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Bei den Protesten gegen Lukaschenko in Belarus mischen auch anarchistische Gruppen mit. Am 21. Oktober hat das LCM Xenia, Igor und Pjetr interviewt, Anarchist*innen aus Minsk, Belarus getroffen. Sie erzählten von ihren Erfahrungen und Perspektiven auf die Protestwelle, im Zuge derer seit Anfang August hunderttausende Menschen wöchentlich auf die Straße gehen. Sie fordern den Rücktritt des Diktators Lukashenko, Neuwahlen und Freiheit für politische Gefangene. Einige Tage nach dem Interview wurden Xenia und Igor selbst verhaftet.

Wieso beteiligt ihr euch an den Protesten?

Pjetr: Wir sehen zwar, wie sich die Proteste in Richtung Neoliberalismus bewegen, wie versucht wird einen freien Markt zu errichten und soziale Rechte abzubauen. In ökonomischer Hinsicht stimmt diese Bewegung also nicht mit unserer Ideologie überein, es gibt keinen Diskurs über Arbeiter*innenselbstverwaltung und soziale Rechte.

In politischer Hinsicht aber schon. Seit vielen Jahren leben wir unter dieser Diktatur, wir haben keine Möglichkeit, uns offen als Anarchist*innen zu bezeichnen, keine Meinungsfreiheit, keine Versammlungsfreiheit. Es ist also sehr wichtig, diese Bewegung zu unterstützen, da sie mehr Raum für Freiheit verspricht. Wir denken, dass ein Ende dieser Diktatur auch im wirtschaftlichen Bereich mehr Handlungsspielraum eröffnen wird. Vielleicht werden wir eine stärkere Arbeiter*innenbewegung bekommen, mit mehr Freiheit sich zu organisieren.

Igor: Alle bisherigen Proteste in Belarus waren, wie wir hier dazu sagen, ziemlich zahnlos. Es waren eher kleine Sachen, wie Applausaktionen, die trotzdem sehr bald von der Bereitschaftspolizei, von OMON, zerschlagen wurden. Und die Leute haben danach nicht weiter gemacht. Das, was in diesem Sommer begann, als erheblicher Widerstand geleistet wurde, ist wirklich etwas Wunderbares für unsere Gesellschaft. Also ist es vielleicht gar nicht so überraschend, dass wir jetzt ein wenig stagnieren, denn das ist etwas wirklich Unerwartetes und bereits ein großer Schritt vorwärts für unsere Gesellschaft.

Ihr meintet, die Proteste gehen in eine neoliberale Richtung. Denkt ihr, es gibt auch Aussicht auf emanzipatorischere Lösungen? Was für Perspektiven seht ihr generell in den Protesten?

Igor: Ich denke die Chance, dass diese Revolution weiter in Richtung einer emanzipatorischen Perspektive geht, ist sehr gering. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass sie mit diesen neoliberalen Reformen zu Ende geht, aber dennoch wird sie die Plattform schaffen, von der aus anarchistische Ideen weiter verbreitet werden können.

Pjetr: Ich denke auch diese neoliberalen Reformen werden kommen, weil alle großen politischen Akteure dafür sind. Zum Beispiel fördern dies ehemalige Präsidentschaftskandidat*innen. Aber wenn sie an die Macht kommen, dann wegen des Drucks von der Straße, also werden sie uns in Zukunft irgendwie respektieren müssen.

Xenia: Das Wichtigste ist, dass sich das Bewusstsein der Menschen bereits verändert hat. Die Menschen haben erkannt, was sie tun können, was ihre Interessen sind, wie sie sich organisieren und handeln können. Und das ist bereits eine ganz erhebliche Veränderung. Wir werden nicht mehr so leben, wie wir früher gelebt haben.

Gibt es irgendwelche Gruppen oder Personen, die den Protest anführen?

Xenia: Wir haben uns oft einen führungslosen Protest gewünscht, und das haben wir jetzt erreicht. Im Moment ist er sehr selbstorganisiert, die Menschen versammeln sich in den Nachbarschaften und entscheiden selbst, wie sie handeln wollen.

Igor: Das stimmt, aber es gibt Leute, die versuchen, die Proteste anzuführen, zum Beispiel dieser Koordinierungsrat um Tikhanowskaja. Auch Blogger*innen haben ihre eigene Agenda, am populärsten ist Nexta. Aber auch der Telegramkanal der anarchistischen Gruppe Pramen, der im Moment fast 10.000 Abonnent*innen hat, ist sehr beliebt.

Pjetr: Zwischen diesen verschiedenen Oppositionsführer*innen gibt es eine Art Rollenverteilung. Tikhanowskaja und der Koordinationsrat versuchen den politischen Diskurs zu bestimmen, während Blogger*innen wie Nexta und andere die Straßenproteste koordinieren.

Gestern wurden Nexta, die größte Plattform der Proteste, und deren Symbole als extremistisch eingestuft. Warum denkt ihr ist das passiert und wird es Auswirkungen haben?

Xenia: Ich denke, dass sie nicht in der Lage sein werden tatsächlich zu verhindern, dass diese Plattform gelesen wird. Nexta war einer der ersten Blogs, der den Massen beigebracht hat VPNs zu benutzen, also werden die Leute trotzdem Zugang dazu haben. Ich denke, es wird die Leute nur noch mehr davon überzeugen, diese Quelle zu nutzen.

Igor: Das zeigt einmal mehr die ganze Absurdität eines solchen Begriffs wie Extremismus. Zum Beispiel wurde anfangs die Hälfte der anarchistischen Websites auch als extremistisch deklariert. Und okay, jetzt wird Nexta als solche eingestuft. Ich glaube, es war ein weiterer Versuch, jede Art oppositionellen Denkens zu stoppen.

Welche Rolle haben Anarchist*innen in den Protesten? Welche Rolle könnten oder sollten sie eurer Meinung nach in Zukunft übernehmen?

