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Das Abortion Network Amsterdam (ANA) leistet Personen, die eine Abtreibung in dem Niederlanden vornehmen lassen möchten, praktische Hilfe. Wir haben uns mit ihnen über ihre Arbeit, das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts und die Auswirkungen solcher Entscheidungen unterhalten.

Kannst du dich zum Anfang einmal kurz vorstellen?

Mein Name ist Marina, ich war Mitbegründerin des Abortion Network Amsterdam im Jahr 2018 und bin seitdem dabei. Ich schätze, man könnte mich als Abtreibungsaktivistin oder so bezeichnen (lacht). 

Was war deine Motivation, das Netzwerk zu gründen?

Wir haben mit ein paar Freund:innen vier Jahre lang ein Festival in Amsterdam organisiert, das sich The Effort nennt. Und im vierten Jahr hatten wir einen Workshop, zu dem wir eine Reihe von Leuten eingeladen hatten, um über Abtreibungsrechte in Europa zu sprechen. Darunter waren auch Women on Web, aber auch Women help Women. Es gab ein Gespräch über die Tatsache, dass viele Menschen aus Polen, aber auch aus anderen europäischen Ländern, nach Großbritannien fahren, weil sie dort die Möglichkeit haben im zweiten Trimester (13. bis 26. Schwangerschaftswoche, Anm. d. Red.) abzutreiben. Und das zweite Land, in dem eine Abtreibung auf Verlangen im zweiten Trimester in Europa – damals noch in der EU, denn es war vor dem Brexit – möglich war, sind die Niederlande. Dort kann man bis zur 22. Woche abtreiben. Wir erfuhren, dass einige Male Leute in die Niederlande kamen, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen, aber es war nichts organisiert. Sie wussten nur, dass eine der Kliniken Schwangerschaftsabbrüche im zweiten Trimester durchführte und dass es sehr teuer war, aber mehr Informationen hatten sie nicht. Es war also alles irgendwie vage. Wir haben auch von einigen anderen Organisationen gehört, die in ihren Ländern solche Solidaritätsnetzwerke aufgebaut haben. Es gibt also eines in Großbritannien, aber auch Ciorcia Basia in Berlin, das du sicher kennst.
Und dann dachten wir: „Dieses Festival ist großartig“, aber wir hatten nicht das Gefühl, dass es irgendwohin führt. Also beschlossen wir, auch eine solche Organisation zu gründen, um Menschen in den Niederlanden im Bereich Abtreibung praktisch zu unterstützen. Nach und nach sammelten wir eine Menge Informationen darüber, wie genau das in den Niederlanden funktioniert, wo man es machen kann, wer die netten Kliniken sind und so weiter. So wurde ANA ins Leben gerufen. Was mich motivierte, war die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper, die Körperautonomie und die reproduktive Gerechtigkeit. Ich finde es extrem bizarr, dass es immer noch Orte auf der Welt gibt, an denen man nicht einfach über seinen eigenen Körper entscheiden kann, wenn man eine Gebärmutter besitzt.

Wie sieht eure tägliche Arbeit im Netzwerk aus?

Da gibt es verschiedene Dinge, die passieren. Wir haben eine E-Mail-Adresse, an die Klient:innen uns schreiben, dass sie Hilfe brauchen. Normalerweise haben wir zwei Leute in einer E-Mail-Schicht, die eine Woche lang dauert. Man arbeitet also mit anderen Freiwilligen zusammen, um E-Mails zu überprüfen und im Grunde genommen Fälle zu lösen, also den Leuten zu helfen. Sie entscheiden, in welche Klinik sie gehen, je nachdem, wie weit die Schwangerschaft fortgeschritten ist und helfen bei logistischen Fragen – zum Beispiel beim Transport oder bei der Unterbringung. Früher hatten wir ein Netzwerk von Freiwilligenhäusern, aber das gibt es seit Covid nicht mehr. Jetzt helfen wir den Menschen bei der Buchung eines Hotels. Und dann versuchen wir, auch bei allen anderen Dingen zu helfen, die im Zusammenhang mit der Ankunft einer Person zu regeln sind. Das ist der Teil von ANA, der die alltägliche Arbeit darstellt. Es ist eine Menge Arbeit, weil wir viele E-Mails bekommen und dementsprechend viel arrangiert werden muss. Ich denke, meine Beschreibung wird dem nicht wirklich gerecht. Und dann gibt es noch alle möglichen anderen Dinge, die passieren. Wir versuchen auch, die sozialen Medien zu nutzen, zum Beispiel um über das mit Abtreibungen verbundene Stigma zu sprechen oder um zu kommunizieren, dass es hier möglich ist, eine Abtreibung zu bekommen. Dass es sicher ist und die Krankenhäuser mit denen wir zusammenarbeiten sehr nett, hilfreich und freundlich sind. Außerdem organisieren wir Veranstaltungen oder nehmen an Veranstaltungen anderer teil. Es gibt also eine Menge verschiedener Aufgaben, die ANA hat.

ANA ist auch Teil des Netzwerks Abortion without Borders, zu dem ähnliche Organisationen in ganz Europa gehören. Wie funktioniert das?

Wir teilen uns die Finanzen. Eine Abtreibung kostet hier mehr als 1000 Euro, wenn sie im zweiten Trimester ist, also brauchen die Klient:innen oft finanzielle Hilfe. Wir entscheiden dann, wer genau das bezahlt. Wir tauschen uns auch über komplizierte Fälle aus, zum Beispiel darüber, wo genau eine Person am besten behandelt werden sollte – also in welchem Land – und welche Organisation sie dabei unterstützen wird. Wir kommunizieren auch über neue Gesetze, die verabschiedet werden und politische Entscheidungen, die unsere Arbeit beeinflussen. Auch in den Niederlanden passiert viel, was wir versuchen zu verfolgen: Wir sprechen mit der Presse, manchmal geben wir Interviews für Recherchen – denn wir haben viele Informationen, da wir im Grunde die einzige Organisation sind, die in den Niederlanden diese Art von Arbeit macht.

