnte sich meist linksliberal gerierende Milieu, das seinen Frieden mit dem System gemacht hat. Weil es von einer tiefer gehenden Analyse der Verhältnisse absieht, unterschätzt es die Macht der Apparate, deren Eigendynamik und schlechten Absichten, glaubt an die „wehrhafte Demokratie“, wie sie der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP gerade postuliert hat.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist sozusagen qua Amt zu diesem Glauben und dem Verzicht auf fundierte Kritik verpflichtet. Wer jedes Jahr Millionen vom Staat bekommt, um die „demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet“ (Selbstdarstellung), der wird es sich mit diesem Staat nicht verderben wollen. Dass Kahane und die AAS bei den Repressionsbehörden hoch willkommen sind, hat aber noch einen anderen Grund. Leistet die Stiftung doch für die Legitimation der Apparate und dieses Staates unschätzbare Dienste, die weit über den Verzicht auf Fundamentalkritik hinausgeht. Es ist eine Art Ablasshandel oder wie man heute eher sagen würde: ein Win-Win-Geschäft.

Mit den Millionen an Steuergeldern, die an die Stiftung zur Förderung von Projekten überwiesen werden, kauft sich der Staat frei von der Verpflichtung, rechts genauer hinzusehen. Das wird kurzerhand an die AAS und ähnliche Träger delegiert. Zugleich stellen Kahane und ihr Laden den Herrschenden nach der Devise „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ einen Persilschein aus. Und die Amadeu Antonio Stiftung hat ihren Geldgeber:innen noch mehr anzubieten. Sie hetzt gegen alle, die Rassismus und Rechtsextremismus nicht als bedauerlichen Auswuchs einer ansonsten ganz wunderbaren Ordnung, sondern sie als systemisch, als logische Folge der kapitalistischen Verhältnisse begreifen. Dazu nutzt die Stiftung extensiv den Antisemitismus-Vorwurf, was immer wieder zu Zoff mit radikalen Linken führt.

Kritik an Israel und jegliche Unterstützung für die Palästinenser:innen wird von der AAS in einer besonders penetranten Weise mit Antisemitismus gleichgesetzt. Für die Stellungnahmen von Kahane sind solche Sätze typisch: „Antisemitische Zuschreibungen gegen Israel als jüdischen Staat sind die moderne Form des Antisemitismus, die Rechtsextreme über muslimische Milieus bis hin zur Linken eint. Unter dem Mantel der Israelkritik und des Kapitalismus-Bashings werden Juden zum Opfer von Hass und Gewalt.“

Wer es wagt, diese absurde Darstellung zu kritisieren, findet sich schnell im Mittelpunkt eines Shitstorms wieder. So wurde Dan Kedem von der Linksjugend Solid Berlin, selbst Jude, Mitte November Opfer einer regelrechten Hetzkampagne. Er hatte einen Post retweetet, in der die AAS erklärte, wer sich mit der Forderung nach Freiheit der Palästinenser:innen „from the river to the sea“ gemein mache, fordere die Zerstörung Israels. Als Kommentar schrieb Kedem dazu:

„Amadeu Antonio Stiftung liquidieren!“

Auch wenn das Verb im Zusammenhang mit einer Stiftung deren Auflösung meint, war diese Wortwahl mindestens ungeschickt. Kedem zog den Tweet dann auch schnell zurück und twitterte: „Zur Klarstellung – dieser Tweet war ein Shitpost. Die AAS halte ich für eine problematische Stiftung, die Arbeit leistet, die mich und viele andere linke Juden extrem beeinträchtigt. Wie man das anders lesen kann als „ich finde die AAS doof” ist mir wirklich unerklärlich.“

Diese Entschuldigung bewahrte ihn aber nicht vor der alsbald losgetretenen Kampagne, an der sich auch die Führung des Landesverbandes seiner Partei beteiligte. Die nutzte die Gelegenheit mit Kritik an Kedem und den neuen Sprecher:innenrat von Solid Berlin anzuschließen. Der hatte nämlich zuletzt die „Reformer“ der Berliner Linkspartei und ihre Orientierung auf eine Koalition mit SPD und Grünen massiv von links kritisiert.

Auf der Website klassegegenklasse.org wurde zur Solidarität mit Kedem aufgerufen. Jüdische und migrantische Stimmen würden insbesondere dann diskreditiert, „wenn sie nicht mit der staatstragenden Ideologie einhergehen“, hieß es dort. Stiftungen wie die Amadeu Antonio Stiftung und auch Die Linke stellten sich „hier immer wieder auf die Seite der Kriminalisierung von Widerstand gegen Besatzung und Unterdrückung“. Auch bei Twitter gab es neben Kritik auch Zuspruch für den Berliner Solid-Landessprecher. Die Bewegung „Palästina spricht“ twitterte: „Sie will Aufklärungsarbeit leisten, sich gegen Rassismus einsetzen & eine demokratische Zivilgesellschaft stärken. Doch statt diese Ziele durchzusetzen, bleibt die Amadeu Antonio Stiftung selber lieber unaufgeklärt, verbreitet antipalästinensischen Rassismus & zionistische Propaganda.“ Ein User warf der AAS bei Twitter vor, Menschen, die Kapitalismuskritik üben, als antisemitisch zu framen.

Dass Kahane tatsächlich kein perfides und reaktionäres Argument zu viel ist, wenn es darum geht, linke Kapitalismuskritiker:innen zu diffamieren, hatte sie im Sommer 2017 bewiesen. Im Juli des Jahres, kurz nach dem G-20-Gipfel in Hamburg, fiel sie der Protestbewegung im stiftungseigenen Portal Belltower News in den Rücken. „Linksextremismus ist keine Kinderkrankheit, sondern eine autoritäre, antidemokratische Ideologie“, schrieb sie damals. Dreist reduzierte die Autorin die Kapitalismuskritik auf „Feindseligkeit gegenüber Eliten“, die kein rechts und links kenne, und schlug mühelos die Brücke von dort zum Antisemitismus-Vorwurf: Der sei „das Grundgeräusch des Eliten-Bashings“. Wortreich verteidigte Kahane den Kapitalismus und die Globalisierung.

Fassungslos machen die kritische:n Leser:in folgende Sätze aus dem Beitrag: „Linke kritisieren den Kapitalismus in globalisierter Form grundsätzlich und sehen hier nur Elend und Zerstörung. Ihre Antwort für die Menschen in den Entwicklungsländern: „Lieber arm als ausgebeutet“ oder „lieber authentisch als industrialisiert“ ist ignorant, zynisch und in ihrem Wesen auch rassistisch.“ Diese Linken wollten „den Menschen in der nicht-weißen Welt die Art von Fortschritt vorenthalten, den sie selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nehmen“.

Bleibt nur hinzuzufügen: Von Kahane und ihrer Stiftung geht vielleicht mehr Gefahr aus als von denen, die sie angeblich bekämpft, den Rassist:innen und Nazis. Denn sie verwirren die Maßstäbe und entziehen letzten Endes einem entschlossenen Kampf gegen Rechts jede Grundlage. Man kann also davon ausgehen, dass die Amadeu Antonio Stiftung auch unter der „Ampel“-Koalition weiter mit Steuergeldern gemästet wird.

# Titelbild: Kuscheln mit Bullen – Anetta Kahane zusammen mit dem Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), Foto: BKA

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Am 13. November steht die nächste bundesweite Mobilisierung der Neonazis von der Kleinstpartei „Der III. Weg“ ins bayerische Wunsiedel an. Entgegen des schwachen Trends bei antifaschistischen Gegenprotesten zeichnet sicht bei Veranstaltungen des „III. Wegs ein anderes Bild, zuletzt am 03. Oktober 2020: Viele Teile der radikalen Linken kamen zusammen, um einen bundesweiten Aufmarsch der Neonazis zu verhindern. Mit einer der größten antifaschistischen Protestaktionen in Berlin seit Jahren konnte der Aufmarsch teilweise militant begleitet und letztendlich auf wenige hundert Meter verkürzt werden. Der „III. Weg“ ist für viele Antifaschist:innen ein rotes Tuch.
Dabei stellt sich die Frage: Wie gefährlich ist die Kleinstpartei? Auf welche Strukturen können die Neonazis zurückgreifen und was kann ihnen entgegengesetzt werden?