Igor: Ursprünglich war die anarchistische Präsenz ziemlich schwach, würde ich sagen. Wir waren nur einige Bezugsgruppen, die an den Protesten teilnahmen. Wir waren dort, aber ohne eine klare und überzeugende Agenda. Aber dann hat sich das geändert. Jetzt nehmen Anarchist*innen mehr und mehr den Raum ein. Beispielsweise sucht jetzt Nexta die Freundschaft und den Rat von Anarchist*innen.

Xenia: Für die Zukunft wünsche ich mir, dass diese Tendenz noch zunimmt, denn ja, wir werden jetzt irgendwie erwähnt, aber es ist immer noch nicht sehr viel. Es wäre schön, wenn wir als ernstzunehmende politische Kraft wahrgenommen werden.

Pjetr: Interessant ist, dass es Impulse aus der Gesellschaft gibt, die wir hätten vorschlagen können. Zum Beispiel Solidaritätsfonds, Initiativen gegenseitiger Hilfe, Blockade-Taktiken und sogar Barrikaden. All dies hätte von uns kommen können, aber es kam von der Basisbewegung.

Deshalb denke ich, dass dies eine gute Gelegenheit für Anarchist*innen ist, neue Protesttaktiken vorzuschlagen. Dadurch können horizontale Netzwerke geschaffen werden, die für die Zukunft erhalten bleiben.

Igor: Was auch spannend ist, ist das es inzwischen einige Bilder von Anarchist*innen gibt, die fast schon wie ein Mythos sind. Da gibt es zum Beispiel Gerüchte, dass Anarchist*innen alle Proteste koordinieren, dass Anarchist*innen die Barrikaden errichten, dass Anarchist*innen die ganze Zeit in der ersten Reihe stehen. Aber das hat eher wenig mit der Realität zu tun.

Pramen hat ein anarchistisches Programm für die Aufstände in Belarus veröffentlicht. Glaubt ihr, dass es irgendeine Perspektive hat?

Pjetr: Ich habe das Programm mitgeschrieben und denke, man kann es dafür kritisieren, dass es opportunistisch und nicht radikal genug ist. Man kann es auch dafür kritisieren, dass es keine konkreten Vorschläge dafür liefert, was zu tun ist, damit die Revolution siegt. Die Perspektive sehe ich darin, dass es einen Vektor hin zu einer anarchistischen Ausrichtung darstellt.

Was können wir aus diesen Protesten lernen?

Igor: Eine wichtige Lektion der Proteste ist, dass Anarchie auch ohne Anarchist*innen funktioniert. Das weckt große Hoffnung auf weitere Veränderungen.

Pjetr: Uns ist bewusst geworden, dass wir uns besser auf die Revolution vorbereiten müssen. Wir brauchen eine anarchistische Organisation, die nicht nur eine abstrakte Vision hat, sondern auch ein konkretes Programm, mit einer konkreten Vision, welche Veränderungen wir erreichen wollen, wie unsere Gesellschaft organisiert sein soll, und was unser Plan ist, wenn eine Revolution gegen die Diktatur, in der wir leben, stattfindet – ich glaube, wir brauchen mehr gesunden Optimismus.

Was haltet ihr im Hinblick auf internationale Solidarität für notwendig und was wünscht ihr euch?

Xenia: Verschiedene Leute haben uns gefragt, ob wir materielle Unterstützung brauchen, aber im Moment wir können das nicht klar als „schickt uns Geld“, „schickt uns Waffen“ oder „schickt uns Menschen“ formulieren. Für mich ist es einfach wichtig, dass die Menschen ihre Solidarität ausdrücken, dass sie uns Briefe schreiben und fragen, wie sie helfen können. Das ist bereits eine große Hilfe. Außerdem ist es schön wahrgenommen zu werden, um nicht in Vergessenheit zu geraten.

Pjetr: Ich möchte allen, die diese Zeilen lesen, für ihre moralische Unterstützung danken. Aber auch praktische Solidarität kann etwas bewirken. Es könnte Kampagnen geben, die Druck auf die Regierungen der Länder aufbauen, die die belarussische Revolution nicht unterstützen, oder die dem belarussische Regime sogar aktiv helfen. Da wäre zum Beispiel die Firma Volkswagen, die Profite daraus schlägt, dass die repressiven Institutionen hier in Belarus hauptsächlich ihre Fahrzeuge benutzen. Und auch einige IT-Firmen, wie Synesis, die dem belarussischen Regime Entschlüsselungs-Software zur Verfügung stellen. Auch finanzielle Unterstützung ist willkommen.

Wollt Ihr noch etwas hinzufügen?

Pjetr: Ich möchte vielleicht etwas persönliches sagen. Früher habe ich mir die Revolution als etwas wirklich Schönes und Wunderbares vorgestellt, als eine Art Kreativität der Massen, mit einem Anstieg des sozialen Lebens. Aber jetzt habe ich gemerkt, dass dies auch mit einer Zunahme der Repressionen und der Macht einhergeht. Schließlich scheint es nicht nur eine große Freude, sondern auch eine große Angst zu sein. Wir müssen also noch mehr Aufmerksamkeit darauf verwenden, uns gegenseitig zu unterstützen und uns umeinander zu kümmern.

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In Slowenien finden seit Ende April Großdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung statt. Das LCM sprach mit Ramona, Anarchistin aus Ljubljana. Im ersten Teil des Interviews geht es darum, wie die Proteste entstanden sind und was die Leute auf die Straße treibt. Im zweiten Teil geht es um Verschwörungstheoretiker*innen, die gelebte Solidarität während der Aktionen und was es bedeutet über Monate hinweg an Massenprotesten beteiligt zu sein.

Slowenien wird im Moment von vielen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen erschüttert, was ist in Ljubljana los?