Du hast bereits erzählt, dass sich viele Klient:innen bei euch melden. Auf eurer Website gebt ihr an, dass die Zahl der Menschen, die sich an euch wenden enorm gestiegen ist, nachdem der Zugang zu sicheren Abtreibungen in Polen noch stärker eingeschränkt wurde. Wie habt ihr es geschafft, in so kurzer Zeit so viel mehr Solidarität zu organisieren?

Nun, das war definitiv nicht einfach. Das neue Gesetz betrifft alle Fälle von fetalen Anomalien. Wenn also jemand schwanger ist und feststellt, dass der Fötus Anomalien aufweist, kann diese Person in Polen nicht mehr abtreiben. Wenn der Fötus nicht lebensfähig ist, muss sie ihn trotzdem zur Welt bringen. Die Entscheidung des Gerichts fiel im Oktober 2020 und ich glaube, sie trat erst im Januar in Kraft. Aber schon ab Oktober begannen uns viel mehr Leute zu schreiben. Eine Sache ist, dass wir mehr Klient:innen bekamen. Aber eine andere Sache ist, dass die Fälle tatsächlich ziemlich kompliziert sein können. Denn Fälle von fetalen Anomalien bedeuten oft, dass sie das Leben der schwangeren Person bedrohen könnten und es bedeutet auch, dass sie oft sehr viel emotionaler sind. Denn viele Personen wollen eigentlich ein Kind haben. Oft mussten wir zum Beispiel Dinge wie die Einäscherung des Fötus organisieren, weil sie sich von ihrem Kind verabschieden wollten. Das hat vieles komplizierter gemacht. Wir arbeiten ohnehin schon viel unter Druck, aber dann kam noch hinzu, dass Fälle von fetalen Anomalien oft erst gegen Ende des zweiten Trimesters, also dessen, was in den Niederlanden für einen Schwangerschaftsabbruch legal ist, erkannt werden. Also mussten wir die Dinge noch schneller regeln. Wir haben wirklich versucht, unsere Arbeit bei Abortion without Borders effizienter zu organisieren und die Fälle innerhalb des Netzwerks zu verteilen. Das war mit dem Brexit eine kleine Herausforderung, aber es hat funktioniert. Wir haben auch einen Aufruf an die Leute gemacht, ehrenamtlich bei uns mitzuarbeiten. Gleichzeitig gab es viel Solidarität – wie Demonstrationen in Deutschland und den Niederlanden – rund um die Entscheidung des Verfassungsgerichts in Polen. So kamen viele Leute auf den Demonstrationen auf uns zu und fragten, ob sie bei uns mitmachen könnten, weil sie wirklich helfen wollten, aber nicht wussten, wie. So wurde unsere Organisation zu einer Möglichkeit für die Menschen, die Situation zu verbessern. Viele Leute, besonders in den Niederlanden lebende Pol:innen, kamen zu uns um zu fragen, ob sie sich freiwillig engagieren können. Wir haben mindestens 10 oder 15 Freiwillige mehr als vor zwei Jahren. Wir haben wirklich versucht, viele neue Leute an Bord zu holen, aber es gab eben auch viele, die aufgrund der Situation mitmachen wollten. 

Und wie finanziert ihr die Organisation? Wahrscheinlich musstet ihr auch viel mehr Geld organisieren.

Wir sind nur ein Kollektiv, keine offizielle Organisation in irgendeiner Form. Es gibt eine Organisation innerhalb des AwB-Netzwerks, die eine offizielle Organisation ist, das Abortion Support Network aus Großbritannien, das früher eine sehr ähnliche Arbeit für Ir:innen geleistet hat. Als Abtreibung dort noch illegal war, haben sie Leute unterstützt, die nach Großbritannien kamen. Als sich die Situation in Irland änderte, gingen sie dazu über, auch polnischen Menschen zu helfen. Sie verfügten also bereits über einige finanzielle Reserven in ihrer Organisation und konnten sich über lange Zeit einen Grundstock an Spender:innen aufbauen, da sie schon viel länger existieren. Sie bezahlen eine Menge Abtreibungen, die von polnischen Menschen vorgenommen werden. Wir als ANA machen nur Crowdfunding wie Online-Spenden oder verkaufen T-Shirts und einige Leute organisieren Konzerte zu unseren Gunsten. Es ist also sehr punkig. Die Sache ist, dass wir sozusagen den Schlamassel der polnischen Regierung beseitigen, indem wir Einzelpersonen helfen. Und niemand will diese Art von Arbeit wirklich finanzieren. Kein Fonds wird uns Geld geben, es sei denn, es handelt sich um einen privaten Fonds oder eine Privatperson, aber offizielle Fonds geben uns kein Geld für diese praktische Arbeit für einzelne Menschen. Niemand will sie wirklich finanzieren. 

Habt ihr als ANA neben der praktischen Hilfe für sichere Schwangerschaftsabbrüche einen Ansatz, um die Rahmenbedingungen rund um Gesetze zur reproduktiven Gerechtigkeit oder die öffentliche Meinung zu diesem Thema zu verändern? 

Am Anfang war uns klar, dass wir uns nur auf die praktische Hilfe konzentrieren und ansonsten nicht unbedingt in die Politik einmischen wollen. Einfach, weil wir nicht wirklich die Kapazitäten dazu hatten. Aber vor allem nach dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichtes wurden wir sehr oft von den Medien gebeten, über unsere Erfahrungen zu sprechen und unsere Meinung zu den Geschehnissen in Polen zu äußern. Als Leute, die an vorderster Front stehen und den Menschen auf der Reise helfen. Ich denke, dass wir seither in diese Art von Dingen involviert sind. Außerdem gab es in letzter Zeit eine Reihe von Diskussionen über das Abtreibungsgesetz in den Niederlanden. Wir haben also versucht, so gut es ging, unsere Meinung zu äußern und auch ganz praktische Informationen darüber zu geben, was das für unsere Arbeit bedeutet. Ich denke, wir waren recht erfolgreich, denn unsere Organisation wird in den Niederlanden immer mehr anerkannt. Es ist unmöglich, in einer Organisation wie ANA zu sein und sich nicht an der öffentlichen Meinung zu beteiligen. Denn schließlich hängt unsere Arbeit direkt von den Gesetzen des Landes ab, in dem wir uns befinden, aber auch von denen anderer, umliegender Länder. Also haben wir irgendwann beschlossen, dass wir die Kapazitäten schaffen müssen um darüber zu sprechen und unsere Meinung zu äußern. Denn wir haben sehr spezifische Informationen, die andere Organisationen nicht haben und die wir nutzen können, um sehr klare Aussagen darüber zu machen, warum reproduktive Gerechtigkeit wichtig ist und warum es überall sichere Abtreibungsgesetze geben sollte.