Inszenierte Medienaktionen

Ein wichtiger Aspekt der Parteiarbeit von „Der III. Weg“ ist der Wunsch nach medialer Aufmerksamkeit. Deswegen sind viele ihrer Aktivitäten notdürftig inszenierte PR-Spektakel, die auf der eigenen Homepage aufgeblasen werden – teilweise mit Erfolg. Im Kontext der Bundestagswahl 2021 etwa lieferten ihre Plakate mit der Aufschrift „Hängt die Grünen“ den gewünschten Schockeffekt. Die anschließende öffentliche Empörung brachte die Partei bundesweit in die Medien; ein durchaus wohlwollender juristischer Umgang tat sein Übriges. So urteilte beispielsweise das Amtsgericht Chemnitz, dass die Plakate nicht grundsätzlich strafbar seien. Sie müssten nur im Abstand von 100 Metern zu Grünen-Plakaten aufgehängt werden.

Diese Strategie der inszenierten Medienaktion ist nicht neu. Bereits zur Europawahl 2019 erzielte die Partei mit der Plakatekampagne „Reserviert für Volksverräter“ ein ähnliches Echo. Medien und Justiz machen sich so zu willkommenen Wahlkampfgehilfen einer strukturschwachen Kleinstpartei, die beispielsweise 2021 nur sehr eingeschränkt zur Wahl antrat. In Berlin reichte sie nicht einmal einen Wahlvorschlag ein.

Erst vor wenigen Wochen landete „Der III. Weg“ erneut in den Schlagzeilen. Anlass war ein sogenannter „Grenzgang“ am 23. Oktober. Die Neonazis wollten so die öffentliche Diskussion um die steigenden Zahlen von Geflüchteten, die über Polen versuchen in die Bundesrepublik zu gelangen, für sich nutzen. Sie riefen dazu auf, mit Nachtsichtgeräten und Taschenlampen an der polnischen Grenze von Brandenburg Geflüchtete abzufangen. Vorbild hierfür dürften einerseits die Demonstrationen der österreichischen Identitären in Spielberg 2015 gewesen sein, bei denen sie sich als „menschliche Grenze“ inszenierten. Andererseits erinnert die Aktion an die von faschistischen Bürgerwehren in Bulgarien organisierten Grenzpatrouillen. Allerdings hat der „III.Weg“ weder die Mobilisierungskraft der Identitären noch die paramilitärische Erfahrung der Bürgerwehren. Die Brandenburger Polizei stellte in der Nacht trotzdem 50 Personen fest, die dem Aufruf gefolgt waren. Laut Medienberichten hatten die Neonazis Pfefferspray, Schlagstöcke und sogar eine Machete und ein Bajonett dabei. Hinter den PR-Aktionen der Partei steht also ein reales Gewaltpotential. Doch das ist nicht erst seit diesem Jahr bekannt.

Der III. Weg“ – von der Gründung bis heute

Die Gründung der Partei vor acht Jahren war eine Reaktion auf die Verbote vieler Neonazikameradschaften. Parteien sind, wie das immer wieder gescheiterte Verbot der NPD zeigt, wesentlich schwieriger zu verbieten, als Vereine oder inoffizielle Vereinigungen. Seit Beginn versteht sich „Der III. Weg“ explizit als „Bewegungspartei“ und damit als Alternative zur NPD, deren Entwicklung zur Wahlpartei szeneintern kritisiert wurde. Ehemalige NPD-Funktionäre gehörten ebenso zu den Gründungsmitgliedern, wie Personen aus dem mittlerweile verbotenen Kameradschaftsnetzwerk „Freies Netz Süd“.

Kennzeichnend für die politische Arbeit vom „III. Weg“ sind die strengen Hierarchien, sowie ein betont soldatisches Selbstverständnis. So fordert die Partei von ihren Mitgliedern in Parteikontexten auf Alkohol und andere Drogen zu verzichten. Öffentlichen Auftritte sind geprägt von geordneten Fahnenreihen und Marschtrommeln. Zudem strebt die Partei eine weitestgehende Uniformierung der Anwesenden in der offiziellen Parteikleidung an.

Ein weiterer wichtiger Teil der Parteiarbeit sind Sportangebote. Vor allem im Bereich des Vollkontaktkampfsportes ist “der III. Weg” mit faschistischen Sportler:innen und Vereinen gut vernetzt. Mitglieder vom „III. Weg“ treten regelmäßig auf Neonazi-Kampfsportveranstaltungen in der Bundesrepublik und darüber hinaus an.

Insgesamt hat „Der III. Weg“ in der gesamten Bundesrepublik aber nur wenige hundert Mitglieder, die vor allem bei bundesweiten Aufmärschen zusammenkommen. Regionale und lokale Aktivitäten sind weitaus schlechter besucht. Organisatorische Zentren sind das sächsische Vogtland und das Siegerland in Nordrhein-Westfalen. In Plauen und Siegen betreibt die Partei eigene Räumlichkeiten, in denen zwar Hausaufgabenhilfen oder Sportangebote stattfinden. Eine nennenswerte Anschlussfähigkeit über die lokalen Rechtsradikalen hinaus ist jedoch nicht zu erkennen. Insgesamt herrscht an vielen Standorten der Partei vor allem ein Mangel an Räumen und aktiven Mitgliedern. So beschränken sich die öffentlichen Aktivitäten der Partei oft auf das großflächige Verteilen von Propaganda. Regelmäßig treffen sich beispielsweise Mitglieder der Berliner und Brandenburger „Stützpunkte“ zum Flyern. Bekannte Hotspots der Aktivitäten sind vor allem die Wohnorte einzelner Partei-Kader, wie in Berlin der Lichtenberger Weitlingkiez oder Hellersdorf. International ist die Partei bei aller Schwäche von Basisarbeit trotzdem gut vernetzt. Sie unterhält beispielsweise Kontakte zu der politischen Bewegung, die dem ukrainischen Neonazi-Regiment ASOV nahesteht.

Eine Reihe von Anschlägen in Neukölln und gewaltbereite Neonazis

Die öffentlich bekannten Aktivitäten sind jedoch angesichts dessen, was die bekannten Mitglieder der Partei treiben, harmlos. Denn im III. Weg sammeln sich vor allem gewaltbereite Neonazis aus ehemaligen Kameradschaften, die in der NPD keine Perspektive mehr sehen. Ein Beispiel ist der ehemalige NPD-Aktivist Sebastian Thom aus Berlin. Er war bereits in den 2000ern Hauptakteur beim „Nationalen Widerstand Berlin“. Das „NW Berlin“ genannte Netzwerk führte u.a. Aktionen und Outings gegen politische Gegner:innen durch. Mit seinem im letzten Jahr bekannt gewordenen Wechsel zum „III. Weg“ reiht sich Thom in eine langen Liste (Ost-)Berliner Neonazis vom „NW Berlin“ ein.

In den vergangenen Jahren gerieten Thom und sein Umfeld immer wieder durch Brandanschläge und andere Angriffe auf politische Gegner:innen ins Visier der Ermittlungsbehörden. So auch am 1. Februar 2018, als das Auto des LINKEN-Politikers Ferat Kocak in Neukölln in Brand gesetzt wurde. Die Flammen schlugen von der Garage fast in das Wohnhaus über, in dem Ferat Kocak und seine Eltern schliefen. Doch sie hatten Glück, bemerkten den Brand rechtzeitig und überlebten.