Die Proteste sind sehr kreativ, und ich denke, sie sind mehr als nur Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Sie richten sich vor allem gegen die autoritäre rechtsaußen-Regierungen, aber auch gegen Militarismus, Kapitalismus, Umweltzerstörung, die rassistische Migrationspolitik usw. Die Proteste nehmen unterschiedliche Formen an, bündeln sich aber meist auf die, seit dem 26. April laufenden, wöchentlichen Freitagsproteste. Es finden viele Aktionen statt: Freitags sind es die riesigen abendlichen Demonstrationen; Dann gibt es kleinere Aktionen, manchmal auch außerhalb der Hauptstadt Ljubljana, wie zum Beispiel am 19. September in Anhovo gegen die Zerstörung der Natur. In den vergangenen Wochen gab es auch regelmäßige Dienstagsaktionen von selbstorganisierten Kulturschaffenden vor dem Kulturministerium. Die Journalisten organisieren sich und hatten auch ihre eigene Demonstration. Die Menschen finden wirklich zusammen, und nach all diesen Monaten gibt es immer noch eine Menge Energie. Sogar während des Sommers kamen die Menschen immer wieder auf die Straße. Die Zahlen gingen zwar zurück, aber es waren nie weniger als 3.000, was für Ljubljana eine Menge für einen selbstorganisierten Protest ist. Ich würde sagen, es ist ganz anders als in den vergangenen Jahren. Wir sind es gewohnt Demonstrationen zu haben, die schneller stattfanden, aber nicht länger als eine Woche oder höchstens ein paar Wochen dauern. Das bedeutet, dass sich das Terrain des Kampfes verändert. Wir müssen uns auf lang anhaltende Proteste einstellen, was an sich schon bedeutet, dass wir auch unsere Strategien anpassen müssen.

Wie hat das alles angefangen?

Wir sind jetzt ja schon im fünften Monat des Protests. Am 12. März verhängte Slowenien wegen Covid19 den Pandemiestatus. Noch in derselben Nacht übernahm Janez Janša die Regierung und wurde Premierminister, nachdem der ehemalige Premierminister Marjan Šarec zurücktrat. Janša ist ein rechtsextremer Politiker, dem Verbindungen zum Waffenhandel in den Balkankriegen in den 1990er Jahren nachgesagt werden. Er war auch der Premierminister, als 2012/2013 der große, sechs Monate andauernde Aufstand stattfand. Damals musste er unter dem Druck der Proteste zurücktreten. So begann der Pandemiezustand bei uns: Mit einem rechtsextremen Ministerpräsidenten und vielen Fragen, wie man sich als soziale Bewegung in einer Situation, in der Kollektivität verboten ist, organisieren kann.

Es gab auch eine verpflichtende Quarantäne mit all den damit verbundenen Problemen und dem Slogan #stayathome: Dadurch gab es die Gefahr, dass diese Zuhause das Zuhause zu einem Schauplatz patriarchaler Gewalt werden, und patriarchale Werte gestärkt werden. Es wurde viel gegen Dating, gegen Geselligkeit, geredet. Im Prinzip wurde die Idee propagiert, dass der einzig sichere Ort die Familie sei, ohne darüber zu sprechen, was in den Familien passiert, die nicht bilderbuchmäßig sind, wo es zum Beispiel viel häusliche Gewalt gibt. In dem Diskurs wurden auch „die Anderen“, sprich Migrant*innen als schmutzig, gefährlich und als Krankheitsträger dargestellt. Wir wussten, dass diese Quarantäne nur denjenigen zur Verfügung steht, die sie sich leisten können, weil viele Menschen einfach nicht zu Hause bleiben können. Entweder, weil sie infolge der Gentrifizierung kein Zuhause haben und im Allgemeinen auf der Verliererseite der kapitalistischen Ausbeutung stehen, und natürlich, weil viele Menschen in der Industrie oder in Lieferdiensten und Geschäften dazu gezwungen sind, weiter zu arbeiten, damit andere Menschen zu Hause bleiben können.

Wie seid Ihr als Radikale oder Antiautoritäre damit umgegangen?

Für die Bewegung war es eine Herausforderung, eine sichere Umgebung für die Proteste und uns selbst zu schaffen. Gleichzeitig mussten wir Wege finden, um zu vermitteln, dass es einen Unterschied gibt zwischen Maßnahmen gegen die Pandemie und Maßnahmen, die einfach ein Ausdruck des Autoritarismus sind, der mit Janša an die Regierung gekommen ist. Was passierte, war, dass die Mauern der Stadt sofort mit Slogans gegen autoritäre Maßnahmen bedeckt waren, die als Covid19-Maßnahmen maskiert waren – Slogans wie „Lasst uns die Regierung unter Quarantäne stellen, nicht das Volk“ oder „Lasst uns die Regierung in die Fabriken und die Arbeiter in Sicherheit bringen“. Viele Menschen protestierten auch individuell, wie z.B. mit dem Aufstellen von Kreuzen auf dem Platz vor dem Parlament in 1,5 Meter Abstand, dem Markieren eines sicheren Weges für die Menschen, die sich versammelten, oder ähnliche aktivistische und künstlerische Interventionen in der Stadt.

Und abgesehen von Graffiti?

Am 26. April haben wir, über 25 antiautoritäre Gruppen, beschlossen, zu Fahrraddemonstrationen auf den Straßen aufzurufen. Wir haben diesen alten Trick aus der Antiglobalisierungsbewegung auspackt, obwohl wir alle vor 20 Jahren dieser Taktik sehr kritisch gegenüberstanden, weil sie uns nicht militant oder subversiv genug war. Aber in einer Situation, in der die Menschen Angst hatten, ihre Wohnungen zu verlassen, geschweige denn mit jemandem zusammen zu sein, der nicht zu ihrer unmittelbaren Familie gehört, dachten wir, dass dies den Menschen ein Gefühl der Sicherheit geben würde; dass sie sich nicht anstecken würden, weil es eine gewisse physische Distanz zulässt, die während des Protests eine sichere Umgebung schuf. Wir haben uns auch gefreut, dass wir uns vermummen konnten, und sich niemand wirklich darum schert.(lacht)

Wie ist es ausgegangen?