Wie sähe deiner (oder eurer) Meinung nach eine Situation tatsächlicher reproduktiver Gerechtigkeit und Selbstbestimmung aus?

Ich kann nur über mich selbst sprechen. Wenn wir über Abtreibung sprechen, dann würde das für mich bedeuten, dass es überall sichere, legale und zugängliche Abtreibungen gibt. Und zugänglich bedeutet, dass man nicht weit weg fahren muss, um sie zu bekommen. Sie sollte überall dort verfügbar sein, wo man lebt. Dazu gehört auf jeden Fall auch eine umfassende Aufklärung über sexuelle und reproduktive Gesundheit. Für mich ist das ein sehr intersektionaler Begriff – reproduktive Gerechtigkeit. Denn es bedeutet auch, dass man nicht diskriminiert wird – sei es aufgrund der Race, der Klasse, des Geschlechts oder der sexuellen Vorlieben – wenn man reproduktive Gesundheitsdienste in Anspruch nimmt. Das bedeutet, dass einem als arme Person keine Abtreibung verweigert wird, dass einer Person of Color keine Dienstleistungen verweigert werden, dass aber auch trans Personen, die schwanger werden wollen oder eine Abtreibung vornehmen lassen, nicht stigmatisiert werden sollten. Ich denke also, dass wir einen sehr ganzheitlichen Ansatz für alle Arten von Dienstleistungen im Bereich der reproduktiven Gesundheit verfolgen sollten.

Danke dir! 

#Foto: wikimedia commons

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Im Netzwerk gegen Feminizide Berlin haben sich verschiedene feministische Gruppen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, um auch in Deutschland verstärkt auf das Thema aufmerksam zu machen und gemeinsam kämpferische und emanzipatorische Antworten auf patriarchale Gewalt zu finden.

Hallo, stellt euch doch bitte kurz vor und erzählt auch, wie lange ihr schon Teil des Netzwerks gegen Feminizide seid.

Ursula: Ich lebe in Berlin und ich habe ungefähr vor zwei Jahren davon gehört, dass sich Frauen zusammenschließen wollen, die zum Thema Feminizide arbeiten. Mir war der Begriff vorher auch nicht wirklich geläufig, obwohl ich schon seit 50 Jahren in der Frauenarbeit gegen Gewalt an Frauen bin. Also für mich war das damals ein relativ neuer Begriff, der aber auch sofort ziemlich einleuchtend war. „Aha na klar, Feminizide sind das, was im schlimmsten Falle passiert, wenn Frauen Gewalt erfahren – sie werden ermordet. Sie werden einfach getötet.“ Deswegen habe ich versucht, mich mit diesem Netzwerk zu verbinden und bin dann da sozusagen reingeraten und habe mitgemacht.

Lila: Ich bin in einer Gruppe, die viel im Austausch über Morde an Frauen und queeren Menschen stand. Wir haben immer wieder über diese Thematik geredet und uns ein bisschen hilflos gefühlt damit. Gleichzeitig haben wir in den Vernetzungen, die schon bestanden, nicht gesehen, dass es einen Fokus auf die Sichtbarmachung dessen gibt oder Konzepte ausgearbeitet werden, wie auf lange Sicht damit umgegangen und das Thema mehr in die Gesellschaft getragen werden kann. Schon vor der Pandemie ist das alles hinter verschlossenen Türen passiert, die Berichterstattung wurde zweckentfremdet und war meistens eher Täter schützend. Daraufhin haben wir uns mit verschiedenen Gruppen vernetzt. Das erste Mal getroffen haben wir uns im September 2020 und am 25. November wurde das Netzwerk gegen Feminizide ausgerufen. .

Ursula: Gleich beim ersten Treffen haben wir beschlossen, dass wir eine Kampagne machen: „Wir wollen uns lebend!“ in Anlehnung an „Ni una menos!“.

Wir war denn eure Verbindung zu den feministischen Bewegungen aus Lateinamerika, wart ihr im Austausch mit den Ni una menos Bewegungen aus anderen Ländern?

Lila: Also in den ganz frühen Phasen haben wir uns erstmal viel informiert und das war auf jeden Fall eine große Inspiration. Die Bewegung, die Stärke und was sie alles erreicht haben – trotz viel mehr Repression, als hier vor Ort. Durch Freundinnen aus dem Umfeld von Ni una Menos und dem Bloque Latinoamericano sind wir dann auch noch mehr in den Austausch über die Bewegung gekommen und konnten besser von ihnen lernen. Bei uns in der Gruppe kam das auch einfach durch die Auseinandersetzung mit Feminiziden und der Frage danach, was das überhaupt mit einschließt. Wir wollten von Anfang an nicht in dieser super eurozentrischen Sichtweise bleiben. Natürlich geht vielen Feminiziden häusliche Gewalt voraus. Aber wenn man sich global unterschiedliche Kontexte anschaut, werden Frauen und weitere unterdrückte Geschlechter zwar genauso wie hier ermordet, weil sie Frauen und weitere unterdrückte Geschlechter sind – aber auch weil sie aktiv geworden sind, aufstehen und ihre Meinung sagen. Da haben uns viele Bewegungen inspiriert und wir haben versucht von ihnen zu lernen.