Der Brandanschlag schlug erheblich Wellen, denn er hätte verhindert werden können: Die Berliner Polizei wusste von den Brandvorbereitungen. Bereits seit Januar 2017 wurde Thoms Handy vom Verfassungsschutz abgehört. Sie hörten mit, wie er mit seinem Komplizen Tilo Paulenz – damals noch Funktionär der AfD Berlin-Neukölln – Ferat Kocak ausspionierte. Knapp zwei Wochen vor der Tat informierte der Verfassungsschutz die Berliner Polizei von den Planungen. Diese reagierte nicht. Im Nachhinein behauptete die Behörde, Ferat Kocak nicht gewarnt zu haben, da die Schreibweise des Namens nicht bekannt gewesen sei. Deshalb hätten sie ihn nicht in ihren Datenbanken gefunden. Trotz zahlreicher Indizien, die auf Thom und Paulenz als Täter in dieser Sache hinweisen, wurde ihnen bisher nicht der Prozess gemacht. Zwischenzeitlich wurde sogar der ermittelnde Staatsanwalt vom Fall abgezogen, weil eine ideologische Nähe zu den Verdächtigen vermutet wird. Es scheint letztendlich so, als sei vor allem Thom ein regelrechtes Justizwunder und könnte unbeirrt mit Angriffen fortfahren. Sein Bewegungswissen stellt er nun dem „III. Weg“ zur Verfügung.

Ungeklärte Brandanschläge in Spandau

Weitere mögliche Verknüpfungen zwischen militanten Angriffen auf linke Strukturen und dem Spektrum vom „III. Weg“ sind die Vorfälle rund um das alternative Hausprojekte Jagow 15 in Berlin-Spandau. Im April 2021 kam es dort zu zwei Brandanschlägen. Kurz darauf folgte eine Bombendrohung gegen das Haus. Schon seit Januar 2021 mehrten sich Naziparolen und -symbole an der Hausfassade. Zudem berichteten Bewohner:innen von zunehmenden Problemen mit Neonazis im Kiez. Eine von ihnen ist Lilith E.. Sie lebt in Spandau und blickt auf eine lange Laufbahn in der Berliner Neonazi-Szene zurück. Bereits vor Jahren fiel sie bei der Reichsbürgergruppe „Gelbe Westen Berlin“ auf. Inzwischen ist sie auf jeder Aktivität des „III. Weg“ in Berlin anzutreffen. Doch auch internationale Neonazi-Events werden von ihr besucht. Sie nahm u.a. am extrem rechten „Ausbruch-Marsch“, einer extrem rechten „Gedenkveranstaltung“ an die „Schlacht um Budapest“, teil. Um der Wehrmacht zu huldigen laufen dabei jedes Jahr hunderte Neonazis aus ganz Europa – vermummt und überwiegend in Tarnfleck gekleidet – über 60 Kilometer durch die Nacht.

Lilith E. ist ein fester Teil vom „III. Weg“. Sie scheint vor allem in der Jugendarbeit der Partei aktiv zu sein und ist regelmäßig mit jugendlichen Anwärtern unterwegs, wie der Neonazi-Jugendgruppe Division MOL. E. lebt nicht weit weg von der Jagow 15 und war bereits in der Vergangenheit gegenüber einer Hausbewohnerin aggressiv. Zudem tauchten vor und nach den Brandanschlägen immer wieder Sticker des „III. Wegs“ rund um das Haus auf. Das zeigt zumindest, dass E. und ihre Kameraden nach dem Brandanschlag vorbeikamen, um die Gegend zu markieren. Trotz dieser Hinweise und der vielen Anhaltspunkte für ein rechtes Motiv der Anschläge, verdächtigte die Polizei zunächst einen Hausbewohner, was sich im Nachhinein als vollkommen haltlos herausstellte.Gegen E. nun eine mögliche Beteiligung von Neonazis des „III. Weg“ wurde hingegen nicht ermittelt.

Der „III. Weg“ als Deckmantel eines militanten Faschismus?

Wie gefährlich ist also „Der III. Weg“? Die oftmals stümperhafte Medienarbeit darf nicht darüber hinweg täuschen, dass er vielleicht die wichtigste überregionale Neonazi-Struktur in der Bundesrepublik ist. Die Kleinstpartei braucht keine Wahlerfolge. Gemäß dem Selbstverständnis als „Bewegungspartei“ eines „revolutionären nationalen Sozialismus“ steht die lokale Organisierung und überregionale Vernetzung von faschistischen Akteur:innen im Vordergrund ihrer Politik. Für eine gelingende Parteiarbeit trotz vergleichsweise geringer Mitgliederzahlen, sowie der Schwäche zahlreicher Parteistützpunkte braucht „Der III. Weg“ vor allem öffentliche Aufmerksamkeit. Diese soll durch gezielte PR-Aktionen sowie die Präsentation jeder noch so kleinen Aktivität der lokalen Strukturen hergestellt werden. Dabei spielen Medien, Justiz, aber auch antifaschistische Strukturen allzu oft das Spiel der Faschist:innen mit.

Das wahrscheinlich wichtigste Standbein der politischen Arbeit vom „III. Weg“ sind aber die bundesweiten Demonstrationen. Neben der Außenwirkung dienen diese vor allem dazu, den wenigen hundert Parteimitgliedern bundesweit das Gefühl zu geben, zu einer neonazistischen „Kampfgemeinschaft“ zu gehören. Die ein bis zwei bundesweiten Demonstrationen pro Jahr sind aber alles, was „Der III. Weg“ in diesem Bereich organisatorisch leisten kann und die erfolgreiche Brechung dieser Selbstdarstellung durch Antifaschist:innen macht diese Anstrengungen zunichte.

Trotz allem finden bekannte Kader sowie oftmals militante Aktivist:innen aus Kameradschaften, NPD und sonstigen Neonazistrukturen in der Partei einen Anlaufpunkt. Mit ihren Kontakten in die bundesdeutsche wie internationale Neonaziszene sowie einem über die Jahre erworbenen Wissen und entsprechenden Fähigkeiten bilden diese Kader das Rückgrat der Partei. Im Moment ist die Partei ein Deckmantel, hinter dem sich ein militanter Faschismus organisieren kann, insbesondere die Anschlagsserien von Berlin-Neukölln und Spandau, deren Spuren direkt in die Parteistrukturen führen, zeigen das. Dieses Potential und die Gefahr, die vom III. Weg ausgeht, darf nicht unterschätzt werden. Deshalb sind frühzeitige antifaschistische Interventionen gegen den „III. Weg“, seine Akteur:innen und Aktivitäten weiterhin notwendig.

# Titelbild: © Tim Mönch, Aufmarsch vom “III. Weg” am 1. Mai 2019 in Plauen

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Kristian Stemmler

Es war ein heißer Sommertag in den späten 80ern, ich kann mich noch gut erinnern. Die Heidefläche vor dem Haus meiner Oma in der Lüneburger Heide war knochentrocken. Wie es genau zu dem Feuer kam, weiß ich nicht mehr genau. Ich meine, mein Bruder und ich wollten die trockenen Pflanzen kontrolliert abfackeln, was natürlich extrem leichtsinnig war. Jedenfalls stand eine Ecke der Fläche plötzlich in Flammen und ein Feuerring breitete sich in rasender Geschwindigkeit in alle Richtungen aus. Wir, mein Bruder, ein herbeigeeilter Freund und ich, versuchten das Feuer auszutreten oder mit Decken auszuschlagen – doch wenn es an einer Stelle eingedämmt war, flammte es an einer anderen Stelle wieder auf.

Warum ich das erzähle? Weil mir diese Episode aus jungen Jahren in den Sinn kam, als ich zum Jahreswechsel – bekanntlich die Zeit, in der man gern Bilanz zieht und leicht ins Philosophieren kommt – über die Lage der Linken nachdachte. Wenn ich mir das Fortschreiten der unterschiedlichen Kämpfe im abgelaufenen Jahr 2020 ansehe, dann erscheinen mir unsere verzweifelten Versuche von damals, das Feuer einzufangen, als eine passende Analogie. Wo man heutzutage auch hinschaut, in allen gesellschaftlichen Bereichen schlagen Flammen hoch oder sind zumindest Glutnester auszumachen. Wenn man meint, man habe das Feuer an einer Stelle eingedämmt, flammt es anderer Stelle wieder auf. Es ist ein Flächenbrand.

Kaum verwunderlich ist daher, dass viele radikale Linke an einer gewissen Überforderung leiden. Schon die Beurteilung der Frage, wo es am meisten brennt, wirft Probleme auf. Und von der Antwort hängt nicht zuletzt ab, worauf man seinen Blick richtet und für welches Engagement man die begrenzte Zeit und Kraft einsetzt.