Wir dachten, dass vielleicht 40-50 Personen zu dieser Demo kommen würden. Aber schon bei der ersten Demonstration waren wir 500. Es ist wichtig, den Kontext zu verstehen: Das war vor der Ermordung von George Floyd bevor alles in die Luft gegangen ist.

500 klingt nach nicht viel…

Man muss diese Zahlen im Kontext sehen: In Slowenien gibt es 2 Millionen Menschen, in Ljubljana sind es 350.000, und wenn selbstorganisierte Demonstrationen 1000 Menschen auf die Straße locken, ist es ein Erfolg. Wenn es zwischen 2.000 und 3.000 Menschen sind, ist es die größte Sache überhaupt. Unter solchen Umständen 500 Leute auf der Straßen zu haben, war riesig. Wir merkten sofort, dass das der Moment ist, und begannen mit der vollen Mobilisierung für den 1. Mai, und es explodierte. Es waren zwischen 10.000 und 15.000 Menschen mit Fahrrädern auf den Straßen, viele neue Leute schlossen sich an, Demonstrationen fanden in anderen Städten des Landes statt. Und obwohl die Demonstrationen zu dieser Zeit nicht sehr militant waren, machte schon die bloße Tatsache, dass wir gegen die Anordnungen der Regierung da waren, einen Konflikt daraus, einfach indem wir als ein Kollektiv da waren.

Was ist es, das die Menschen auf die Straße treibt? Sind es die Maßnahmen der Regierung? Ist es die Angst vor der Wirtschaftskrise?

Ich denke, es ist die Tatsache, dass wir während des Aufstands von 2012 und 2013 wirklich die Idee etabliert haben, dass man Politikern nicht trauen kann, weil sie gegen die Interessen der Menschen arbeiten. Und auch wenn sich damals die sozialen Unruhen gelegt haben und die Eliten eine Person geopfert haben, um sich als Ganzes zu erhalten, glaube ich, dass diese Regierung bei ihrem Amtsantritt wenig Vertrauen hatte. Deshalb wurden Maßnahmen, die ja auch in anderen Ländern ergriffen wurden, als eine Art Trick angesehen, den die Regierung benutzte. Die Leute sind skeptisch, denn sie haben sehr strenge Sparmaßnahmen erlebt, eine ideologische Übernahme des Wohlfahrtsstaates. Sie rechnen mit der Privatisierung des Bildungswesens und der öffentlichen Gesundheit. Sie rechnen mit Einschnitten in die Sozialstaatsstrukturen. Und sie erwarten, dass diese Regierung bald ideologische Themen wie das Recht auf Verhütung und Abtreibung in Angriff nehmen wird. Dazu kam die Tatsache, dass es offensichtlich war, dass die Regierung versuchte, einige Maßnahmen einzuführen, die nichts mit der Pandemie zu tun hatten, sondern damit, Dissens in der Gesellschaft zu verhindern. Zum Beispiel wollte die Regierung diese Pandemie sofort mit militärischer Gewalt bekämpfen, indem sie dem Militär Autorität über die Zivilbevölkerung gab. All dies und die Angst vor dem, was noch kommen wird, wie eine Wirtschaftskrise, hat die Menschen auf die Straße gelockt.

# Titelbild: Črt Piksi, Demo in LJubljana „Gemeinsam gegen Nationalismus – für Würde und eine bessere Welt“

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Das Konterfei des kurdischen Revolutionärs Abdullah Öcalan dürfte mittlerweile weiten Kreisen der politischen Linken in der Bundesrepublik bekannt sein. Und das obwohl deutsche Behörden verbieten, es in der Öffentlichkeit zu zeigen. Deswegen kommt es regelmäßig zu Gerichtsprozessen, weil Genoss*innen sich nicht untersagen lassen wollen, das Bild des seit 1999 in Isolationshaft sitzenden schnauzbärtigen Mannes auf Demonstrationen zu tragen.

Der Genosse hat nun allerdings nicht nur ein Gesicht, sondern auch einen Kopf und zwei Hände. Und mit diesen schreibt er seit Jahrzehnten Bücher, die hierzulande immer noch viel zu wenig gelesen werden. Einige von diesen Büchern sind jetzt neu erschienen, nachdem vorherige Auflagen von der Polizei beschlagnahmt wurden und der sie herausgebende Mesopotamienverlag gleich komplett verboten wurde. Der Münsteraner Unrast-Verlag hat in den vergangenen Monaten Werke neu herausgegeben und der zweite Band des »Manifest der demokratischen Zivilisation« erscheint gerade zum ersten Mal in deutscher Sprache.

Theorie um der Praxis willen

Man kann nur sagen: Holt euch diese Bücher und lest sie! Gründe dafür gibt es viele, aber einer der wichtigsten ist, dass sie Theorie im Handgemenge sind. Es gibt Bücher, die werden geschrieben, damit der*die Autor*in etwas auf den Büchermarkt werfen kann, weil irgendein Jahrestag droht, jemand seine Uni-Karriere vorantreiben oder sich Anerkennung verschaffen will.

Und es gibt Bücher, die sollen Orientierung in einem Kampf geben, in einer wirklichen Auseinandersetzung. Zu letzterer Kategorie gehören eigentlich alle Klassiker. Rosa Luxemburg oder Kwame Nkrumah, Lenin oder Võ Nguyên Giáp schrieben nicht, weil sie sich einen geilen Vertrag bei Suhrkamp erhofften oder um bei einer Cocktailparty die eigene Publikationsliste vorzutragen. Sie schrieben, um einzugreifen. Sie schrieben als Teil einer Bewegung und vergegenwärtigten deren politische Praxis. Und sie schrieben für die Popularisierung von deren ideologischer Linie.