Ursula: Dadurch, dass hier in Berlin viele Communities präsent sind, war eigentlich vom ersten Treffen an offensichtlich, dass mindestens die Hälfte der Frauen die da waren, einen migrantischen Hintergrund haben. Das war ein Bündnis von Gruppierungen, die bereit sind, sich in irgendeiner Form mit Gewalt gegen Frauen, Gewalt in der Gesellschaft, der Gewalt des Patriarchats auseinanderzusetzen. Dadurch sind natürlich auch diese ganzen globalen Aspekte immer in die Arbeit eingeflossen.

Ihr habt schon angedeutet, dass eure Definition von Feminiziden mehr einschließt, als Beziehungstaten. Was versteht ihr als Netzwerk noch darunter?

Lila: Das ist eine sehr schwierige Frage ehrlich gesagt..

Ursula: Naja im Großen und Ganzen haben wir schon eine ziemlich klare Position, glaube ich. Es geht um patriarchale Gewalt(-strukturen), die einfach global präsent sind und sich dann natürlich lokal völlig unterschiedlich ausdrücken. Hier in Deutschland zum Beispiel ist es im Wesentlichen die Definition, dass Frauen ermordet werden, die individuell in abhängigen Verhältnissen zu bestimmten Männern stehen und, dass Männer sich bemüßigt fühlen, ein Recht auszuüben, was sie nicht haben: Gewalt auszuüben, zu herrschen und Frauen mit Gewalt zu Sachen zu zwingen, beziehungsweise von Dingen abzuhalten.

Lila: Schwierig zu beantworten ist es wegen der mangelhaften Nachhaltigkeit und fehlender Informationen in der Berichterstattung. Das macht es für uns manchmal schwierig einzuordnen, was passiert ist.

Ursula: Wir haben maximal eine kurze Zeitungsmeldung, wenn eine Frau umgebracht wurde. Da steht vielleicht noch wo es war, wer es gewesen sein könnte, wer verhaftet wurde – Ehemann, Ex-Freund, Bruder, Vater – und dann müssen wir quasi für uns entscheiden, ob das ein Feminizid war oder nicht. Es sind inzwischen ja sehr viele Gruppen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und weltweit, die sich damit beschäftigen. In diesem Kontext tauschen wir uns sehr intensiv darüber aus, wie wir eigentlich dazu kommen, einen Mord als Feminizid einzuordnen. Dafür müssen wir auf eine sehr dünne Faktenlage zurückgreifen und dann daraus extrahieren, wie das mit dem Patriarchat und der gesamtgesellschaftlichen Situation zusammenhängt. Wir sehen auch, dass es zum Beispiel Feminizide gegen politische Aktivistinnen gibt. Da kommen immer wieder Fragen und Lücken auf und wir beschäftigen uns im Wesentlichen damit, sinnvolle Antworten zu finden.

Lila: Wir sind aber letztes Jahr zu dem Punkt gekommen, dass man auch Suizide als Feminizide einordnen kann, wenn sie das Ende einer langen patriarchalen Gewaltkette sind und die Person keine andere Lösung mehr gesehen hat in diesem System. Dann definieren wir das als femizidalen Suizid.

Wenn ihr zu dem Schluss kommt, dass ihr einen Mord als Feminizid einordnet. Wie reagiert ihr als Netzwerk darauf?

Lila: Aktuell – das entwickelt sich ja auch immer weiter – ist der Stand so, dass wir einen Widerstandsplatz eingenommen haben. Die Arbeit mit den Angehörigen ist immer super schwierig und unterschiedlich, manchmal haben wir auch gar keinen Kontakt. Deswegen haben wir die Entscheidung getroffen, dass wir lieber an einem neutraleren Ort – also dem Widerstandsplatz – zusammenkommen wollen. Um zu gedenken, darauf aufmerksam zu machen, Transparenz zu schaffen und den Mord ganz klar als Feminizid zu benennen. Wir sagen „nehmt ihr uns eine, antworten wir alle!“.

Ursula: Es erschien uns einfach wichtig, einen Ort zu finden, den wir gemeinsam nutzen können für alle möglichen Formen von widerständigen Bewegungen. Wir haben ihn im Wedding gefunden mit einem Platz wo man sich gut Treffen kann, wo getanzt, gesungen, getrauert und geredet werden kann. Er liegt innerhalb einer Community und in einem sehr spannenden Kiez, der miteinbezogen werden kann und wo sowieso schon viel passiert. Außerdem haben wir uns auch einen Platz ausgesucht, der den Namen eines Kolonialverbrechers – Nettelbeck – trägt und uns auch damit beschäftigt. Zusammen mit anderen Gruppen, vor allem Decolonize Berlin, haben wir die offizielle Umbenennung des Platzes bei der Bezirksversammlung durchgesetzt. Jetzt wird nur noch entschieden, welchen Namen dieser Platz bekommen soll.

Lila: Bei diesem Platz des Widerstands geht es auch darum, Kämpfe zu verbinden. Im besten Fall entsteht dort ein Treffpunkt und ein Ort für Austausch. Gerade für Einzelpersonen die potenziell betroffen oder nicht so gut vernetzt sind, ist es schwer einen Zugang – vor allem zu Informationen – zu finden. Bis jetzt war es, wenn wir auf dem Platz zusammengekommen sind, eigentlich immer so, dass Menschen auch mal nachgefragt haben. Oder auch überrascht waren, dass Nettelbeck ein Kolonialverbrecher war. Manche haben auch so süße Sachen gesagt, wie „egal, ob andere euer Gegenwind sind, wir sind euer Rückenwind hier aus dem Kiez“. Das gibt uns Hoffnung, dass wir es schaffen die Menschen besser mit einzubeziehen, und zu erfahren, was beispielsweise Wünsche im Bezug auf den neuen Namen sind.

Ein genaues Protokoll, wie wir auf einen Feminizid reagieren, ist eher noch in der Entwicklung. Klar ist aber, dass wir zusammenkommen. Bei dem femizidalen Suizid von Ella letztes Jahr am Alexanderplatz besteht aber zum Beispiel auch das Bedürfnis das immer wieder zu machen. Hier zeigt sich die Problematik, dass zwar in Deutschland mittlerweile Statistiken über „Morde an Frauen“ – wie es genannt wird – geführt werden, aber eben nicht über Menschen, die sich anders definieren und trotzdem einen Uterus haben oder unter patriarchaler Gewalt leiden. Es gibt super wenig Hilfe für diese Personen. Und oft erfahren diese Menschen auch noch andere Formen von systematischer Gewalt und Unterdrückung.