Unterstütze ich zum Beispiel Seebrücke, weil ich was gegen die katastrophale Situation der Geflüchteten auf den griechischen Inseln tun will und gegen das Ertrinken auf dem Mittelmeer? Oder blockiere ich mit einer Friedensgruppe die Zufahrt zu einem Werk von Rheinmetall? Oder solidarisiere ich mich mit Baumbesetzern? Oder schließe ich mich doch einer Antifa-Gruppe an, um Nazistrukturen aufzudecken und Nazis zu bekämpfen?

Natürlich ist das jetzt etwas konstruiert, da eine solche rationale Abwägung auch im Leben von Linken eher selten vorkommt. Man kommt doch oft eher durch Freunde oder Bekannte zu einer politischen Gruppe und damit auch zu einem Thema oder auch durch ein bestimmtes Ereignis, das einen umtreibt. Nichtsdestotrotz interessiert man sich als politischer Mensch ja auch für andere Themenbereiche und versucht sich ein Bild von der Gesamtlage zu machen. Dabei kommt man leicht zu der Frage, wo die Probleme und Gefahren die größten sind, wo es „am meisten brennt“.

Das ist, kaum überraschend, nicht endgültig zu beantworten. Jede Bewegung, jeder Kampf beansprucht für sich wichtig zu sein – und das durchaus zu recht. Die Friedensbewegung kann darauf verweisen, dass von der Zivilisation nicht viel übrig bleiben wird, wenn der Frieden nicht bewahrt wird. Die Klimabewegung kann wiederum konstatieren, dass wir vom Frieden nicht viel haben, wenn die Natur zum Teufel geht. Die Antifa kann argumentieren, dass der Frieden und eine gerettete Umwelt wenig bringen, wenn die Faschisten wieder ans Ruder kommen. Und wer sich gegen Repression engagiert, kann allen drei Bewegungen entgegenhalten, dass sie eines Tages nicht mehr effektiv gegen Krieg, den Klimawandel und Nazis protestieren und kämpfen können, wenn das Versammlungsrecht weiter eingeschränkt wird und immer mehr radikale Linke im Knast sitzen.

Mit anderen Worten: Jeder Kampf hat seine Berechtigung und jeder ist wichtig. Das gilt auch für die Kämpfe, die hier noch gar nicht erwähnt wurden, also etwa in den Betrieben, gegen Rassismus, gegen den Mietenwahnsinn und die Gentrifizierung, für Hartz-IV-Empfänger*innen, Drogensüchtige, Obdachlose. Für radikale Linke gibt es alle Hände voll zu tun, es wird nicht weniger und es ist letztlich egal, an welcher Stelle sie versuchen, Flammen auszutreten, um an die Analogie vom Anfang anzuschließen. Es gibt aber folglich auch keinen Grund, die eigene Bewegung, den eigenen Kampf für bedeutsamer zu halten als andere.

Vielleicht kann man das als Wunsch fürs neue Jahr formulieren: dass sich diese Einsicht noch mehr durchsetzt. Denn noch zu oft sind die Kämpfe der Linken zu unverbunden, geradezu isoliert voneinander. Es kann und muss hier noch viel mehr zusammengeführt werden.

Eine gelingende Verbindung von Kämpfen kann aber nur da stattfinden, wo sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass es in dieser Gesellschaft zwar viele Brandnester gibt, aber nur einen Brandherd, nur eine Brandursache: den Kapitalismus. Alle in diesem Beitrag geschilderten Krisenphänomene sind auf dieses System zurückzuführen und ein gemeinsamer Kampf setzt voraus, dass man sich zuerst auf eine Agenda einig:
Der Kapitalismus muss weg, mit Stumpf und Stiel!

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Pforzheim ist an sich eine sehr schöne Stadt. Nicht unbedingt architektonisch, da überwiegt dann doch eher die Betontristesse der Fünfziger. Aber diese Stadt bietet weit mehr Vielfalt und Kultur, als ihr oft zugestanden wird.

Da finden sich die Student*innen der verschiedenen Hochschulen, die Punks, eine lebendige Kneipen- und Clubszene. Auch ist Pforzheim eine Stadt, in welcher recht viele Menschen leben, die einen Migrationshintergrund haben, also gerne mal marginalisiert werden. Zum Beispiel von unserem erfolgreichsten lokalen Schmierblatt, der Pforzheimer Zeitung.

Und so kommen Faschist*innen aus ganz Deutschland immer mal wieder auf die Idee, mit ihrer Hetze einen Keil in die Pforzheimer Zivilgesellschaft zu treiben. So auch vergangenen Samstag. Der Islamfeind Michael Stürzenberger hatte zum „Dialog“ über den politischen Islam eingeladen. Die Kundgebung, welche von 12 bis 19 Uhr mitten in der Innenstadt stattfand, hatte allerdings nicht den Charakter eines Bürgerdialogs. Es wurde auch nicht, wie von Stürzenbergers Organisation „Pax Europa“ angegeben, über irgendwas aufgeklärt. In den sieben Stunden der Veranstaltung mussten sich Passant*innen und Gegendemonstrant*innen stattdessen ununterbrochen Hetztiraden gegen Muslim*innen anhören.

Stürzenberger, für die, die ihn noch nicht kennen, reist seit einiger Zeit von Stadt zu Stadt um seine islamophobe Hetze unter die Bevölkerung zu bringen. Er geht dabei immer nach dem selben Muster vor: Islam und Islamismus gleichsetzten, dadurch Gegenreaktionen provozieren, diese eskalieren um damit wieder seine kruden Thesen von den bösen Linken, Rotfaschisten, aber vor allem den bösen Moslems zu bestätigen. Das Ganze wird ununterbrochen aufgenommen und im Internet live gestreamt und hochgeladen.

Ähnlich stellte sich das Geschehen in Pforzheim dann auch dar. Stürzenberger ließ Menschen, die Gegenpositionen äußern, nicht ausreden. Bezichtigte diese entweder der Dummheit oder der Lüge. Und besaß die Dreistigkeit, einer muslimischen Frau ihren Glauben zu erklären, nachdem diese den Islam, entsprechend ihrer Überzeugungen, in ein friedliches Licht gestellt hatte. Auf Plakaten vereinnahmte er linke Politiker*innen und Vordenker*innen für seine Behauptungen.

Stürzenberger pickt die brutalsten Koranzitate heraus, die er finden kann, reißt sie aus dem Kontext und setzt sie in Beziehung zu islamistischen Terroranschlägen und kriegerischen Konflikten aus der Vergangenheit dieser Religion. Michael Stürzenberger setzt die Saat der Spaltung wo er nur kann, doch Pforzheim ließ sich davon nicht einlullen. Der Gegenprotest, organisiert von den Falken, war laut und vielfältig. Neben den Falken hatten die Seebrücke, die Pforzheimer Antifa, Die Linke, deren Jugendverband Solid und der Rat der Religionen zum Gegenprotest aufgerufen. In den Redebeiträgen der beteiligten Organisationen wurde herausgestellt, dass Stürzenbergers Argumente auf Hass und Panikmache basieren, es wurde deutlich formuliert, dass Hetzer*innen wie er in Pforzheim nicht willkommen sind.

Der vom Ordnungsamt ursprünglich an das andere Ende der Innenstadt verbannte Gegenprotest verlagerte sich mit der Zeit Stück für Stück direkt vor Stürzenbergers Kundgebung. Die „Omas gegen Rechts“ stellten sich mit ihrem Transpi vor die Veranstaltung, redeten mit Passant*innen und wurden dafür von Stürzenberger verniedlicht und beleidigt. Zugleich machten auch Antifaschist*innen eine Transpifront vor der Hetzveranstaltung auf und nach einer Weile fanden sich immer mehr Pforzheimer*innen zum Gegenprotest ein. Jedem islamophoben Unsinn wurde mit Lärm und Parolen begegnet, jeder Hetze widersprochen. Bevor Stürzenberger zum Abschied die deutsche Nationalhymne abspielte, sang der Gegenprotest die Internationale und machte sich dann zu einer Sponti durch die Innenstadt auf.

