Über den „Ausnahmezustand“ und darüber, warum wir etwas anderes als die Rückkehr zur „Normalität“ brauchen
In den sozialen Medien scheinen sich alle einig zu sein: 2020 – das schlimmste Jahr, das unsere Generation bis jetzt miterlebt. Endzeitstimmung weit und breit. Und zurecht machen sich viele junge Leute Sorgen, auch wenn sie oft hinter einer Fassade von Ironie und Galgen- bzw. Katastrophenhumor versteckt werden. Ein neuartiger Virus, der eine nicht zu verharmlosende Tödlichkeit besitzt und vor allem hoch ansteckend ist, geistert durch die Länder und krempelt das gesellschaftliche Leben um. Ein paar Gedanken zu der besonderen Situation, die sich daraus ergibt, ob sie auch Chancen mit sich bringt und was wir als Jugend jetzt tun können.
Die Corona-Krise – ein Ausnahmezustand?
Auf den zweiten Blick aber tun sich Zweifel auf an dem Bild eines absoluten Ausnahmezustandes. Einer Situation also, die allein das Auftreten eines neuen Virus-Erregers unvermittelt hervorruft. So sollte zum Beispiel eines unstrittig sein: Das Gesundheitssystem, das mit strengen Beschränkungen geschützt werden muss, ist vor allem so zerbrechlich, weil es in den letzten Jahrzehnten umfassend kaputtgespart wurde. Kliniken, die immer öfter von privaten Unternehmen geführt werden, sind nach einem Prinzip strukturiert, in dem „Wirtschaftlichkeit“, sprich Profite eine zentrale Rolle spielen. Noch vor rund einem Dreivierteljahr kam die Bertelsmann-Stiftung in einer Studie zum Schluss, dass mehr als die Hälfte aller deutschen Kliniken geschlossen werden müssten, um die Gesundheitsversorgung in der Bundesrepublik effizienter zu gestalten und damit angeblich zu verbessern. Es ist dabei ziemlich krass, dass das beste Gesundheitssystem das kosteneffizienteste, profitträchtigste sein soll und nicht das mit der besten Versorgung für alle in diesem Land.
Trotz dieser Lage, präsentiert sich Deutschland im europäischen Vergleich als gesundheitlich einigermaßen gut aufgestellt, was aber kaum für Deutschland, als vielmehr gegen die Gegebenheiten anderswo sprechen kann. So gehörte in Ländern wie Italien und Spanien, aus denen im März erschreckende Bilder geliefert wurden, Privatisierungszwang und Einsparungen in Gesundheit und Sozialstaat zu den von der EU verordneten Maßnahmen in Folge von Verschuldung und Bankenkrise. Kaum auszumalen, was droht, wenn die ärmsten der armen Staaten im Nahen Osten oder Afrika von der Pandemie härter getroffen werden, die bis heute unter den Folgen des Kolonialismus und schwelenden bewaffneten Konflikten unter westlicher Beteiligung leiden. Hilfe aus dem wohlhabenden Westen haben diese nicht zu erwarten. Das konnte man schon in den letzten Wochen beobachten, in denen sich die „europäischen Partner“ gegenseitig nicht unterstützt haben, sondern sich im Gegenteil gegenseitig medizinische Güter stahlen und vor der Nase wegkauften.
Auf den ersten Blick sieht es so aus: Wir befinden uns mitten in einer krassen Ausnahmesituation. Vielleicht der ersten dieses Ausmaßes, der unsere Generation Zeuge wird. Wir alle haben in der letzten Zeit verstanden, was es mit flatten the curve auf sich hat und welche Rolle social distancing dabei spielt. Niemand ist wohl umhin gekommen die Folgen der Eindämmungsmaßnahmen zu bemerken – im ganz persönlichen Alltag und auf gesellschaftlicher Ebene. Die Corona-Krise ist real und das ist bei allen angekommen.
Doch auch abgesehen von den Zuständen in der medizinischen Versorgung, haben wir es gerade mit diversen sozialen Problemen zu tun, die nicht erst mit dem Auftreten eines neuartigen Virus aus dem Nichts entstanden sind. Die Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen, die der Pandemie schutz- und versorgungslos ausgeliefert sind, werden schon lange von Europa nicht nur ausgesperrt, sondern unter menschenverachtenden Bedingungen in Lagern zusammengepfercht. Wer heute seinen Minijob verloren hat, hatte vorher schon kaum genug zum Leben. Wer heute mit Schule von zu Hause – wegen mangelnder Technik oder Unterstützung aus dem Elternhaus – nicht klar kommt, ist wohl auch gestern schon in einem ungerechten Bildungssystem hinten runter gefallen. Wer heute eine Held*in in einem systemrelevanten Beruf ist, war das auch vorher schon. Ohne die geheuchelte Wertschätzung natürlich. Und absolut unterbezahlt. Die wenigsten von ihnen haben sich ihre Heldenmission wohl selber ausgesucht, sondern sind finanziell darauf angewiesen, weiter arbeiten zu gehen. Wer heute in der Isolation mit vielen Menschen auf engstem Raum verrückt wird, hat vorher schon so leben müssen. Die Zwangsunterbringung in Geflüchtetenlagern in ganz Deutschland zum Beispiel war schon lange untragbar, wenn auch sie jetzt um einiges gefährlicher zu werden droht. Wer heute seine Miete nicht mehr zahlen kann, konnte es vorher nur gerade so. Die Bundesregierung verbietet für die Corona-Zeit nur Mieter*innenkündigungen, nicht aber das Verlangen von Mieten. Das bedeutet: Wer heute seine Miete nicht mehr zahlen kann, wird morgen, nach Corona, hochverschuldet gekündigt und zwangsgeräumt. Wer heute in Obdachlosen-Sammelunterkünfte geschafft wird, hat auch vorher schon auf der Straße gewohnt, ohne, dass sich jemand führ ihn oder sie interessiert hat. Wer heute (rassistischen) Bullen mit neuen Befugnissen und wildester Schikane ausgeliefert ist, war auch vorher schon ein potentielles Opfer. Covid oder die aktuelle Krise haben nichts davon neu geschaffen.