Ursula: Natürlich hat sich im Laufe der Zeit auch ohne festes Protokoll etwas entwickelt. Und ein Teil davon ist auch, dass wir – wenn möglich – versuchen, das Umfeld zu erkunden in dem dieser Feminizid passiert ist und möglicherweise auch mit den Angehörigen Kontakt aufzunehmen und Unterstützung anzubieten. Das ist immer ein sehr schmaler Grat, weil wir die Personen nicht instrumentalisieren möchten. In mehreren Städten in Deutschland hat das auch schon dazu geführt, dass Gruppen die Gerichtsprozesse von Tätern mit begleitet und die betroffenen Familien unterstützt haben. Dabei wurden ganz vielfältige Erfahrungen gesammelt. Manche Angehörige möchten einfach in Ruhe gelassen werden und individuell trauern. Andere wiederum sehen den Mord ebenfalls im Kontext patriarchaler Gewalt und möchten sich wehren, zum Beispiel indem sie in die Nebenklage gehen. Das ist ziemlich schwierig und man braucht eine gute Anwältin dafür. Da haben sich exemplarisch Prozesse entwickelt, die auch veröffentlicht werden müssten. Wir wollen zeitnah eine Broschüre zum Thema „Was mache ich, wenn ein Feminizid passiert?“ veröffentlichen. Dafür sammeln wir Bewegungswissen – alles was in den vergangenen zwei, drei Jahren entstanden ist.

Lila: Wenn wir einen Kontakt aufbauen können zu den Menschen um das Opfer herum – Freund:innen, Familie, etc. – haben wir auch manchmal die Schwierigkeit, dass der Täter noch im Umfeld der Angehörigen aktiv ist. Dann sind die Gewaltkette und die Machtstrukturen oft nach wie vor vorhanden. In solchen Fällen müssen wir natürlich auch sehr aufpassen in unserer Arbeit, dass wir keine weiteren Familienmitglieder, Freund:innen, etc. in Gefahr bringen.

Ihr habt gerade schon angesprochen, dass ihr Handlungsanleitungen und Broschüren entwickelt. Das passiert im Kontext eurer Vernetzung mit anderen Gruppen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wie hat sich das entwickelt?

Lila: Angefangen hat das ja mit einer Sammlung und einem Austausch über den Ist-Zustand. Und das Ziel war, bzw. ist dieses „How-to“. Aber dadurch, dass diese Thematik noch nicht als das, was sie ist – nämlich Feminizide und nicht Beziehungsdramen – in der Gesellschaft angekommen ist und ja auch verhältnismäßig wenige Leute dazu arbeiten, gehen immer wieder Kapazitäten für die gleichen Dinge drauf, weil man auf so wenig zurückgreifen kann. Deswegen ist unser Ansatz, diesen Kampf gemeinsam zu führen und uns gegenseitig zu unterstützen. Beispielweise durch skill sharing, durch eine Zugänglichkeit zu Dingen wie Materialien…

Ursula: …Texte. Da macht Vernetzung tatsächlich einen Sinn, weil wir in die praktische Ebene gehen und uns dadurch gegenseitig unterstützen können. Auch der direkte Austausch – und sei es über Zoom – ist unglaublich hilfreich. Daraus können sich dann wieder neue Ideen entwickeln.

Lila: Ich persönlich merke auch, als Person die in einer Stadt wohnt, dass bei so einem Protokoll immer Spielraum sein muss. In kleinen Städten und Dörfern ist es für uns manchmal schwierig, überhaupt mit den Menschen in Kontakt zu kommen.

Ursula: Andererseits sind ja die großen Städte im Grunde auch in kleine Kieze unterteilt, wo klare Strukturen herrschen. In so einem Dorf ist das natürlich übersichtlicher und besser für uns erkennbar, aber wenn wir uns unsere Kieze angucken, ist das ja auch nicht anders. Und trotzdem ist da irgendwie ein gegenseitiges Verständnis und ein Lernprozess möglich.

Rund um das Thema kreisen ja sehr viele Begriffe, über die wir teilweise schon gesprochen haben. „Eifersuchtsdrama“ in den Medien, „Partnerschaftsgewalt“ in der BKA Statistik, „Femizid“, „Feminizid“. Warum habt ihr euch für letzteres entschieden?

Lila: Wir sind darauf gestoßen, dass diese Wörter in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Dinge bedeuten. Wir haben uns dann für den Begriff Feminizid entschieden, weil Femizid im Deutschen lediglich den Mord an einer FLINTA*-Person beschreibt und Feminizid den Mord an zum Beispiel einer Frau, weil sie eine Frau ist. Uns im Netzwerk war es wichtig, auf die Gewaltkette die dem Mord vorangeht hinzuweisen und diese sichtbar zu machen. Außerdem trägt der Begriff auch zur Nachhaltigkeit in der Arbeit bei. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe, feminicide map, die auf einer Karte chronologisch Feminizide aufzeigen, auch rückblickend. Das ist zwar bei uns aktuell nicht der Fokus, aber auf lange Sicht auch ein wichtiger Aspekt: dass Statistiken über Feminizide erstellt werden. Denn die, die bisher gibt, arbeiten ja gar nicht mit dieser Definition.

Habt ihr Forderungen, von denen ihr euch eine Veränderung der Strukturen und auch des Darübersprechens erhofft?