Öcalan gehört in diese zweite Kategorie revolutionärer Schriftsteller*innen. Seine Schriften waren vom Beginn seines Lebens als Revolutionär der Versuch, seiner Bewegung eine theoretische Grundlage zu geben. Diese Überlegungen fanden immer in konkreten historischen Situationen statt. Und weil spätestens mit den beginnenden 1990er-Jahren zu dieser Wirklichkeit auch das Scheitern des mit der Oktoberrevolution begonnenen sozialistischen Versuchs gehörte, formulierte er sie nach seiner Verhaftung 1999 auch zunehmend als Kritik am Staatssozialismus und den traditionellen antikolonialen Bewegungen.

Öcalans These ist: Sozialdemokratie, Sozialismus/Kommunismus und auch die verschiedenen antikolonialen Bewegungen haben im 21. Jahrhundert eine „klare Niederlage“ gegen Kapitalismus und Liberalismus erlitten. Und wer nicht in der Lage ist, diese Niederlage wirklich zu begreifen, werde auch in der nächsten Runde gegen Staat und Kapital K.O. gehen.

Was Öcalan schreibt, ist für jede*n, der*die aus irgendeiner dieser Traditionen kommt, zunächst einmal ärgerlich. Und es ist manchmal ungerecht. Einige von Öcalans Kritiken an Marx etwa sind selbst mit größten Sympathien schwer nachzuvollziehen. Andere dafür gehen ans Eingemachte. Lässt man sich darauf ein seine Überlegungen verstehen zu wollen, öffnet sich eine Welt anregender Gedanken. Das Ärgernis wird produktiv für den eigenen Versuch, Revolution neu zu denken.

Und das gerade auch, weil sein Neuanfang einer von der Wurzel an ist. Er sagt nicht einfach, der Sozialismus ist gescheitert, weil diese oder jene taktische Entscheidung falsch war oder man in der Industrieplanung zwei Tonnen Stahl zu viel verbaut hat. Die Niederlage hat ein Fundament in der historisch-philosophischen Basis. Sogar die radikalste Kritik des Kapitalismus, die von Marx ausgehende Tradition, sei – so seine These – noch viel zu sehr in der Denkweise kapitalistischer Theoriebildung verfangen gewesen.

Auch sie sei dem „Positivismus“ verhaftet gewesen, jener „szientistischen Religion“, die auch dem Fortschrittsglauben, der im Kapitalismus herrschenden Ideologie, zugrunde liegt. Der „Positivismus“ trennt die Welt in Subjekt und Objekt, vergegenständlicht letzteres und entmachtet damit auch ersteres. Der Positivismus ist, so Öcalan, der „vulgärste Materialismus“ und „Götzenreligion“ der kapitalistischen Moderne zugleich. Und auch, wenn Marx wie Lenin fundamentale Kritiken an diesem Vulgärmaterialismus ablieferten, ganz los wurden sie ihn – zumindest Öcalan zufolge – nicht. Selbst wenn man diese Kritik an den beiden Klassikern nicht teilt, ist spätestens nach der Kodifizierung ihres Denkens im beginnenden 20. Jahrhundert ihre Richtigkeit offenkundig.

Kritik am Determinismus

Das positivistische Erbe, das im Marxismus-Leninismus fortwirkte, hatte eine Reihe von Konsequenzen. Eine ist, dass zu kritiklos das im Kapitalismus Entwickelte als Grundlage für den Sozialismus angesehen wurde. Öcalan wendet ein, dass z.B. der Staat nicht einfach unter geänderten Vorzeichen zum Arbeiter-und-Bauernstaat werden könne, weil schon seiner Form die Klassenherrschaft und patriarchale Unterdrückung eingeschrieben sei. Aber auch etwa Lenins These, dass die Monopole und Trusts übernommen und nunmehr im Volkseigentum weiter geführt werden können, fällt in diesen Bereich.

Eine weitere wichtige Auswirkung des positivistischen Erbes sieht Öcalan im deterministische Fortschrittsdenken. Die in zahllosen Lehrbüchern zum historischen und dialektischen Materialismus ausgebreitete Geschichtsphilosophie sieht grob so aus: Geschichte entwickelt sich von primitiven urkommunistischen Gesellschaften über Sklavenhalter- und Feudalsysteme bis zum Kapitalismus, der dann vom Sozialismus und später Kommunismus abgelöst wird. Die früheren Formationen sind den späteren unterlegen, ihre Abfolge ist die einer Entwicklung von niedrigeren zu höheren.

Diese Abfolge ist so notwendig wie unabhängig vom Wollen der gesellschaftlichen Subjekte. Allenfalls kann noch der Komplettzusammenbruch eintreten, aber ansonsten ist der Fahrplan durch die Entwicklung der Widersprüche von Produktivkraft und Produktionsverhältnissen bestimmt. Die Revolutionen kommen dabei natürlich nicht von alleine und ohne den Klassenkampf, aber auch der ist ein fast mathematisch vorhersehbares Produkt objektiver Entwicklungen.

Diese Geschichtssicht hat zweifellos auch positive Resultate gezeitigt. Sie verschob den Fokus von idealistischen oder gar religiösen Geschichtsphilosophien zur Welt der Produktion des materiellen Lebens; sie gab den unterdrückten Klassen ihren Platz in der Geschichte; und sie erlaubte, den Kapitalismus nicht als alternativlos oder das Ende der Geschichte zu betrachten, als das er sich so gerne inszeniert.