Über einen ganz anderen Ausnahmezustand seiner Zeit, den Faschismus, schrieb Walter Benjamin 1940: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der „Ausnahmezustand“, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht“. Wenn auch die Situation, in der Benjamin diesen Gedanken formulierte eine gänzlich andere war, sticht eine Gemeinsamkeit heraus: Die Verhältnisse, die die Corona-Krise hervorruft, kommen nicht aus dem Nichts, sondern aus der Ordnung auf die sie trifft. Wer also heute von der Krise besonders hart getroffen wird, dem ging es vorher schon nicht gut. Deren Wohlergehen stand schon vor Covid-19 nicht im Mittelpunkt. Ganz im Gegenteil. Die Krise verschärft Missverhältnisse und Ungerechtigkeiten, die vorher schon bestanden und auch danach weiter bestehen werden. Wir müssen zu einem Verständnis des Systems kommen, das dem entspricht. Der Kapitalismus ist nicht darauf ausgerichtet Gerechtigkeit zu schaffen und alle bestens zu versorgen, auch wenn uns das immer so erzählt wird. Gerade jetzt, wo die kleinste Störung ihn aus seinem gewohnten Gang wirft, liegen seine Schwächen und seine Brutalität offen zu Tage.
Was tun?
Und so bietet die Krise auch Chancen, möchten wir vorsichtig behaupten. Bei all dem Leid, das der Virus selbst und seine Begleiterscheinungen mit sich bringen, offenbart sich durch ihn einmal mehr die hässliche Gestalt der Ordnung in der wir leben. Helfen wir uns gegenseitig, das zu verstehen, anstatt die Krise auszusitzen und darauf zu warten, dass es wieder besser wird. Denn wir sitzen nicht alle im selben Boot, wie es oft behauptet wird. Corona trifft nicht alle gleich. Gute medizinische Versorgung ist vielerorts eine Frage des Einkommens oder der Nationalität. Genauso ist es mit den Folgen all der Maßnahmen. Wir hier unten werden um einiges härter getroffen, als jene, die Unternehmen und Staaten aus dem Home-Office lenken. Es liegt nun an uns zu verhindern, dass sie gestärkt aus der Krise gehen, während wir die Kosten tragen. Wir wollen nicht zur „Normalität“ zurück, denn die war Teil des Problems. Und so liegt es vor allem an uns als Jugend, die noch am längsten in der Welt leben wird, die die Pandemie hinterlässt, einzugreifen und ihre Gestaltung in die Hand zu nehmen. Lassen wir uns das Wort der Solidarität nicht von Politiker*innen wegnehmen, die damit Gehorsam meinen. Sondern lasst uns aufbauen auf dem neuen Sinn für echten Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung, der sich in den vielen nachbarschaftlichen Initiativen und der Bereitschaft zur Rücksichtnahme gezeigt hat. Wir können jeden Tag aufeinander Acht geben und Dinge selber in die Hand nehmen. Von alleine wird all das nicht geschehen – es braucht uns, mit diesen Verhältnissen zu brechen und den Wert echter Solidarität hochzuhalten. Organisieren wir uns – im Freundeskreis und im Kiez! Fordern wir eine andere Welt ein! Werden wir aktiv! Werden wir laut! Denn eine bessere Welt ist möglich, wir müssen nur einen Traum von ihr haben und bereit sein, ihn in die Wirklichkeit zu holen.
#JetztErstRecht
Der Umgang mit der Pandemie bringt verheerende Folgen und soziale Probleme mit sich. Deshalb unterstützen wir die Forderungen von #JetztErstRecht Sie umfassen das Mindeste, das wir von der Bundes- und den Landesregierungen in dieser Zeit erwarten können.
1. Mai
Da akute Symptombekämpfung den Problemen aber keineswegs gerecht wird, rufen wir dazu auf, den 1.Mai auch dieses Jahr wieder zu einem Kampftag zu machen. Wie auch immer Protest in diesen Zeiten verantwortungsvoll aussehen kann, müssen wir alle selber entscheiden. Nutzen wir den Tag aber in jedem Fall, uns Gehör zu verschaffen.
Ankündigungen für Berlin gibt es hier und hier.
#Jugendkommune Kreuzberg | Kreuzberg United
#Titelbild: RubyImages/PM Cheung