Ursula: Die meisten Forderungen sind erst einmal reformatorisch und richten sich an den Staat, bzw. die Medien. Bei Letzteren geht es uns vor allem darum, dass eine Sprachänderung vorgenommen wird, um Sachen klarer zu benennen. Das läuft eigentlich ganz gut. Das Wort Feminizid ist nicht mehr ganz so unbekannt, es ist nur immer die Frage, inwieweit Menschen das dann auch tatsächlich verstehen, bzw. bereit sind, sich dagegen einzusetzen. Es ist schwierig, vom Staat, der ja ganz eindeutig eine Vertretung der Gewaltkette ist, die Bekämpfung von Feminiziden zu fordern. Das ist also der Spagat, den wir machen. Einerseits wollen wir bestimmte Dinge in dieser Gesellschaft reformieren, zum Beispiel Gesetze, die nun einmal einfach existieren: wir möchten, dass Feminizide als besonders schwere Straftat eingestuft werden. Andererseits vertrauen wir dem Staat nicht, dass er dazu beiträgt, dass es besser wird. In 50 Jahren Arbeit gegen Gewalt an Frauen hat sich viel verändert auf der Diskurs-Ebene aber sehr wenig auf der tatsächlichen Lebensebene. Es werden immer noch genauso viele Frauen und Kinder vergewaltigt und Menschen unterdrückt und ausgebeutet. An der Statistik hat sich also sehr wenig geändert, sondern vielmehr wie wir darüber denken und auch mit Aktionen tatsächlich dagegen ankämpfen. Andererseits gibt es aber auch die Forderung nach nachhaltiger Gerechtigkeit: also einem anderen Gerechtigkeitsbegriff, anderen Möglichkeiten diesen auszufüllen und umzusetzen, um in dieser Hinsicht nicht mehr auf den Staat und seine Erzwingungs-Maßnahmen zurückgreifen zu müssen. Wir haben so viele verschiedene Kämpfe, die in eine Richtung gehen – das Patriarchat auflösen.

Lila: Genau. Eine weitere klare Forderung ist „Keine mehr!“. Außerdem geht aus unserer Arbeit hervor, dass z.B.Frauenhäuser konstant überlastet sind. Und die Pandemie hat das natürlich nicht besser gemacht. Wir können nur hoffen, dass dadurch wenigstens ein Bewusstsein dafür entstanden ist, dass in diese Arbeit mehr Gelder investiert werden müssen.

Ursula: Und es geht uns auch um die Sensibilisierung der ganzen Berufsstände, welche mit Betroffenen patriarchaler Gewalt zu tun haben. Seien es Ärzte, Jugendeinrichtungen, Frauenhäuser, der Justizapparat…

Lila: Ich denke, die Forderung der Sichtbarmachung ist auch sehr wichtig. An dem Punkt würde ich mir manchmal wünschen, dass andere Vernetzungen das Thema mehr aufgreifen.

Danke für den Austausch. Gibt es einen Punkt, den ihr noch ansprechen wollt?

Lila: Noch eine Sache zum Widerstandsplatz. Wir nutzen ihn nicht nur als Ort der Reaktion, sondern auch proaktiv. Über den Winter ist das natürlich ein bisschen schwieriger, aber letzten Sommer haben wir dort jeden Monat Aktionstage mit Inputs unterschiedlicher Gruppen gemacht, Selbstverteidigungsworkshops z.B. Es geht uns auch darum FLINTA* zu stärken. Es war sehr schön zu sehen, dass der Platz auch ein Ort der Kraft und des Empowerments sein kann. Wir haben dort auch mehrmals ein Open Mic veranstaltet. Das waren teilweise Räume für Erfahrungen und Meinung, für Wut – wo Menschen selbstgewählt sprechen konnten. Das ist etwas, was oft fehlt. Die Arbeit zu Feminiziden ist nicht leicht und wird hauptsächlich von Menschen geleistet, die selbst potenziell vom Patriarchat betroffen sind. Da ist es wichtig, immer wieder zusammenzukommen und sich gegenseitig zu stärken. Das sind Dinge, dich ich immer wieder auf dem Widerstandsplatz gefühlt habe.

Ursula: Gleichzeitig war das auch immer ein Ort, wo aktuelle Informationen zwischen den verschiedenen Bewegungen ausgetauscht werden konnten. Was ich mir wünschen würde von den anderen Kämpfen, ist ein bisschen mehr Aufmerksam darauf zu richten. Gewalt gegen FLINTA*, Gewalt gegen Menschen, die versuchen sich vom Patriarchat zu emanzipieren, ist ein zentrales Thema. Und ein bisschen mehr Teilnahme und Beteiligung an diesem Austausch, damit wir auch deren Perspektive kennenlernen. Aber natürlich freuen wir uns auch immer über Menschen, die bei uns mitarbeiten wollen.

#Foto: Einweihung des Widerstandsplatz, Netzwerk gegen Feminizide Berlin

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Verónica Gago ist Theoretikerin und Aktivistin aus Argentinien. Anlässlich des Internationalen Frauenkampftags am 8. März haben wir mit ihr über den Stand der argentinischen feministischen Bewegung heute gesprochen – nach einem errungenen Sieg im Kampf um das Recht auf Abtreibung, zwei Jahren Pandemie und im sechsten Jahr des feministischen Streiks.

Mit der Feminismuswelle der letzten Jahre ist auch wieder ein liberaler Feminismus in Mode gekommen. Die breite Bewegung in Argentinien führt aber Diskussionen, die über die gläserne Decke hinausgehen und eine Klassenanalyse mit einschließen. Kannst du diesen Charakter der argentinischen Bewegung heute etwas beschreiben?

Die feministische Bewegung in Argentinien ist eine rebellische Bewegung, sie hat das Ziel wirklich etwas zu verändern. Sie ist eine Bewegung, die sich gegen Ungerechtigkeit, Missbrauch und Ausbeutung auflehnt. Wir sehen es in den Slogans, die sie hervorgebracht hat, die anti-neoliberale, anti-patriarchale und anti-koloniale Fragen zusammenbringen: „Keine einzige weniger! Wir wollen frei und schuldenfrei leben! Gegen die Prekarität des Lebens! Wir zahlen die Krise nicht mit unseren Körpern und Territorien! Wir Frauen gegen Verschuldung!“ um nur einige zu nennen. In diesen Slogans liegt eine genaue Diagnose davon, woher die Gewalt kommt, die Feminizide und Vergewaltigungen zulässt, strukturellen Rassismus ermöglicht, prekäre Arbeitsbedingungen und institutionelle Gewalt von Sicherheitskräften legitimiert. Anders gesagt, wenn wir über rassistische Gewalt sprechen, wenn wir „Nicht eine weniger ohne Wohnung“ fordern, wenn die Auslandsschulden zu einem feministischen Slogan auf der Straße werden, dann machen wir die Materialität dessen deutlich, was man Gewalt nennt. Ihre Spitze findet diese Gewalt in Feminiziden, aber sie existiert auch als alltägliche Gewalt, die ein würdevolles und freies Leben verhindert.