Doch, wendet Öcalan ein, sie ignorierte nicht nur die Eigendynamik, die mythologische, religiöse, philosophische und wissenschaftliche Gedankengebilde im gesellschaftlichen Leben hatten und haben. Sie reduziert auch das Subjekt, die menschliche Gesellschaft auf ein ausführendes Organ von Widersprüchen in der Produktionsweise. Und sie legitimiert die Klassengesellschaften, indem sie ihnen attestiert, notwendig für den Fortschritt zum Besseren zu sein. Praktisch führt sie zu Passivität, die sich bei vielen traditionellen kommunistischen Parteien auch heute beobachten lässt: eine abwartende Haltung, die jede Initiative als Abenteurertum oder Voluntarismus abtut.

Wer sich vergegenwärtigen will, wie sehr diese Kritik zumindest für einen Teil der sozialistischen Bewegung zutrifft, der kann das an der Frage der Kolonien nachvollziehen. Diese galten einem Gutteil der damals noch marxistischen Sozialdemokratie der „entwickelten“ kapitalistischen Nationen als unterentwickelte, primitive Gegenden, die zur Not mit Gewalt zu modernisieren seien. Auf dem Kongress der Internationalen im Jahr 1907 sprach etwa Eduard Bernstein für das „Recht der Völker höherer Kultur, über die niederer Kultur Vormundschaft auszuüben“ – und argumentierte diese These mit Marx und Engels. „Denn früher oder später tritt es unvermeidlich ein, daß höhere und niedere Kultur auf einander stoßen, und in Hinblick auf diesen Zusammenstoß, diesen Kampf ums Dasein der Kulturen ist die Kolonialpolitik der Kulturvölker als geschichtlicher Vorgang zu werten.“

Geschichte als Kampf

Öcalan bricht mit diesem Determinismus, wirft aber keineswegs alles über Bord, was der Marxismus an Erkenntnissen zutage gefördert hat. Auch für den PKK-Gründer ist Geschichte geprägt durch das Ringen zwischen den Unterdrückten und den Unterdrückern. Auch für ihn hat sie maßgeblich damit zu tun, wer sich wie das gesellschaftliche Mehrprodukt aneignen kann und wie dieses produziert wird. Und auch für ihn fängt sie nicht erst mit der schriftlich überlieferten Geschichte staatlich verfasster Gesellschaften an.

Vielmehr sieht er im Beginn der (stadt-)staatlich verfassten Linie von Klassengesellschaft, die mit Sumer im Mittleren Osten beginnt und letztlich im heutigen Finanzkapitalismus endet, die Niederlage jener zuvor für Jahrtausende bestehenden „natürlichen“ Gesellschaft (die im Marxismus „urkommunistische“ genannt wird). Diese sei geprägt von Kollektivität in der Reproduktion der menschlichen Gesellschaft gewesen, die Rolle der Frau war zentral in den Gemeinschaften. Das Verhältnis zur Natur sei nicht das von Verobjektivierung, Inwertsetzung und Zerstörung gewesen, vielmehr habe sich der Mensch als integraler Teil der Natur verstanden.

Die durch Patriarchat, Urbanität, Staatlichkeit und Klassentrennung gekennzeichneten Herrschaftssysteme eignen sich von Sumer über Rom bis in den heutigen Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium den gesellschaftlichen Reichtum an, unterwerfen die Frau und machen sich die Natur zum Untertan. Dieser Strang, der, der staatlich verfassten und letztendlich „kapitalistischen Zivilisation“ ist aber an keinem Punkt der Geschichte ohne Gegner*in. Auch die Werte und Prinzipien der „natürlichen Gesellschaften“ leben weiter: z.B. in Bauernaufständen, bei den als Hexen verfolgten Frauen des Mittelalters, in den anarchistischen, antikolonialen und kommunistischen Bewegungen der Gegenwart.

Die natürliche Gesellschaft habe „nie aufgehört zu existieren“, schreibt Öcalan in „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“. „Obwohl die hierarchische und etatistische Gesellschaft von ihr gezehrt haben, wurde sie nicht aufgebraucht. Sie hat sich immer gehalten. Ob als Bezugspunkt für ethnische Gruppen, Sklaven und Leibeigene oder als Fundament der neuen Gesellschaft, mit der die Proletarisierung überwunden wird, ob in nomadischen Gemeinschaften in Wüsten oder Urwäldern, ob in Form von freien Bauern oder als matrizentrische Familie – als lebendige Moral der Gesellschaft war sie trotz aller Zerstörung stets präsent.“

Sozialismus aus der Gesellschaft

Die von Staat, Kapital, Patriarchat unterdrückte und ausgebeutete Gesellschaft lebt als „demokratische Zivilisation“ – wie gebrochen auch immer – weiter und leistet Widerstand gegen die „staatliche Zivilisation“. Der Aufbau einer neuen Gesellschaft kann an die fortbestehenden Selbstorganisierungsmechanismen der demokratischen Zivilisation anknüpfen, sie entwickeln, umgestalten und ausbauen. Marx übrigens dachte – zum Beispiel in seinen Briefentwürfen an die russische Sozialistin Wera Sassulitsch – gelegentlich in eine ähnliche Richtung.

Wie dabei der Aufbau des Sozialismus aussieht, hängt damit bis zu einem gewissen Grad von den jeweiligen lokalen Traditionslinien ab: Eine Entwicklung und Umgestaltung jesidischer Dorfgemeinden im Sengal wird sicher andere Züge tragen als die Revolution in Westeuropa. Für Öcalan sind diese lokalen Unterschiede aber nicht einfach zugunsten eines einheitlichen Entwicklungsmodells plattzumachen, sondern in demokratisch-konföderalen Gebilden miteinander auszutarieren – bis hin zum „Globalen Demokratischen Konföderalismus“, der „regionale demokratische Konföderalismen für Asien, Afrika, Europa und Australien“ einschließen könnte – wie er im Zweiten Band seiner Verteidigungsschriften mutmaßt.