Pforzheim ist vielfältigt, deswegen ist es schön. Er wird das nicht ändern und auch nicht die paar maskenbefreiten Faschos, die ihm zugeklatscht haben. Menschen wie Stürzenberger sind Produkt der neoliberalen Kälte in unserer Gesellschaft. Produkt der Ellenbogenmentalität des Kapitalismus. Die Pforzheimer Linke und Ziviligesellschaft jedenfalls haben ihnen dieses Mal klar gezeigt: Hier sind sie nicht willkommen.

# Text: Steffen Reguse

# Titelbild: Bündnis Pforzheim Nazifrei

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Corona hat vielen Projekten einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch der Kiezzeitung Kiezecho aus Friedrichshain, die eigentlich hätte in den Druck gehen sollen. Wir veröffentlichen die Artikel, die in der letzten Ausgabe erscheinen sollten von der Redaktion unverändert. Dieses Mal ein Gespräch mit den Omas gegen Rechts.

Kannst Du Dich bitte unseren Leser*innen vorstellen?

Ich lebe seit 2016 in Berlin. Mittlerweile bin ich Rentnerin. Davor habe ich als Erzieherin gearbeitet. In meiner Jugend habe ich auch Häuser mit besetzt.

Warum hast Du Häuser besetzt?

Ich komme aus einem konservativen Elternhaus und erlebte die Zeiten Ende der 60er, Anfang der 70er als sehr befreiend. Als ich zum ersten Mal Rudi Dutschke im Fernsehen gesehen habe, fing ich an mich für die sozialen und politischen Verhältnisse zu interessieren. Wenig später haben sich Aachener Schüler*innen der Oberstufen zum »Sozialistischen Schüler*innenkollektiv« zusammengeschlossen. Wir haben uns regelmäßig getroffen, Aktionen geplant, und eine Zeitung herausgebracht. Eine unserer Aktivitäten war z.B. die »Rote-Punkt-Aktion«, mit der wir den öffentlichen Nahverkehr reformieren wollten, das heißt, wir haben Autos angehalten, Flyer verteilt, und wer Leute im Auto mitnehmen wollte, hat sich einen roten Punkt auf die Windschutzscheibe geklebt. Durch das Mitfahren haben sich viele Menschen aus ihrem Kiez erst richtig kennengelernt. Über das »Sozialistischen Schüler*innenkollektiv« bin ich in eine WG gekommen.

Wie war die erste Besetzung an der Du teilgenommen hast?

In einem leerstehenden Straßenzug besetzten wir, Schüler*innen, Lehrlinge, Student*innen und Wohnungslose vier Häuser Anfang der 70er. Dort lebten wir fast ein Jahr selbstverwaltet mit gemeinsamer politischer Arbeit und viel Musik, (besonders Ton Steine Scherben, Velvet Underground …..). Bei der Räumung eines besetztes Haus haben wir demonstrativ auf der Straße ein Wohnzimmer aufgebaut. Als wir friedlich auf der Straße saßen, habe ich das erste Mal Polizeigewalt erlebt, was ich bis heute nicht vergessen habe.

Obwohl mich Polizeigewalt sehr abschreckt, habe ich bei Besetzungen hier in Berlin mitgemacht und unterstützt. So gab es zum Beispiel parallel zur großen Mietenwahnsinn-Demo 2019 die Besetzung eines seit drei Jahren leerstehenden Gemüseladens in der Wrangelstraße, um auf die Zweckentfremdung hinzuweisen.

Wie ist Dein Leben weitergegangen?

Ich bin in meinem Leben sehr oft umgezogen, bis auf eine längere Familienphase mit vier Kindern in Niedersachsen. Dort haben wir auch an den Protesten gegen die Endlager für Atommüll »Gorleben«, »Asse«, und »Schacht Konrad« teilgenommen. Später habe ich ein paar Jahre in Norwegen gelebt, von wo aus ich nach Berlin in den Südkiez gezogen bin.

Wie erlebst Du unseren Kiez? Siehst Du Probleme und Konflikte?

Der Südkiez hat sich sehr verändert. Sogar das Sortiment im Supermarkt und in den Läden hat sich den Touristenströmen angepasst. Um zum Beispiel an Lebensmittel zu kommen, muss man erst mal an ewig langen Süßigkeiten- und Snackregalen entlang. Außerdem ist der ganze Kiez voll mit Hostels. Nachts sind dann die betrunkenen Schüler*innengruppen unterwegs, machen einen Riesenlärm, und finden das toll, dass sie so »frei« sind.

Diese Beobachtung habe ich auch gemacht. Manchmal sieht man in diesem ganzen Trubel alte Bewohner*innen, die hier einen Großteil ihres Lebens verbracht haben. Man kann sehen wie diese Menschen in dem ganzen Trubel hin und her irren. Man merkt richtig wie orientierungslos diese Menschen sind, weil Ihre Freunde weg sind und ihr Kiez zu einer Partylocation umgebaut wird.

Die noch geblieben sind, leben mit dem Stress möglicherweise aus ihren Wohnungen heraus zu müssen und nicht bis zum Lebensende bleiben zu können.

Jetzt wohnst Du im Nordkiez. Warum bist Du umgezogen?

In der Zeit, in der ich keine Wohnung hatte, konnte ich für zwei Monate in die Liebig34 wohnen. Oft standen die Bullen vor dem Haus. Das fand ich lästig und störend, als ich dann aber im Haus gewohnt habe, merkte ich, wie diese Belagerung einen Dauerstresszustand bei mir ausgelöst hat. Ich fühlte mich ständig unter Beobachtung und Kontrolle. Ich habe dann eine Wohnung ich im Nordkiez gefunden.

Wie bist Du mit dieser Situation umgegangen?

Das war sehr schwierig, denn man kann die Bullen nicht einfach wegschicken. Es gab zum Beispiel eine Situation, die so albern ist. Wir saßen an einem sonnigen Nachmittag auf dem Bürgersteig. Es gab etwas zu essen, und wir haben uns nett unterhalten. Auf einmal kam jemand aus der Wanne auf uns zu und fragte: »Wird hier Bier ausgeschenkt?« Wir haben das verneint, aber er wiederholte die Frage mehrmals. Als dann jemand aus dem Haus dazu kam, um uns zu unterstützen, sind mehrere Bullen aus der Wanne gekommen, und es war klar, dass sie Langeweile hatten. Nachdem sie vor der Tür der Liebig34 weiter gestresst hatten, hatten sie sich was Neues einfallen lassen. Ein Bulle meinte, wir müssten unsere Stühle einen halbe Meter nach vorne bewegen, würden mit unseren Stühlen den Gehweg blockieren, was natürlich Blödsinn war. Weil wir uns nicht provozieren lassen wollten, habe ich und meine Gesprächspartner*in das dann gemacht, und uns, den Bullen ignorierend, weiter unterhalten.

Die Bewohner*innen erleben das alles ja schon viel länger und reagieren dem entsprechend auch ganz anders darauf. Eine Bewohner*in kam spontan dazu und hat sich extra mit ihrem Stuhl auf den »verbotenen« Bereich gesetzt. Die Bullen haben sich dann nicht mehr eingemischt. Mich hat das jedenfalls beeindruckt, und überhaupt – wie mutig sie Widerstand leisten gegen PadoviczsMachenschaften. Die jungen Frauen von heute haben ein ganz anderes Selbstverständnis und Auftreten als wir damals. Das bewundere ich an ihnen.

Auf der diesjährigen 8. März Demonstration habe ich eine ganz ähnliche Situation erlebt. Eine Frau stand mit einem Schild an einer Ampel auf einem Stromkasten. Ein Bulle hat die Frau angesprochen, sie möge doch herunterkommen. Aber sie ist hartnäckig geblieben und hat das nicht gemacht. Der Bulle ist dann immer wütender geworden, aber am Ende hat sich die Frau durchgesetzt, und die Bullen sind abgezogen. Manchmal suchen die Bullen wirklich einfach nach Stress. Im Falle der Gefahrengebiete, also auch für den Nordkiez, hat sich innerhalb der Berliner Polizei eine besondere Einheit gebildet. Diese sogenannte Brennpunkt- und Präsenzeinheit, setzt sich zusammen aus Freiwilligen. Das bedeutet das sind Menschen die Lust haben auf rassistische Personenkontrollen, Platzverweise erteilen und Menschen provozieren, wie Du es beschrieben hast.