Wie ist es euch gelungen, diese gesellschaftlichen Herausforderungen zu akuten Themen der feministischen Bewegung zu machen?

Das ist gelungen, indem der Feminismus als politische Bewegung aufgebaut wurde, in der verschiedene Konflikte und Protagonist*innen dieser Konflikte miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das erfordert Koordination zwischen Gewerkschaften, Basisorganisationen, Studierenden, Migrant*innenkollektiven, Sexarbeiter*innen, prekär Beschäftigten, Sorgenetzwerken, Organisationen von Kleinbäuerinnen und Arbeiter*innen in der solidarischen und informellen Wirtschaft, Fridays For Future, den Kollektiven von Travestis, trans und nicht-binären Personen, den Kampagnen für das Recht auf Abtreibung und indigenen Frauenorganisationen. Die Tatsache, dass die feministische Bewegung in dieser politischen Zusammensetzung existiert, ermöglicht ihr eine praktische Interpretation der Aktualität, die sozioökonomisch, klassenbezogen und antiextraktivistisch ist – die aus verschiedenen Sprachen spricht und mit sehr diversen Strategien.

Was ist deine Analyse zu den liberalen Tendenzen, die wir heute überall sehen?

Natürlich gibt es Versuche, die Bewegung zu vereinnahmen und zu einer Mode zu machen, sie auf Themen zu reduzieren, die „ungefährlich“ für den Neoliberalismus sind. Aber ich glaube, die Mobilisierungsfähigkeit und der Wunsch nach Veränderung sind stärker, denn die feministische Bewegung geht auf eine Reihe sozialer Kämpfe zurück, die sich immer schon gegen den Status Quo gestellt haben.

Ich sehe den liberalen Feminismus ganz klar als konterrevolutionäre Aktion: er ist ein Versuch, die Kraft dieser queerfeministischen Transformation, die jetzt seit einigen Jahren schon eine beispiellose Präsenz auf globaler Ebene erreicht hat, zu begrenzen und sie in eine andere Richtung zu lenken. Es ist der Versuch, die Veränderung zu neutralisieren, die sich zeitgleich auf verschiedenen Ebenen vollzieht: in unserer Sensibilität, in der Art und Weise, unsere Körper und unser Begehren zu erleben, in der Fähigkeit, kollektive Forderungen zu stellen und in der Stärkung von Organisations- und Protestformen. Die feministische Bewegung ist eine Praxis des Ungehorsams, der täglichen Auflehnung, die gleichzeitig die Fähigkeit hat, strukturelle Gewalt zu hinterfragen und zu bekämpfen. Diese simultane zweifache Ebene ist es, die als Bedrohung empfunden wird. Das ist der Grund, warum ein Faschist wie Bolsonaro seine Präsidentschaft mit einer Rede gegen die „Gender-Ideologie“ beginnt. Oder warum versucht wird, den Feminismus auf die Forderung nach Quoten zu reduzieren, ohne die bestehenden Hierarchien anzutasten. Und warum versucht wird, den Feminismus von anderen sozialen Forderungen abzukoppeln, weil es das ist, was wirkliche politische Bündnisse schafft. Und deswegen gibt es auch viele Versuche, ihn zu spalten und mit dem Neoliberalismus kompatibel zu machen.

Mit der Legalisierung der Abtreibung in Argentinien vor einem Jahr habt ihr ein lange gefordertes Recht erkämpft – ein Riesenerfolg. Die Kampagne war jahrzehntelang Motor der Bewegung und auch identitätsstiftendes und verbindendes Element zwischen den Generationen. Was kommt jetzt, wo der Kampf gewonnen wurde?

Dass wir diesen Sieg errungen haben, ist fundamental. Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden. Wie wichtig es ist, dabei eine feministische Pädadogik zu betreiben, um überhaupt diskutieren zu können, was Selbstbestimmung schwangerer Körper bedeutet. Das hat eine „grüne Welle“ losgetreten, die über die Grenzen hinausging. Dabei wurde das öffentliche Gesundheitssystem diskutiert, die Sexualerziehung in Schulen, Schwangerschaftsabbrüche von Schuld gelöst und Mutterschaft entromantisiert. Die Diskussion wurde an Orten in Gang gebracht, an denen sie vorher tabuisiert war. Dieser Kampf war hier von zentraler Bedeutung, weil er sowohl eine sehr konkrete Forderung enthielt, als auch ein Türöffner zu vielen weiteren Problematiken war. Das Recht auf Abtreibung steht außerdem im Mittelpunkt neokonservativer Angriffe nicht nur in unserer Region: Das ist so in den USA, bei der neu gewählten Präsidentin des EU-Parlaments und bei den Rückschritten in Polens Gesetzgebung. Aber mit der Verabschiedung des Gesetzes in Argentinien ist der Kampf noch nicht beendet, er ändert nur seine Form. Jetzt müssen wir uns für die effektive Umsetzung des Gesetzes einsetzen, gegen medizinische und juristische Manöver, die vielerorts den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen blockieren und für die Verbreitung des Gesetzes selbst, da die Informationen nicht überall ankommen. Und obwohl das Gesetz bereits vor einem Jahr verabschiedet wurde, feiern wir es immer noch.