Wie die begonnene Umsetzung dieses Konzepts im Norden Syriens zeigt, bedeutet das entgegen häufiger Missverständnisse nicht die Ablehnung jeglicher zentraler Instanz. Die Devise dürfte eher sein: So viel wie möglich dezentral, so viel wie nötig zentral. Die verschiedenen Ebenen – von der Kommune bis zum Rat des „Globalen Demokratischen Konföderalismus“ sind dabei durch ein engmaschiges Netz rätedemokratischer Institutionen miteinander vermittelt, an die Kultur- und Produktionskooperativen angegliedert sind. Diese Überlegungen sind dabei heute längst keine Gedankenspiele eines Intellektuellen mehr: Innerhalb des sogenannten KCK-Systems, der Millionen Menschen umfassenden „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ ist sie gesellschaftliche Realität geworden – und damit ein Konzept, das seinerseits in einem stetigen Wandel begriffen ist.

Der neue Mensch

Das Sozialismus-Konzept Öcalans wäre aber nur sehr unzureichend beschrieben, würde man es auf Debatten um Institutionen reduzieren. Ein bedeutender Teil der Überlegungen Öcalans, schon lange vor seiner Inhaftierung 1999, richten sich auf ein anderes Problem: den in Kapitalismus, Kolonialismus, Feudalismus, Patriarchat geformten Menschen selbst.

Praktisch stellte sich die Frage ab den 1980er-Jahren so, dass eine Menge junger Menschen aus unterschiedlichen Schichten – von dörflich-feudal bis urban-intellektuell – in die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eintraten. Die Partei musste also Mechanismen finden, um die Eigenschaften, die diese neuen Genoss*innen mitbrachten, zu überwinden. Öcalan war es, der den Fokus nun auf die kollektive Persönlichkeitsentwicklung legte. Er erklärte den „Aufstand“ gegen die „vom Feind entwickelte Welt der Sozialisation, Beziehungen, Gefühle und Triebe“. So wie der Aufbau der institutionalisierten Formen des Sozialismus – Kommune, Rat, jede Form von organisierter Gegenmacht – schon innerhalb der noch bestehenden Staatlichkeit und kapitalistischen Verhältnisse beginnt, fängt für Öcalan auch die Schaffung des „neuen Menschen“ nicht erst in einer fernen Zukunft nach der Revolution an.

Die Rede von der Schaffung eines „neuen Menschen“ klingt für die hiesige Linke sicher ungewöhnlich, aber man kann sich das zugrunde liegende Problem auch unabhängig von dem Kontext der kurdischen Bewegung vergegenwärtigen. Die kapitalistische Zivilisation, so beschreibt Öcalan im Band II des „Manifest der demokratischen Zivilisation“, hält sich nicht allein durch den blutigen Repressionsapparat. Sie hält sich vor allem dadurch, dass sie ihre Werte und Prinzipien in das Bewusstsein der Menschen einschreibt und diese durch eine Reihe von Mechanismen der Machtausübung an sich bindet: Konkurrenzdenken, Individualismus und Egoismus, die Vermarktung und Entfremdung von Sexualität, Sucht und Eskapismus, liberale und patriarchale Zurichtung – eine lange Reihe von Phänomenen gehören hier hin. Wer Kapitalismus und Staat überwinden will, so zumindest die These Öcalans, kann das nicht, ohne schon während des Kampfes die Ketten zu kappen, die einen an die sterbende Gesellschaftsordnung binden.

Das „qutbûn“, die Abtrennung von der staatlichen Zivilisation, bedeutet, sich neue Werte, neue Prinzipien im Leben zu geben. Die zentrale Frage ist: Wie soll eine Gesellschaft und in ihr das Individuum leben? Was gibt einem Leben Bedeutung, was sind die Maßstäbe von Entwicklung – wenn es denn nicht mehr diejenigen sind, die die kapitalistische, staatliche, patriarchale Zivilisation setzt. Die Frage nach einer solchen Umwertung der Werte stellt sich im Kleinen wie im Großen: Denn weder bietet der Kapitalismus in seinen entfremdeten Arbeitsverhältnissen, seinen repressiven Mann-Frau-Beziehungen, noch in seinem Hedonismus oder Konsumismus irgendwelche Perspektiven für die individuelle Weiterentwicklung; noch kann die Gesellschaft insgesamt sich tatsächlich entwickeln, wenn Sozialismus einfach darin bestehen soll, dass man quantitativ mehr davon macht, was im Kapitalismus gemacht wird, und es dann anders verteilt. Ein neuer Sozialismus-Entwurf braucht, das betont Öcalan immer wieder, nicht nur eine ökonomische und politische Basis. Er braucht auch die Entwicklung von anderen Werten und einer eigenen Ethik.

Kaderpartei und Gesellschaft

Der Aufbau sowohl der revolutionären Ethik wie der Institutionen der Gegenmacht funktioniert aber nicht als spontaner Prozess von selbst – und hier liegt vielleicht das größte Missverständnis westlich-anarchistischer Lesarten der Revolution in Kurdistan.

So sehr die demokratischen Institutionen in der Gesellschaft von unten nach oben funktionieren sollen, die organisierte Kraft der Revolutionäre, die jene anstößt und aufbaut, ist eine – mehr oder weniger – klassisch leninistische Kaderorganisation. Öcalan selbst lässt daran keine Zweifel: „Die gesamte Geschichte über ist kein parteiförmiger Zusammenschluss ohne Kader mit fester Überzeugung und Entschlossenheit ausgekommen. Viele Gruppen, die keine Kader besitzen, verschwinden unweigerlich in den Tiefen der Geschichte und geraten in Vergessenheit“, schreibt er in „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“. Die Kader sind die „Stabsorganisation der gesellschaftlichen Veränderung“, also jene Genoss*innen, die „die Mentalität und die programmatischen Grundlagen der Partei am besten verinnerlichen und begeistert versuchen, sie in die Praxis umzusetzen.“

Es ist dabei kein Zufall, dass hier nicht nur vom Verinnerlichen des Programms, sondern eben auch einer bestimmten „Mentalität“ die Rede ist. Die Partei der Kader ist nichts anderes als der Zusammenschluss jener Teile des Volks, die das „qutbûn“ von der alten Gesellschaft am konsequentesten vollziehen, ihre Freiheit in der Aufgabe ihrer früheren Persönlichkeit für die Revolution finden und sich ihrer Umsetzung verschreiben.

