Deutschland gehört zu jenen Ländern, in denen die sogenannte „Sozialpartnerschaft“ am weitesten ausgeprägt ist. Das hübsch klingende Wort bezeichnet einen Mechanismus der Vermeidung von Arbeiter*innenkämpfen, bei dem zwischen Gewerkschaftsfunktionär*innen und den Vertreter*innen der Bosse am Tisch ausgehandelt wird, wie viele Brotkrumen nach unten fallen dürfen. Das Heiligtum dieses institutionalisierten Klassenfriedens zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten ist dementsprechend der „Standort Deutschland“ und nicht das bessere Leben der proletarischen Schichten. Und das Stoßgebet beider Seiten ist der abertausende Male widerlegte Slogan: „Geht´s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut.“
In Krisenzeiten beinhaltet dieses Konzept die vorauseilende Kapitulation der Arbeiter*innenvertretung, eine von der Sozialdemokratie in Deutschland seit ihrer Zustimmung zum 1. Weltkrieg gehütete Tradition. Wenn Krise ist, so die Idee, müssen Arbeiter*innen und Kapitalist*innen Händchen halten und zusammenstehen für das Wohl der Nation. Und so verlautbarte der Deutsche Gewerkschaftsbund gleich am Anfang der Corona-Krise: „DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann und Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer erklären: Die Sozialpartner stellen gemeinsame Verantwortung in der Coronakrise über Differenzen.“ Man wolle, so die Pressemitteilung vom 13. März, Konflikte „hinten anstellen“. Nur noch absurd wirkt die Passage: „Die letzte große Bewährungsprobe für die Sozialpartnerschaft war das Handeln in der Finanzkrise 2008/2009. Die Sozialpartner haben damals in Zusammenarbeit mit der Politik, als Tarifpartner und auf betrieblicher Ebene wesentlich dazu beigetragen, dass die Menschen in Arbeit und die Unternehmen im Markt blieben.“
Länger arbeiten, weniger Pausen
Soweit, so schlecht. Nicht nur geht der DGB ohne jede offensive Vision in eine Krise, die eine Auseinandersetzung darüber ist, wie es in der Gesellschaft weitergeht. Darüber hinaus aber nimmt man den Arbeiter*innen zugleich jede Verteidigungskraft gegen Angriffe. Denn während von unten tatsächlich durch die angepassten Gewerkschaften der Klassenfriede gewahrt wird – klar, ein paar Tarifkrümel hier und da, müssen vermeldet werden–, sind die Kapitalisten natürlich nicht so geschwisterlich drauf. Sie sehen in der Krise eine Chance zur Rücknahme von Arbeiter*innenrechten, zum Abgreifen von staatlicher „Unterstützung“, zur „Marktbereinigung“ – also zur weiteren Monopolisierung.
Einige Beispiele: Während „systemrelevante“ Berufe – Gesundheits- und Transportarbeiter*innen, Kassierer*innen usw. – öffentlich sogar von jenen beklatscht werden, die ihnen in den vergangenen Jahrzehnten jede Lebensgrundlage entzogen haben, werden faktisch immense Verschlechterungen durchgesetzt. Für Pfleger*innen etwa wurden die zulässigen Arbeitszeiten verlängert und die vorgeschriebenen Ruhepausen verkürzt. Eine Maßnahme, die weder vor Corona schützt (Studien aus China zeigen sogar, dass kürzere Schichten bessere Ergebnisse aufweisen), noch das Problem des Mangels an Personal im Sektor löst. Ähnlich ergeht es Transportarbeiter*innen: Die Lenkzeiten werden gelockert, das Fahrverbot am Wochenende aufgehoben – eine Maßnahme, die nicht nur für die LKW-Fahrer*innen noch schlechtere Arbeitsbedingungen bedeutet, sondern auch die Unfallgefahr auf Deutschlands Straßen erhöht.
Gestreikt wird nirgends. Nicht in jenen Betrieben, die keinen Schutz vor Corona gewährleisten, nicht in jenen, die noch länger arbeiten lassen. Vielmehr ist der DGB bemüht, seinen Mitgliedern zu suggerieren, sie sollen duldsam sein, denn das sei ja alles nur temporär. Sogar bereits anvisierte Aktionen wurden abgesagt.