Bist Du denn noch mit den Bewohner*innen der Liebig34 im Kontakt?

Ja, ich bin ich den Bewohnerinnen der Liebig 34 dankbar, dass ich so unkompliziert in der Zeit meiner Wohnungslosigkeit bei ihnen wohnen konnte. Ich habe ich gerade in Bezug auf Feminismus eine Menge dazu gelernt. Allerdings sind viele der Bewohner*innen wesentlich jünger und als ich. Aber ich bin auch bei den »Omas gegen Rechts Berlin«. Dort habe ich Kontakt zu Menschen in meinem Alter.

Kannst Du von Eurer Initiative »Omas gegen Rechts .Berlin« berichten? Wie ist sie entstanden? Was ist Euer Leitbild? Was wollt Ihr erreichen?

Wir sind eine zivilgesellschaftliche Initiative, die 2018 in Deutschland nach dem Vorbild der »Omas gegen Rechts« in Österreich gegründet wurde. Wir positionieren uns gegen die bedrohlichen Entwicklungen wie Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit, faschistische Tendenzen, Sozialabbau, sowie Ausgrenzungen Behinderter, alter Menschen und Ausländern. Die »Omas gegen Rechts« beteiligen sich an Protesten gegen Naziaufmärsche und verschiedenen weiteren Aktionen. Im März gab es eine Aktion gegen Nazis in Rudow, bei der Nazisticker und Ähnliches entfernt wurden. Für die Liebig34 haben wir ein Solidaritätsschreiben an Politiker*innen und die Presse verfasst.

Über die Internetseite »omasgegenrechts.berlin« kann man Kontakt aufnehmen. Wir treffen uns jeden zweiten Samstag im Monat von 11 bis 14 Uhr im »Bona Peiser« in der Oranienstraße 72.

Auch in unserem Kiez beobachten wir die Zunahme von rechten Angriffen und Provokationen. Es gab zum Beispiel am S-Bahnhof Frankfurter Allee eine Kundgebung der AfD, die von der Berliner Polizei geschützt wurde, obwohl die Nachbar*innenschaft gesagt hat, wir wollen die hier nicht haben. In Hanau hat der Faschist Tobias Rathjen neun Menschen ermordet, und in deutschen Behörden gibt es jährlich tausende »Einzelfälle« von rechten Straftaten, die systematisch straflos bleiben. Das bedeutet, dass antifaschistischer Selbstschutz auch in unserem Kiez wichtiger wird. Was ist Deine Meinung dazu?

Ich finde solche Initiativen richtig und wichtig.. Zum Beispiel ließe sich auch in unserem Kiez eine Aktion organisieren in der Nachbar*innen Nazisticker, so wie in Rudow gemeinsam entfernen.

Wir denken, dass es viele neue Ideen gibt und alte, die man wiederbeleben kann. Aber antifaschistischer Selbstschutz wird immer wichtiger, denn die Nazis trauen sich schrittweise mehr und mehr und unsere Aufgabe ist es dagegenzuhalten auf verschiedenen Ebenen, d.h. die Menschen zu organisieren.

Das finde ich gut. Die Antifa darf nicht kriminalisiert werden. Wir sind alle Antifa.

Ich will das Thema wieder auf den Schwerpunkt unserer Zeitung richten. Seit Jahren ist die Welt in Aufruhr. Die Menschen haben das Leben im Kapitalismus satt und wehren sich dagegen. In diesen Widerständen sind Frauen* oft vorne mit dabei. Auch in Deutschland organisieren sich Frauen. Siehst Du Dich auch als Teil in dieser Bewegung?

Ja, na klar sehe ich mich als Teil der Bewegung. Über Basisorganisierung habe ich schon vorher viel gewusst. Aber erst in Norwegen und Berlin habe ich es in der Praxis erlebt. Neu war zum Beispiel für mich, dass Menschen die in Diskussionen selten etwas sagen, und häufig sind das Frauen*, auf der Redner*innenliste vorgezogen werden. Das finde ich eine super Idee.

Beobachtest Du in unserem Kiez auch Gewalt gegen Frauen? Wie kann man sich am besten dagegen wehren?

In erster Linie beobachte ich das bei den Bullen. Die sind für mich der größte Gewaltfaktor überhaupt. Ich finde es könnte so friedlich, so schön sein, wenn die einfach wegblieben.

In unserem Kiez gibt es viele Probleme. Eines ist Polizeigewalt. Es gibt Verdrängung und miese Arbeitsverhältnisse.

Es gibt auch viele Obdachlose.

Was denkst Du bräuchte es in unserem Kiez um sich gegen alle diese Probleme zu wehren?

Spontan fällt mir dazu ein, dass es gut wäre, sich um die Obdachlosen zu kümmern. Man kann zwar die Kältehilfe anrufen, aber wenn ich auf einen Obdachlosen treffe, der vielleicht krank oder alkoholisiert ist, fühle ich mich auch etwas hilflos. Dann reagieren wir alle ja auch so wie die Gesellschaft, dass man jemand anrufen muss, der sich darum dann darum kümmern soll. Darum wäre es gut für die Obdachlosen etwas zu organisieren.

Du sprichst einen sehr wichtigen Punkt an. Nämlich die Solidarität. Dadurch dass es in unserer Gesellschaft viel Konkurrenz gibt leben die Menschen oft auch zurückgezogen in ihren Wohnung und versuchen dort um sich herum eine vermeintlich heile Welt zu schaffen. Dadurch leben sie sehr isoliert und sehen ihre Probleme als ihre eigenen an und merken dadurch gar nicht, dass diese Probleme viele andere Menschen auch haben. Darum ist es auch wichtig sich mit anderen zu solidarisieren. Von Obdachlosigkeit, auch wenn man das nicht wahrhaben will, kann man schnell betroffen sein. Gerade für Frauen, die sich von ihren Partnern trennen, kann Obdachlosigkeit eine Folge sein. In der Kiezkommune diskutieren wir gerade was wir dagegen machen können. In unseren Nachbar*innenbefragungen haben viele die verschiedenen Facetten von Armut angesprochen, geringe Renten, viel Arbeit und mehrere Jobs, geringes Gehalt und steigende Mieten. Diese Themen wurden von vielen angesprochen.

Ich glaube, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen ein guter Anfang sein könnte und für viele Menschen eine Erleichterung wäre.

Bei den Obdachlosen ist es auch oft so, dass die Gründe, warum sie obdachlos sind, individualisiert werden. Den Leuten wird dann gesagt: »Du hast in der Schule nicht genug gelernt, darum hast Du keinen Job bekommen.« Oder: »Du hast Dich auf der Arbeit nicht genug angestrengt, darum bist Du aus dem Job rausgeflogen.« Wenn man mit Obdachlosen in Kontakt muss man ihnen auf jeden Fall helfen aber auch verdeutlichen, dass es nicht Ihre individuelle Schuld ist.

Ich finde, dass der Dorfplatz ein wichtiger Ort ist, der erhalten bleiben muss, sowohl Anwohner*innen als auch Nachbar*innen und Besucher*innen haben den Dorfplatz gerne mit Leben gefüllt.

Viele Nachbar*innen haben auch gesagt, dass es kein richtiges Leben mehr auf der Straße gibt. Heute ist es oft so, dass man aus der Wohnung geht etwas im Supermarkt einkauft und dann ist man wieder weg und alleine in der Wohnung.

Es ist ja auch so dass öffentliche Orte in unserem Kiez verschwinden. In privaten Wohnquartieren entstehen zum Beispiel kleine Parks und Plätze, die aber nicht frei zugänglich sind und von Wachschutz bewacht werden.

Oft finden die Nachbar*innen die Liebig34 gar nicht so schlecht, dass sich die Frauen* dort organisieren können. Die einzigste Kritik, die es oft gibt richtet sich gegen die Aktionsformen. Daran kann man auch sehen, wie Medien funktionieren. Dort wird ja nicht thematisiert, wofür die Liebig34 steht, selbstorganisierter feministischer Raum, Kampf gegen Verdrängung, sondern die Aktionsformen. Dadurch findet eine Umkehr statt, dass die Liebig34 als Bedrohung dargestellt wird, aber die eigentlich Bedrohung geht von Padovicz aus, der die Menschen aus dem Haus raus haben will. Das merkt man manchmal auch im Gespräch mit den Nachbar*innen. Eigentlich finden sie die Liebig34 vom Inhalt her gut, aber sie stören sich an ihren Aktionen. Und das hängt, glaube ich, auch mit dieser Berichterstattung zusammen.