Es stimmt jedoch, dass das verbindende Moment dieser Forderung auf irgendeine Weise ersetzt werden muss. Wir sind gerade dabei, neu darüber nachzudenken, was wir wollen, wohin wir unterwegs sind und wie wir nach zwei Jahren Pandemie wieder Räume für Gespräche und Austausch schaffen können. Wir reden von einer Zeit, in der es viel schwieriger war, sich zu treffen, und in einer Zeit, in der ein „Ende“ der Pandemie mit einer brutalen Wirtschaftskrise einhergeht. Es ist also an uns, mit diesem Sieg im Rücken – aber auch mit dem, was die Bewegung bereits erreichen konnten als Horizont – zu überdenken, wie wir uns den kommenden Herausforderungen stellen können.

Was sind die Themen, die den Feminismus in Argentinien derzeit bewegen?

Im Fall von Argentinien ist die Frage der Schulden als ökonomische Gewalt ein Thema. Im Laufe der Jahre haben wir viel mit dem Slogan „La deuda es con nosotres” (Die Schulden habt ihr bei uns) gearbeitet. Es ist wichtig, dass der Feminismus das Thema Verschuldung wieder aufgreift, denn er hat es auf den Tisch gebracht und dabei öffentliche und private Schulden und Sparmaßnahmen miteinander in Verbindung gebracht. Wir bestehen darauf: ohne ökonomische Unabhängigkeit gibt es keine Möglichkeit, die machistische Gewalt zu stoppen. Dies bezieht sich auf die Auslandsverschuldung seit 2018 und auch darauf wie die Verschuldung der Haushalte angesichts einer immer schneller zunehmenden Verarmung „obligatorisch“ wird. Hier ist für die antineoliberale Dynamik des Feminismus und seine Fähigkeit zur konkreten Intervention wichtig, die soziale Situation neu zu diskutieren, die durch die Verschuldung und die vom IWF auferlegten Bedingungen hervorgebracht wurde: Gas-, Strom- und Telefontarife, Lebensmittelpreise und Mieten, die in Folge der erzwungenen Kürzungen der öffentlichen Mittel erhöht wurden. Sie fördern Spekulationen und die Dollarisierung der Wirtschaft und lassen die Bevölkerung in beschleunigtem Tempo verarmen.

Der feministische Streik als Instrument der Bewegung ist in den letzten Jahren sehr wichtig gewesen. Jetzt ist es stiller geworden um den Streik als Aktionsform. Warum? Welche Rolle spielt der Streik bei den diesjährigen Mobilisierungen oder gibt es andere Strategien, die im Moment wichtiger sind?

Wir beginnen gerade, die Rolle des Streiks und andere Strategien für diesen 8. März zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass es schwieriger ist, weil die Pandemie die Prekarität beschleunigt hat. Die Care-Arbeit hat zugenommen, die Arbeitszeiten haben sich verlängert und es gibt eine gewisse psychische Erschöpfung, wenn es darum geht, wieder rauszugehen und die Straßen einzunehmen. Es gibt aber ein gemeinsames Bedürfnis danach, dass die feministische Bewegung wieder eine führende Rolle auf der Straße einnimmt. Wir diskutieren hier sehr viel über diese Idee: Wir müssen zurückkehren und sind gleichzeitig nie weg gewesen. Auch in der Pandemie haben wir die Krise entprivatisiert, nur auf andere Art und Weise, aber auf jeden Fall in einem kollektiven Kraftakt. All dies müssen wir berücksichtigen, wenn wir über den Streik in der gegenwärtigen Situation nachdenken wollen. Das ist wichtig, weil, wie wir wissen, hat es der feministische Streik geschafft, die verschiedenen Formen der Arbeit, der Prekarität und der Gewalt in den Fokus zu nehmen.

Mein Eindruck ist, dass sich Streik und Demonstration verbinden werden, an manchen Orten wird die eine Dynamik stärker ausgeprägt sein als die andere, aber klar ist, dass der 8. März ein Kampftag ist, ein Datum, das wir nicht „hergeben“ werden, weil er ein Moment der Begegnung, des Austausches und der Arbeit am Programm der Bewegung ist. Das Wichtige an diesem 8. März ist, wieder eine Wucht zu werden.

Von Verónica Gago ist bei Unrast das Buch „Für eine feministische Internationale“ erschienen. Foto: privat

# Titelbild: Proteste für das Recht auf  Abtreibung vor dem argentinischen Kongress 2018 (Foto: Prensa Obrera, CC BY 4.0)

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Minerva, 28, ist marxistische Feministin aus dem Iran. Sie hat an verschiedenen linken Kampagnen teilgenommen und arbeitet mit einer Organisation, die Bildungsangebote für Arbeiter*innenkinder und Kinder aus Familien, die aus Afghanistan in den Iran geflohen sind, organisiert. Zu ihrer Sicherheit benutzt sie ein Pseudonym, da ihr Inhaftierung und Folter drohen, sollte die iranische Regierung von ihrem Kontakt zu linken oder feministischen Organisationen oder Medien erfahren. Minervas echter Name ist der Autorin bekannt.

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Gegen Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus – am Frauen*kampftag geht es ums Ganze. Gespräch mit Friederike Benda

Friederike Benda, 31 Jahre alt, hat das Bündnis Frauen*kampftag mit ins Leben gerufen, ist im Frauenstreik Komitee Berlin und in der LINKEN aktiv.

Was ist das Frauen*kampftag-Bündnis in Berlin?

Vor sechs Jahren haben wir versucht, trotz notwendiger Benennung aller Differenzen und Widersprüche innerhalb der feministischen Bewegung unsere Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen. Nicht, weil wir Frauen alle gleich wären, sondern weil sich unser Wir über gemeinsame Forderungen herstellt. In Zeiten, in denen Feminismus zum Teil selbst zu einem neoliberalen Projekt geworden ist – etwa der »Hillary Clinton Feminismus« -, wollen wir deutlich machen, dass wir uns nicht mit Verbesserungen für wenige Frauen abgeben. Wir wollen ein sorgenfreies Leben für alle Menschen. Wir lassen uns nicht durch Frauenquoten und Antidiskriminierungsstellen ruhig stellen, auch wenn wir deren Notwendigkeit nicht in Frage stellen.

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