Ebenfalls kein praktischer Einspruch kommt von deutschen Gewerkschaften, wenn es um die Umverteilung von Steuergeldern in Konzernkassen geht. Dazu stellt der Staat den Unternehmen eine breite Palette von Möglichkeiten von Kurzarbeitergeld bis Steuerentlastungen zur Verfügung. Ausgestattet mit ganzen Abteilungen zur Finanzoptimierung greifen die natürlich ins Volle, wie sie es im Zuge der Finanzkrise, auf deren Management der DGB so stolz ist, getan haben. Und gleichzeitig schütten sie Dividenden an ihre Aktionär*innen aus. Der DGB begleitet diese Form des Klassenkampfs mit stoischem Nichtstun.
Versucht man bei deutschen Arbeiter*innen im sogenannten Normalarbeitsverhältnis noch durch irgendwelche Peanuts den Anschein zu wahren, man setze sich für ihre Belange ein, so fallen jene Millionen Menschen, die aus Niedriglohnländern nach Deutschland zum Arbeiten kommen, komplett aus dem Raster. Das prominenteste, aber keineswegs isolierte Beispiel sind derzeit die zur Spargelernte eingeflogenen Erntehelfer*innen. Sie kommen aus Ländern mit noch niedrigerem Lohnniveau, sind seit Jahren an die anstrengende Arbeit gewöhnt und man schert sich Null darum, ob sie an Corona sterben, solange die Profite der deutschen Agrarfürsten gewährleistet sind. Obwohl dem DGB das Problem natürlich bekannt ist, reichte es für wenig mehr als ein paar wohlfeile Presseaussendungen. Die auch hier durchgesetzten Verschlechterungen, was etwa Arbeitszeiten betrifft, wurden gleichwohl von der SPD-CDU/CSU-Koalition durchgewunken.
Ist der DGB noch zu retten?
Nun ist die von der DGB-Führung gewählte Strategie des Pakts mit dem Kapital keineswegs „alternativlos“. Und sie ist auch keine Schutzmaßnahme angesichts eines Virus. Im Gegenteil. Die Absurdität, dass man auf der einen Seite die „private“ Mobilität der Bevölkerung nahezu vollständig einschränkt und gleichzeitig in vielen Bereichen normal weitergearbeitet wird, hat keine medizinischen Gründe, sondern ökonomische. Der Rubel muss weiter rollen und die Couponschneider in den Chefetagen produzieren eben nichts.
Streiks und andere Kampfmaßnahmen wären deshalb auch keine Verantwortungslosigkeit, sondern Gebot der Stunde. In den USA legten seit Beginn der Krise Beschäftigte in zahlreichen Unternehmen – unter anderem bei Amazon – die Arbeit nieder. Ähnlich sah es in Italien, Spanien oder Zimbabwe aus. Wenn auch international die Arbeitsniederlegungen eher vereinzelt bleiben und sich die historische Schwäche der Gewerkschaftsbewegung nicht nur in Deutschland zeigt, so ist der DGB doch ein besonders braver Verein. Das nicht nur in der Krise, aber da sieht man es eben sehr deutlich.
Und das, obwohl es kaum etwas dringender bräuchte, als eine antikapitalistische und kämpferische Gewerkschaftsbewegung. Ob der DGB allerdings überhaupt noch in eine solche transformiert werden kann – wie sich das ehrliche Linke an der Basis wünschen –, ist zweifelhaft. Als Institution ist sein ideologischer Konsens der Klassenfriede zur Sicherung des Standorts, als Schicht hat die oft mit der neoliberalen SPD verwobene Funktionärsriege sich weit von den alltäglichen Problemen der Arbeiter*innenklasse entfremdet. Auf führender Ebene gehört man in der Gewerkschaftsbürokratie vom Einkommensniveau her schnell zu den oberen zehn Prozent Deutschlands – und den reichsten 1 Prozent global.
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