Es hängt glaube ich auch damit zusammen, dass die Menschen schon über Generationen hinweg verinnerlicht haben, dass Eigentum wichtig ist und dem gehört, der es hat, und da hat keiner dran zu gehen. Dabei vergessen sie aber völlig, dass es Menschen, auch über Generationen gibt, die kein Eigentum hatten und auch nie haben werden. Dabei bevorteilt die Gesetzgebung die Besitzenden um so mehr. Ich glaube, dadurch dass sich so viele Menschen von Wohnungsverlust bedroht fühlen, und es jetzt die Kampagne »Deutsche Wohnen Enteignen« gibt, wird dieses Tabu langsam gebrochen. Mittlerweile finden immer mehr Menschen das eine gute Idee. Es ist einfach unfair. Denn wer hat denn die Gesetze gemacht? Die Besitzenden! Und die Politiker*innen, Unternehmer*innen, Investor*innen, Richter*innen und die Polizei hüten diesen Besitz und schützen den Kapitalismus.

Das sieht man ja auch in der Auseinandersetzungen vor Gericht wenn es um Mietfragen geht. Das ist eindeutig so, dass wenn es hart auf hart kommt, die Gerichte auf der Seite der Vermieter*innen stehen.

Die Richter*innen sind ja auch oft die Besitzenden von Wohnungen.

Es gibt kein Recht auf Wohnen. Das Recht auf Eigentum macht das kaputt. Jetzt am Anfang der Ausbreitung des Korona-Virus ist der Staat ja wieder ganz schnell dabei, die Wirtschaft mit Steuergeldern zu überschütten.

Auf einmal sind plötzlich Milliarden von Euro da. Aber es ist kein Geld da für die Armen. Bei der Unterstützung für die Griech*innen, die sich um die Geflüchteten kümmern, wird um jeden Cent gefeilscht. Plötzlich ist auch die CDU gegen die »Schwarze Null«. Hauptsache die Wirtschaft bekommt ihr Geld. Auf der anderen Seite kann man es sich nicht leisten Erzieher*innen und Krankenpfleger*innen ordentlich zu bezahlen. Auch das Grundeinkommen kann nur um ein paar Cent erhöht werden. Was ist nicht verstehe, wie dann jemand mit wenig Geld die CDU oder noch schlimmer die FDP wählen kann?

Ich denke dass hängt mit dem Zugang zu Medien zusammen. Ein wichtiges Bedürfnis für jeden Menschen ist ja sich zu informieren. Was passiert in meiner Umgebung, der Gesellschaft und Politik? Aber sie haben oft nur Zugang zur Bildzeitung, B.Z. und so weiter, weil diese überall verkauft werden. Aber die ganzen Zeitungen gehören Oligarchenfamilien. Und dementsprechend ist auch die Berichterstattung. Und klar bringen die auch mal ein paar kritische Berichte, um den Schein zu wahren, aber das Gros der Richtung ist klar. Und so entsteht die Situation, dass die Menschen auch wenn sie den Wunsch haben sich zu informieren, erhalten sie nicht die Informationen, die es ihnen ermöglicht sich ein emanzipatorisches Bild zu machen.

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Die israelische Punk-Band Helem aus Tel Aviv singt über “Den großen Verrat” der israelischen herrschenden Klasse. Das LCM sprach mit dem Sänger Ran D und dem Gitarristen Ran W über ihre Musik und wie es ist, links und Punks in Tel Aviv zu sein.

Helem“ hat im Hebräischen mehrere Bedeutungen. Was verbindet ihr damit?
Ran W: Helem hat eine doppelte Bedeutung, zum einen bedeutet es “Schock”. Aber es hat auch eine Andere: In Polen gab es früher eine Stadt namens Helem. Im traditionellen jüdischen Geschichtenerzählen waren alle Bewohner dieser Stadt dumm. Zum Beispiel gab es eine Brücke, die in der Mitte kaputt war. Und die Bewohner von Helem überlegten, was sie machen sollten. Also beschlossen sie, ein Krankenhaus darunter zu bauen, damit jeder, der fallen würde, versorgt werden konnte. Helem wurde zu einem Ausdruck im Hebräischen. Man sagt, dies ist ein Zustand von helem, nichts funktioniert so, wie es sollte, alles geht schief.
Ran D: Helem ist auch eine Möglichkeit, eine irrationale Denkweise zu beschreiben. Es ist die Art und Weise, wie die Dinge in Israel gehandhabt werden.
Ran W: Und es gibt Hunderte von Beispielen für solche Dinge. Es wird eine Brücke gebaut und wieder abgerissen, weil sie zu schmal für die Gleise ist.
Ran D: Helem hat auch eine dunklere, nicht so bekannte Bedeutung. Helem, die Stadt in Polen, hat eine wirklich traurige Geschichte. Früher gab es eine wirklich große jüdische Gemeinde, von der nur wenige hundert am Ende des Zweiten Weltkriegs überlebt hatten. Unser Name ist nicht mit dem Holocaust verbunden, aber er hat damit zu tun. Ich glaube nicht, dass viele Menschen in Israel wissen, dass Helem eine echte Stadt war.

Ihr bezeichnet euch selbst als Antifa-Punks, was bedeutet das für euch?
Ran D: Antifaschist in Israel zu sein, ist etwas nicht so grundlegendes. Wenn man über den Faschismus spricht, haben die Menschen das Bild von Uniformen im Kopf. Wir alle wissen um das Ausmaß, das die Geschichte des Nazismus-Faschismus in Israel hat. Und die Leute sind nicht bereit zuzugeben, dass wir unter einer faschistischen Herrschaft leben, weil es nicht gleich aussieht. Es ist nicht Mussolini, es ist nicht Hitler, es ist dieser verdammte Netanyahu. Und um das klarzustellen: Ich vergleiche ihn nicht mit ihnen, aber die Auflösung ist die gleiche, die Methoden sind unterschiedlich.
Aber ein Punk und Antifa zu sein, ist auch ein Privileg mit all den Verbindungen, die ich im Laufe der Jahre durch den Fußball, mit anarchists against the wall oder Menschen, die mit Geflüchteten arbeiten, aufgebaut habe. Ich denke also, jeder findet seinen eigenen Ausdruck dafür, was es in unserer Szene bedeutet, ein Antifaschist zu sein.

Worüber singt ihr denn dann?
Ran D: Wenn du in einer Punkband singst, gibt es feste Themen, über die du singen solltest. Jeder wird über einen Freund singen, der zum Spitzel wurde. Jeder wird davon singen, kein Geld zu haben und der originellste und wahrhaftigste zu sein. Das tun wir auch. Ein Punk zu sein bedeutet, Punk zu sein, und ich liebe das Format. Ansonsten versuche ich, über die israelische Realität zu singen. Der Titel unseres neuen Albums lautet “habgida hagdola”, was grob übersetzt “Der Große Verrat” bedeutet, was auch das Hauptthema ist. Alle Songs vervollständigen ein Bild davon, wie es ist, in diesen Tagen in Israel zu leben. Die Leute werden auf dich zukommen und fragen: “Was? Bist du ein Linker?” Als ob es ein Fluch wäre, keine politische Haltung. Sie versuchen, uns als Verräter darzustellen. Die erste Regel im Faschismus ist, die Leute glauben zu lassen, dass es einen äußeren Feind gibt, die zweite ist, sie glauben zu lassen, dass es einen inneren Feind gibt. Und sie versuchen, uns zu diesem Feind zu machen. Ich denke, die Geschichte wird sie dafür verurteilen. Sie sind die wahren Verräter. Sie sind diejenigen, die gegen die israelische Gesellschaft vorgehen.