Deshalb ist die eigentliche Basis der Kaderpartei nicht das im Statut niedergeschriebene Regelwerk (das ebenfalls unerlässlich und wichtig ist), sondern die Schaffung von „hevaltî“, von gelingenden genossenschaftlichen Beziehungen. „Die genossenschaftliche Bindung muss von Geld, Hab und Gut, Eigentum und Besitz, Hausfrau und Macho-sein, Wunsch nach Konsumgütern, hinter seinen Sehnsüchten und Lüsten hinterher laufen, Machtbesessenheit, blindem Mut oder Furcht und allen ähnlichen Beziehungen, Gedanken, Aussagen und Taten, die vom Weg der Wahrheitssuche abbringen, fernbleiben“, schreibt Öcalan in »nasil yasamali«.

Der eigentliche Zweck der Kader ist nicht, die Gesellschaft zu etwas zu zwingen. Sondern ihr ihre eigenen Potentiale, ihr ihre eigene Kraft deutlich zu machen, sie anzuleiten, sich selbst zu finden. Kader haben die Aufgabe, sich im Aufbau der gesellschaftlichen Demokratie – der umfassenden, die auch Produktion und Reproduktion einschließt – selbst überflüssig zu machen.

Solange sie aber nicht überflüssig sind, ist die Kaderpartei als „Stabsorganisation“ der Revolution keine Freizeitveranstaltung. Sie folgt strengen Regeln und wer sich ihr aus freiem Entschluss anschließt, gibt seine individuelle Freiheit zugunsten der kollektiven auf. Um es in für Europa verständlichen Beispielen auszudrücken: Ein*e Kader*in kann nicht das Wochenende durchsaufen, eine Uni-Karriere verfolgen oder acht Wochen Strandurlaub einlegen. Letztlich geht damit aber auch kaum etwas verloren. Denn die Sinnstiftung, das manêdayîn, funktioniert über andere Mechanismen. Das eigene Leben als Berufssrevolutionär*in ist ja keine von außen auferlegte Einschränkung, sondern eine eigene Entscheidung darüber, was dem Leben Bedeutung gibt.

Wer macht Geschichte?

An diesem Punkt schließt sich der Kreis zur nicht-deterministischen Geschichtsauffassung. Denn für Öcalan vollzieht sich Geschichte nicht an uns vorbei. Welche Kraft sich in krisenhaften Chaos-Situationen durchsetzt, hängt davon ab, wer wie gut organisiert ist. Das Chaos ist zugleich ein offener Raum der Möglichkeiten, die ergriffen werden können.

Die Kader sind es zwar nicht, die alleine und ohne das Volk Geschichte machen können. Aber sie entwickeln die Gesellschaft, die Klasse zu sich selbst und damit zur Organisiertheit. Und die organisierte Klasse, das organisierte Volk kann in den historischen Chaos-Situationen den Gang der Geschichte bestimmen.

Öcalan und mit ihm die gesamte kurdische Bewegung machen uns durch ihre reale Praxis einen sehr konkreten Vorschlag: Ihr könnt Revolution machen, ist die frohe Botschaft. Geschichte ist gestaltbar.

Aber sie ist nur gestaltbar, wenn wir die Gesellschaften, in denen wir leben, analysieren, verstehen und zugleich in der Lage sind, uns Organisationen zu schaffen, die handlungsfähig in den Krisen der kapitalistischen Moderne sind.

Die aber wiederum können wir uns nicht schaffen, wenn wir nicht vor allem zu einem in der Lage sind. Zu jener „rücksichtslosen, grausamen, bis auf den Grund der Dinge gehenden Selbstkritik“, die Rosa Luxemburg einst als die „Lebensluft“ der proletarischen Bewegung bezeichnete. Und zwar zu einer Selbstkritik in unseren Organisationen, an unseren Traditionen – ob sie anarchistisch oder kommunistisch sein mögen – und an unseren einzelnen Persönlichkeiten.

Diese Selbstkritik können wir nicht dadurch ersetzen, dass wir nun einfach Öcalan an die Stelle setzen, an der vorher Marx, Bakunin oder sonst jemand standen. Sondern indem wir als Revolutionär*innen im Prozess der Entwicklung unserer eigenen revolutionären Organisationen die Theorie schaffen, die unsere Praxis auf ihr Ziel ausrichtet. Dabei helfen die Klassiker*innen, denn genau das haben sie getan. Und dabei hilft Öcalan, denn er ist ein Klassiker einer noch existierenden, kämpfenden Bewegung.

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Die Diskussionen innerhalb der radikalen Linken über Gedenkkultur, Eventpolitik und Instrumentalisierung flammen regelmäßig auf, wenn es darum geht gefallene Genoss*innen in die eigenen Kämpfe mit einzubeziehen. Solch ein Event oder zumindest wiederkehrender Termin ist die seit über 25 Jahren stattfindende Silvio-Meier-Demo, welche meist im Berliner Szenekiez Friedrichshain stattfand.
Wir benutzen im Folgenden bewusst den Begriff „Gefallene*r“. Wir glauben, dass dieser Begriff eine Möglichkeit ist, sich von eher passiven Begriffen und ihren Konsequenzen in der Praxis wie „Ermordete*r“ oder „Opfer“ abzuwenden. Unsere Genoss*innen sind gefallen. Gefallen in einem Kampf, der sich immer an ihre Haltung rückkoppelte und diese gilt es in den Vordergrund zu setzen. (mehr …)

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