Spielt ihr auch Shows mit internationalen Bands?
Ran D: Als Teil einer DIY-Szene mache ich auch Booking und Promotion für andere Bands. Ich kontaktiere viele Bands, die ich für links halte. Und einige sagen: “Ich bin nicht bereit, mit meiner Band nach Israel zu kommen, wegen der Apartheid und des Faschismus in Israel.” Und ich stimme ihnen zu. Die Apartheid existiert und der Faschismus ist an der Macht. Aber es ist nicht so einfach, wie sie es zu beschreiben versuchen. Innerhalb Israels gibt es eine Minderheit von Menschen, die gegen dieses System kämpfen. Und wie kann man den Leuten den Mittelfinger zeigen, die die Scheiße leben und mit Gefängnis und Geldstrafen bezahlen, um Aktivisten zu sein? Ich sehe es als Beleidigung an, wenn Leute sagen, dass sie nicht kommen, weil Israel faschistisch ist. Es ist, als würde man mir sagen, dass ich Israel sei, aber ich bin nur eine Person, die in Israel geboren wurde.

Wir unterstützen auch BDS. Es ist mir scheißegal, ob Madonna in Israel spielt. Aber der Boykott von Punk-Bands aus Israel ist genau das Gegenteil von der Unterstützung Palästinas. Wir singen über Palästina, wir kämpfen für die Freiheit unserer Brüder und Schwestern in Palästina und auch in Israel. Aber mir zu sagen, dass der Boykott die Meinung des Premierministers ändern wird, ist so dumm wie es nur geht. “Oh verdammt, die Punks werden nicht kommen”. Das ist ihm egal! Denn Madonna wird das Geld nehmen. Die großen Künstler werden kommen, auch wenn es einen Boykott gibt. Aber du, der Kleine, der in meiner Wohnung schlafen wird, in arabischen Restaurants isst und in einem linken Viertel unterkommt. Du boykottierst uns? Du? Du boykottierst Israel nicht, du boykottierst mich, Ran und zwei andere Typen wie uns.

Seid ihr auch in sozialen Kämpfen engagiert?
Ran D: Einige von uns mehr, einige von uns weniger. Aber im vergangenen Jahr haben wir alle eine klare Aussage gegen die Abschiebung der Flüchtlinge in Tel Aviv gemacht. Es sollte eine “Evakuierung” von rund 35.000 Immigranten aus dem Süden Tel Avivs geben, meinem verdammten Viertel. Und wie viele andere Menschen auch, nahmen wir an den großen Demonstrationen teil. Es war der erste politische Erfolg, den wir seit Jahren hatten. Nicht nur gegen die Mauer anschreien. Es wurde Realität. Die Flüchtlinge wurden nicht vertrieben.
Ran W: Die Regierung hob die Entscheidung auf.
Ran D: Es war das erste Mal in der Geschichte, dass sie sich für etwas interessierten, was die Linken sagen. Sie nennen uns “Pretty Souls“, weil wir angeblich schwach sind. Aber ich sehe das nicht als Beleidigung an.

Ihr “Pretty Souls” seid eine Minderheit.
Ich denke, die Linken und Punks sind auch in Deutschland eine Minderheit, aber es ist viel bequemer. Zum einen, weil die Leute dich nicht auf der Straße verurteilen. Wenn man in Berlin, Hamburg oder Leipzig lebt, wird man nicht angeschaut, als ob man aus dem Weltraum gefallen wäre. Versuch mal, mit einem Iro durch Jerusalem zu gehen, weißt du, was mit dir passieren wird? Es wird Scheiße sein. Du wächst auf und wirst ständig verprügelt. Deshalb ziehen die meisten von uns Punks nach Tel Aviv. Außerdem sind wir Arbeiterklasse-Punks, alle von uns haben Jobs, sonst kannst du nicht überleben. Und deshalb sind wir weniger solidarisch miteinander, denn wir müssen die ganze Zeit arbeiten und Geld ist immer ein Thema. Man kann sein Leben nicht leben, und deshalb ziehen viele Menschen nach Berlin. Weißt du, jetzt gibt es einen beliebten Aufkleber, der sagt: “Unterstütze deine lokale Antifa, ziehe nicht nach Berlin”.

Ist das auch euer Ansatz?
Ran D: Ich bin ein Sohn von marokkanischen Einwanderern. Wir haben nicht die Papiere, um nach Europa zu ziehen, auch wenn wir es wollten. Aber trotzdem möchte ich immer noch denken, dass ein Teil davon daran liegt, dass ich dort sein will, wo es zählt. Der Kampf ist dort, wo meine Gemeinschaft ist.
Ran W: In Israel können wir zumindest mit unserer Musik und unseren Song etwas Einfluss üben.

Singt ihr deshalb auf Hebräisch?
Ran D: Die meisten israelischen Bands aus den 90er Jahren sangen auf Hebräisch. Um das Jahr 2000 herum kam das, was wir die “American Wave” nannten, nicht über Politik reden, lasst uns einfach nur Spaßpunk machen. Die Songs waren hauptsächlich auf Englisch, mit tollen Bands wie “Not On Tour” und “Kids Insane”, die ein internationales Niveau erreichten. Im Jahr 2018 geschah die so genannte Wiedergeburt des israelischen Punk mit Bands wie „Jarada“, Nidfakta, Tarbut Ra‘a und uns Helem, die alle zu einer Gruppe von Bands zusammenwachsen, die nur auf Hebräisch singen und es von Herzen tun und nur darüber sprechen, was los ist. Es geht nicht um Spaß, vielleicht werden einige der Rhythmen Spaß machen, aber wenn man sich die Texte anhört, will man sich in den in den Kopf schießen.

Wie ist es, Teil dieser linken DIY-Punk-Szene in Tel Aviv zu sein?
Ran D: Die Punk-Szene in Tel Aviv ist ziemlich klein. Um es so auszudrücken: Wenn Exploited oder The Addicts kommen würden, kämen 400 Leute zu den Shows. Bei einer normalen Wochenendshow kommen etwa 150 Leute. Die meisten von ihnen sind links und viele sind Aktivisten. Es sind die Menschen, von denen man weiß, dass man sich auf sie verlassen kann, die Menschen, mit denen man den Glauben teilt, von der Gesellschaft abgelehnt zu werden, aber trotzdem einen Scheiß zu geben. Wir sind immer noch größtenteils Teil der Gesellschaft, in der wir leben. Als ich aufwuchs, war die Szene geteilt zwischen denen, die wir früher geistlose Punks nannten, die sich mit Alkohol und Gewalt beschäftigen. Nicht, dass ich gegen Alkohol und Gewalt wäre, es ist das Beste! (lacht) Aber du solltest auch andere Dinge tun. Ich meine, man kann Teil der community sein, ohne politisch aktiv zu sein, aber sei zumindest Teil davon! Sei kein Arschloch, wenn du 14- oder 15-Jährige triffst, die zu Konzerten kommen!

Danke, dass ihr zugestimmt habt, dieses Interview zu machen! Wie war eure Tour in Deutschland?
Ran D: Wir hatten zwei Wochen mit zehn Shows zusammen mit ZSK. Diese ganze Sache begann damit, dass wir sie per E-Mail kontaktierten: “Hey, wollt ihr vielleicht zusammen mit uns spielen?” Es war eine unglaubliche Erfahrung für uns! Wir sind es gewohnt, alles DIY zu machen, und wir kamen mit einer Band dieser Größenordnung auf Tournee. Der Bus, die Hotels und die Backstages waren etwas, das wir noch nie erlebt hatten. Und die Jungs waren super cool! Für uns war klar, dass man, wenn man berühmt ist, ein Arschloch wird, weißt du. Aber es sind tolle Jungs! Und wir danken allen, die uns empfangen haben, alle waren so nett und herzlich in Potsdam, in Leipzig und Hamburg. Wir waren sogar Headliner von manchen Show! Ein großes Dankeschön an ZSK und allen, die uns geholfen haben.

Interview: Rafael Ramón

#Titelbild: Matthias Zickrow

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Corona hat vielen Projekten einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch der Kiezzeitung Kiezecho aus Friedrichshain, die eigentlich hätte in […]

Die israelische Punk-Band Helem aus Tel Aviv singt über “Den großen Verrat” der israelischen herrschenden Klasse. Das LCM sprach mit […]